Emma Stone ist ein «sexy Biest». Diktator Pinochet püriert seine Opfer zum Smoothie. Und Enzo Ferrari fährt direkt ins Herz am Filmfestival Venedig

Der Wettbewerb beginnt triumphal. Aber ein Film ist ungeniessbar.

Andreas Scheiner, Venedig 4 min
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Bella (Emma Stone) bringt die Männer um den Verstand. Mark Ruffalo spielt einen davon. Szenenbild aus «Poor Things».

Bella (Emma Stone) bringt die Männer um den Verstand. Mark Ruffalo spielt einen davon. Szenenbild aus «Poor Things».

20th Century Studios

Venedig ist autofrei. Logisch. Es gibt keine Strassen. Die Gassen sind zu eng für alles, was rollt. Kinderwagen müssen mit letzter Anstrengung über die vielen Brücken gehievt werden. Rollstuhlgerecht ist Venedig auch nirgends. Immerhin, die Elektro-Scooter, die andere Städte verstopfen, sind hier unvorstellbar. Man müsste an jeder Ecke Touristen aus dem «Canal» fischen.

Ganz autofrei ist die Lagune trotzdem nicht. Auf dem Lido, der schmalen Landzunge, wo das Filmfestival stattfindet, fahren Busse, vereinzelt auch Autos. Hier ist Venedig in diesem Jahr sogar ein bisschen zur Autostadt geworden. Zumindest wenn es um einen bestimmten Hersteller geht.

Denn von Michael Mann («The Last of the Mohicans», «Heat») läuft ein Film über Enzo Ferrari. Das Drama spielt 1957, Rennfahrer Enzo lenkt längst nicht mehr selbst den Boliden, sondern die Geschicke der Firma in Modena.

Jesus würde bei Ferrari arbeiten

Aus der norditalienischen Universitätsstadt kennt man den Balsamico-Essig. Mindestens so stolz ist man dort aber auf Ferrari. Wäre Jesus nicht vor 2000 Jahren Zimmermann gewesen, er würde heute als Metallarbeiter beim Automobilkonzern arbeiten, so predigt’s der Pastor in der Messe.

Nur gelingt Ferrari nicht mehr viel. Auf der Rennstrecke trocknet Maserati die Scuderia ab. Und in den Strassen fahren die Leute lieber Jaguar. Enzo Ferrari weiss: «Wer am Sonntag Rennen gewinnt, verkauft am Montag Autos.» Doch während man bei Jaguar Rennen fahre, um Autos zu verkaufen, verkaufe er Autos, um Rennen zu fahren. So tickt der Mann, den alle nur «Commendatore» nennen.

Adam Driver versteht sich auf gut angezogene Italiener. Szenenbild aus «Ferrari».

Adam Driver versteht sich auf gut angezogene Italiener. Szenenbild aus «Ferrari».

Eros Hoagland

Adam Driver ist Enzo Ferrari. Dass der Kalifornier sich auf gut angezogene Italiener versteht, hat er schon in «House of Gucci» gezeigt. Durch das abfallende Kinngrübchen und den voluminösen Hals sieht Driver aber von Natur auch so aus, als würde ihm etwas aufstossen.

Enzo Ferrari hat viel erlebt: Kollegen sind verunglückt, der Sohn ist an einer Muskelerkrankung gestorben. Enzo hat sich eine neue Familie gefunden, abseits auf dem Land lebt die Geliebte mit dem gemeinsamen Kind. Ehefrau Laura weiss davon nichts. Nichts Konkretes: Wenn er sich mit Huren herumtreibe, brüllt sie, so soll er wenigstens am Morgen zu Hause sein, bevor die Hausangestellte den Kaffee mache.

Das Ehedrama kratzt die Leitplanke. Man schenkt sich nichts. Penélope Cruz spielt die Gattin grandios als Furie. Als Frau im Windschatten, jeder Zeit zum Überholmanöver bereit. Am Ende reisst sie das Steuer für den Konzern herum. Michael Manns «Ferrari» fährt als Zweisitzer triumphal ins Ziel.

Penélope Cruz spielt die Frau im Schatten des Ferrari-Gründers.

Penélope Cruz spielt die Frau im Schatten des Ferrari-Gründers.

