Franziskus ist der Papst der Paradoxe

Oft wird Franziskus für seine Bescheidenheit gelobt und als «progressiver Papst» gefeiert. Nüchtern betrachtet, sind es aber Widersprüche und Enttäuschungen, die sein Pontifikat prägen. Gerade in brennenden Fragen der Gegenwart bewegt sich der Heilige Vater nicht auf der Höhe der Zeit.

Pascal Bruckner
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Papst Franziskus, fotografiert im Oktober anlässlich eines Treffens mit Sebastian Pinera im Vatikan. Der Besuch des chilenischen Präsidenten fand vor dem Hintergrund des grossen Missbrauchsskandals statt, der Chiles katholische Kirche erschüttert hatte. (Bild: Evandro Inetti / Imago)

Papst Franziskus, fotografiert im Oktober anlässlich eines Treffens mit Sebastian Pinera im Vatikan. Der Besuch des chilenischen Präsidenten fand vor dem Hintergrund des grossen Missbrauchsskandals statt, der Chiles katholische Kirche erschüttert hatte. (Bild: Evandro Inetti / Imago)

Blaise Pascal hat die Jesuiten mit einer wenig schmeichelhaften Definition bedacht. In seinen «Briefen in die Provinz» (1657) hat der Mathematiker und Philosoph den «Jesuitismus» beschrieben: als Form des Lavierens und des doppelzüngigen Sprechens; als Kunst, eine Sache zu sagen und zugleich auch ihr Gegenteil auszudrücken – ohne dabei widersprüchlich zu wirken. Papst Franziskus hat seinen Namen zwar gewählt, um seine Bewunderung für Franz von Assisi auszudrücken, den Heiligen den Armen. Doch sein Orden ist jener der Jesuiten – vor sechzig Jahren ist er der Gesellschaft Jesu beigetreten –, und in vielerlei Hinsicht scheint Franziskus ebenjene Ambiguitäten zu verkörpern, die Pascal im 17. Jahrhundert erwähnte.

Politisch hat der Papst schon auf beiden Seiten Misstrauen geweckt. Rechts verdächtigte man Franziskus, mit der als marxistisch etikettierten Befreiungstheologie sympathisiert zu haben. Von links dagegen wurde der Bischof von Rom beschuldigt, während der bleiernen Jahre mit der argentinischen Militärjunta kooperiert und zwei Glaubensbrüder verraten zu haben. Die Medien wiederum bezeichnen Franziskus gemeinhin als «Papst der Armen» – dies wegen der heftigen Ablehnung, mit der er dem Geld begegnet.

Das Geld – eine Obsession

Dieses Thema ist Franziskus’ Obsession, seine fixe Idee: Im Geld sieht er den «Mist des Teufels» (den Ausdruck hat er dem Kirchenvater Basilius von Cäsarea entliehen), den Widersacher Gottes, ja ein Instrument des Satans, das die Menschen spaltet. Der Papst zelebriert die Armut als christlichen Zustand par excellence, und er rügt die Reichen. Aber diese Mahnreden gegen die neue, unsichtbare Tyrannei der Finanzwelt und des Privatbesitzes vermögen nicht die Widersprüche zu überdecken, mit denen das vor opulenten Schätzen triefende Rom seit seinen Anfängen ringt: Das Lob der Armut steht in scharfem Kontrast zum Pomp einer Institution, die sich gerne dem Gold hingibt und viele wohlgesättigte Prälaten in ihren Reihen führt.

Franziskus’ Aussage, dass er das Geld nicht liebe, es aber brauche, um den Armen zu helfen und den Glauben zu verbreiten, zeugt von einer schönen Schizophrenie. Schliesslich verfügt der Vatikan über ein Bankensystem, das in den letzten dreissig Jahren von diversen Skandalen geschüttelt wurde. Wir stehen hier vor dem grossen Widerspruch einer Kirche, die das Geld nur tolerieren kann, wenn sie es zugleich verflucht; einer Institution, die zerrissen ist zwischen zur Schau getragenen Tugenden auf der einen und öffentlich ausgebreitetem Prunk auf der anderen Seite – auch wenn man natürlich bedenken muss, dass viele Priester anders als die Kardinäle tatsächlich in der Not leben.

