Auf einen Blick
- 35 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl will die Ukraine das Sperrgebiet rund um den Unglücksreaktor neu nutzen.
- Tourismus gehört dazu – mit Besuchen, die erinnern und nachdenklich machen sollen.
Die Zone um den Unglücksreaktor von Tschernobyl kündet vom schlimmsten Atomunfall, den die Welt je erlebt hat. Wie ein unheilvolles Mahnmal wirkt die weite Leere um das einstige Nuklearkraftwerk. Aber 35 Jahre nach der Explosion setzt die Ukraine auch auf eine Wiederbelebung des Sperrgebiets.
„Dies ist ein Ort der Tragödie und der Erinnerung“, sagt Bohdan Boruchowskji, der stellvertretende Umweltminister der Ukraine. „Aber es ist auch ein Ort, an dem man sehen kann, wie Menschen die Folgen einer globalen Katastrophe bewältigen.“ Diese Katastrophe geschah, als der Unglücksreaktor Nummer 4 am 26. April 1986 explodierte und radioaktives Material in die Luft spie. Nach dem Willen der Regierung soll es 35 Jahre später aber ein „neues Narrativ“ geben, über eine „Zone der Entwicklung und Wiederbelebung“, wie Boruchowskji sagt.
100.000 Menschen verloren ihr Zuhause
Am Tag nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl, rund 110 Kilometer nördlich der Hauptstadt Kiew, wurde nur die nahe gelegene Arbeiterortschaft Pripjat evakuiert. Die Öffentlichkeit wusste zunächst nichts von der Bedrohung. Auch die zwei Millionen Einwohner von Kiew wurden nicht informiert. Erst als in Schweden erhöhte Radioaktivität gemessen wurde, erfuhr die Welt vom Super-GAU in der Ukraine.
Schließlich mussten mehr als 100.000 Menschen die Umgebung verlassen, ein 2600 Quadratkilometer großes Sperrgebiet wurde eingerichtet. Innerhalb dieser Zone versuchten Arbeiter, verstrahlten Müll zu entsorgen. Über den Reaktor wurde hastig ein Sarkophag gestülpt. Dennoch trat bis 2019 noch Radioaktivität aus, bis das gesamte Kraftwerk in einen riesigen Schutzmantel gehüllt wurde.
„Unser Tourismus ist einzigartig“
Darunter begannen Roboter mit dem Zerlegen des Reaktors. Bei den Behörden wuchs die Zuversicht, das Gebiet künftig wieder nutzen zu können.
Für Vizeminister Boruchowskji zählt dazu auch der Tourismus. „Unser Tourismus ist einzigartig, es ist nicht ein klassisches Konzept des Tourismus“, betont er. „Dies ist ein Gebiet des Nachdenkens und der Reflexion, ein Areal, auf dem man die Folgen menschlicher Fehler sehen kann, aber man kann auch menschliches Heldentum sehen, das diese korrigiert.“ Nach einer hochgelobten TV-Miniserie 2019 verdoppelte sich bereits die Besucherzahl in der Region Tschernobyl – und die Behörden setzen darauf, dass der Fremdenverkehr nach Corona weiter zunimmt.
Spazieren zwischen Trümmern und Atommüll
Eine der traurigen Attraktionen sind die Ruinen von Pripjat, einst eine moderne Arbeiterstadt mit 50.000 Einwohnern. Damit die Besucher besser zwischen den Trümmern durchlaufen können, werden derzeit neue Wege angelegt.
Im einstigen Kraftwerk selbst gehen die Abbauarbeiten weiter. Boruchowskji zufolge werden die vier Reaktoren erst 2064 zerlegt sein. Auf dem Areal sollen künftig außerdem abgebrannte Brennelemente der vier letzten Atomkraftwerke des Landes zwischengelagert werden. Weil der Atommüll nicht wie bisher nach Russland gebracht wird, will die Ukraine so geschätzt etwa 165 Millionen Euro pro Jahr sparen.
100 Menschen leben in Verbotszone
„Wir tun unser Möglichstes, damit dieses Gebiet, in dem keine Menschen leben können, mit Gewinn genutzt wird und dem Land einen Profit verschafft“, sagt Serhij Kostjuk, Chef der für das Sperrgebiet zuständigen Behörde. Auch wenn die Strahlungswerte als niedrig genug gelten, um Tourismus und Arbeit auf dem Gelände zu ermöglichen, so ist das Wohnen dort nach wie nicht gestattet. Dennoch leben in der Zone, die 30 Kilometer um das Kraftwerk gezogen wurde, mehr als 100 Menschen – dem Verbot zum Trotz.
Zu ihnen gehört der 85-jährige Jewgeni Markewitsch. „Es ist ein großes Glück, zuhause zu wohnen“, sagt der ehemalige Lehrer, „aber es ist traurig, dass es nicht mehr ist wie früher.“ In seinem Garten baut der ehemalige Lehrer Kartoffeln und Gurken an – die aber lässt er untersuchen. „Um mich etwas zu schützen“, sagt Markewitsch. Langzeitfolgen der radioaktiven Strahlung von Tschernobyl für die menschliche Gesundheit sind anhaltendes Thema der wissenschaftlichen Debatte.
„Kein Spielplatz für Abenteurer“
Zur Überraschung vieler, die über lange Zeit hinweg eine Todeszone um Tschernobyl erwartet hatten, kündet der Tierbestand von neuem Leben: Bären, Bisons, Wölfe, Luchse, Wildpferde und Dutzende Vogelarten haben sich in der menschenfreien Region breit gemacht. Die Tiere hätten sich viel widerstandsfähiger gegen Radioaktivität erwiesen als angenommen, erklären Forscher. Das könnte noch ein Zusatzargument für Besucher sein.
Die Ukraine möchte die Zone um Tschernobyl jetzt als UNESCO-Welterbe anerkennen lassen. Sie sei ein herausragender Ort für die gesamte Menschheit, betonen die Behörden. Tschernobyl dürfe aber kein „Spielplatz für Abenteurer“ werden, mahnt Kulturminister Oleksandr Tkatschenko. Wer immer auch die Zone besuche, solle sie mit dem Bewusstsein ihrer historischen Bedeutung und Erinnerung verlassen.