Bericht Schweizer Familie, Ausgabe 33, 13.8.2015

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MENSCHEN

Martin Fässler chauffiert mit dem Ochsenwagen Gäste durch die Waldegg ob Teufen AR.

Ausflug in die ALTEN ZEITEN Vom Biberbacken über Schulunterricht im «Tintelompe» bis zum Schaukäsen. Im SCHNUGGEBOCK bei Teufen erleben Gäste, wie es anno dazumal war, und finden Gefallen an beschaulichen Stunden ganz ohne «noimödigs Zügs». Text Gabriela Meile  Fotos Daniel Ammann

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Schweizer Familie 33/2015

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MENSCHEN

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Chläus und Anita Dörig füttern ihre Heidschnucken.

Stallbursche Jock mit ausgestopftem Schnuckenbock (o.), der «Schnuggebock», die Besitzerfamilie Dörig mit Töchtern, Schwiegersohn und Enkeln (l.).

«Früher war nicht alles besser. Aber man hat miteinander geredet, statt auf das Handy zu starren.»

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ine Büchse Ananasringe. Chläusli staunt, als Mutter sie ihm hin­ streckt. Sie hat haushalten müssen, um das Geld für die exotische Speise ­aufzubringen. Feierlich öffnet sie die Kon­ serve, legt jedem aus der Familie eine Fruchtscheibe auf den Teller und verziert sie mit Rahm. Ein Festschmaus für den Buben, der auf der Waldegg oberhalb ­Teufen im Appenzellerland bescheiden aufwächst: in einem Holzhaus, wo der Ka­ chelofen in der Stube die einzige Wärme­ quelle ist und sich die fünf Brüder ein Bett teilen. Die Geschichte über die ersten Ananas­ ringe in Chläuslis Leben erzählt Jock den Leuten gerne, die ihn auf der Waldegg ­besuchen. Der Stallbursche plaudert lie­ ber mit den Gästen und pafft seine Lin­

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Chläus Dörig, «Schnuggebock»-Besitzer

dauerli-Pfeife, als die vierzig Heidschnu­ cken, die Esel, Schweine und Ochsen zu versorgen. «Der Chef schimpft zwar manchmal», sagt er und kratzt sich unter der schwarzen Zipfelmütze an seinem ­roten Schopf. «Aber das Arbeiten habe ich wills Gott nicht erfunden.» Kaum hat er den Satz beendet, kommt der Chef um die Ecke: Niklaus Dörig, 62, ist der Besitzer des Gastrobetriebs «Erleb­ nis Waldegg». Längst hört er nicht mehr auf den Namen Chläusli, sondern Chläus. 1982 hat er die ehemalige «Puurebeiz», in der er aufgewachsen war, von seiner Mut­ ter Rosa Dörig übernommen. 2001 eröff­ nete er nebenan mit seiner Frau A ­ nita, 55, den «Schnuggebock». Unter seinem Dach sind ein Bauernhaus aus den Fünfzigern mit Küche, Stube, Stall und Dachstock, ein

Tante-Emma-Laden und ein altes Schul­ zimmer nachempfunden. Überall können Gäste essen und sich der Nostalgie hin­ geben. «Damit bewahre ich ein Stück Ver­ gangenheit», sagt Dörig. Er erinnert sich gerne an «die gute alte Zeit», obwohl seine Kindheit als Sohn von Bauers- und Wirts­ leuten oft entbehrungsreich war. «Früher war nicht alles besser», sagt er. Aber man habe noch Zeit gehabt, zusammengehal­ ten, gespielt und gejasst. «Vor allem hat man miteinander geredet, statt auf das Handy zu starren.» Im «Schnuggebock» geht alles langsa­ mer als sonst: Vor der Bestellung spielen die Gäste Eile mit Weile, und das Personal nimmt sich Zeit, die Geschichte und die Gerichte des Hauses zu erklären. Die Spei­ sen wie Chäshörnli, Beinschinken oder

