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Zuchtbetrieb
Delikate Weinbergschnecke vom Niederrhein

Vor allem in den Klöstern waren sie in vergangenen Jahrhunderten ein geschätzter Ersatz für Fleisch und Fisch, auf das ja in der Fastenzeit verzichtet werden musste: Weinbergschnecken. Auch in Deutschland gibt es Schneckenzüchter.

Von Klaus Lockschen | 20.02.2015
    Eine Weinbergschnecke (Helix pomatia) kriecht am in einem Garten.
    Weinbergschnecken als Speise sind in Deutschland eher ein Nischenprodukt. (picture alliance / ZB / Soeren Stache)
    In ihrer Fortbewegung ist Helix Pomatia, die hiesige Weinbergschnecke, absolut geräuschlos. Und auch sonst verläuft ihr Leben schweigsam. Mit einer Ausnahme: Wenn sie mit ihrer Reibzunge Grünzeug zerteilt, kann man ein feines Raspeln vernehmen, vorausgesetzt, sie lässt sich von einem nah vor Stielaugen und Fühlern gehaltenen Mikrofon nicht stören. Man muss schon genau hinhören.
    Hunderttausende Schnecken auf 7.000 Quadratmetern
    Helix Pomatia lebt am linken Niederrhein bei Moers. Zusammen mit einigen hunderttausend Artgenossen im Schneckenzuchtbetrieb, in dem Angelika Dickel die Hüterin der Schweigsamen ist:
    "Es sind so zwischen 400.000 und 600.000 Stück."
    7.000 Quadratmeter groß ist die Freilandfläche nahe einer renaturierten Abraumhalde einer ehemaligen Zeche. Vor neun Jahren hatte die 55-Jährige zusammen mit ihrem Ehemann 40.000 Exemplare geordert und ihre Zucht begonnen. Ohne Vorerfahrung. Warum gerade Schnecken?
    "Wir haben nur eine kleine Fläche, also gehen auch nur kleine Tiere."
    Kaninchen, Wachteln oder Schnecken standen zur Debatte. Langohren machen viel Mist, Wachteln sind sehr empfindlich, die Entscheidung fiel auf die Weichtiere, erklärt sie.
    "Unsere Nachbarn waren sehr verwundert, weil wir wohnen hier in einem landwirtschaftlichen Außenbereich. Und als wir dann sagten, wir machen eine Schneckenzucht, dann kam von einem Nachbarn die Frage: Seid ihr bekloppt, ich brauche jedes Jahr 80 Kilogramm Schneckenkorn, um die kaputt zu kriegen, und ihr wollt so etwas züchten?"
    Dem Nachbarn standen die Nacktschnecken vor Augen, Gartenschädlinge. Weinbergschnecken aber seien anders, betont Schneckenzüchterin Dickel. In Frankreich, wo pro Jahr bis zu 40.000 Tonnen an Weinbergschnecken verzehrt werden, hatten sie sich umgeschaut. Dort wird meist eine andere Gattung binnen vier Monaten mit künstlicher Futtermischung auf Kochtopfreife gemästet. So nicht, entschieden sie. Stattdessen sollten ihre Schnecken naturnah und ohne Gift und Kunstdünger gezüchtet werden.
    Anfang mit 40.000 Zuchtschnecken
    18 Parzellen wurden angelegt und einige mit Raps, Mangold und Ackerbohnen eingesät. Drumherum, zum Schutz vor Feinden wie Mäusen, Igeln, Kröten, 40 Zentimeter tief in den Boden eingelassene Trapezbleche und zwischen den Parzellen ein netzartiger, hüfthoher Kunststoffzaun, um das notorische Entweichen der Schnecken zu erschweren.
    Um Ausbruchversuche schnell zu bemerken, sind um die Felder herum breite Bahnen schwarzer Gärtnerfolie ausgelegt.
    "Diese 40.000 Zuchtschnecken, die haben wir dann eingesetzt zunächst in die ersten sechs Felder und die haben da ihre Eier gelegt."
