Zum Inhalt springen

AfD-Erfolg in Görlitz "Auch ein Besenstiel wäre gewählt worden"

In Görlitz hat AfD-Mann Tino Chrupalla dem CDU-Promi Michael Kretschmer bei der Bundestagswahl das Direktmandat abgeluchst. Sachsens Christdemokraten sind schockiert, die Rechtspopulisten triumphieren. Und jetzt?
Von Anna-Sophia Lang
Wahlkampfplakat des AfD-Politikers Tino Chrupalla

Wahlkampfplakat des AfD-Politikers Tino Chrupalla

Foto: Libor Sojka/ AP

Tino Chrupalla steht an einem eisigen Donnerstagnachmittag inmitten einer Menschenmenge vor den Toren des Görlitzer Siemens-Werks. Hunderte Mitarbeiter und ihre Familien haben sich hier versammelt. Sie sind wütend. Die Siemens-Chefs haben gerade weit weg bei einer Pressekonferenz verkündet, dass der Konzern trotz Milliardengewinnen wohl viele Stellen streichen wird. Ihre Stellen.

Die Männer und Frauen pusten ihre Angst in rote Trillerpfeifen, klatschen sie weg mit jedem Redner, der vorne den Zusammenhalt im Kampf um ihre Arbeitsplätze beschwört. Tino Chrupalla, 42, zieht die Schultern nach oben, vergräbt die Hände tief in den Taschen seiner blauen Jacke, gegen die Kälte natürlich, aber es wirkt so, als ducke er sich weg. Als gehöre er nicht recht dazu.

Dabei müssen rein statistisch gesehen ziemlich viele der Demonstranten den Mann, der frierend zwischen ihnen steht, gewählt haben. Tino Chrupalla, AfD, hat in Görlitz das Direktmandat für seine Partei geholt, eines von dreien in ganz Sachsen. Der Freistaat ist eine Hochburg der Rechtspopulisten, landesweit haben sie die seit Jahrzehnten regierende CDU von Platz eins verdrängt.

Fotostrecke

Kahlschlagpläne in Görlitz: Die Zukunft einer Region

Foto: Nikolai Schmidt/ dpa

Und Chrupalla, der bis dahin namenlose AfD-Mann, hat nicht irgendeinen Hinterbänkler besiegt: Michael Kretschmer, in Görlitz geboren, ist seit 2005 Generalsekretär der Sachsen-CDU, saß 15 Jahre im Bundestag, war Vize der Bundestagsfraktion. Und trotzdem hat die AfD mit dem unbekannten Chrupalla in fast jedem Dorf im Landkreis mehr als 30 Prozent geholt.

"Wir wussten, dass wir ein gutes Ergebnis einfahren", sagt Chrupalla. Er sitzt nun in seinem Bürgerbüro in Görlitz' großer Einkaufsstraße. Rechts ein Café, links ein leer stehendes Immobilienbüro, gegenüber ein Dönerladen. "Vom Direktmandat sind wir aber nicht ausgegangen."

Chrupalla, Vater von drei Kindern, ist aufgewachsen im Dorf Krauschwitz im Norden des Landkreises. Er habe eine glückliche DDR-Kindheit gehabt, sagt er. Jeden Morgen radelte er zur Schule, ein Faulpelz sei er gewesen, aber dafür sei es doch ziemlich gut mit den Noten gelaufen.

Tino Chrupalla

Tino Chrupalla

Foto: Anna-Sophia Lang

Chrupalla ist Malermeister. Sieben Mitarbeiter hat er, sein Betrieb ist 15 Jahre alt. Bevor der Wahlkampf richtig losging, habe man in der Partei überlegt, worauf sich der Kandidat Chrupalla fokussieren sollte. Frauke Petry, damals noch Landesvorsitzende, habe angeregt, er solle die Familienvater-Schiene fahren. Oder sich als Schwiegersohntyp inszenieren.

Kretschmer will nicht gerne über Chrupalla reden

Chrupalla entschied sich anders. Er ging als Handwerksmeister in den Wahlkampf. Als einer, der die Menschen versteht, weil er einer von ihnen ist, bodenständig. "Im Prinzip wollen die Leute nur nicht mehr belogen werden", sagt er. "Man muss ihnen die Wahrheit sagen. Die wollen keine Versprechungen hören." Chrupalla will der Gegenentwurf sein zu den Kandidaten, die er "Berufspolitiker" nennt. Über die er sagt, sie könnten nichts anderes, als Politik zu machen: "Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal."

Solche wie Michael Kretschmer. Am Tag nach seiner Wahlniederlage gab er der "Welt" ein Interview: "Das war ein ordentlicher Magenschwinger und eine Zäsur für mich persönlich", sagte er. Ironie der Geschichte: Dreieinhalb Wochen nach der Bundestagswahl kündigte der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich an, sein Amt abzugeben. Kretschmer soll sein Nachfolger werden. Chrupalla veröffentlichte ein Statement mit dem Titel: "Verlierer Kretschmer ist kein Neuanfang".

Kretschmer will nicht gerne über Chrupalla reden. Chrupalla aber über Kretschmer. Hohn schwingt in jedem Satz mit. "Herr Kretschmer hat mich unterschätzt. Das ist die Arroganz der Macht. Man denkt, das ist ein kleiner Malermeister, was will der mir antun? Ich bin Michael Kretschmer, ich bin Generalsekretär, ich bin doch was ganz Besonderes."

