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TEC21 2009|29-30
Baumwerke
TEC21 2009|29-30
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Natur formen

Der Geologe James Hall, der Gartenbauingenieur Arthur Wiechula und der Farmer Axel Erlandson beschäft igten sich im 19. und 20. Jahrhundert mit einer besonderen Form des Holzbaus: Sie formten lebende Pflanzen zu gotischen Fenstern, flochten sie zu Zäunen, bauten Türme mit ihnen – und liessen sie miteinander verwachsen. Ein geschichtlicher Abriss zu den drei Persönlichkeiten, die auch heutige Baubotaniker beeinflussen.

17. Juli 2009 - Hannes Schwertfeger
Die Entstehungsprozesse von Materialien, die wir gemeinhin als «natürlich» bezeichnen, erscheinen uns als langsam. Ein Baum wächst, solange er lebt, und produziert dabei Holz. Baubotaniker verwenden wachsende, lebendige Materialien für die Konstruktion von Bauten und sammeln dabei Erkenntnisse über die botanischen Eigenschaften von Pflanzen, ihr Verhalten und ihre Entwicklung. James Hall, Arthur Wiechula und Axel Erlandson haben aus unterschiedlichen Motivationen heraus Holzpflanzen geformt oder für konstruktive Zwecke eingesetzt.

James Hall, ein schottischer Geologe und Physiker, interessierte die Vortäuschung des Pflanzencharakters in einem anderen Material. In seinem 1813 veröffentlichten Essay «Ursprünge, Geschichte und Prinzipien der gotischen Architektur»[01] bemerkt er, dass gerade die «Verborgenheit der Naturformen» in der Gotik Aufmerksamkeit errege. In Konsequenz dieser Beobachtung konzentrierte sich Hall auf die Imitation der Natur als kulturelle Praxis. Er versuchte experimentell nachzuweisen, dass es keine in der Gotik vorkommende Form gebe, die nicht durch Holzpflanzen nachgebildet werden könne. Die Naturformen in der Gotik seien zwar an die räumlichen Anforderungen der Architektur angepasst worden, jedoch unter der Prämisse der plastischen Verformbarkeit der verwendeten Pflanzen. Die Übertragung der Form in Stein diente für Hall allein der Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Kunstwerks, das nun das Bedürfnis des Betrachters nach der Echtheit des Objekts auf zweierlei Art erfülle. Das Kunstwerk erscheint als real, denn all seine Formen sind mit Pflanzen zu bilden, während die künstlerische Fiktion in der Übertragung des Kunstwerks in den Stein zu finden ist, die ihm den Wert der Dauerhaftigkeit verleiht. Fiktion und Realität werden damit zur Basis des Kunstwerks, wobei die Realität von der plastischen Verformbarkeit der Pflanzen abhängt, die Hall in seiner Untersuchung nachzuweisen versucht hat.

Holzpflanzen verwachsen und überwallen Fremdkörper

James Hall war jedoch nicht der Einzige, der sich auf die Anfertigung gotischer Strukturen aus lebenden Pflanzen verstand. Die Herstellung gotisch anmutender Fenster, wahlweise auch romanischer, kennzeichnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeit des Gartenbauingenieurs Arthur Wiechula. Dieser schätzte besonders die Fähigkeit von Holzpflanzen, miteinander verwachsen und technische Bauteile überwallen zu können. In seinem Buch «Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend»[02] beschrieb er das von ihm beobachtete Phänomen am Beispiel der zufälligen Verwachsung zweier Kiefern. Anhand dieses Beispiels machte er deutlich, dass Verwachsungen von Pflanzen nicht nur eine stabile Verbindung eingehen können, sondern sich zudem gegenseitig versorgen, sodass bei Verwachsungen von einem zusammenhängenden Pflanzensystem gesprochen werden kann. Statt Bäume im Wald zu ziehen und diese anschliessend mit hohem Energie-, Arbeits- und Kapitalaufwand zu Bauholz zu verarbeiten, wollte Wiechula Pflanzen unmittelbar zu Gebrauchsgegenständen wie Zäunen und Häusern verwachsen lassen. Mittels gärtnerischer Methoden wie beispielsweise der Verpfropfung schlug er vor, Pflanzen so zu Gittern zu verbinden, dass sie durch ihr Dickenwachstum letztlich zu geschlossenen, lebenden Holzwänden verwachsen.Eine besondere Konsequenz seiner Arbeit sah Wiechula in den Möglichkeiten, die sich dabei für die Gartenkunst eröffnen würden, denn durch die Anlage von «schweben den Gärten mit Hilfe des Naturbauverfahrens wird die Gartenkunst mit einem Stoff bereichert, um den sie bisher die Bautechnik vergeblich beneidet hat»2. Gartenanlagen könnten mittels Rampen und Treppenanlagen nun dreidimensional konstruiert und erschlossen werden.

