Selbstverletzung reloaded: 2005 entstand das "Ichbildnis", in dem Brus sich selbst bei einer Aktion aus den 1960er-Jahren zeigt. Es ist in vielfacher Hinsicht ein Beispiel für Grenzüberschreitungen.

Sammlung Heike Curtze; Fotograf: Max Spilke-Liss

Günter Brus mit seinem jüngeren Ich bei der Vernissage.


Foto: C. M. Schmidt

Die Empore um den Lichthof im Martin-Gropius-Bau ist brechend voll mit Menschen. Ein Rednerpult steht da, an dem die Bedeutung des Künstlers für die internationale Kunstgeschichte der Nachkriegszeit betont wird. Fast zart, dann immer lauter ist ein Miauen zu hören, später ein lauteres Aufheulen. Ärgerlich finden das manche Gäste, andere sehen sich eher gelangweilt nach dem Störenfried um. Kuratorin Britta Schmitz unterbricht ihre Rede.

Irgendwann tut der 77-jährige Polyartist, dessen Werkschau an diesem Abend gewürdigt wird, das einzig Richtige. Er jault mit. Ruhig wird es nicht mehr. Ein russischer Aktionskünstler war es, der sich Aufmerksamkeit erzwang. Neben dem Staub, den Aktionen von Günter Brus einst aufwirbelten, bleibt es der müde Versuch einer Störung.

Störungszonen heißt auch die umfassende Werkschau, die am Freitag von den Berliner Festspielen in Berlin eröffnet wurde. Sie zeigt nicht nur den Aktionisten Brus, sondern feiert seine schillernde Vielfältigkeit als Maler, Zeichner und auch Dichter.

In den etwa sechs Jahren seiner Aktionismusphase entstanden freilich die ikonischen Bilder. Etwa vom Wiener Spaziergang, für den der Künstler als lebende Leinwand, weiß bemalt mit schwarzem Strich über Gesicht und Körper vom Heldenplatz in den öffentlichen Raum aufbrach. Schon in der Bräunerstraße hielt ihn ein Polizist auf. "Er hat gefragt: Das soll Kunst sein?", erzählt Brus in Berlin über 50 Jahre später mit einem Lächeln, "Ich habe gesagt: meiner Meinung nach schon." Der Polizist nahm ihn mit.

Auch die erste Selbstverletzung im Reiff-Musseum in Aachen wird in der Schau dokumentiert.

Kunst und Revolution

Er habe "die Verletzungen, die er sich selbst zugefügt hat, auch der Gesellschaft zugefügt", erklärt Wolfgang Muchitsch, Direktor des Universalmuseums Joanneum, zu dem das 2011 eröffnete Bruseum in Graz gehört, bei der Vernissage in Berlin. Die Repressionen nach der Aktion Kunst und Revolution mit Otto Mühl, Franz Kaltenbäck, Peter Weibel und Oswald Wiener an der Uni Wien 1968 trieben Günter Brus 1969 schließlich ins Berliner Exil. Brus hatte sich vor hunderten Menschen Schnittwunden zugefügt, "defäkiert", wie es Kuratorin Schmitz nennt, sich mit seinem Kot beschmiert und onanierend die Bundeshymne gesungen – ohne "große Töchter".

Darauf reagierte nicht nur der postfaschistische Staat heftig. Der Künstler, der es wagte, die eigenen Körperflüssigkeiten als Material für Kunst zu verwenden, bekam sechs Monate Kerker. Das Ehepaar Brus bekam aber auch – angeheizt von Zeitungen – Drohungen und fürchtete um die zweijährige Tochter. Um drei Uhr morgens verließ man "auf leisen Sohlen" die Wiener Wohnung, erzählt Brus, und floh über München – mit einem kurzen Aufenthalt bei den Krautrockern der Band Amon Düül – nach Westberlin, damals ein Biotop für Außenseiter, Wehrdienstverweigerer – und Genies.

Zentralorgan Schastrommel

In der Schau legte Kuratorin Britta Schmitz einen Fokus auf diese elf Jahre in Berlin, die entbehrungsreich, aber sehr kreativ waren. In Oswald Wieners Lokal Exil gründete Brus mit Wiener und Rühm die "Österreichische Exilregierung", deren Zentralorgan die legendäre Schastrommel wurde.

Britta Schmitz zeigt Arbeiten aus allen Schaffensjahrzehnten: Ganz frühe Zeichnungen des Steirers, Filme mit Ehefrau Anna Brus und mehrere Räume voll mit fantastisch wuchernden Bildern: Arbeiten zu Goya, die Bilddichtungen der späten 1970er-Jahre mit der schön geschwungenen, gestochen scharfen Handschrift. Es ist die Schrift eines konzentrierten, sensiblen Rebellen. Auch die Freundschaftsbilder, in denen Brus in der Tradition des 19. Jahrhunderts Künstlerfreunde festhielt, sind vertreten. Ebenso die Serie zu Franz Schrekers Oper Die Gezeichneten. Der 161-teilige Blake-Zyklus aus den Jahren 2007 und 2008 schließt die Schau – auch räumlich – ab.

1980 kehrte Brus aus Berlin zurück, nachdem seine Frau das Herz des österreichischen Bundespräsidenten in einer Audienz erweicht hatte. Die "Gattin" fand Rudolf Kirchschläger nämlich charmant, den Mann hielt er für einen "Trottel", der furchtbare Kunst mache, erzählt das Paar heute in Doppelconference.

Ergänzende Schau im Bruseum

2010 erschien der dritte Teil der autobiografischen Trilogie Das gute alte West-Berlin (Jung und Jung). Es ist auch der Name einer Schau, die am 7. April im Grazer Bruseum als Gegenstück zu jener in Berlin eröffnet wird.

Heute leben Anna und Günter Brus in Graz. Zur Vernissage reisten sie wieder mit der Tochter über Bayern an. Diesmal aber nicht auf der Flucht, sondern zu einem würdigen Anlass. (Colette M. Schmidt aus Berlin, 8.3.2016)