Drama auf der Loveparade: „Dann lag sie da – tot“

21 Tote, Hunderte Verletzte, Zehntausende von schrecklichen Erinnerungen: Die Love-Parade wühlt die Menschen auf. Hier ist die Geschichte von Christian Ortner aus Wolfratshausen
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Christian Ortner (r.) ist wieder in Wolfratshausen. Er kann den Tod von Clancie (l.) immer noch nicht begreifen.
Ohne Honorar Christian Ortner (r.) ist wieder in Wolfratshausen. Er kann den Tod von Clancie (l.) immer noch nicht begreifen.

21 Tote, Hunderte Verletzte, Zehntausende von schrecklichen Erinnerungen: Die Love-Parade wühlt die Menschen auf. Hier ist die Geschichte von Christian Ortner aus Wolfratshausen

Es ist das vielleicht bekannteste Foto der Katastrophe bei der Love-Parade: Menschen ziehen eine bewusstlose Frau die kleine Treppe hoch, an der sich die Massenpanik entzündet hatte. Hinter der Frau ist ein Mann zu sehen: Christian Ortner aus Wolfratshausen. Der 27-Jährige angehende Wirtschaftsingenieur studiert in Köln und wollte mit seinen Freunden in Duisburg feiern. Das Deasterfest endet auch für ihn und seine Begleiterinnen mit einer Katastrophe: Am Ende liegt eine der jungen Frauen tot auf der Straße. Hier erzählt Christian Ortner zum ersten Mal seine Geschichte:

Wir hatten schon am Haupteingang, an den Kontrollen vor dem Tunnel, ein komisches Gefühl. Ich war schon auf vielen solchen Events und weiß, wie es ist, wenn es eng wird. Aber es kamen immer mehr Menschen von hinten, es wurde gedrückt, die Menschen waren eingezäunt. Mädchen haben geschrien vor Angst und sind über die Zäune geklettert.

Als wir dann gegen 15.30 Uhr durch die Kontrolle waren und im Tunnel, dachte ich: Wir haben es überstanden. Dort war viel Platz. Wir waren zu sechst, meine Verlobte, ich und vier Freundinnen von uns aus Australien, darunter Clancie. Wir konnten Hand in Hand gehen und singen. Dann kamen wir zur Rampe, dem Zugang aus dem Tunnelbereich zur Love-Parade. Dort war alles mit Zäunen abgesperrt. Da bekamen wir es mit der Angst, weil wir wussten, wie viele Leute hinter uns noch kamen. Ich sagte einem Ordner dort: „Machen Sie auf, von hinten kommen viele Leute.“ Er sagte: „Nein, ich habe strikte Anweisungen.“ Ich sagte: „Dann melden Sie sich doch bei Ihrem Chef.“ Er sagte: „Das geht nicht, wir haben zu wenig Funkgeräte.“

Dann ging alles schnell. Wir wollten erst zurück, die Massen kamen uns entgegen, es wurde bedrohlich und eng. Wir drehten wieder um, waren eingekeilt. Ich habe zuerst an meine Verlobte gedacht: Ich habe sie vor mir hergeschoben, versucht, die anderen im Auge zu behalten. Der ganze Pulk wurde in Richtung der kleinen Treppe am Anfang der Rampe geschoben, wir mittendrin. Es gab keine Möglichkeit, sich weiter Richtung Festivalgelände zu bewegen. Die Masse schob zu der kleinen Treppe, hätten die Menschen so wie wir gewusst, dass man nur 50 Meter weiter vor zur Rampe muss, wären alle gerettet worden. Aber es war keine gezielte Bewegung mehr möglich. Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, was die Katastrophe ausgelöst hat: Am Tunnelausgang war alles mit Gittern abgesperrt, an den Tunneleingängen aber wurde plötzlich geöffnet. Hätten die Massen ungehindert aufs Festivalgelände strömen können wäre wahrscheinlich nichts passiert. Warum waren die Ordner an den beiden Punkten nicht im Kontakt?

Plötzlich war unsere Freundin weg. Wir anderen wurden die Treppe nach oben gedrückt, ich schob meine Verlobte hoch. Ich schrie: „Lasst doch die Frauen erstmal durch.“ Plötzlich zogen sie direkt vor mir auf der Treppe eine Frau bewusstlos hoch. Ich wollte helfen, aber die Polizei schob mich weiter. Schließlich waren wir oben. Ich dachte: „Nochmal gut gegangen, wir müssen unsere Freundin noch suchen, dann können wir endlich feiern gehen.“

Oben sortierten wir uns erstmal, dann ging ich allein zurück zur Kante. Die Ordnungskräfte wollten mich nicht durchlassen, es war ein ewiges Hin und her. Ich sah schockierende Szenen von oben, Menschen, die versuchten, sich zu retten, Polizisten, die Leute verprügelten, die helfen wollten. Die Polizei und die Ordner waren komplett überfordert. Sie liefen wild durcheinander, verhielten sich wie die Amateure. Ich ging zurück zu meinen Leuten, beschloss dann weiter zu suchen.

Schließlich war ich gegen 17 Uhr wieder an der Kante und hatte freien Blick nach unten. Es war das Schockierendste, was ich je gesehen habe. Die Polizei hatte gerade den Bereich unten geräumt. Ich sah Menschen in zerrissenen Kleidern auf dem Boden liegen. Mein erster Gedanke: Warum hilft ihnen keiner? Dann habe ich es verstanden: Sie waren tot. Ich muss einer der ersten gewesen sein, die diesen schrecklichen Blick nach unten hatten. Ein Polizist kam: „Sie dürfen das nicht sehen.“ Die Menschen dort sahen so unwürdig behandelt aus, in ihren zerfetzten Sachen und zertrampelt. Dann sah ich unsere Freundin. Ihr Gesicht war zugedeckt, aber ich erkannte ihre neuen Schuhe. Die hatte sie sich extra noch gekauft. Sie war tot.

Ich mache mir solche Vorwürfe, dass wir Clancie nicht retten konnten. Sie war einfach ein toller Mensch, so lustig und lebensfroh und erst 27. Aber die Masse war zu stark. Erst Stunden später hatten wir Gewissheit, als ein Beamter uns die Nachricht brachte.

Von da an verschwimmt alles. Wir waren alle völlig durch den Wind und mussten noch Stunden auf dem Gelände bleiben. Ich hatte das Gefühl: Keiner hilft uns, keiner ist vorbereitet, alle sind überfordert. Eine Psychologin betreute uns in einem finsteren Container. Es war beklemmend, sie sprach nicht einmal Englisch – bei tausenden von internationalen Gästen.

Wir mussten bis 21 Uhr auf dem Gelände bleiben. Wir bettelten einen Polizisten an: „Fahren Sie uns doch ans Ende des Geländes, dort nehmen wir ein Taxi.“ Er wusste nicht, ob er das darf, und hatte auch wieder kein Funkgerät. Dann rannte er zu seinem Einsatzleiter, zweimal hin und her, um zu klären, ob wir endlich weg durften. Irgendwann durften wir, irgendwann waren wir endlich mit dem Taxi in Köln.

Protokoll: Frank Müller

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