Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 war eine Massendemonstration, der sich Bürger deszentral an über 150 Orten in Brandenburg anschlossen. In Hennigsdorf, nördlich von Berlin, kam es zu einem der größten Proteste in der Mark als sich Tausende Arbeiter des Stahlwerks auf den Weg gen Berlin machten. Daher wird am 70. Jahrestag das Gedenken auf dem Gelände des Elektrostahlwerks begangen – unter anderem mit Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke und der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur Maria Nooke. Im Interview schildern die Präsidentin und die Landesbeauftragte, weshalb der 17. Juni noch heute so brisant ist.

Frau Liedtke, Frau Nooke, am 17. Juni 1953 waren Sie beide noch nicht geboren – doch haben Sie eine persönliche Verbindung zum Datum?

Maria Nooke: Meine Eltern haben einiges über die Vorgeschichte des Volksaufstandes erzählt. Mein Vater war damals Pfarrer im Oderbruch und hat die Verfolgung der jungen Gemeinde miterlebt.

Ulrike Liedtke: Ich wusste damals wenig über den Volksaufstand. In der Schulbildung der DDR spielte dieser Tag kaum eine Rolle. Die Proteste galten als vom Westen geschürte konterrevolutionäre Aktion gegen den Staat. Das war natürlich vollkommen falsch.

Nooke: Aufgrund der brutalen Niederschlagung durch die Sowjetarmee galt es als gefährlich, über die Ereignisse zu sprechen. Diejenigen, die beteiligt waren, haben aus Angst vor einer Verhaftung geschwiegen und die anderen sagten nichts, weil sie nicht als faschistische Putschisten wahrgenommen werden wollten. So blieb vom 17. Juni nur die Propagandalüge der SED übrig.

Auch in Frankfurt (Oder) regte sich am 17. Juni 1953 Widerstand
Volksaufstand in der DDR
Auch in Frankfurt (Oder) regte sich am 17. Juni 1953 Widerstand
Frankfurt (Oder)

Furchtlose Streikende auf dem größten Militärflugplatz Europas

Der Volksaufstand war nicht nur in Berlin – das soll der diesjährige Gedenktag in Hennigsdorf zeigen.

Liedtke: Vom Stahlwerk zogen damals Tausende Arbeiter los und marschierten durch Westberlin bis zum Haus der Ministerien und zum Pariser Platz – in voller Arbeitsmontur. Da in Hennigsdorf zudem noch heute ein großer Industriebetrieb steht, ist die Erinnerung an den Tag dort sehr präsent.

In Brandenburg wurde insgesamt an mindestens 150 Orten protestiert.

Nooke: Das stimmt und die Anlässe waren sehr unterschiedlich. Beispielsweise in Groß Dölln: Dort wurde ein Flugplatz für die sowjetische Armee gebaut – damals der größte Militärflugplatz Europas. Dass die Bauarbeiter es wagten, Forderungen an den sowjetischen Bauleiter zu stellen, finde ich sehr beeindruckend. Im Energiebezirk Lauchhammer, im Süden Brandenburgs, versuchten Werkleitung und Partei die Streiks möglichst schnell einzudämmen, da sie Angst hatten, die Energieversorgung könnte zusammenbrechen.

Der Volksaufstand in der ganzen DDR in einer App

Zum 70. Jahrestag des DDR-Volksaufstands vom 17. Juni 1953 lassen sich die damaligen Ereignisse erstmals auf einem Liveticker verfolgen. Eingebettet in die berlinHistory.app biete der Liveticker Informationen zu den Massenprotesten an rund 350 Orten in der damaligen DDR, sagte der Vorsitzende des Vereins berlin.History, Rainer Klemke. Neben den Brennpunkten in Ost-Berlin werden auch die Ereignisse in mehr als 140 Städten und Dörfern des Landes Brandenburg dokumentiert.
Kooperationspartner sind die Aufarbeitungsbeauftragten von Berlin und Brandenburg, die Landeszentrale für politischen Bildung in Brandenburg und die Bundesstiftung Aufarbeitung. Der Liveticker umfasse rund 200 Meldungen, die die Massenproteste zwischen dem 16. und 18. Juni in der Reihenfolge der Ereignisse beleuchten. Es gibt originale Medienmeldungen und Tondokumente aus der Zeit, wie das Interview eines RIAS-Reporters mit einem Streikenden am Brandenburger Tor. Freigeschaltet wird der Ticker am 16. Juni. (epd)

Welcher Fall außerhalb Berlins stach für Sie noch heraus?