Es gab Zeiten, da verband die beiden einiges. Sie sind gleich alt, 1990 bis 1992 waren sie zusammen in der Jungen Union, besuchten Helmut Kohl in Bonn. Er habe sich von der Aufbruchstimmung der Wendezeit leiten lassen, sagt Chrupalla. Und Kohl habe sie alle begeistert. Auch ihn. Lange Zeit war er danach CDU-Wähler. "Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich mal eine andere Partei wähle."

2015 trat er in die AfD ein, inzwischen ist er stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Manchmal kann er das selbst noch nicht glauben. Neulich, erzählt er, habe der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen zu ihm gesagt: "Sie sind jetzt nicht mehr Malermeister, Sie sind Politiker."

Bei den Gründen für das Desaster sind sich AfD und CDU recht einig

In der CDU sitzt der Schock des Wahlabends noch immer tief. Bei der Suche nach Gründen für das Desaster sind sich AfD und CDU ziemlich einig: Die Menschen haben so gewählt, weil sie sich im Stich gelassen fühlen.

Landrat Bernd Lange, CDU, seit 2001 im Amt, sagt über den AfD-Kandidaten Chrupalla: "Man hätte einen Besenstiel hinstellen können, der wäre auch gewählt worden." So groß die Unzufriedenheit, so groß das Gefühl, zu kurz zu kommen. Lange formuliert es so: "Wenn Berlin und Dresden nicht mehr an die Region glauben, dann glaubt die Region irgendwann selbst nicht mehr an sich."

CDU-Landrat Bernd Lange

CDU-Landrat Bernd Lange

Foto: Holger Peschel

Ob beim schnellen Internet, dem Straßenbau oder dem Anschluss ans internationale Schienennetz, nirgends habe es in den vergangenen Jahren die Unterstützung gegeben, die die Region gebraucht hätte, klagt er. Sorge hat er auch um die Zukunft der Braunkohle, die im Norden des Landkreises immer noch Tausende Arbeitsplätze sichert. Beim Schienenfahrzeugbauer Bombardier könnten in den kommenden Jahren mehrere Hundert Stellen wegfallen. Siemens hat inzwischen verkündet, dass das Werk in Görlitz geschlossen wird. 700 Mitarbeiter stehen dann auf der Straße, mit ihren Familien. Auch Zuliefererbetriebe aus der Region werden Einschnitte hinnehmen müssen.

Die Leute wüssten, dass die AfD ihre Probleme nicht lösen werde, sagt Lange. "Aber sie sagen sich: Die sprechen wenigstens aus, was wir denken."

"Ich rede mit allen, auch mit Linken und Grünen"

Chrupalla nennt die AfD "konservativ-bürgerlich-patriotisch". Er befürchtet, dass "dieses Land unwiederbringlich runtergewirtschaftet wird. Dass unsere Identität kaputt gemacht wird und der innere Zusammenhalt leidet". Er fordert weniger Bürokratie für mittelständische Unternehmen, weniger Gewerbesteuer, kostenlose Kitas und Grenzkontrollen. Die EU-Sanktionen gegen Russland nennt er "schädlich", bei Erdogan und Putin, findet er, soll sich die Bundesregierung lieber raushalten.

Rechte Hetztiraden wie vom Höcke-Flügel hat man von Chrupalla bislang noch nicht gehört. Aber auch er wettert gegen "gleichgeschaltete" Medien, aus dem Wahlkampf ist überliefert, dass er Redaktionen "in die Schranken weisen" wolle. Die Justiz, sagt der AfD-Mann, sei auf dem linken Auge blind.

Ehemalige NPD-Mitglieder - gebe es in der AfD nicht. Chrupalla hat nichts dagegen, wenn seine Parteikollegen Kontakt zu rechtsextremen Gruppen wie der Identitären Bewegung aufnehmen. Auch er habe das schon getan. "Ich rede mit allen Seiten, ich habe auch schon mit den Linken und den Grünen geredet."

Sätze, die vor Ehrgeiz strotzen

Reden will auch Landrat Lange. Er wird mit Chrupalla zusammenarbeiten, obwohl es ihn als altgedienten CDU-Mann nervt. Schließlich muss Chrupalla in Berlin für den Wahlkreis einstehen. "Wir werden uns treffen, und dann werde ich sehen, ob er die Komplexität der Themen begreift." Ein bedingungsloses Zusammenarbeiten, stellt Lange klar, werde es nicht geben. Er wolle genau darauf schauen, was der Neue tue und wie er sich äußere. "Kann er der Verantwortung gerecht werden? Das werden wir sehen."

Chrupalla selbst hat daran keine Zweifel. Zweifel sind seine Sache nicht. "Wenn ich zu einer Wahl antrete, will ich auch gewinnen", immer wieder sagt er solche Sätze, die vor Ehrgeiz strotzen.

Er weiß genau, dass seine Partei noch nicht etabliert ist in den Gemeinderäten und den Stadträten im Landkreis. Bundestagswahl hin oder her. Daran müsse man jetzt arbeiten, sagt er. Für manche klingt das wie eine Drohung.