Baumplastik

1928 begann der amerikanische Farmer Axel Erlandson seine ersten Versuche, Pflanzen zu ungewohnten Formen verwachsen zu lassen. 1947 eröffnete er seinen ersten «Tree- Circus». Er sah sich vornehmlich als Gärtner, der mit wachsenden Bäumen Strukturen bildet. Der Pflanzenkünstler Richard Reames, der in Kalifornien lebt und dort verschiedene Baumformen wachsen lässt[03], beschreibt die Arbeit Erlandsons folgendermassen: «Spalierobst ist die der Baumplastik wahrscheinlich ähnlichste Kunstform. Aber Spalierbäume sind eindimensional, denn sie ähneln sich. Ihre Zweige sind alle gleichmässig horizontal angeordnet. Baumplastiken hingegen können alles sein. Sie können dreidimensional angeordnet werden, verschiedene Formen annehmen, eigentlich sogar jede. Es scheint keine Grenzen zu geben. Und diese Freiheit verleiht dem Umgang mit Pflanzen völlig neue Dimensionen.» Neben skulpturalen Baumstrukturen wie Spiralen, Ringen, Herzen und Knoten entstanden durch Erlandsons Versuche auch Leitern und Stühle. 1929 entstand die erste architektonische Zeichnung für einen Baum, der zu einem Eingangsportal zusammenwachsen sollte, und etwa zeitgleich begann der Versuch, einen «lebenden Turm» wachsen zu lassen. Nach mehrmaligem Verpflanzen sind von den 60 bis 70 verschiedenen, seltsam geformten Bäumen nur noch wenige am Leben.

Was verwächst, wächst

Wenn Baubotaniker mit lebenden Pflanzen konstruieren, treffen die Prinzipien der Botanik[04] auf die uns gewohnt erscheinenden Prinzipien der Architektur. Dieser Ansatz hat verschiedene Vorläufer, für die jeweils ein bestimmter Aspekt eines Bauens mit wachsenden Pflanzen im Vordergrund gestanden hat. In der Baubotanik wird versucht, diese verschiedenen Aspekte in Konstellation zueinander zu setzen. Die Forschungsgruppe «Baubotanik – Lebendarchitektur»[05] der Universität Stuttgart forscht interdisziplinär mit Architekten, Ingenieuren, Natur- und Geisteswissenschaftern (vgl. S.19ff.). Arbeiten in den Bereichen Botanik, Konstruktion, Ästhetik, Ethik und Kulturtheorie bilden einen sich gegenseitig befruchtenden Erkenntnisprozess, indem aus natur- und ingenieurwissenschaftlicher Perspektive die Grenzen des botanisch Machbaren ausgelotet und aus kulturtheoretischen Sicht die Konsequenzen untersucht werden, die eine Implementierung von Werdensprozessen in die Architektur nach sich ziehen wird.

Denn wenn wir die Pflanze im Zustand ihrer Physis belassen, dann benötigt sie weiterhin ihre Blätter und Wurzeln, um die gewünschten Prozesse wie Verwachsungen und Überwallungen aufrechterhalten zu können. Unterstellen wir der Architektur, dass sie vornehmlich menschlichen Bedürfnissen zu nützen habe, erscheint die Verwendung von Pflanzen eher als störend. Denn die Konsequenz daraus ist, dass die zukünftige, räumliche Entwicklung der Architektur über ihre Wachstumszeit hinweg massgeblich vom Pflanzenwachstum mitbestimmt wird. Vielleicht lässt sich in Zukunft die Konstruktion einer baubotanischen Struktur dahingehend optimieren, dass die Anforderungen der Pflanze in Bezug auf ihre Versorgung technisch so in den Bau integrierbar sein wird, dass sie den uns bekannten und gewohnten Planungs prozessen so wenig wie möglich hinderlich ist.

Doch aus Sicht der Architekturtheorie stellt gerade die Verwendung von lebenden Pflanzen als Tragstruktur eine Herausforderung dar. Denn die Entwicklung einer baubotanischen Struktur ist so stark von den vorherrschenden Umweltbedingungen ihres Ökosystems bestimmt, dass ihre Entwicklung und der Systemerhalt der in ihr ablaufenden Prozesse oft im Widerspruch zu den komplexen, gesellschaftlich bedingten Anforderungen an die Architekturproduktion steht. Wenn wir damit anfangen, nicht nur einzelne Materialeigenschaften für unsere Zwecke zu nutzen, sondern Materialien mit all ihren systemischen Eigenschaften und den daraus resultierenden Konsequenzen in die Architektur zu implementieren, muss die Architektur darauf reagieren. Sie muss sich dann an der Offenheit und Unabschliessbarkeit, der Komplexität, kurz, dem Werdenscharakter dessen orientiert, das wir gewohnt sind, Natur zu nennen. Dabei wissen vielleicht eher Gärtner die zuweilen nervenaufreibende, permanent um Aufmerksamkeit heischende baubotanische Pflanze zu schätzen, die unsere architektonischen Gewohnheiten von Stabilität und Festigkeit stört. Weil sie im Entwurfs- und Entstehungsprozess eigene Raumanforderungen stellt, sprechen Baubotaniker zuweilen von einem Emanzipationsprozess des Tragsystems in der Architektur. Denn auch die Pflanzen, die zu Gebäuden werden, fordern Licht, Luft und Sonne.

[Hannes Schwertfeger, Dipl.-Ing., Mitglied der Forschungsgruppe «Baubotanik – Lebendarchitektur» am Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart. Er promoviert an diesem Institut im Themenschwerpunkt Architekturtheorie.]


Anmerkungen
[01] Hall, James: Essay on the origin, history and principles of Gothic Architecture. W. Bulmer, London, 1813, S. 2
[02] Wiechula, Arthur: Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend. Verlag Naturbau-Gesellschaft Berlin-Friedenau, S. 196
[03] www.arborsmith.com
[04] Siehe hierzu: Mayr, Ernst: Die Entwicklung der Biologischen Gedankenwelt, Springer, Berlin, 1984
[05] Die FG Baubotanik-Lebendarchitektur ist 2006 am Institut Grundlagen moderner Architektur (IGMA) an der Universität Stuttgart gegründet worden. Institutsleiter ist Prof. Dr. Gerd de Bruyn.
[06] Wiechula, Arthur: Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend. Verlag Naturbau-Gesellschaft, Berlin-Friedenau

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

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