Bernhard Schlink: „Den Satz ‚Jedem das Seine‘ haben die Nazis gestohlen“

Ein Gespräch über seinen neuen Roman „Das späte Leben“, über den Kompass im Leben und das Positionieren in der Öffentlichkeit.

Bernhard Schlink im Innenhof der Staatsbibliothek Unter den Linden.
Bernhard Schlink im Innenhof der Staatsbibliothek Unter den Linden.Volkmar Otto

Wir treffen Bernhard Schlink, den Autor des weltberühmten Romans „Der Vorleser“ und vieler weiterer Bücher, in der Cafeteria der Staatsbibliothek Unter den Linden. Das ist gegenüber seinem jahrzehntelangen Arbeitsplatz als Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität. Sein Roman „Das späte Leben“, der am 13. Dezember bei Diogenes erscheint, spielt in einem der wohlhabenden Außenbezirke Berlins. Das Paar Martin und Ulla ist dorthin gezogen, um dem gemeinsamen Sohn ein Aufwachsen mit Garten zu ermöglichen. Der Roman beginnt mit Martins Zaudern nach einer schlimmen Diagnose. „Wenn er nur nicht zum Arzt gegangen wäre!“ Und so dreht sich das Interview auch um das Alter und Sterben.

Herr Schlink, Ihr Held im Roman „Das späte Leben“ ist 76 Jahre alt, zwar noch fit zu Beginn des Buches, er weiß aber, dass er eher als erwartet sterben muss. Sie waren schon älter als Ihre Figur, als Sie mit dem Schreiben begannen. Wie fühlt sich das an?

Ich habe in meinen Büchern über Jüngere wie über Ältere geschrieben, einmal kommen die Erinnerungen ins Spiel, das andere Mal die Erwartungen. Gerhard Selb, der Privatdetektiv meiner Kriminalromane, war, als ich über ihn geschrieben habe, viel älter als ich, und ich fand das keine schlechte Art, mich auf das Alter vorzubereiten. In das Schreiben von „Das späte Leben“ ist, wie soll’s auch anders sein, meine Erfahrung des Alters eingegangen.

Aber ist es nicht unheimlich, von der Vorbereitung auf den Tod zu schreiben? Weil man sich hineinversetzt?

In meinem Alter muss ich mich nicht in die Vorbereitung auf den Tod hineinversetzen, sondern bereite mich auf ihn vor. Nicht, dass ich krank wäre und einen baldigen Tod erwartete, und mich auf ihn vorbereiten, heißt nicht, ständig an ihn zu denken oder für ihn zu planen. Aber wenn Geschwister, Freunde und Weggefährten sterben, wenn, wie man sagt, die Einschläge näher kommen, steht an, sich mit dem Tod ins Benehmen zu setzen.

Heißt sterben loslassen?

Ja, und es fällt je nach Lebenssituation leichter oder schwerer. Martins Ehe mit Ulla ist noch jung und sein Sohn David noch klein. Wenn die Kinder bereits erwachsen sind und man das Gefühl haben kann, man habe ihnen und vielleicht auch schon Enkeln alles gegeben, was möglich war, kann sich ein Eindruck von Erfüllung einstellen und das Loslassen leicht machen. Martin dagegen leidet unter allem, was unerfüllt bleibt.

Die Hilflosigkeit des Versuchs, etwas zu hinterlassen

Martin möchte nicht, wie seine Frau es ihm geraten hat, ein Video für den Sohn aufnehmen, das der sich nach seinem Tod anschauen soll. Er schreibt ihm stattdessen einen Brief über grundsätzliche Lebensfragen. Der zieht sich in Etappen durch das Buch. War er die Keimzelle des Romans?

Vor vielen, vielen Jahren habe ich einen Film gesehen, der von einer schwangeren Frau und ihrem Mann erzählte, der einen Gehirntumor und nicht mehr lange zu leben hat. Er will seinem Sohn etwas hinterlassen und nimmt für ihn ein Video auf, auf dem er ihm vorführt und erklärt, wie man sich rasiert. Das war nicht der Einstieg in das Buch. Aber es kam mir beim Schreiben in den Sinn, weil es so schön die Hilflosigkeit des Versuchs illustriert, etwas zu hinterlassen. Es ist eines von Martins Themen: Kann er, können wir überhaupt etwas hinterlassen? Oder können wir nur machen, was wir machen, und ist es allein Sache derer, die nach uns kommen, zu entscheiden, ob sie mit dem, was sie von uns finden, etwas anfangen können oder nicht?

Daran knüpfen sich Konflikte. Seine Idee, gemeinsam mit dem Sohn einen Komposthaufen anzulegen, stößt bei Ulla auf großen Widerwillen. Sie findet, damit würde auch eine Aufgabe für sie erschaffen.