Heidschnuckenfleisch werden saisonal zu­ bereitet, Cola oder Pommes stehen nicht auf dem Menüplan. Bezahlen kön­ nen die Gäste bar oder auf Rechnung – Kredit­karten gab es früher noch nicht. Handys sind verpönt. «Noimödigs Zügs», betont Stallbur­ sche Jock, «wollen wir hier nicht.» Er nickt Chläus Dörig zum Abschied zu. Dann schlendert er mit den Händen im Hosensack vorbei an Waldemar, dem ausgestopften Heidschnuckenbock. Er war 1994 der Erste seiner Schafrasse, der auf der Waldegg ein Zuhause fand, und gab dem Restaurant seinen Namen.

«Schnucke ist Plattdeutsch und bedeutet Schaf», doziert Jock. «Sagst du deinem Schatz also Schnuckiputz, heisst das so viel wie Schofseckel.» Der Boden knarrt unter seinen Schritten. Das Holz von sechs alten Bruchhäusern war nötig, um den «Schnuggebock» zu bauen. «Keine modernen Schrauben halten die Balken zusammen, sondern schmiedeeiserne und hölzerne Nägel.» Altertümliches bestaunen Im Schloff, dem Dachstock, sind die Mö­ belstücke wild zusammengewürfelt, Ti­ sche und Stühle stehen neben den Betten

der Magd und des Knechts. Die altertüm­ lichen Bügeleisen, Nähmaschinen und Bücher sind so aufgestellt, dass die Besu­ cher sie bestaunen können. In Tante Em­ mas «Ladebeizli» gibt es antike Schränke, Schreibmaschinen und Spieluhren zu ent­ decken, Haushaltsutensilien aus früheren Zeiten, auch altes Friseurinventar, Rezepte wie Kalbskopf oder eingelegtes Herz. Ein Ehepaar um die achtzig schaut sich um. Der Mann sagt zu seiner Gattin: «Siehst du? Genau so war es damals in unserer Kindheit.» Als eine Magd mit einem Tablett vor­ beihuscht, folgt ihr Jock in die Stube. Der ➳ Schweizer Familie 33/2015

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In der Stube sorgt Hackbrettspieler Urs Fässler für Unterhaltung (l.), während die Gäste selbst schöpfen.

Im «Tintelompe» gibt Martin Spirig in seiner Rolle als Lehrer Max Bünzli Unterricht wie anno dazumal.

«Das Schulprogramm im ‹Tintelompe› war witzig, unterhaltsam und aussergewöhnlich.»

Stallbursche sagt: «Jetzt gibts Gsöff und Haber» – Getränke und Essen. Die Suppe dampft aus dem Emailletopf. «Betet ihr nicht vor dem Essen?», fragt Jock die ­Gäste und stimmt einen Kanon an: «Für Speis und Trank, fürs täglich Brot, wir danken Dir, o Gott!» Er hört nicht auf zu singen, bis alle mitmachen. Der «Schnuggebock» ist nicht bloss eine Kulisse. Er ist ein Theater. Und die Besucher sind Teil des Stücks, das etwa «Anno dozmol» oder «Weisch no?» heis­ sen könnte. Die Gäste müssen selbst schöp­ fen und das Geschirr zusammenstellen. Wer sich nicht daran hält, bekommt von der Magd – so werden hier alle Service­ frauen genannt – eine Zaine mit Wasser und einen Lappen. «Jetzt müsst ihr ab­ waschen», heisst es jeweils. 16

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Kurt Schneider, «Schnuggebock»-Gast

