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Interview mit dem israelischen Psychologen Haim Omer "Scharon war schon als Kind so"

Israels Premierminister Ariel Scharon und Palästinenserführer Jassir Arafat haben ihre Völker in eine heillose Spirale der Gewalt geführt. Wie kann man ihr entkommen? SPIEGEL ONLINE sprach mit dem israelischen Psychologen Haim Omer.

SPIEGEL ONLINE:

Herr Omer, sie haben Mechanismen der Eskalation von Gewalt in der Familie untersucht. Betrachten wir einmal Ministerpräsident Ariel Scharon und Palästinenserchef Jassir Arafat als Teil einer Familie. Was läuft in dieser Familie falsch?

Omer: Es ist vor allem die Furcht, die beide voreinander haben. Scharon hat zudem die unglaubliche Angst, etwas zu tun, das als schwach ausgelegt werden könnte. Vielen Eltern geht es so in der Beziehung zu ihren Kindern. Doch die Haltung "Ich muss zeigen, wer der Boss ist" führt unweigerlich zur Eskalation.

SPIEGEL ONLINE: Sollte Scharon gegenüber den Palästinensern also Schwäche zeigen?

Omer: Wir Israelis sollten nicht darauf schauen, ob unser Handeln als Stärke oder Schwäche erscheint. Wir sollten überlegen, was in unserem Interesse ist.

SPIEGEL ONLINE: Welches Handeln wäre im Interesse Israels?

Omer: Unser erstes Ziel muss es sein, uns gut verteidigen zu können. Dazu müssen wir uns aus den besetzten Gebieten zurückziehen. Unsere Grenze würde dadurch kürzer und klarer - und wäre somit einfacher zu verteidigen. Als sich Israel vom Sinai zurückgezogen hat, konnte man das damals als Schwäche auslegen, doch wir haben es getan, weil es in unserem Interesse war.

SPIEGEL ONLINE: Scharon würde wohl einwenden, wann immer Israel den Palästinensern entgegengekommen ist, haben sie dies ausgenutzt und Terroranschläge verübt.

Omer: Nun, da wir stark auftreten, gibt es jedoch noch mehr Terroranschläge. Als wir uns aus dem Libanon zurückgezogen haben, kam es dagegen nicht zu den befürchteten Angriffen auf Israel. Es war lange Zeit ruhig an der Grenze. Die Zeit, da fast täglich israelische Soldaten getötet wurden, hatte ein Ende.

SPIEGEL ONLINE: Jetzt gibt es aber wieder Raketenangriffe aus dem Libanon auf den Norden Israels.

Omer: Das ist eine Reaktion auf unsere Maßnahmen in den besetzten palästinensischen Territorien.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass ein Rückzug Israels ohne Gegenleistung auch die Selbstmordattentäter der Hamas, des Dschihad Islami und der al-Aksa-Brigaden ruhig stellen würde?

Omer: Ich gebe mich keineswegs der Illusion hin, dass wir durch einen einseitigen Rückzug der israelischen Armee die Sympathien der Palästinenser gewinnen werden. Ich weiß, dass die Palästinenser kein Interesse daran haben, mit uns einen Frieden zu schließen. Und die Hamas, der Dschihad und die al-Aksa-Brigaden werden sicherlich weiter versuchen, uns anzugreifen. Dennoch: Die Dynamik der Eskalation kann nur einseitig aufgelöst werden, niemals symmetrisch. Die einseitige Vorleistung ist eine Voraussetzung für die Entschärfung jeglicher Eskalation, in der Familie ebenso wie in der Politik.

SPIEGEL ONLINE: Scharon versucht derzeit eine einseitige Lösung durch die Besetzung der Autonomiegebiete herbeizuführen. Wie viel Aussicht auf Erfolg geben sie ihm?

Omer: Scharon versucht der anderen Seite den entscheidenden Schlag zu verpassen. Dies ist eine große Illusion, die dem Eskalationsmechanismus inne wohnt. Die Palästinenser sind weit davon entfernt, aufzugeben. Die Geschichte lehrt, dass Völker nur kapitulieren, wenn sie mindestens 25 Prozent ihrer Bevölkerung verloren haben. Sollten Palästinenser und Israelis auch nur fünf Prozent Verluste in Kauf nehmen, hieße das, dass die Palästinenser 125.000 Menschen und die Israelis 45.000 Menschen einbüßen müssten. Das zeigt: Scharons Strategie kann nicht aufgehen.

SPIEGEL ONLINE: Wie groß ist die Chance, dass die Palästinenser eine Deeskalation herbeiführen?

Omer: Zur Zeit sehr gering.

SPIEGEL ONLINE: Wenn beide Seiten dazu offenbar nicht in der Lage sind, wie kann es dann zu einem Frieden kommen?

Omer: Beide Seiten werden nur auf starken internationalen Druck hin handeln.

SPIEGEL ONLINE: Die Amerikaner handeln bei ihrem Anti-Terror-Feldzug in Afghanistan ähnlich wie Scharon im Nahen Osten. Warum meinen Sie, dass sie auf Israel Druck ausüben können?

Omer: Scharon und Bush haben zwar ähnliche Ansichten, doch da die Interessen der USA derzeit anders gelagert sind als die Israels, müssen sie versuchen, Israel zu stoppen. Die Amerikaner und die internationale Staatengemeinschaft müssen erkennen, dass der Druck auf Israel positive Folgen haben wird. Denn er wird der israelischen Regierung erlauben, sich zurückzuziehen, ohne das Gesicht zu verlieren.

SPIEGEL ONLINE: Warum gelingt es Scharon nicht, aus eigener Kraft aus der Spirale der Gewalt auszusteigen?

Omer: Scharon ist über die Jahre hinweg immer sehr konsequent gewesen in seiner Politik: Er hat eine Neigung, die brutalere Option zu wählen.

SPIEGEL ONLINE: Wie erklären Sie das als Psychologe?

Omer: Es ist eine persönliche Neigung Scharons. Ich erkläre das nicht psychologisch. Es ist sein Temperament. Er war schon als Kind so. Schwäche ist für ihn ein Alptraum.

SPIEGEL ONLINE: Wäre Ihnen Benjamin Netanjahu als Premierminister lieber als Scharon?

Omer: Netanjahu ist ganz anders als Scharon. Scharon fragt sich, wie werde ich möglichst stark erscheinen, und geht in der Regel den brutalen Weg. Netanjahu dagegen tendiert dazu, Optionen zu wählen, die in seinem Interesse liegen. Weil er ziemlich eigensüchtig und opportunistisch ist, kommt er eher zu pragmatischen Lösungen. Doch da Netanjahu ein Mann ohne moralische Prinzipien ist, kann er auch sehr hart zuschlagen. Zumindest aber wäre er flexibler als Scharon.

Das Interview führte Alexander Schwabe

Von Haim Omer ist gerade in Zusammenarbeit mit Arist von Schlippe das Buch "Autorität ohne Gewalt"  auf Deutsch erschienen. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2002, 214 Seiten, 19,90 Euro.

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