Sie ist skeptisch gegenüber allen seinen Versuchen, David etwas mitzugeben. Sie hat Angst, dass Martin damit auch ihr etwas aufbürdet, und auch, dass er David, dem er sehr nahe ist wie auch David ihm, über seinen Tod hinaus festhalten will. Sie will, dass David ihr Sohn wird, sich von Martin löst und sein Leben mit ihr findet.

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Volkmar Otto
Zur Person
Bernhard Schlink, geboren im Juli 1944 in der Nähe von Bielefeld als Sohn eines Theologenpaars, ist Jurist und lebt in Berlin und New York. Als Professor für Öffentliches Recht lehrte er an den Universitäten von Bonn und Frankfurt am Main und viele Jahre an der Humboldt-Universität Berlin. Sein erster Roman „Selbs Justiz“ erschien 1987; sein 1995 veröffentlichter Roman „Der Vorleser“ wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt, mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet und 2009 von Stephen Daldry mit Kate Winslet verfilmt. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Die Enkelin“ (2021).

Der Roman „Das späte Leben“ (Diogenes, 240 Seiten, 26 Euro) kommt am 13. Dezember in den Buchhandel.

Er macht ja dann noch etwas Schwerwiegenderes und muss sich den Vorwurf anhören, schon früher in ihr Leben eingegriffen zu haben: Kann eine Beziehung zwischen zwei Menschen mit so großem Altersunterschied im Grunde nur ungleich sein?

Es gibt bei großem, aber auch ohne Altersabstand asymmetrische und symmetrische Beziehungen. Mein Eindruck ist, dass Martin und Ulla in ihrer Beziehung beide gleich stark sind. Ökonomisch ist sie so unabhängig wie er und emotional kann sie ihn so erreichen und auch erschüttern wie er sie. Dass sie das auf verschiedene Weise tun, sie als die Jüngere und er als der Ältere, finde ich weniger wichtig als die gleiche Stärke.

Wenn wir bei der Gleichheit sind: Ich habe einen Schreck bekommen, als ich in dem Brief an den Sohn las: „Jedem das Seine ist die gültige Formel der Gerechtigkeit, und wenn es keinen guten Grund gibt, warum das Seine des einen etwas anderes sein soll als das des anderen, ist das Seine das Gleiche.“ Wissen Sie, warum?

Das wurde ich schon mal gefragt, und mir wurde vorgeschlagen, es zu streichen.

Das hätte ich auch empfohlen.

Es ist uns von Platon, Aristoteles und Cicero überkommen und hat seinen festen Platz in der Geistesgeschichte, der Rechts- und Staatsphilosophie.

Es ist aber zugleich der Satz über dem Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald. Gehört er dadurch nicht zu den Wörtern und Formulierungen, die durch Missbrauch vergiftet sind? Man kann auch das N-Wort nicht mehr gebrauchen, weil es Verletzungen auslöst. Der Satz, an der KZ-Gedenkstätte noch immer zu lesen, löst bei mir eine Abwehr aus, wie wenn jemand dahersagt: Arbeit macht frei.

Das verstehe ich. Das ist ein Spruch, den die Nationalsozialisten erfunden haben, um ihre Opfer beim Weg ins KZ Auschwitz zu verhöhnen. Den klassischen Satz „Jedem das Seine“ haben die Nationalsozialisten gestohlen und missbraucht und wir sollten ihn ihnen darum nicht überlassen. Es käme mir vor, als hätten sie gesiegt und die klassische Formel der Gerechtigkeit uns erfolgreich genommen und zu ihrer gemacht. Und was das N-Wort angeht – es versteht sich, dass man es heute nicht gebraucht. Aber dass es früher gebraucht wurde, ist etwas anderes; und wo es in der Literatur verwendet wurde, weiß der heutige Leser, dass es um einen früheren und nicht den heutigen Sprachgebrauch geht und dass früher manches anders war, als es heute ist. Umformulierungen und Streichungen muten mich verdruckst an. In den frühen 50er-Jahren sagte unser Lehrer, wenn wir unruhig waren, unbefangen: „Hier geht’s zu wie in der Judenschule.“ Dürfte ich es nicht erwähnen, wenn ich, was ich nicht vorhabe, meine Lebenserinnerungen schriebe? Viel später habe ich überdies gelernt, dass die Unruhe in der Yeshiva Ergebnis eines wunderbar diskursiven Lernens ist.

Es wird immer gesagt, über den Nationalsozialismus würde so viel in der Schule gelehrt – wenn ich auf die linken Sympathien für die Palästinenserproteste schaue, denke ich: Vielleicht wurde über die Verfolgung der Juden immer noch nicht genug gesagt.

