«Adipositas ist eine Erkrankung des Gehirns»

Interview Jeanne Fürst und Fabienne Eichelberger, 11. Januar 2024

(Symbolbild: iStock)

43 Prozent der Menschen in der Schweiz leben mit Übergewicht oder starkem Übergewicht (Adipositas). Das ist zum Teil genetisch bedingt, sagt die Endokrinologin Katharina Timper.

Katharina Timper, wie entsteht Adipositas?
Es handelt sich um eine Erkrankung des Gehirns. Adipositas ist auf die Veränderung zahlreicher Gene zurückzuführen. Dadurch funktionieren gewisse Abläufe nicht mehr so, wie sie sollten. Das Hunger- und das Sättigungsgefühl sind etwa gestört. Daneben spielen umweltbedingte und psychosoziale Aspekte eine Rolle.

Betroffene können nichts für ihr Übergewicht?
Nein. Genauso, wie wir niemanden für Bluthochdruck verantwortlich machen, sollten wir auch niemandem die Schuld für Übergewicht zuschreiben.

Katharina Timper ist leitende Ärztin Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus am Unispital Basel.

Lassen sich die veränderten Abläufe im Gehirn rückgängig machen?
Sie lassen sich zumindest positiv beeinflussen. Die Herausforderung für die Zukunft wird sein, unterschiedliche Formen von Adipositas zu identifizieren und etwa zu erkennen, weshalb einige Betroffene besser auf Medikamente ansprechen als andere. Anhand von Markern im Gehirn, im Fettgewebe und im Blut hoffen wir, Muster zu entdecken und noch individuellere Therapieansätze anzubieten.

Wie wird Adipositas aktuell behandelt?
Zur umfassenden Therapie gehören eine Ernährungsberatung sowie eine individuelle Anleitung zur körperlichen Aktivität. Bei psychischen Erkrankungen oder Essstörungen ist eine psychiatrische oder psychosomatische Behandlung essenziell. Spezifische Adipositas-Therapien beinhalten operative Eingriffe oder Medikamente.

Zum Beispiel die Abnehm-Spritze Ozempic?
Ozempic ist keine Abnehm-Spritze. Es ist ein Medikament, das ausschliesslich für Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 zugelassen ist. Für die Behandlung von Adipositas ist hierzulande seit November Wegovy erhältlich. Leider besteht für beide Präparate eine viel zu geringe Verfügbarkeit. Darum ist es wichtig, dass sie nicht missbräuchlich angewandt werden – etwa, um die Figur zu optimieren. Dies hat zur Folge, dass noch weniger Menschen die für sie lebenswichtigen Medikamente erhalten können.

Wann wird zu einem operativen Eingriff wie einem Magen-Bypass geraten?
Wenn ein Body-Mass-Index von 35 kg/m² und mehr sowie Begleiterkrankungen vorliegen. Operationen zur Magenverkleinerung sind sehr sicher und lassen Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck oft nach wenigen Tagen verschwinden. Sie verlängern das Überleben um knapp zehn Jahre bei Patientinnen und Patienten mit Typ- 2-Diabetes und um knapp sechs Jahre bei solchen ohne Typ- 2-Diabetes.

 

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