Selber von bescheidener Herkunft, hat Franziskus für alle sichtbar entschieden, in einer einfachen Bleibe zu leben und sich fernzuhalten von der Luxusresidenz, die dem Papst vom Vatikan zur Verfügung gestellt würde. Das ist schön. Nur: Hilft das Zelebrieren einer abstrakten Armut irgendeinem Armen, aus seinem Elend zu kommen?

Unreflektierte Begeisterung

Auch einen «progressiven Papst» will man aus Franziskus immer wieder machen. Als Begründung dient zum Beispiel der Umstand, dass der Papst von reaktionären Kräften verachtet und etwa von Steve Bannon abgelehnt wird. Entsprechend verfallen sich aufgeklärt wähnende Geister in veritable Begeisterungsstürme. So hat Wim Wenders jüngst einen Film über Franziskus gedreht, der jedes Augenmass vermissen lässt.

Nüchtern betrachtet, muss man jedoch bemerken, dass der Papst nicht auf der Höhe der Zeit ist, wenn es um die brennenden Fragen der Gegenwart geht. Nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» zum Beispiel war er der Ansicht, dass die Meinungsfreiheit nicht dazu ermächtige, den Glauben anderer Leute zu verhöhnen. «Wenn ein Freund schlecht über meine Mutter redet, muss er mit einem Faustschlag rechnen.» Das klingt eher nach dem Satz eines südamerikanischen Machos als nach der Reflexion eines Kirchenoberhaupts, jedenfalls scheint Franziskus mit solchen Worten zu bedauern, dass Blasphemie kein Verbrechen mehr ist.

Papst Franziskus streckt die Hand aus – aber packt er die Dinge auch wirklich an?(Bild: Evandro Inetti / Imago)

Papst Franziskus streckt die Hand aus – aber packt er die Dinge auch wirklich an?(Bild: Evandro Inetti / Imago)

Was hat Franziskus zu den islamistischen Attentaten zu sagen? Auch sie führt er auf die zerstörerische Wirkung des Geldes zurück. Nach den Anschlägen von Nizza und Saint-Etienne-du-Rouvray, wo einem achtzigjährigen Priester von zwei Islamisten die Kehle durchgeschnitten wurde, sprach er über den «Gott Geld» und den «Terrorismus» der Weltwirtschaft. Zudem erklärte er, dass es in allen Religionen Gewalttäter gebe: «Wenn ich von islamischer Gewalt spreche, muss ich auch von katholischer Gewalt sprechen.» Man ist konsterniert ob dieser Blindheit in einem Moment, da in vielen muslimischen Ländern die orientalischen Christen diskriminiert, verfolgt und getötet werden.

In Fragen der Migration geht der Papst hart mit Europa ins Gericht. Laut ihm sollte der Kontinent die Maxime des bedingungslosen Empfangs befolgen, alle aufnehmen, die an seine Türen klopfen, und die Gastfreundschaft gegenüber den Fremden höher gewichten als die Sicherheit der Einheimischen. Auch wenn er später moderatere Töne anschlug: Für Franziskus ist die Barmherzigkeit ein Absolutes, das keine Einschränkungen duldet.

Die Wurzel der Probleme

Wenn Gewalt und Terrorismus die Krankheiten des Islam sind, dann bleibt die Sexualität das Problem der katholischen Kirche. Permanent verdrängt, taucht sie doch immer wieder auf, etwa im Zusammenhang mit zahllosen Skandalen rund um pädophile Priester, die unbehelligt auf der ganzen Welt wirkten. Gerade auf dem Feld der Sitten und der Moral hat man sich vom neuen Papst viel versprochen – und eben hier wurde man am stärksten enttäuscht. Einige vage Toleranzbotschaften an Homosexuelle und Geschiedene und die wie ein Mantra wiederholte Formel «Wer bin ich, um zu urteilen?» helfen wenig: Nichts macht die Nachsicht vergessen, mit der er Bischöfen begegnete, die in Chile, in Irland, in Argentinien oder in den USA der Pädophilie verdächtigt wurden.

