Instanz des Geistes: Wo Trümmer sind, muss Kultur werden

Kultur setzt nicht Harmonie voraus, aber gemeinsame Orientierungspunkte. Was, wenn es diese nicht mehr gibt? In einem bisher kaum beachteten Zeitungsartikel plädierte die deutsche Schriftstellerin Elisabeth Langgässer nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Neuorganisation des Kulturlebens. Wir drucken den Text im Wortlaut ab.

Elisabeth Langgässer
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Unsere Kultur, wer könnte es leugnen, gleicht an Harmonie dem Konzert der Bremer Stadtmusikanten, das aus einer Notgemeinschaft geboren worden ist. Dieser Vergleich stimmt in mancherlei Hinsicht, wenn er auch da und dort hinkt. Denn die neuen Stadtmusikanten des Geistes haben sich weniger aus innerem Einverständnis oder aus Übereinkunft der Ziele, sondern aus Zufall zusammengefunden, aus Angst vor dem Nichts, aus dem Bedürfnis, Lärm vor den Fenstern der Kultusminister zu machen, aus Hunger, Ruhmgier und Not.

Es besteht indes kein Zweifel darüber, dass sich die ungleichen Kameraden nur so lange lieben werden und so lange zusammenbleiben, wie sie noch, faute de mieux, diesen Zusammenhalt brauchen, und wollte man, wie in anderen Märchen, eine Todesart prophezeien, die wahrscheinlich über kurz oder lang unweigerlich eintreten wird, so steht zu erwarten, dass man sie alle – Hund, Katze, Esel und Hahn – zusammen in einen Sack einsperrt, ihn zubindet, in das Wasser wirft und sie sich selbst überlässt.

Zur Person

Elisabeth Langgässer

Elisabeth Langgässer

Elisabeth Langgässer (1899–1950) gehört zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Als Autorin wurde sie 1936, nach NS-Gesichtspunkten als Halbjüdin eingestuft, aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und durfte nicht mehr publizieren. Im Unterschied zu dem von ihr verehrten Gottfried Benn standen ihr gleich nach dem Krieg Publikationsmöglichkeiten offen. So veröffentlichte sie 1947 ihr wohl bedeutendstes Werk, den Roman «Das unauslöschliche Siegel». 1950 erhielt sie postum den Georg-Büchner-Preis.

Elisabeth Langgässer

Die Schriftstellerin gehört zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Als Autorin wurde sie 1936, nach NS-Gesichtspunkten als Halbjüdin eingestuft, aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und durfte damit nicht mehr publizieren. Im Unterschied zu dem von ihr verehrten Gottfried Benn standen ihr gleich nach dem Krieg Publikationsmöglichkeiten offen. So veröffentlichte sie 1947 ihr wohl bedeutendstes Werk, den Roman «Das unauslöschliche Siegel». 1950 erhielt sie postum den Georg-Büchner-Preis.

Ganz im Ernst: Wer liest eine Buchbesprechung, ohne verwirrt zu sein? Wer verlässt eine Ausstellung ohne Bestürzung, wer kommt aus Vorträgen, Vorlesungen oder aus dem sakralen Raum üblicher Goethe-Feiern, ohne sich – je nachdem – tödlich gelangweilt oder geärgert zu haben? Kein Begriff ist gemeinsam, kein Wort verbindlich, keine Wertskala, die nicht den Fieberkurven an Krankenbetten ähnelt. Jeder Kritiker strotzt von Superlativen nach oben oder unten; er klappert mit Münzen, die schon entwertet sind; er bläst sich auf wie ein Luftballon, aus dem von Stunde zu Stunde das flüchtige Gas entweicht.

Die Maschen des Zeitensiebes

Produzenten, Verbraucher und Kritiker sind gleichermassen zu bedauern, denn inmitten der ungeheuren Anschwemmung neuer Probleme hat sich bis jetzt nichts kristallisiert, das Aussicht auf Klärung eröffnet; kein Stil ist entwickelt, und keine Weltsicht ist eindeutig geworden. Inzwischen verteilt man allerlei Preise oder bewirbt sich um sie; man wählt Ausschüsse oder Gremien, deren Aufgabe es zu sein scheint, das Museale zu glorifizieren und das Kommende totzuschweigen; kurzum, man dokumentiert nach Kräften, dass es an einer Instanz des Geistes im Grunde vollkommen fehlt.

Aber seien wir ehrlich! Wann überhaupt hat es diese Instanz des Geistes, diese platonische Akademie der Philosophen, gegeben? Und entspringen der romantische Wunsch nach ihr und die Vorstellung, dass die Instanz des Geistes in einen gesetzlichen Rahmen gespannt, in Beschlüsse, Dogmen ex cathedra oder Richtlinien eingefasst werden könnte, der Einsicht in das Wesen des Geistes, des schöpferischen Vorgangs, und überhaupt dem Wissen darum, wie Kunst und Literatur, Wissenschaft, Philosophie sich zu entfalten vermögen?

Jedes gültige Urteil kommt immer post festum. Zehn Jahre, zwanzig Jahre, ja fünfzig oder gar hundert Jahre sind für die Wahrheit der Wissenschaft, die Wahrheit der Kunst keine Zeit. Auch hier gilt das Sprichwort, dass Gottes Mühlen zwar langsam, aber fein und unbeirrt sicher mahlen und dass die Maschen des Zeitensiebes, wo die Spreu von dem Weizen gesondert wird, sehr wenig zurückbehalten.

