BUND Landesverband
Mecklenburg-Vorpommern e.V.

Der Lesesteinhaufen

Steinerne aber nicht leblose Landschaftselemente

Lesesteinhaufen am Feldrand.

Jeder ist ihnen beim Spaziergang durch das landwirtschaftlich geprägte Mecklenburg-Vorpommern schon begegnet: aufgehäufte Steinansammlungen am Rand eines Ackers, halb zugewachsen oder frisch aufgetürmt. Wo kommen die Steine her? Wer hat sie abgelegt? Und warum transportiert keiner die Steine ab?

Die Entstehung der Steinhaufen ist historisch bedingt. Ohne die Landwirtschaft gäbe es sie nicht. In unseren eiszeitlich geprägten Böden verbergen sich Unmengen von Steinen jeder Größenordnung. Diese werden durch das Pflügen und die Bodenerosion zu Tage gefördert. Die Brocken können die landwirtschaftlichen Maschinen schädigen und sind ein Hindernis für die Bewirtschaftung der Felder. Also lesen die Landwirte die Steine auf und legen sie mitunter an Sammelstellen am Feldrand ab, wo sie nicht stören. Ein Abtransport kostet Zeit und Geld.

So entstanden und entstehen sie auch heute noch, die sogenannten Lesesteinhaufen. Wenig bekannt ist, dass diese scheinbar leblosen, steinernen Landschaftselemente auch als Lebensraum dienen und unter Umständen gesetzlich geschützt sind. 

Wann ist ein Lesesteinhaufen geschützt?

Lesesteinhaufen als Bestandteil naturnaher Feldhecken sind gesetzlich geschützt.

Neben punktförmigen Lesesteinhaufen gibt es auch Lesesteinwälle und Steinriegel aus linear abgelegten Steinen. Befinden sich diese Lesesteinansammlungen am Rand einer gesetzlich geschützten, naturnahen Feldhecke, so unterliegen auch Lesesteinhaufen bzw.

–wälle dem Biotopschutz nach der Anlage 2 zu § 20 Abs. 1 des Naturschutzausführungsgesetzes Mecklenburg-Vorpommerns.

Lesesteinhaufen sind wertvolle Trittsteinbiotope in der ausgeräumten Agrarlandschaft: Nicht nur als Bestandteil von Feldhecken, sondern auch als Inselbiotop nützen sie der Vernetzung von Arten über weit auseinander liegenden Schutzgebieten hinweg. In § 21 Abs. 6 des Bundesnaturschutzgesetzes heißt es dazu: „Auf regionaler Ebene sind insbesondere in von der Landwirtschaft geprägten Landschaften zur Vernetzung von Biotopen erforderliche lineare und punktförmige Elemente, insbesondere Hecken und Feldraine sowie Trittsteinbiotope, zu erhalten und dort, wo sie nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind, zu schaffen (Biotopvernetzung).“ 

Trocken und frostfrei überwintern

Rechts: Frostgeschützte, trockene „Schluchten“ verbergen sich im Inneren eines Lesesteinhaufens: der richtige Ort zum Überwintern für Insekten und Reptilien. Links: Nicht jeder Marienkäfer ist rot mit schwarzen Punkten: Der sechzehnfleckige Marienkäfer findet Mehltau sehr lecker und gilt deshalb als Nützling. Ein Lesesteinhaufen hilft Marienkäfern über den Winter zu kommen.

Trockenheit und kein Frost, diese optimalen Bedingungen zum Überleben der kalten Jahreszeit bieten Lesesteinhaufen. Zwischen und unter den Steinen herrscht im Winter Schlummerzeit für verschiedene Klein- und Kleinstlebewesen, wie Reptilien und Insekten.

Von den Marienkäfern begegnet uns im landwirtschaftlich geprägten Raum vor allem der Siebenpunkt. Er und auch die meisten seiner mitteleuropäischen Verwandten überwintern als ausgewachsenes Tier an speziellen Orten, wie dem Lesesteinhaufen. Ohne ausreichende, ökologisch wertvolle Kleinstrukturen, würden sie auf Landwirtschaftsflächen nicht überleben können. Dabei gelten Marienkäfer als wertvolle Verbündete gegen Blattläuse, Schildläuse, Spinnmilben oder sogar Mehltau. 

