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Mythen der Nachkriegszeit: So schwer hatten es deutsche Flüchtlinge im eigenen Land nach dem Krieg
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Europa im Zweiten Weltkrieg (19.08.2014)
dpa-Grafik Europa im Zweiten Weltkrieg
  • FOCUS-online-Autor

Millionen Deutsche mussten während und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat im Osten verlassen. Doch in den alliierten Besatzungszonen begegnete man den Vertriebenen misstrauisch und feindselig. Die damaligen Erfahrungen prägen die Deutschen bis heute.

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Riesige Flüchtlingstrecks zogen ab Herbst 1944 Richtung Westen. Aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern flohen zumeist Frauen, Kinder und Greise vor der Roten Armee – zu Fuß, mit Handwagen oder Pferdefuhrwerken. Wer in den Ostgebieten blieb oder wieder dorthin zurückkehrte, wurde nach Kriegsende endgültig vertrieben. Auch die deutschstämmigen Volksgruppen in anderen Ländern Ost- und Südosteuropas mussten zumeist ihre Heimat verlassen.

Kollektiv traf die Deutschen östlich der Oder-Neiße-Linie und der tschechischen Westgrenze die Vergeltung der Sieger und der zuvor Unterdrückten. Gerade im Osten hatten die Nazis und ihre Helfer unvorstellbare Verbrechen begangen und Millionen Menschen deportiert und ermordet. Nun schlug das Leid, das Nazideutschland über die Welt gebracht hatte, auf einen Teil der Deutschen mit enormer Härte zurück.

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Bis zu zwei Millionen Menschen hatten Flucht und Vertreibung nicht überlebt

Die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen – bis zu 14 Millionen – fanden Aufnahme in den alliierten Besatzungszonen. Und damit im Gebiet der späteren Bundesrepublik und DDR. Sie hatten nicht nur ihren Besitz verloren, sondern auch ihr gewohnte Umgebung, ihren sozialen Status, Kontakte zu Nachbarn und Freunden.

Überdies hatten etliche von ihnen unterwegs oder schon zuvor Schreckliches erlebt wie Plünderung, Mord und Vergewaltigung. Todesopfer gab es viele zu beklagen. Forscher schätzen, dass bis zu zwei Millionen Menschen infolge von Flucht und Vertreibung umgekommen sind.

Als „Flüchtlingsschweine“ oder „Flüchtlingspack“ wurden die Neuankömmlinge beschimpft

Doch die, häufig traumatisierten, Überlebenden waren den Deutschen im Westen meist alles andere als willkommen. „Nachträglich hieß es später oft in der Bundesrepublik, man habe nach dem Krieg zusammengestanden und gemeinsam den Aufbau geschafft“, sagt der Historiker Andreas Kossert, Autor des Buches „Kalte Heimat“, das sich mit der Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 beschäftigt. „Stattdessen war es weitverbreitete Praxis, die Neuankömmlinge auszugrenzen, zu diskriminieren und sogar offen anzufeinden.“ Als „Flüchtlingsschweine“ oder „Flüchtlingspack“ wurden sie beispielsweise beschimpft.

Allein schon durch deren bloße Menge fühlten sich die Einheimischen bedroht. Ende 1947 betrug der Anteil der Vertriebenen in der amerikanischen Besatzungszone 17,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, in der britischen 14,5 und in der sowjetischen, die ja näher an den Ostgebieten lag, sogar 24,3 Prozent. Nur in der französischen Zone war die Zahl weitaus niedriger, weil die dortigen Besatzungsbehörden kaum jemand aufnehmen wollten.

Als bedrohliche Fremde wahrgenommen

Sämtliche Vertriebene in Lagern unterzubringen, erwies sich deshalb als ein aussichtsloses Unterfangen. Ein Großteil musste in Privathaushalten einquartiert werden – bevorzugt auf dem Land, weil es in den meisten Städten wegen der Bombenzerstörungen des Krieges ohnehin an Wohnraum fehlte. Allerdings leisteten viele Einheimische beträchtlichen Widerstand. In manchen Fällen mussten alliierte Soldaten den Ankömmlingen sogar mit der Waffe in der Hand Zugang verschaffen.

Ausgrenzung und Diskriminierung begleiteten das weitere Leben zahlreicher Vertriebener. Es sollte dauern, bis sie in Vereinen und Ortsräten aufgenommen  und in Kirchengemeinden respektiert wurden. „Sie kamen auf dem Land in intakte soziale Gemeinschaften, wo sie als bedrohliche Fremde wahrgenommen wurden mit ihrem unbekannten Dialekt, ihren ungewohnten Bräuchen und ihrer zum Teil anderen Konfession“, erklärt Kossert.

Rassismus von Deutschen gegenüber Deutschen

Tatsächlich dürften zum Beispiel Protestanten aus Ostpreußen den katholischen Bayern ebenso fremd erschienen sein wie muslimische Syrer heutzutage so manchem Deutschen. „Man hat inzwischen gar keine Vorstellung mehr davon, wie tief der Graben zwischen den Konfessionen damals war“, betont der Historiker.

Dazu kamen noch rassistische Stereotype. Die ostdeutschen Flüchtlinge galten den Einheimischen häufig als „Habenichtse“, dreckig, asozial und verlogen, die nur irgendwelche Ammenmärchen von angeblich verlorenen Rittergütern oder Ähnlichem auftischen würden. Die alte Nazi-Diktion vom „östlichen Untermenschen“ lebte hier weiter fort. Nur dass sie nun von Deutschen auf andere Deutsche angewandt wurde. Die noch kurz zuvor propagierte NS-Ideologie von der solidarischen „Volksgemeinschaft“ erwies sich als realitätsferner Mythos.

Das Land verändert und modernisiert

Und nicht zuletzt erschienen die Vertriebenen und ihr Leid als eine unliebsame fortwährende Mahnung – an einen Krieg, den man gemeinsam verloren hatte und den man mitsamt seinen Verbrechen und eigener Schuld doch so gerne verdrängen wollte.

Trotz aller Widerstände gelang es den Diskriminierten im Laufe der Zeit, sich zu integrieren – wenn auch oft nur äußerlich. Ehrgeizig und anpassungsbereit erwarben sie materiellen Wohlstand, bauten sich ein Häuschen, stiegen teilweise zu geachteten Mitgliedern der Gesellschaft auf.

Allein schon durch ihre große Zahl veränderten sie ihre neue Heimat nachhaltig. „Die Neuankömmlinge brachen verkrustete Strukturen und alte Hierarchien auf“, sagt Kossert. „Bis heute wird noch nicht wirklich erkannt, in welchem Ausmaß die Vertriebenen das Land verändert und modernisiert haben.“

Die aktuelle Willkommenskultur hat auch mit damals zu tun

Ob sie irgendwann auch innerlich angekommen sind, ist allerdings eine andere Frage. Vermutlich sehr viele konnten den Verlust ihrer alten Heimat nie verwinden, manche gingen daran zugrunde. „Die Erfahrung des Heimatverlustes und der Fremdheit, die Flucht und Vertreibung mit sich bringen, ist etwas Universales“, erläutert Kossert. „Deshalb ist auch diese Vergangenheit gerade wieder so aktuell“.

Auf das Verhalten vieler Menschen hierzulande wirkt sie sich offenbar noch heute aus. „Dass es in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern aktuell eine so ausgeprägte Willkommenskultur gibt, hat sicherlich auch mit der kollektiven Erfahrung Millionen Deutscher von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust zu tun“, urteilt der Historiker.

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