Scham und Beschämung

Ein Mittel zur gesellschaftlichen Disziplinierung

Illustration einer Frau, die ihr Gesicht mit Händen bedeckt und auf die mehrere Menschen mit dem Finger zeigen.
Scham ist ein zwiespältiges Gefühl: Denn nicht jede Norm, zu deren Einhaltung sie uns motiviert, ist legitim, meint Bijan Moini. © Getty Images / Maria Ponomariova
Überlegungen von Bijan Moini · 07.06.2022
Scham ist zutiefst menschlich. Wie dieses Gefühl als Sensor für Erwartungen anderer funktioniert, hängt von den Normen der Gesellschaft ab, in der man lebt, erklärt der Anwalt Bijan Moini – und die verändern sich, auch unter dem Einfluss von Scham.
Als mein Sohn sich das erste Mal schämte, wurde er ganz still. Er wandte sich von mir ab, vergrub das Gesicht unter einem großen Kissen und verharrte dort, ohne sich zu rühren. Er sah ganz und gar kümmerlich aus, wäre offenbar am liebsten in der Sofaritze versunken und nie wieder aufgetaucht.
Erst, als ich ihm gut zuredete, taute er wieder auf. Ich wunderte mich, dass sich ein Zweijähriger schon so leidenschaftlich schämen konnte.

Eine zutiefst menschliche Reaktion

Aber eigentlich ist es kein Wunder. Sich zu schämen, ist zutiefst menschlich. Ich erinnere mich an etliche Situationen in meinem Leben, in denen ich mich geschämt habe:
Als sich meine Sitznachbarin in der S-Bahn laut stöhnend einen anderen Platz suchte, weil ich nach Knoblauch stank. Als ich mich über einen Mitschüler lustig machte, der es wirklich nicht verdient hatte. Als ich am ersten Tag im neuen Kindergarten aus Versehen eine Mädchentoilette benutzte und prompt dabei erwischt wurde.
Wenn ich genau darüber nachdenke, sind es einige meiner stärksten Erinnerungen. Jede und jeder kennt das Gefühl, nicht zu genügen. Verschieden ist über Raum, Zeit und Milieu nur, wofür sich Menschen schämen: Manche etwa schon für entblößtes Haar, andere für nackte Haut, noch andere erst für ein enthülltes Geschlechtsteil oder nicht einmal dafür.

Sensor für Erwartungen der Umgebung

Das hängt von den Normen der Gesellschaft ab, in der sie leben. Denn Scham hat eine starke soziale Dimension: Sie wirkt wie ein Sensor für die Erwartungen unserer Umgebung.
Wir schämen uns für etwas gegenüber jemandem, und zur Vermeidung von Schamgefühlen verhalten wir uns in der Regel sozialkonform. So stabilisiert Scham das soziale Gefüge und wirkt wie ein Disziplinierungsinstrument.
Über Jahrhunderte war sie gar ein Mittel der Strafjustiz: Menschen wurden für bestimmte Straftaten, die wie etwa Meineid als „unehrlich“ empfunden wurden, an den Pranger gestellt, mit faulem Gemüse beworfen, bespuckt und beschimpft. Traditionell funktionierte Disziplinierung durch Beschämung von oben nach unten.

Eine Waffe gegen die Mächtigen

Im Zeitalter des Internets entwickelt sie jedoch eine neue Facette. Jetzt können auch die Schwächeren Beschämung als Waffe gegen die Privilegien der Mächtigen einsetzen: etwa indem – wie durch die MeToo- oder die Tierschutzbewegung – bislang strafloses Verhalten öffentlich als verwerflich gebrandmarkt und schließlich strafbar wird.
So lässt sich der Beschämung manchmal auch etwas Gutes abgewinnen, indem sie wichtige neue Normen hervorbringt.
Trotzdem bleibt Scham ein zwiespältiges Gefühl. Denn nicht jede Norm, zu deren Einhaltung sie uns motiviert, ist legitim: Wer sich etwa dafür schämt, homosexuell zu sein, leidet unter den ungerechtfertigten Erwartungen seiner Umgebung.
Und dann gibt es noch Menschen, denen jedes Schamgefühl fehlt. Im Grunde ist Schamlosigkeit eine Superkraft: Wer sich für gar nichts schämt, schwebt über dem zwischenmenschlichen Gesetz. Das kann ins Weiße Haus und zu viel Unheil führen oder zum Bruch mit überholten Normen – etwa in der Kunst.

Strafe trifft auch die Schamlosen

Insgesamt hat die Bedeutung der Scham hierzulande abgenommen. Ihre soziale Funktion übernimmt zunehmend die Strafe. Die Strafe trifft nämlich auch jene, die sich für ihr Verhalten weder schämen noch schuldig fühlen.
Sie schließt die Lücken zwischen den verschiedenen Normvorstellungen der Menschen in einer zunehmend diversen und individualistischen Gesellschaft. Und steht sie am Ende eines ordentlichen Gerichtsverfahrens, ist die Strafe das präzisere und verhältnismäßigere Mittel, um die Einhaltung wichtiger sozialer Normen durchzusetzen.
Und doch wird die Scham den Menschen wohl auf alle Zeit begleiten. Auch meinen Sohn. Er wird noch oft den Kopf unter ein Kissen stecken, wenn auch nicht mehr lange bildlich gesprochen. Und hoffentlich wird ihn auch immer jemand wieder darunter hervorlocken, wenn er es aus eigener Kraft nicht schafft.

Bijan Moini ist Rechtsanwalt und Politologe und leitet das Legal Team der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Nach dem Rechtsreferendariat in Berlin und Hongkong arbeitete er drei Jahre für eine Wirtschaftskanzlei. Dann kündigte er, um seinen Roman „Der Würfel“ zu schreiben (2019, Atrium). Zuletzt erschien von ihm bei Hoffmann und Campe „Unser gutes Recht. Was hinter den Gesetzen steckt“ – ein anekdotischer Überblick über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Bijan Moini
© Thomas Friedrich Schäfer
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