Biographie

Wischnewski, Hans- Jürgen

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Politiker, Bundesminister
* 24. Juli 1922 in Allenstein
† 24. Februar 2005 in Köln

Der Vater stammte aus Gelsenkirchen, hatte bei der Reichswehr den Zivilversorgungsschein erworben und kam als Zollbeamter nach Allenstein. Die Mutter, Anna Auguste Margarete Tomuschat, stammte aus Masuren. 1927 wurde der Vater nach Berlin versetzt, so daß Hans-Jürgen dort das Theodor-Körner-Realgymnasium bis zum Abitur 1941 besuchte. Unmittelbar danach wurde er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und nach Kriegsausbruch mit der Sowjetunion als Arbeitsdienstmann im Straßenbau in Rußland eingesetzt. 1942 wurde er als Rekrut zu den Kradschützen eingezogen und war bei Kriegsende 1945 Oberleutnant der Reserve in einem Panzergrenadier-Regiment.

Aus kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Österreich wurde er nach Niederbayern entlassen, ging vorübergehend zu seinen Eltern nach Ost-Berlin, kehrte aber 1946 nach Niederbayern zurück. Hier trat er am 20. August 1946 der SPD bei und arbeitete als Metallarbeiter. Als Mitglied der IG Metall wurden ihm bald Gewerkschaftsaufgaben übertragen. Auf Rat seiner Gewerkschaft verzichtete er auf das beabsichtigte Studium der Germanistik und Literaturgeschichte und wurde von der IG Metall zur Schulung für eine geplante hauptamtliche Tätigkeit nach Köln geschickt. 1953-1959 arbeitete er hier als Gewerkschaftssekretär. In dieser Zeit begann auch sein Aufstieg in der SPD. Wischnewski betätigte sich zunächst in der Jugendarbeit der SPD, erst bei den „Falken“, dann bei den Jungsozialisten. 1955-1968 war er Vorsitzender des Kreisverbands Köln der SPD, Mitglied des Bezirksvorstands Mittelrhein der SPD und vom 25. April 1959 bis zum 21. Oktober 1961 Bundesvorsitzender der Jungsozialisten. Im Jahre 1957 zog er über die Landesliste für seine Partei in den Deutschen Bundestag ein – danach stets als direkt gewählter Abgeordneter seines Kölner Wahlkreises – und war bis 1990 Mitglied des Bundestags, kandidierte dann aus Altersgründen aber nicht mehr.

Schon früh galt Wischnewskis Interesse neben der deutschen Sozialpolitik auch dem politischen Geschehen außerhalb der Bundesrepublik. Bereits als Vorsitzender der Jungsozialisten hatte er sich für den algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) stark engagiert und knüpfte Kontakte mit der algerischen Befreiungsfront FLN unter Ben Bella, die für die Unabhängigkeit von Frankreich kämpfte. Wischnewski wurde später Präsident der Deutsch-Algerischen Gesellschaft, gehörte dem Präsidium der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft an und war in den Jahren 1964-1966 und 1970-1971 Präsident des Kuratoriums der deutschen Stiftung für Entwicklungshilfe, die auch die Länder der nordafrikanischen Maghreb-Staaten unterstützte. Durch seine häufigen Begegnungen mit Land und Leuten lernte er die Mentalität der Einwohner dieser Staaten kennen und gewann die persönliche Freundschaft von einer Reihe von Politikern dieser Länder.

Obgleich Wischnewski ein Gegner der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger war, übernahm er in ihr am 1. Dezember 1966 das Amt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, war also auch für die deutsche Entwicklungshilfe zuständig. Er trat am 2. Oktober 1968 von diesem Amt zurück, da er im Juni 1968 Bundesgeschäftsführer seiner Partei geworden war. In dieser Funktion leitete er den Wahlkampf zur Bundestagswahl von 1969, die den Wechsel zur SPD-geführten Koalition mit Willy Brandt als Kanzler brachte. Wischnewski selbst gehörte der Regierung Brandt nicht an. Allerdings flog er wegen seiner guten Kontakte in der arabischen Welt im September 1970 nach Amman (Jordanien), wo er sich mit Erfolg um die Freilassung von Geiseln, auch deutschen, bemühte, die von palästinensischen Guerillas gefangen genommen waren. Als die sog. Hallstein-Doktrin durch die Große Koalition modifiziert und von der Regierung Brandt unwirksam gemacht wurde, mußte Wischnewski erneut seine Kontakte nutzen, um die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den arabischen Staaten zu erreichen.

