Dieser Atom-GAU wurde viele Jahre totgeschwiegen

Aktualisiert

Schlimmer als TschernobylDieser Atom-GAU wurde viele Jahre totgeschwiegen

1957 wurde bei einer Explosion in Russland mehr Radioaktivität freigesetzt als in Tschernobyl. Die Welt erfuhr erst 30 Jahre später davon.

F. Riebeling
von
F. Riebeling

Obwohl im russischen Osjorsk («Stadt am See») mehr als 82'000 Menschen leben, gab es bis vor ein paar Jahren kein einziges Strassenschild, das auf die Stadt hingewiesen hätte. Auch auf Landkarten war sie nicht zu finden.

Aber nicht nur deshalb trifft man dort so selten Menschen von ausserhalb: Bis heute dürfen Besucher nur auf Einladung und mit Genehmigung einreisen. Unter anderem der russische Geheimdienst muss sein Okay geben. Wer spontan reinmöchte, wird von elektrischen Zäunen und Soldaten gestoppt.

Der Grund dafür liegt weit in der Vergangenheit – als Osjorsk noch Tscheljabinsk-40 hiess.

Sperrzone mit eindeutigem Auftrag

Gegründet wurde die Stadt 1946 als Reaktion auf die beiden Atombomben, die die Amerikaner im Jahr zuvor auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten. Die Vorkommnisse hatten die Sowjets eiskalt erwischt, weil ihr Atomprogramm weit weniger fortgeschritten war.

Ein Unding, befand der sowjetische Diktator Josef Stalin. Und er befahl, nachzuziehen. Im Ural liess er gleich mehrere Rüstungsstädte errichten. Tscheljabinsk-40 war eine davon. Dafür wurde extra ein Gebiet von 980 Quadratkilometern zur Sperrzone erklärt.

Absolute Geheimhaltung

Abgeschottet von der Aussenwelt, arbeiteten dort Wissenschaftler unter Leitung des Atomphysikers Igor Kurtschatow rund um die Uhr an der Entwicklung der ersten sowjetischen Atombombe.

Zur Verfügung standen ihnen unter anderem sieben Reaktoren sowie eine chemische Anlage zur Trennung des spaltbaren Materials. Dreh- und Angelpunkt war jedoch die Anlage Majak in unmittelbarer Nähe von Osjorsk, in der waffenfähiges Plutonium hergestellt wurde (siehe Box 1).

Zu Hochzeiten waren in der kerntechnischen Anlage Majak, dem damals einzigen Arbeitgeber von Osjorsk, rund 25'000 Menschen beschäftigt. Mit Aussenstehenden über ihre Arbeit zu sprechen, war ihnen strengstens untersagt. Alles unterlag dem Militärgeheimnis. Das war so rigoros, dass bis Mitte der 1950er-Jahre niemand ausreisen durfte.

Verstrahlte Menschen ...

Die Geheimhaltung funktionierte so gut, dass sogar ein Atomunfall – der sogenannte Kyschtym-Unfall – mehrere Jahrzehnte vor der ganzen Welt verheimlicht werden konnte.

Nach einer Panne des Kühlsystems explodierten am 29. September 1957 80 Tonnen hochradioaktiver Abfall. Dabei wurde nach heutigem Wissensstand mehr atomare Strahlung freigesetzt als beim GAU von Tschernobyl. 270'000 Menschen wurden verstrahlt, Zehntausende in aller Eile evakuiert. Insgesamt 22 Dörfer mussten dem Erdboden gleichgemacht werden.

Die radioaktive Wolke bedeckte damals 23'000 Quadratkilometer.

Auf einer Fläche halb so gross wie die Schweiz rieselte radioaktives Material zu Boden. Dabei handelte es sich vor allem um langlebiges Strontium-90 und Cäsium-137. Beide Isotope richten im menschlichen Körper grossen Schaden an (siehe Box 2).

... und 32 Jahre Stillschweigen

Doch das alles wurde verschwiegen. Niemand, vor allem niemand aus dem Ausland, sollte erfahren, was vorgefallen war. Zwar wurden in den 1970er-Jahren vom sowjetischen Biochemiker und Dissidenten Schores Medwedjew erstmal Vermutungen geäussert, doch Glauben schenken wollte ihm niemand. Stattdessen landete er zeitweise in einer psychiatrischen Klinik.

So wurde erst 1989 im Rahmen von Glasnost offiziell bekannt, was 32 Jahre vertuscht worden war. Die Sowjetunion, in der Michail Gorbatschows Perestroika zu mehr Offenheit geführt hatte, informierte die Internationale Atomenergieagentur über die Katastrophe und das ganze Ausmass. Die Menschen, Tiere und Natur in der Region leiden noch heute an den Folgen.

Die Opfer erhalten kaum Entschädigung. Wer heute noch lebt, wird mit 60'000 Rubel abgespeist – umgerechnet rund 1000 Franken. (Video: Youtube/Kanal von Phnius1)

Kerntechnische Anlage Majak

Majak («Leuchtturm») war die erste Anlage zur industriellen Herstellung spaltbaren Materials für Kernwaffen der Sowjetunion. Seit 1987 wird dort jedoch kein kernwaffenfähiges Material mehr produziert. Haupttätigkeitsfelder sind seitdem die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen und die Produktion von Radionukliden. Diese werden in verschiedenen Bereichen der Technik und der Medizin eingesetzt.

Gefährliche Isotope

Sowohl Cäsium-137 als auch Strontium-90 sind relativ flüchtig und können – einmal freigesetzt – grosse Flächen kontaminieren. Auch im menschlichen Organismus können sie schlimme Schäden verursachen:

Cäsium-137 verhält sich chemisch wie das ungefährliche Kalium. So ist es beispielsweise sehr gut wasserlöslich. Deshalb verteilt es sich gut im Körper, wo es überwiegend in Muskel- und Organgewebe gespeichert wird.

Strontium-90 hingegen hat eine grosse chemische Ähnlichkeit mit Calcium. Deshalb lagert es der Körper vorwiegend in den Knochen und im Knochenmark ein. Das ist problematisch. Denn in unmittelbarer Nähe zum blutbildenden Gewebe steigern die radioaktiven Substanzen die Gefahr, Tumore zu entwickeln oder an Leukämie zu erkranken.

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