Plagt ein dringendes Bedürfnis den Besuch, schicken ihn die Magd oder Jock in den Keller. Für die Damen ist dort das «Läubli», wie die Appenzeller ihre WCRäume nennen, wie eine Waschküche ­eingerichtet. Die Toiletten sind in Holz eingelassen, Klobrillen gibt es nicht. Für die Herren ist das «Läubli» wie ein Wald gestaltet. «Hier dürfen wir Mannen noch an die Scheiterbeige brunzen», sagt der Stallbursche. Starker Zusammenhalt Chläus Dörig wuchs auf, wie er und sein Team die Szenerien nachstellen. Luxus kannten er, seine vier Brüder und die Schwester nicht. Die Eltern Sepp und Rosa Dörig führten ab 1948 die «Puurebeiz Waldegg» und betrieben nebenbei Land­

wirtschaft. Als der Vater starb, war Chläusli 15. Er half zu Hause und lernte nebenbei den Beruf des Zimmermanns. Doch auf dem Bau behagten ihm weder Tätigkeit noch Umgangston. Dörig absolvierte zu­ sätzlich eine Lehre als Koch, bildete sich im hohen Norden und in London weiter. Als er Anfang der Achtzigerjahre in die Schweiz zurückkehrte, half er seiner Mut­ ter in ihrem Restaurant, bis die «Puure­ beiz» von Rosa Dörig 1981 niederbrannte. Man einigte sich darauf, Chläus soll über­ nehmen. «Mutter hätte vermutlich nicht noch einmal neu angefangen. Aber ich liess das Restaurant wieder aufbauen», er­ zählt Dörig. In jener Zeit begegnete er seiner späte­ ren Ehefrau. «Auf dem Tanz», wie die bei­ den sagen. Als die Beziehung ernst wurde,

Rustikales Stehklo für Männer, Magd Doris bringt das Essen, prachtvoll verzierte LindauerliPfeife (v. o.).

fragte Chläus seine Anita, ob sie sich von der Kosmetikerin nicht für das Gastge­ werbe umschulen lassen wolle. «Eine, die keine Ahnung vom Beizen hat, wollte ich auf keinen Fall», sagt er und lacht. Anita Dörig fügt an: «Deshalb begann ich nach unserer Hochzeit die Lehre als Service­ angestellte.» Hochschwanger mit Zwillin­ gen, bestand sie 1987 die Abschlussprü­ fungen. Auf Patrizia und Cornelia folgten die Mädchen Ramona und Alexandra. Die Töchter sind im Betrieb integriert: Alexandra, 22, und Patrizia, 28, als Aushil­ fen nebst ihren anderen Berufen, Ramona, 23, ist gelernte Köchin und macht derzeit

ein Praktikum im Service, wo auch Cor­ nelia, 28, jeden Donnerstag anpackt, wenn ihre Mutter auf die beiden Kinder Julian, 6, und Fiona, 1, aufpasst. Die vier Frauen sind stolz darauf, was ihre Eltern mit dem «Erlebnis Waldegg» geschaffen haben, und unterstützen sie. «Unser Zusammenhalt ist stark», betonen sie. Grossmutter Rosa, die vor sechs Jahren verstorben ist, habe ihnen stets vermittelt, wie wichtig dieser sei. Grossmutters Geist schwebt auf der Waldegg über allem, verbindet die Gene­ rationen und lässt die vergangenen Zeiten aufleben. Das Brot im «Schnuggebock» ­etwa kommt aus der eigenen Bäckerei ➳


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Bäcker Christian Meier schiebt Brotlaibe in den Holzofen aus dem Jahr 1854 (ganz links), der Pfau zeigt sein Federnkleid.

Stallbursche Jock (l.) trägt die originalgetreue Appenzeller Tracht, von Schuhen und Socken bis zum Lindauerli stimmt alles.

­ it­­rädli. Sie wurde zwar erst 2012 eröffnet, Z doch der Holzofen stammt aus dem Jahr 1854. «Der Chreste macht alles nach altem Handwerk», sagt Jock und zeigt auf Chris­ tian Meier, 62, der Dinkelteig knetet. «Ich heize den Ofen morgens ein und backe anschliessend den ganzen Tag mit seiner Wärme», erklärt Meier. Zuerst das Brot, dann die Wähen, Biber und andere Süssigkeiten wie das Ziträdli-Guetsli, das sein Grossvater erfand. «Hier kann ich gemächlicher arbeiten als in einer ge­ wöhnlichen Bäckerei. Der Ofen gibt die Zeit vor», sagt Christian Meier und schiebt Brotlaibe hinein. Draussen ertönt ein Knarren. Martin Fässler, 52, fährt mit dem Ochsenwagen vor. Mit Peter und Paul pflügt er das Feld hinter dem Haus der Familie Dörig, wo Gerste für hauseigenen Whisky wächst. Und mit ihnen chauffiert er Gäste durch die Waldegg. Anderthalb Jahre trainierte Fässler Peter und Paul, bis er sie als Zug­ tiere einsetzen konnte. «Jetzt sind sie zahm wie Pferde – aber viel gemütlicher.»