Als Bundesgeschäftsführer mahnte Wischnewski bei seiner jetzt die Regierung stellenden Partei Geschlossenheit an und auch eine Abgrenzung zu den Kommunisten. Auf dem Parteitag im Mai 1970 wurde er in den Parteivorstand gewählt und auch Mitglied des Parteipräsidiums. Als er sich 1971 bei seiner Partei mit seinem Plan nicht durchsetzen konnte, den Bundesgeschäftsführer durch direkte Wahl zu bestimmen, trat er Ende 1971 von diesem Amt zurück. Im Juni 1972 wurde er aber einer der 18 Beisitzer der Fraktion und übernahm im SPD-Vorstand den Vorsitz der Kommission für internationale Beziehungen. Als Kanzler Brandt wegen der sog. Guillaume-Affäre zurücktrat, wurde Wischnewski in der Regierung von Helmut Schmidt am 16. Mai 1974 Parlamentarischer Staatssekretär des Auswärtigen Amts mit dem Titel Staatsminister. Obwohl er für Europafragen zuständig war, wurde Wischnewski immer öfter mit schwierigen Sondermissionen in aller Welt betraut. Nach der Bundestagswahl von 1976 wechselte er im Dezember 1978 in das Amt eines Staatsministers im Auswärtigen Amt, wo er für die Koordinierung der Deutschland- und Berlin-Politik zuständig war. Er blieb auch weiterhin Krisenmanager, so nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer (1915-1977) durch RAF-Terroristen und besonders im März 1978 bei den Verhandlungen in Mogadischu (Somalia), die zur Befreiung der Geiseln in der von der RAF nach Mogadischu entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch die Anti-Terror-Gruppe GSG 9 führten. In der Parteihierarchie stieg Wischnewski auf dem Parteitag im Dezember 1979 zum 2. stellvertretenden Vorsitzenden hinter Willy Brandt auf, gab darauf aber am 10. Dezember 1979 sein Amt als Staatsminister auf, das er aber nach seinem Verzicht auf eine erneute Kandidatur zum stellvertretenden Parteivorsitzenden auf Wunsch von Helmut Schmidt vom 28. April 1982 bis zur Abwahl des Kanzlers Schmidt am 1. Oktober 1982 wieder innehatte.

Auch als Oppositionspolitiker besuchte Wischnewski weiter arabische Staaten und Israel und gehörte zu den Politikern, die sich auf dem Parteitag im November 1983 gegen die strikte Ablehnung der Stationierung von amerikanischen Atomraketen in der Bundesrepublik durch den Parteivorstand aussprachen. Von Mai 1984 bis September 1985 war er Schatzmeister der SPD, legte aber dieses Amt nach persönlichen Differenzen mit dem damaligen Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Bundestag, Hans-Jochen Vogel, wegen des Scheiterns seiner Bemühungen zur Sanierung der Parteifinanzen und wegen Ablehnung der von Wischnewski geforderten Einstellung der verlustreichen Parteizeitung „Vorwärts“ durch die Partei nieder. Mit dem Amt des Schatzmeisters gab er auch die an dieses Amt gebundenen Sitze in Parteipräsidium und Vorstand der SPD auf. Dennoch ließ er sich 1987 wieder zum Beisitzer des Fraktionsvorstands wählen. Auch die Regierung von Helmut Kohl (CDU) bat Wischnewski wiederholt um seine Hilfe als Krisenmanager, so nach der Entführung der Tochter des Präsidenten von San Salvador, Duarte, (1988) und bei verschiedenen anderen Entführungen. Besonders wichtig waren seine Verhandlungen im mittelamerikanischen Friedensprozeß (1987-1988), die schließlich zum Waffenstillstand zwischen der Regierung von Nicaragua und den Rebellen führten.

Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 kandidierte Wischnewski aus Altersgründen nicht mehr, blieb aber in der Partei und der Sozialistischen Internationale aktiv und knüpfte erste Kontakte zwischen der israelischen Regierung und den Palästinensern. Im Juni 2002 trat er zusammen mit anderen aus der Deutsch-Arabischen Gesellschaft aus, weil er Äußerungen von deren Vorsitzendem, Jürgen W. Möllemann (FDP), als antisemitisch ablehnte. Noch 2003 war er als Berater deutscher Firmen im arabischen Raum tätig, traf sich 2004 mit dem libyschen Revolutionsführer Gaddafi und arbeitete für den Beginn eines neuen politischen Verhältnisses zu Libyen.

Wischnewski war ein „Vollblut-Politiker“ und arbeitete auf so vielen Gebieten und so hart, daß seine Gesundheit darunter immer wieder erheblich litt. Bei seinem Tode wurden seine vielfältigen Verdienste herausgestellt. Er war nicht nur SPD-Mitglied, sondern arbeitete auch über Parteigrenzen hinweg, wenn es die Situation erforderte. Besonders wichtig war sein gutes, z.T. persönliches und freundschaftliches Verhältnis zu den Menschen und Politikern im Nahen Osten. Er kannte den Islam und besaß großes Einfühlungsvermögen, so daß er viele schwierige Situationen mit großem Verhandlungsgeschick lösen konnte, weshalb ihm Willy Brandt den liebevollen Spitznamen „Ben Wisch“ gegeben hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern war Wischnewski nicht nur ein manchmal unbequemer Mann, sondern ein anerkannter „Brückenbauer“.

Lit.: Hans-Jürgen Wischnewski, Mit Leidenschaft und Augenmaß, München 1991. – Deutscher Bundestag. Wissenschaftlicher Dienst: Zeitungsausschnitte 1966-88. – Munzinger-Personen-Archiv, verschiedene Ausgaben 1968-2005. – Klaus J. Bade, Hans-Jürgen Wischnewski, in: W. Bernecker/V. Dotterweich (Hrsg.), Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland, 1982 (benutzt in: Dt. Biogr. Archiv III, Fiche 1000, Feld 407-417). – Martin Schumacher, M.d.B., Volksvertretung im Wiederaufbau 1946-1961, Düsseldorf 2000, S. 467. – Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestags 1949-2002, Bd. 2, München 2002, S. 962-963.

Bild: Privatarchiv des Autors.

Klaus Bürger