Schlangen, wie z.B. die europarechtlich geschützte Schlingnatter vollziehen ihre Winterstarre unter anderem in Hohlräumen zwischen Steinen. In Mecklenburg-Vorpommern ist sie vom Aussterben bedroht. Ungiftige Schlingnattern ähneln giftigen Kreuzottern mit dem Unterschied, dass ihre Pupillen nicht schlitzförmig sondern rund sind. Bei einer Begegnung mit Schlangen heißt es also: „Schau mir in die Augen, Kleines.“

Besonders für Lurche sind Lesesteinhaufen als Sonderstrukturen im Gewässerumfeld (z.B. Sölle) ein wahrer Gewinn. Die streng geschützte Rotbauchunke (FFH-Art) verkriecht sich in frostfreie Hohlräume und Spalten zum Überwintern. Moospolster an Steinen machen das Quartier noch gemütlicher. Auch Zauneidechsen (FFH-Art) verkriechen sich im Boden unter Steinhaufen.

In der Sommerzeit genießen neben Schlangen, Eidechsen und Lurche auch Ameisen, Bienen und Grabwespen den steinigen Platz an der Sonne. Nicht zuletzt, weil man sich hier gut vor hungrigen Feinden verstecken kann. 

Faszinierende mikroskopische Welt der Flechten und Moose

Pioniere auf dem Extremstandort Lesesteinhaufen sind Flechten und Moose.

Im Winter können Flechten an den Steinen sehr gut unter die Lupe genommen werden, weil sie jetzt nicht von Kräutern überwachsen sind. Es sind Lebensgemeinschaften aus Pilzen und Algen, die sehr empfindlich auf Luftverschmutzungen reagieren und uns daher als Zeiger für die Luftreinheit dienen. Flechten sind sehr empfindlich für Stickstoffeinträge über die Luft, weil sie Nähr- und Schadstoffe direkt über die Luft aufnehmen. Ein überwiegender Anteil dieser Arten steht auf der Roten Liste. Auf Steinen sind sie weit verbreitet: entweder sind sie unscheinbar und als Lebensform nicht erkennbar oder sie sind durch besondere Formen und Farbtupfer sehr auffällig. Ein genaues Hinsehen lohnt sich, dann erst erscheint diese winzige Lebensform als künstlerischer Architekt der Natur.

Auch Moose nehmen Nährstoffe über die Luft auf und reagieren empfindlich auf Stickstoffeinträge, was viele Moos-Arten gefährdet. Bei genauerer Betrachtung sind ihre Fortpflanzungsorgane (Sporophyten) erkennbar: Die Moose „blühen“ auch im Winter. 

Von spezialisierten Pflanzen und Schmetterlingen

Spezialisierte Pflanzen, die es warm und extrem trocken mögen, bewachsen Lesesteinhaufen. Je nach Sonneneinstrahlung wärmen sich Steine auf und geben die Wärme langsam wieder ab. Im Schatten der Steinhaufen ist es deutlich kälter als auf der Sonnenseite. So trotzen die Pflanzen starken Temperaturschwankungen im Tages- und Jahresverlauf. Das Artenspektrum variiert je nach Standort eines Lesesteinhaufens: am Waldrand, in Hecken, am Kleingewässer oder im Offenland. Erst zu ihrer Blütezeit werden sie uns auffallen. Dennoch überwintern viele Stauden mit gut sichtbaren, grünen Blättern. Das liegt am Mangel von Wasser oder Nährstoffen auf diesem steinigen Standort. Also müssen diese Spezialisten auch im Winter durch Photosynthese Energie produzieren.

