Neuer Roman Bernhard Schlinks :
Wie gebe ich dem Tod eine Gestalt, die zum Leben passt?

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Bernhard Schlink
Es geht um mehr als das eigene Sterben: Bernhard Schlinks neuer Roman begleitet einen Mann in den letzten Wochen seiner noch selbständig geführten Existenz.

Martin Brehm ist krank, todkrank. Nun dürfte das eigene Lebensende in der Wahrnehmung eines rational denkenden Sechsundsiebzigjährigen nicht mehr in solch scheinbar un­absehbarer Ferne wie für Jüngere liegen, aber der ehemalige ­Juraprofessor hat kurz vor seiner Emeritierung eine späte Ehe mit der mehr als dreißig Jahre jüngeren Ulla geschlossen, aus der ein Sohn hervorgegangen ist: David. Dessen im Herbst bevorstehende Einschulung wird Martin Brehm wohl nicht mehr erleben, denn sein Arzt macht ihm keine falschen Hoffnungen: Just das halbe Jahr bis dahin entspricht der dem Patienten wahrscheinlich verbleibenden Lebenserwartung, und es wird nicht plötzlich mit ihm zu Ende gehen, sondern in einem Krankheitsverlauf, der für die letzten Wochen Böses verheißt. Wie sagt man so etwas Frau und Sohn? Brehm ­redet sich selbst Entschlossenheit ein: „Dass er nicht wusste, wohin er gehörte, noch zu den Lebenden oder schon zu den Toten, dass er sich verdächtig war, sollte ihm nicht dazwischenkommen.“ Doch wenn ein Jurist das Wort „verdächtig“ gebraucht, bedeutet das mehr als bei anderen Menschen.

Auch Bernhard Schlink ist Jurist, schreibender Jurist, eine Gruppe, für die es in der deutschen Literatur prominente Beispiele gibt: Herbert Rosendorfer hatte in den Neunzigerjahren großen Erfolg, Ferdinand von Schirach hat ihn heute; zu verdanken war und ist das dem berufsbedingt illusionslosen Blick dieser Schriftsteller auf Gerechtigkeit. Schlink liegt alters­mäßig zwischen beiden und überstrahlt sie beide: International dürfte es kaum einen deutschsprachigen Gegenwartsautor geben, der so breit rezipiert worden ist. Das liegt an seinem 1995 erschienenen, längst von Hollywood verfilmten Roman „Der Vorleser“, der im Laufe der Jahre nichts an Popularität eingebüßt hat; gerade erst war die Geschichte einer moralisch dubiosen Liebe aus NS-Zeiten Gegenstand der weltweit größten Gratis­leseaktion „Eine Stadt. Ein Buch“, für die in Wien hunderttausend Exemplare verteilt wurden. Heute erscheint Schlinks neuer Roman, sein elfter: „Das späte Leben“.

Er umfasst nur zehn Wochen, während derer wir in Einklang und Zwiespalt mit Martin Brehm vereint sind. Schlink gelingt das Kunststück, seinem todgeweihten Prot­agonisten das Profil eines Abenteuerlustigen zu geben. Nicht als Mensch, der noch auf große Reisen ginge oder lange aufgeschobene Dinge täte, sondern als jemand, der den Alltag nun in einer Aufmerksamkeit lebt, die eine neue Qualität bedeutet. Allerdings kommt Brehm dadurch auch manchem auf die Spur, für das er zuvor keine Antenne besessen hatte. Auf das er dann aber auch ganz anders reagiert, als er gedacht hätte. Oder wir.