Der Anlass des zweitägigen Papstbesuchs in Irland war der Abschluss des katholischen Weltfamilientreffens in Dublin. (25 August 2018) (Bild: Gonzalo Fuentes / Reuters)
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Doch während seines Besuches wurde Papst Franziskus nicht nur mit Freude empfangen. (25. August 2018) (Bild: Jeff Mitchell / Getty Images)
Das Thema des jahrzehntelangen Missbrauchs von Kindern durch Vertreter der katholischen Kirche war während des Papstbesuches omnipräsent. (25. August 2018) (Bild: Jeff Mitchell / Getty Images)
Bei seiner ersten Rede in Dublin anerkannte der Pontifex den schweren Schaden, der in Irland durch den Missbrauch von Minderjährigen durch Mitglieder der Kirche verursacht wurde. (25. August 2018) (Bild: Hannah McKay / Reuters)
Das Oberhaupt der katholischen Kirche betonte, dass die Kirche es versäumt habe, mit den abscheulichen Verbrechen angemessen umzugehen. Im Rahmen seiner Reise traf Franziskus auch acht Opfer des Missbrauchs durch die Kleriker. (25. August 2018) (Bild: Stefano Rellandini / Reuters)
Ein Mahnmal in Dublin aus Kinderschuhen und Spielzeug soll an die Missbrauchsopfer erinnern. Viele Iren verlangen konkrete Schritte, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen. (25. August 2018) (Bild: Clodagh Kilcoyne / Reuters)
Zahlreiche Demonstranten solidarisierten sich in Dublin mit den Opfern. Die katholische Kirche hat in Irland durch sie Skandale mit einem enormen Vertrauensverlust der Bevölkerung zu kämpfen. (26. August 2018) (Bild: Gonzalo Fuentes / Reuters)

Der Anlass des zweitägigen Papstbesuchs in Irland war der Abschluss des katholischen Weltfamilientreffens in Dublin. (25 August 2018) (Bild: Gonzalo Fuentes / Reuters)

Der Erzbischof Carlo Maria Viganò, der frühere Apostolische Nuntius des Vatikans in den USA, hat dem Heiligen Vater sogar vorgeworfen, das Fehlverhalten des amerikanischen Kardinals Theodore McCarrick gedeckt zu haben. Dieser hatte zu seinem eigenen Genuss offenbar veritable Brutstätten für Seminaristen und junge Priester angelegt.

Gegen die chilenische Kirche wurde später eine Untersuchung eingeleitet, ja, aber sie diente der Zentrale in Rom vor allem als Sündenbock. Franziskus mag die Vergehen immer wieder verurteilen und sich für eigene Fehleinschätzungen entschuldigen. Aber er macht keine Anstalten, die Wurzel der epidemischen Missstände im römisch-katholischen Dogma selber zu suchen. Die protestantischen und orthodoxen Kirchen sind beileibe nicht ohne Fehl und Tadel. Warum aber kennen sie keinen vergleichbar verbreiteten, weltweit wuchernden sexuellen Missbrauch von Minderjährigen?

Bedenkliche Bilanz

Hätte Papst Franziskus den Mut gehabt, die Frage des Zölibats und der Priesterheirat (oder auch jene der Frauenordination) nur schon aufzubringen – Rom wäre einen riesigen Schritt weitergekommen. Während sich Rabbiner, Imame oder protestantische Pfarrer verheiraten und ein Sexual- sowie ein Familienleben haben, sind die katholischen Pfarrer aufgrund einer uralten Satzung zu Keuschheit und Einsamkeit verdammt – was Perversionen erzeugt.

Wie soll man sich unter diesen Voraussetzungen noch darüber wundern, dass der Katholizismus im Rückgang begriffen ist und überall in Asien, Afrika und Lateinamerika Terrain an die Evangelischen verliert, die es verstehen, mit der Zeit zu gehen, und die Gläubigen nicht mit unmöglichen Geboten nötigen? Müsste die Kirche nicht beunruhigt sein über die Massen von Gläubigen, die sich allenthalben von ihr abwenden? Diese Entwicklung dem heutigen Papst anzulasten, wäre verfehlt, gewiss. Aber genauso unmöglich ist es, seine Bilanz zu schönen: Dort, wo Franziskus unerbittlich hätte sein sollen, hat er sich nachlässig gezeigt, wo er vorsichtig hätte sein sollen, war er rigoros. Franziskus ist ein Papst der Zerrissenheit – und des Widerspruchs.

Der Romancier und Essayist Pascal Bruckner lebt in Paris. Zuletzt von ihm erschienen: «Un racisme imaginaire. La querelle de l’islamophobie» (Grasset, 2017) und «Un an et un jour» (Grasset, 2018). – Aus dem Französischen übersetzt von cmd.