Um Antisemitismus und den Wunsch nach der Vernichtung Israels, den es unter den Palästinensern und Sympathisanten gibt, nicht zu haben, braucht es eigentlich keine Kenntnis der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch Deutschland. Er ist auch ohne diese Geschichte und ohne Kenntnis von ihr unerträglich, und das gehört auch in der Schule gelehrt. Die Verknüpfung mit der Geschichte darf die Forderung nach Ablehnung des Antisemitismus nicht bei denen schwächen, deren Geschichte eine andere ist.

Der Roman spielt in Berlin, aber das merkt man kaum: Warum halten Sie die Stadt aus dem Buch heraus? Bei Ihrem Vorgänger-Roman spielt die Stadt noch eine Rolle.

Sie haben es doch gemerkt! Ich glaube nicht, dass ich in „Die Enkelin“ Berlin benannt habe, und ich weiß, dass ich in „Der Vorleser“ Heidelberg nicht benannt habe. Wenn der Name der Stadt etwas dazu tut, muss er benannt werden. In „Das späte Leben“ tut er nichts dazu.

Trennung zwischen Fiktion und Realität

Martin ist Jurist wie Sie, lehrte an der Universität wie Sie und hat Bücher geschrieben, allerdings keine belletristischen. Wie haben Sie sich abgegrenzt von Ihrer Figur?

Die Figur ist die Figur, und ich bin ich – das sind klare Grenzen, und ich muss uns nicht abgrenzen. Ich liebe meine Figuren, in jeder steckt etwas von mir, nicht nur in Martin, sondern auch in Ulla und in David, und als ich mit ihrer Geschichte fertig war, war der Abschied schmerzvoll, wie er immer schmerzvoll ist. Übrigens mag, dass ich keine Lust habe, jemals Lebenserinnerungen zu schreiben, darin seinen Grund haben, dass in jeder meiner Geschichten, jeder meiner Figuren etwas von mir steckt und ich damit alles über mich gesagt habe, was es über mich zu sagen gibt oder ich über mich sagen will.

Was ist für Sie der wesentliche Unterschied zwischen dem juristischen und literarischen Schreiben? Liegt er in der Sprache begründet?

Es gibt eine liederliche juristische Gebrauchssprache, aber auch schöne juristische Prosa. Ich schreibe bis heute gerne essayistische Texte zu Themen von Recht und Gerechtigkeit, und die Freude an der Schönheit, die in der Genauigkeit und der Stimmigkeit liegt, ist kaum anders als die Freude beim Schreiben literarischer Texte. Beide Male geht es darum, etwas seine Gestalt zu geben, das eine Mal einem Gedanken, das andere Mal einer Geschichte, und beide Mal geschieht es mit Sprache, mit Worten, mit Sätzen.

Wie ist es jetzt, wenn ein Buch fertig ist und noch nicht da?

Der Abschied von den Gestalten des Romans liegt zurück, die Entscheidungen über Umschlag und Druckbild sind getroffen, das Buch ist beim Verlag und im Druck und mir ein bisschen entrückt, bis es bei den Lesungen wieder meines wird. Und jedes Mal denke ich, bevor das neue Buch erscheint, warum exponiere ich mich, wo ich doch am liebsten in Ruhe gelassen werde. Aber natürlich weiß ich, warum ich mich exponiere. Ich nehme mein Schreiben nicht ernst, wenn ich es nicht dem Lesen aussetze. „The proof of the pudding is in the eating“, sagen die Engländer, und: „The proof of the text is in the reading.“

Sie lehren nicht mehr an einer Universität …

Ich gebe noch hin und wieder ein Seminar, gerne zusammen mit Kollegen anderer Fächer.

Sie halten auch noch Vorträge, wie in Frankfurt am Main in einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Pogromnacht des 9. November. Heißt das, mit einem Buch positionieren Sie sich am stärksten in der Öffentlichkeit?

Mit einem Buch habe ich nicht das Gefühl, mich zu positionieren; ich erzähle eine Geschichte. In Vorträgen geht es dagegen um Themen, und ich beziehe Positionen. Auch da exponiere ich mich. Aber Gedanken sind ein festerer Boden als Geschichten.

Auch an einem 9. November nach dem 7. Oktober? Eine letzte Frage: Keimt seit dem 7. Oktober eine neue Pogromstimmung gegen Juden auf? Ich denke besonders an die beunruhigenden Vorfälle an amerikanischen, aber auch an deutschen Universitäten.

Pogrome sind von den politisch Verantwortlichen veranstaltete oder geförderte massenhafte Ermordungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Verwüstungen – der 7. Oktober. Was bei uns nicht erst aufkeimt, sondern wieder in einer Weise gewachsen ist, die fassungslos macht, ist der gewöhnliche Antisemitismus.