    Im Folgejahr wurden die Schnecken wieder eingesammelt und zur Eiablage in die nächsten sechs Felder gebracht, und so weiter. Als Zwitter legen die Schnecken jeweils 20 bis 60 Eier pro Jahr, wovon es nach dem Schlüpfen nur etwa jedes zehnte Tier auf die in der Weinbergschneckenverordnung geforderte Mindestgröße von 32 Millimeter Häuschendurchmesser schafft. Schnecken stehen auch bei Elster und Krähe auf dem Speiseplan.
    "Die Weinbergschnecke, so wie die bei uns aufwächst, die brauchen drei bis vier Jahre, bis die ihre Größe erreicht haben."
    Schnell zeigte sich, dass das Einsäen überflüssig, ja sogar problematisch war: Die Pflanzen standen so dicht, dass man nicht mehr in die Felder gehen konnte, ohne Gefahr zu laufen, die Tiere zu zertreten. Die Dickels entschieden sich für Wildwuchs. Hochwachsende Brennnesseln dominieren seitdem die Parzellen.
    Trotz ihrer Meisterschaft in Langsamkeit halten die nachtaktiven Schleimer ihre Besitzer auf Trab, besonders morgens und mehr noch bei Regen. Dann läuft es für das Slow-Food wie geschmiert. Und es versucht, mit großem Exkursionsdrang die Folie zu überwinden. Für die Dickels bedeutet ein Rundgang 1.000 Schritte und bücken, bücken und wieder bücken.
    "Und da reden wir so über eine Anzahl zwischen 500 und 2.500 Stück, die ich dann wieder einsammeln. Das ist Jogging genug."
    Weinbergschnecken sind in Deutschland seit jeher heimisch, stehen aber unter Artenschutz. Einst ein Arme-Leute-Essen, weil Schnecken nichts kosteten - und über Jahrhunderte in der Fastenzeit beliebter Eiweißlieferant, wie im nahen Kloster.
    "Früher im Kloster Kamp wurden auch schon Schnecken gezüchtet, und zwar von den Zisterzienser-Mönchen, und haben die dann während der Fastenzeit mit Kraut gegessen."
    Erntezeit im August, September
    August, September ist Erntezeit. Auf 100.000, 120.000 Tiere wartet der Kochtopf. Einige Tage müssen sie noch den Darm entleeren, dann werden sie in siedendem Wasser abgetötet. Sekundenschnell und schmerzfrei, betont die Züchterin, denn Schnecken haben kein Zentralnervensystem. Und damit wohl auch kein Schmerzbewusstsein. Anschließend werden die Tiere aus ihrem Häuschen gezogen, der Darmsack wird entfernt und das Schneckenfleisch über Stunden in Gemüse- oder Kalbsfond gekocht.
    "Das ist eine Zeit, wo ich wochenlang nichts anderes mache."
    Vermarktet werden die Schnecken in Konserven oder tiefgefroren und gehen meistens an die gehobene Gastronomie. Zum Umsatz machen die Dickels keine Angaben:
    "Ich bin froh, dass ich das jetzt habe, aber ich muss ganz ehrlich sagen, mit dem Wissen von heute, wie viel Arbeit und Aufwand und Kosten das sind, bin ich mir nicht sicher, ob ich noch mal eine Schneckenzucht machen würde, weil es ist mühsam."
    Im Herbst beginnen die Schnecken ihre Vorbereitung auf den Winterschlaf. Sie graben sich dann tief ein, verschließen ihre Gehäuseöffnung mit einem Kalkdeckel und kommen erst wieder zum Vorschein, wenn der Tisch im Frühling mit frischen Brennnesseln gedeckt ist.
    Etwa ein Dutzend Schneckenzuchtbetriebe existiert hierzulande. Alles in allem ein Nischengeschäft. Das Kriechtier mundet dem deutschen Durchschnittsgaumen nicht so wie dem französischen:
    "Der Franzose isst die Schnecke wie der Deutsche die Currywurst. Der Deutsche tut sich schwer, Schnecken zu essen."
    Ein McSchneck werde es daher wohl sobald nicht geben, vermutet die Niederrheinerin.