DAS BIETET «ERLEBNIS WALDEGG» Zum «Erlebnis Waldegg» gehören ein Höhenrestaurant mit Terrasse und ­Gartenbeiz, ein Spielplatz mit Streichelzoo, ein Rundgang von etwa 50 Minuten, der Kräuter- und Erlebnisweg Teufen sowie der Waldegg-Mandli-Weg von rund 30 Minuten für Kinder und Eltern. Die grösste Attraktion ist der «Schnuggebock».

Grossmutters Bauernhaus als Nostalgieerlebnis: ☛S chaukäsen am Freitag oder auf Anfrage. ☛ J eden Samstagabend Appenzeller Musik. Gruppenangebote auf Anfrage: ☛« Tintelompe», Kurz­­programm mit Apéro 1½ Stunden, mit Menü 3½. ☛« Ziträdli»: Biber backen oder Schinken im Brot-

teig aus dem Holzofen geniessen, eigenen Dessert zubereiten und Kaffee rösten. ☛ Hackbrettunterhaltung mit Witzen. ☛ Führungen durch das «Erlebnis Waldegg» mit Stallbursche Jock. ☛ Jodelunterhaltung. ☛ Ochsenwagen-Fahrt. Infos 071 333 12 30 oder www.waldegg.ch

«Ich heize den Ofen morgens ein und backe anschliessend den ganzen Tag mit seiner Wärme.» Christian Meier, Bäcker

gebucht. «Ich wollte einen besonderen Betriebsausflug», sagt er, und sein Wunsch geht in Erfüllung: Lehrer Bünzli verteilt Namensschilder, und aus Schneider wird der Viertklässler Ernstli. Anderthalb Stun­ den schimpft Bünzli mit ihm oder seinem Kumpanen Joggeli, lobt Zisch­geli und ta­ delt Babettli. Die Teilnehmer schreiben

Diktate, rechnen, singen, büffeln Geome­ trie und lachen über Bünzlis Sprüche. Am Schluss sind sich alle e­ inig: «Das Programm war unterhaltsam und aussergewöhnlich.» «Waldegg»-Chef Chläus Dörig legt Wert auf Authentizität. «Aber die Leute sollen Freude haben an der alten Zeit», sagt er. An düstere Kapitel wie das Ver­

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Lehrer Bünzli tadelt Babettli Aus dem «Schnuggebock» schrillt eine Schulglocke. Der Unterricht im «Tinte­ lompe» beginnt. Das Klassenzimmer ist eingerichtet mit Holzbänken, Tintenfäss­ chen, Schreibfedern und ledernen Schul­ ranzen. Martin Spirig, 52, ist in seine Rolle als Lehrer Max Bünzli geschlüpft, bläst in seine Trillerpfeife und schickt die Gäste hinein. Über 400 Gruppen lassen sich jährlich auf das Abenteuer «Schule anno dazumal» ein. Heute hat Wirt Kurt Schnei­ der, 56, aus dem Kanton Aargau das ­Comedyprogramm für seine Angestellten

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So gut schmeckt laktosefrei. 18

dingkindwesen oder Schläge in der Schule will er sie nicht erinnern. Vielmehr sollen sie schöne Geschichten zu hören bekom­ men – wie jene von seinen ersten Ananas­ ringen. Und wenn die Gäste nach Hause zu ihrem «noimödige Zügs» fahren, winkt ihnen Jock mit seinem roten Taschentuch hinterher. ●

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