Lorenzo Sisti

Schöne Leiche

Von einer Frau, die sich weigert, Werkzeug eines Mannes zu sein, erzählt auch Yorgos Lanthimos. Der griechische Meister des Makabren, gefeiert für «The Lobster» oder «The Favourite», spielt in «Poor Things» tragikomisch-surreal das sexuelle Erwachen einer «armen Kreatur» durch.

Hochschwanger springt eine Frau in den Tod. Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) zieht die schöne Leiche aus dem Wasser. Er setzt ihr das Gehirn ihres Ungeborenen ein, erweckt sie zum Leben. Und nennt sie Bella.

Baxter ist halb Frankenstein, halb Monster: An der medizinischen Fakultät wühlt der Arzt in Leichen, bei den Studenten ist er als Freak verschrien. Das Gesicht ist grobfädig zusammengeflickt, sein irrer Chirurgen-Vater hatte den Sohn als Versuchskaninchen missbraucht. Jetzt bastelt sich Godwin Baxter, genannt «God», gerne Mischwesen. Im Garten gackern Hühner mit Schweinsköpfen, der Hund reckt einen Schwanenhals.

Und mit Bella hat er sich ein Kleinkind im Körper einer jungen Frau geschaffen. Ein tapsiges Riesenbaby. Gleichzeitig ein sexy Biest: Bella lernt ihren Körper kennen, bald büxt sie aus. Mit ihrer totalen Unschuld bringt sie die Männer um den Verstand. Die junge Frau weiss nichts vom Leben, umso mehr feiert sie es. Hedonistisch stürzt sie sich mal in den Sex, mal auf die Platte mit den Austern. Aber bald wird ihr schlecht: «Da draussen ist nur Gewalt und Zucker», erkennt sie.

In «Poor Things» trifft «Barbie» auf «Frankenstein»: Aus dem Body-Horror erwacht verschmitzt eine feministische Erweckungsgeschichte, phantastisch opulent, unverschämt komisch. Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen wird Yorgos Lanthimos schwer zu schlagen sein.

Halb Frankenstein, halb Monster: Dr. Godwin (Willem Dafoe) wird «God» genannt.

Halb Frankenstein, halb Monster: Dr. Godwin (Willem Dafoe) wird «God» genannt.

20th Century Studios

Menschenfleisch verleiht Superkräfte

Keine Konkurrenz ist Pablo Larraín. Dabei hat der Chilene in den letzten Jahren oft brilliert, mit dem Biopic «Jackie» über die Kennedy etwa. Sein Diana-Film «Spencer» war von erlesenem Stilbewusstsein. Und Larraíns frühe Phase, die etwa in «No!» und «The Club» um Augusto Pinochet kreiste, ist bemerkenswert.

Mit «El conde» kehrt Larraín zum Diktator zurück. Er wiederholt die Geschichte als Farce: Der Herrscher, der bis 1990 Chile regierte und 2006 starb, ist gar nicht tot. Pinochet ist ein Vampir, seit 250 Jahren schon. Seit der Französischen Revolution. Als Marie Antoinette enthauptet wird, leckt der junge Soldat Pinochet danach das Schafott. Dann entscheidet er sich, zum Schlächter zu werden.

Der Blutdurst lässt sich aber auch als Tyrann nicht stillen. Menschenfleisch verleiht Pinochet Superkräfte. Wie ein Batman mit Diktatoren-Cape fliegt er regelmässig nach Santiago, schneidet dort vorzugsweise Frauen die Herzen aus der Brust und püriert die Organe im Smoothie-Mixer.

Doch selbst einem Massenmörder muss das Morden irgendwann verleiden. Nach 250 Jahren will Pinochet sterben. Bloss, seine Mutter hat etwas dagegen: Margaret Thatcher. Die Eiserne Lady wird als die Ur-Vampirin eingeführt. Pinochet stellt sich als das Muttersöhnchen heraus, die neoliberale Blutsaugerin hat den Despoten erst auf den Geschmack gebracht. Was Larraín in den Mixer gibt, ist auch politisch unappetitlich.

Pablo Larraín ist ein grosser Stilist. Aber «El conde» ist hohl.

Pablo Larraín ist ein grosser Stilist. Aber «El conde» ist hohl.

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