Liedtke: In Halle im heutigen Sachsen-Anhalt hatte ein Kameramann einfach nur aufgezeichnet, was passiert war. Der Mann wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, dabei gehörte er nicht einmal zu den Streikenden, sondern hatte nur das Geschehene dokumentiert.
Nooke: An verschiedenen Orten protestierten auch Jugendliche und forderten beispielsweise, im Unterricht Englisch statt Russisch zu lernen. Auch in meiner Heimatstadt Forst protestierte die Jugend am Abend des 17. Juni.

Beim Volksaufstand in der DDR streikten auch die Frauen

Der 17. Juni war also kein reiner Arbeiteraufstand?

Nooke: Nein. In den ländlichen Gebieten protestierten viele Bauern, da die Kollektivierung zu vielen Verwerfungen führte. Zudem waren es nicht nur Männer: Auch Frauen gingen auf die Straße.

Wie wurden diese umfassenden dezentralen Proteste ohne Kommunikationsmittel möglich?

Liedtke: Die Wut auf den Staat entstand nicht erst am 17. Juni, sondern bahnte sich schon im Frühjahr an. Die DDR war quasi bankrott, hatte Schulden in Milliardenhöhe und wollte mit der Kraft des Volkes den Staat sanieren. Die daraus resultierenden Maßnahmen, wie die Erhöhung der Arbeitsnormen, hatte viele erschrocken. Hinzu kam die Enttäuschung über den missglückten Neuanfang nach dem Krieg.
Nooke: Es war die Bevölkerung, die aus eigener Motivation aufbegehrte und nicht von außen angestiftet wurde. Die Behauptung, dass die Menschen durch den Sender RIAS aufgewiegelt wurden, stimmt so nicht. Der Streikaufruf wurde nur ein einziges Mal am Abend des 16. Juni gesendet. Die Berichterstattung am nächsten Tag hat vor allem die Berliner erreicht.
Maria Nooke, Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (links) und Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke im Interview.
Maria Nooke, Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (links) und Landtagspräsidentin Ulrike Liedtke im Interview.
© Foto: Landtag Brandenburg

Der Mauerfall löste die Forderungen von 1953 ein

Warum ist der 17. Juni 1953 noch immer aktuell?

Nooke: Der Volksaufstand zeigt, dass es schon in der Frühzeit der DDR Widerstand gab. Den Menschen waren Freiheit und Demokratie wichtig. Wenn es auch über viele Jahre wenig oppositionelle Proteste gab, so blieb doch eine oppositionelle Haltung in der Bevölkerung. Und 1989 wurden die Forderungen eingelöst.
Liedtke: Es ist auch wichtig, die Parallelität zur Gegenwart zu verstehen. Wenn man sich mit dem 17. Juni 1953 auseinandersetzt, lässt sich verstehen, weshalb es in gegenwärtigen Diktaturen nicht übermorgen zur Revolution kommt.
Nooke: Die Angst vor Repressionen ist ein beunruhigendes Gefühl. Die Folgen lassen sich schwer abschätzen und es gibt keine Rechtssicherheit – also zieht man sich lieber zurück und schweigt. Und jene, die mutig vorangehen, werden bestraft.

... auch im Iran scheint sich die Erfahrung zu wiederholen. Ist es nicht frustrierend, dass der Aufstand gegen Diktaturen oft so hoffnungslos erscheint?

Nooke: Wiederum haben wir 1989 in Ostdeutschland die Erfahrung gemacht, dass es funktioniert. Das muss ganz bewusst vermittelt werden.

Frau Liedtke, Frau Nooke, vielen Dank für das Gespräch!

Gedenkveranstaltung zum 17. Juni in Hennigsdorf

Unter dem Titel „Die Hennigsdorfer kommen“ wird das Gedenken an den 70. Jahrestag des Volksaufstandes auf dem Gelände der Hennigsdorfer Elektrostahlwerke stattfinden. Geplant sind ein historischer Parcours zum damaligen Protestzug, einer Stahlwerksführung und ein Konzert der Band Monokel. Zudem wird es Verkaufsstände für nnigsdorf Thomas Günther sowie Vertretern von fünf Orten aus Brandenburg, die über die dortigen Ereignisse von 1953 berichten. Getränke und Speisen geben sowie ein Programm für Kinder.
Darüber hinaus werden fünf Vertreter aus anderen Orten Brandenburgs (darunter Rüdersdorf, Groß Dölln und Lauchhammer) über die Ereignisse von 1953 berichten.
Die Veranstaltung ist kostenlos und beginnt ab 11 Uhr auf dem Parkplatz der Hennigsdorfer Elektrostahlwerke, in der Wolfgang-Küntscher-Straße 18 in 16761 Hennigsdorf. Für die Stahlwerksführungen ist eine Anmeldung erforderlich: https://landesregierung-brandenburg.de/gedenken-17-juni-1953/