Ein Brief des Todgeweihten an den Sohn

Schlinks Roman ist schlank: 240 Seiten, großzügig bedruckt. Doch es steckt eine Fülle an Fragen darin. Als permanente Selbstbefragung des Martin Brehm. Bisweilen lässt deren Ton bei aller selbstverordneten Vernunft seine Erregung erkennen, signalisiert durch Ausrufezeichen in indirekt erzählten inneren Monologen: „Wenn er seinem Tod eine Gestalt geben könnte, die zu seinem Leben passte, und danach darüber schreiben könnte! Wenn es sein Tod wäre, nicht nur der Tod, den er sterben, sondern ein Tod, den er leben würde!“ In Anbetracht der Unmöglichkeit solchen Trostes schreibt Brehm, angeregt von seiner Frau, einen Brief an den Sohn, zu lesen irgendwann in ferner Zukunft.

Das Cover zu Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“
Das Cover zu Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“Diogenes

In sieben kurzen Partien zieht sich dieses Schreiben durch den Roman; es behandelt die großen Themen: Gott, Liebe, Arbeit, Tod. Doch als Ulla den Brief zu Gesicht bekommt, ist sie empört, denn darin findet sie nur Martins Versuch, den Sohn auf die Überzeugungen des Vaters zu verpflichten: „David muss dich loslassen, er muss sich finden – und mich.“ Es ist der kathartische Moment dieses Romans, einer, der alle Gewissheiten des Protagonisten umstößt. Und unsere.

Weiterleben im Angesicht des Todes, das ist ein universelles Schicksal, aber eines, das selten so konsequent wie in Schlinks Geschichte aufs Weiterleben der Angehörigen bezogen worden ist – und damit über den Tod der Hauptfigur hinaus. Der in „Das späte Leben“ nicht vorkommt; wie sollte er es auch angesichts der intro­spektiven Erzählhaltung? Der Roman findet sein Ende kurz vor Ablauf jener Frist, die Martin Brehm sich gleich zu Anfang selbst gegeben hatte: Zwölf gute Wochen war seine konservative Schätzung. In deren Verlauf wird er immer müder, die Dosierungen schmerzstillender Medikamente werden höher, aber diese Einbrüche der physischen Realität bleiben nebensächlich gegenüber Brehms Bemühen, mit sich und seiner Frau und seinem Kind im Reinen zu bleiben. Das ist nicht heroisch, es ist überlebenswichtig für die drei, auch wenn einer von ihnen sich damit keine eigene Zeit mehr ermöglicht.

Natürlich gibt es auch wieder Liebesszenen, aber in Maßen

Der Tod ist nicht nur in Brehms Brief an den Sohn ein großes Thema, er ist es in der Literatur aller Kulturen seit dem Gilgamesch-Epos, und die Lehren aus seiner Existenz haben sich in 3500 Jahren nicht wesentlich verändert. Was nicht heißt, dass es nicht immer aufs Neue lohnend wäre, sich ihm als Schriftsteller (und Leser) zu stellen. Bernhard Schlink hat es vielfach getan, wenn auch bislang die Liebe als Thema dominanter im Werk war – im neuen Buch ist sie zwar noch in der für diesen ­Autor typisch kitschigen Körperlichkeit präsent, aber „Das späte Leben“ wird trotzdem nicht zum späten Lieben, sondern behält existenzielle Dringlichkeit.

Vom „Vorleser“ hat der Roman die Dreiteiligkeit übernommen, die mehr bedeutet als bloße Akzentuierung des Inhalts: Sie ist dramaturgisches Prinzip im Sinne einer Dialektik. Die durchweg kurzen Kapitel innerhalb der Teile entsprechen der pointierten Wahrnehmung im Angesicht einer eng bemessenen Lebensspanne. In diesem Buch stimmt kompositorisch alles, selbst die schlackenlose Sprache ist ganz der Desillusionierung Martin Brehms gemäß, die er sich selbst nie eingesteht, die jedoch alles prägt, was er tut und vor allem nicht tut. Es ist ein weiser desillusionierter Blick, den Bernhard Schlink seinem Helden zugesteht. Und ja: Martin Brehm ist ein Held. Wie wir Sterblichen es alle sein sollten.

Bernhard Schlink: „Das späte Leben“. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2023. 240 S., geb., 26,– €.