Die meisten Pflanzen trockenwarmer Standorte reagieren empfindlich auf Stickstoffeinträge, z.B. aus der Landwirtschaft. Wachsen Mauerpfeffer-Arten, Blut-Storchschnabel, Frühlingsfingerkraut oder Gewöhnlicher Dost (Wilder Majoran) auf bzw. an Lesesteinhaufen, so zeigen sie eine Stickstoffarmut an. Solche Standorte sind in unserer heutigen Agrarlandschaft allerdings immer seltener zu finden. Deshalb stehen die genannten Pflanzen alle auf der Roten Liste Mecklenburg-Vorpommerns.

Dies macht auch Schmetterlingen zu schaffen, die seltener werden, weil ihre Futterpflanzen gefährdet sind. Dies betrifft z.B. den stark gefährdeten, vorwiegend bräunlichen Storchschnabel-Bläuling, der auf den Blut-Storchschnabel angewiesen ist. Auch das Vorkommen von verschiedenen braunen, weißfleckigen Dickkopffaltern ist rückläufig. Dies wird allgemein mit Nährstoffüberfrachtung und Lebensraumverlust begründet.

Gefährdung durch Nutzung der Steine für den Eigenbedarf

Lesesteinhaufen werden gerne als kostenloser Baustoff für den Eigenbedarf abgetragen. Es scheint sich keiner über die Lesesteine zu kümmern, also kann man sie auch mitnehmen, mag sich der eine oder andere denken. Aber gerade die Vorzüge für Überwinterer und Sonnenanbeter, spezialisierte Pflanzen, gefährdete Moose und Flechten zeigen, wie wichtig diese Kleinbiotope sind. Ein Rückbau von Lesesteinhaufen in der Landschaft hat beispielsweise zur Gefährdung von Reptilien beigetragen. Es ist daher äußerst wichtig, diese Biotopstruktur nicht vollständig zu zerstören und erst recht nicht, wenn sie geschützter Bestandteil von naturnahen Feldhecken sind.

BUND-Tipp: Steinhaufen im Garten anlegen

Verschwinden die Trockenbiotope in der Landschaft, können wir zumindest im Garten und auf dem eigenen Hof der Natur unter die Arme greifen. Jeder kann mit einfachen Mitteln einen Lesesteinhaufen im Garten für Kleintiere und wärme- und trockenheitsliebende Pflanzen anlegen. Eine Anleitung findet sich in der unten stehenden Linksammlung.

Fotos (falls nicht anders benannt): Janine Wilken

Weitere Informationen im Internet:

Literatur:

  • Gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Ausführung des Bundesnaturschutzgesetzes (Naturschutzausführungsgesetz - NatSchAG M-V), vom 23. Februar 2010, zuletzt geändert durch Artikel 14 des Gesetzes vom 12. Juli 2010 (GVOBl. M-V S. 383, 395).
  • Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege (Bundesnaturschutzgesetz – BNatSchG), vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2542), in Kraft getreten am 01.03.2010, zuletzt geändert durch Artikel 2 Absatz 24 des Gesetzes vom 6. Juni 2013 (BGBl. I S. 1482).
  • Hutter, C.-P. (Hrsg.), Knapp, H.-D., Wolf, R.: Dünen, Heiden, Felsen und andere Trockenbiotope – Biotope erkennen, bestimmen und schützen. Weitbrecht-Verlag, Stuttgart, Wien, 1994.
  • Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.): Landschaftsökologische Grundlagen zum Schutz, zur Pflege und zur Neuanlage von Feldhecken in Mecklenburg-Vorpommern. Materialien zur Umwelt, Heft 1/01. URL: http://www.lung.mv-regierung.de/dateien/hecke05_sicherung1.pdf.
  • Müller, J.: Landschaftselemente aus Menschenhand – Biotope und Strukturen als Ergebnis extensiver Nutzung. 1. Auflage, Spektrum Akademischer Verlag, München, 2005.
  • Röser, B.: Saum- und Kleinbiotope – Ökologische Funktion, wirtschaftliche Bedeutung und Schutzwürdigkeit in Agrarlandschaften. Ecomed Verlagsgesellschaft, Landsberg, 1988.
  • Westphal, U.: Hecken – Lebensräume in Garten und Landschaft. Ökologie, Artenvielfalt, Praxis. Pala-Verlag, Darmstadt, 2011. 

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