Inzwischen machen die Dreschflegel Lärm und übertönen den einfachen Vorgang der Scheidung; den Richtspruch, der nicht mehr zurückgenommen oder gefälscht werden kann. Gericht über Gut und Böse lebt in jedem Augenblick, jeder Minute schon mitten unter uns. In dem Bereich des Moralischen ist es die Stimme der «conscientia», die Stimme des Gewissens, die uns gewiss macht, wohin wir die Füsse im Dunkeln setzen sollen; in dem Bereich des Geistes die gleiche untrügliche Instanz.

Unanfechtbare Würde

Man spricht von künstlerischem Gewissen, von wissenschaftlicher Redlichkeit und meint doch mehr als die Sauberkeit des handwerklichen Könnens, die Redlichkeit der Methoden – nämlich darüber hinaus die Gewissheit, die schöpferischem Tun innewohnt und ohne die das schwere Werk des Geistes überhaupt nicht zustande käme.

Diese Gewissheit und Sicherheit ist ungefähr das, was die Theologie «Rechtfertigungslehre» nennt: ein Innewerden der Glaubensgewissheit, die durch Gnade geschenkt worden ist. Am stärksten ist diese Glaubensgewissheit, wenn sie sich gegen den Ansturm von aussen zu wehren und zu behaupten hat. Der Ausruf «Und sie bewegt sich doch!» ist das Schlüsselwort zu der innersten Kammer der Selbstbehauptung und unanfechtbaren Würde, die dem Menschengeist eigen ist.

Hier treffen die Moralität des Menschen und das Ethos des Wissenschafters, des Künstlers in der Entscheidung gegen die Masse und für den Geist zusammen. Hier werden die Würde des Individuums und das Recht der Person so vollkommen klar wie sonst nirgendwo auf der Welt; und es wird ebenso klar und deutlich, dass prinzipielle Feindschaft gesetzt ist zwischen dem Anspruch der vielen und der Gewissheit des Einzelnen: Instanz des Geistes zu sein. Dieser Einzelne zahlt seinen Anspruch sehr oft mit Blut und Leben; der Staat, als Repräsentant der vielen, zahlt den gleichen Anspruch mit dem Verlust der Bezeichnung als Demokratie und wird zur Diktatur. Denn er kann zwar Kartoffeln und Kohlen, nicht aber Kunst und Kultur verteilen.

Demokratie des Geistes

Je offizieller das Gremium ist, das von ihm eingesetzt wurde, um die Werke des Geistes zu prüfen oder zu prämieren, desto gewisser wird auch der Geist nach dem Bild und Gleichnis des Staates geformt werden und endlich sein Abklatsch werden. Geist und Freiheit sind nicht voneinander zu trennen aber ebenso auch nicht der Geist und das Opfer; der Geist und das Missverständnis, das jeder Avantgardist des Geistes, nolens volens, erdulden muss.

Denn der Schaffende kann nicht beweisen, was er vorausahnend weiss und fühlt; es gibt keinen Index, der in der Kunst ihrem Schöpfer schon heute das Siegel der Dauer aufprägt, und andererseits wird keine Fanfare, keine Auszeichnung jemals erzwingen können, dass ein Werk von dem anonymen Bewusstsein jener wahrhaften Demokratie des Geistes (die beides in einem ist: Volk und Elite) von dem Hinsturz der Tage ausgenommen und den Göttern zugesellt wird.

Wer jemals auf andres Entgelt gehofft hat als das, welches das Werk in sich selbst trägt, hat seinen «Lohn schon dahin»; und wer noch niemals empfunden hat, dass die Münze erst geprägt werden müsste, die das Glück und die Qual des Schöpfertums aufwiegt, hat noch niemals dem Schöpfer dafür gedankt, dass er ihn an den sausenden Webstuhl des Geistes gerufen hat.

Gereinigte Horizonte

Dieses Glück ist das Einzige ausser der Liebe, das sich nicht abnützt und das in dem Opfer nur voller und reicher wird. Ja, wenn auf der Ebene des Profanen ein Vergleich erlaubt wäre mit dem Wort des Täuferpropheten Johannes, dass er selber abnehmen müsse, damit der Logos wachse – so sicherlich auch hier. Aber indem er abnimmt: Welche Erkenntnis und welches Glück für den geistverbundenen Menschen; welches Nachsommerglück der Kraft und der Stille; der weiten, von jeder Täuschung entleerten, gereinigten Horizonte!

Welche Anmut in jedem einzelnen Vers einer antiken Tragödie! Welche Leichtigkeit in der Mühe des Schaffens! Welch eine göttliche Grazie und Mühelosigkeit! «Von fern der Weise» heisst ein Gedicht des vergessenen Oskar Loerke, in dem Spinoza von sich selbst sagt: «Bei Tage nur ein Brillenschleifer, bei Nacht ein Herr der Welten» – und Gottfried Benn scheint diesen Gedanken vielfältig fortzusetzen:

«Wo alles sich durch Glück beweist
Und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
Im Weingeruch, im Rausch der Dinge – :
Dienst du dem Gegenglück, dem Geist.»

Dieser Artikel ist am 30. November 1949 unter dem Titel «Instanz des Geistes» in der «Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung» erschienen (Nr. 96, Seite 13). Der Philosoph Gernot Böhme hat den Text im Fotoalbum seiner Grosseltern wieder entdeckt und der Redaktion der NZZ zugänglich gemacht. Wir drucken ihn im Wortlaut ab. Lesen Sie hier hier eine ausführliche Erläuterung von Gernot Böhme zum Text und den Umständen seiner Entstehung. Die Titel und Zwischentitel über dem Artikel stammen nicht aus dem Originaltext, sondern wurden von der Redaktion der NZZ gesetzt.