Interview

Henryk M. Broder: «In der Ukraine kämpfen und sterben Menschen, um frei zu sein. Das kann ein Deutscher nicht verstehen»

Der Journalist Henryk M. Broder schreibt für die «Welt», und bis vor kurzem hatte er eine Kolumne in Roger Köppels «Weltwoche». Wegen deren Putin-Freundlichkeit will er für die Zeitung nicht mehr schreiben. Ein Gespräch über das Unbehagen in dieser Zeit und ein Land, das sich der Wirklichkeit verweigert: Deutschland.

Benedict Neff 350 Kommentare
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«Der deutsche Antipatriotismus ist eine lächerliche Übung»: Henryk M. Broder in der Fasanenstrasse in Berlin.

«Der deutsche Antipatriotismus ist eine lächerliche Übung»: Henryk M. Broder in der Fasanenstrasse in Berlin.

Martin Lengemann / Welt / Ullstein Bild

Herr Broder, Sie haben in einem Artikel mitgeteilt, dass Sie für die «Weltwoche» nicht mehr schreiben werden. Der Grund: Die Zeitung lasse Putin-Versteher zu Wort kommen. Ich fand das bemerkenswert. Sie stehen in Deutschland vielleicht wie kein anderer Journalist für die freie Meinungsäusserung. Wenn also selbst Sie sagen, dass Sie in einem solchen Umfeld nicht mehr publizieren wollen, kommt dies schon fast einem Todesurteil für die «Weltwoche» gleich.

Ich möchte in bewährter deutscher Politikermanier anfangen und sagen: Lassen Sie mich erst einmal feststellen. Ich schreibe seit langem für die «Weltwoche». Es ist eine gute Zeitschrift, das ist sie immer noch, und ich schätze Roger Köppel sehr. Aber irgendwann ist Roger Köppel an der Kreuzung falsch abgebogen. Die Geschichte ist ganz einfach: Man darf alles sagen, jeder soll zu Wort kommen, aber natürlich gibt es Grenzen. Ich bin nicht für die grenzenlose Freiheit. Ich bin nicht für die Freiheit, Frauen zu schlagen oder andere Länder zu überfallen. In den vergangenen Wochen und Monaten hat sich bei mir zunehmend ein Unbehagen eingestellt, wenn ich die «Weltwoche» las. Ich fand es unerträglich, was da zur Ukraine publiziert wurde. Zwar hiess es immer, das sei «Putins Krieg», aber die Verantwortung liege woanders. Bei den USA, bei der Nato, bei der EU. Ich verbiete niemand, eine Meinung zu haben. Aber ich bin nicht dazu verpflichtet, in einer Umgebung zu bleiben, die mir Unbehagen bereitet. Oder sagen wir: ein starkes Grummeln im Magen, das auf einen bevorstehenden Kotzausbruch hindeutet. Ich würde mich auch nicht in ein Café setzen, in dem Hamas-Leute sitzen.

Was aber hat Sie konkret gestört?

Es gab immer wieder Beiträge, in denen der Überfall als Erstes verurteilt wurde, in denen dann jedoch immer ein Aber folgte. Die Ukraine sei keine Demokratie, das Land habe schon immer zu Russland gehört und sei sowieso korrupt. Ich glaube auch, dass die Ukraine korrupt ist, aber Korruption ist kein Kriterium für die Anerkennung oder Aberkennung der nationalen Souveränität. Man kann ein Land, das korrupt ist, nicht «entgrenzen». Wenn Korruption zum Massstab wird, müssen wir woanders anfangen. Dann müssen wir Mecklenburg-Vorpommern befreien, weil da unter Frau Manuela Schwesig eine Regierung an der Macht ist, die sich von Putin 20 Millionen Euro hat geben lassen, um eine Stiftung zu finanzieren mit dem Ziel, die Sanktionen und Restriktionen gegenüber Russland zu unterlaufen.

Sie haben «Die Achse des Guten» mitbegründet, einen Blog, der sich an der politischen Korrektheit abarbeitet. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch in Ihrem Publikum und bei Ihren Schreibern eine Putin-Affinität gibt. Wie gehen Sie damit um?

Während der Corona-Krise ist unsere Leserschaft stark angewachsen, weil wir eine sehr kritische Position eingenommen hatten zu den politischen Massnahmen, die wir für vollkommen überzogen und auch für eine Art Generalprobe für einen Staatsstreich gehalten haben. Das hat uns sehr viel Zustimmung eingebracht. Die gleichen Leute, die uns damals beklatscht haben, sind nun empört darüber, dass wir uns vor die Ukraine stellen und Russland für den Aggressor und den Schuldigen halten. Wir haben deshalb Leser verloren. Ein grosser Teil dieser Leute ist der Meinung, die Ukraine sollte kapitulieren, je eher, desto besser, vor allem für die Ukraine.

Die sind also auf der Linie von Richard David Precht, der der Ukraine ebenfalls eine Kapitulation empfiehlt.

Ja, genau. Die Leute sind der festen Überzeugung: Danach ist Ruhe. Sie glauben, dass sich ein Despot wie Putin mit einer Eroberung zufriedengibt. Dass er auf eine Konzession, die man ihm macht, damit reagiert, dass er keine weiteren Forderungen mehr stellt. Sie haben nicht mitgekriegt, dass es gerade andersherum läuft. Jede Konzession heizt den Hunger des Aggressors nur weiter an. Winston Churchill hat einmal den klugen Satz gesagt: «Ein Appeaser ist einer, der das Krokodil füttert, in der Hoffnung, dass es ihn zuletzt frisst.» Genau das erleben wir jetzt. Es trennen sich gerade ein paar Lebenswelten.

Das scheint Sie aber nicht sehr zu kümmern, wenn ich Ihnen so zuhöre.

Dass wir Leser verloren haben, bedrückt mich nicht. Mich beschäftigt vielmehr diese Ignoranz. Es ist doch vollkommen klar, wer hier wen überfallen hat. Wie können Menschen den Bildern und Berichten von bombardierten Schulen und Bahnhöfen aus der Ukraine so misstrauen und gleichzeitig der russischen Propaganda aufsitzen? Der Zweite Weltkrieg hat aus Sicht der Nazis damit angefangen, dass Polen den Sender Gleiwitz überfallen hat. Es gibt wahrscheinlich Leute, die das immer noch glauben. Es gab auch pseudowissenschaftliche Berichte, wonach die Gaskammern erst nach dem Krieg von den Alliierten gebaut worden seien, um sie den Deutschen in die Schuhe zu schieben. All das war Gegenstand von Debatten in Deutschland. Wenn heute gesagt wird, Butscha sei eine Inszenierung, dann erleben wir ein Remake dieser Geschichten. Ich finde das ungeheuerlich.

Sie hätten es nicht für möglich gehalten, dass Menschen wieder solchen Lügenmustern verfallen?

Genau. Und dann habe ich einmal überlegt: Was sind die eigentlichen Katastrophen oder Erweckungsmomente in meinem Leben? Es gab nur drei, wo ich wirklich den Boden unter den Füssen verloren habe. Das erste Mal im Juni 1976, als eine Air-France-Maschine auf dem Flug von Tel Aviv über Athen nach Paris gekidnappt wurde von einem palästinensischen Kommando, bei dem auch deutsche Terroristen mitmachten. Das Flugzeug landete in Entebbe, Uganda. Hier führten die Terroristen unter den Passagieren die erste Selektion nach dem Zweiten Weltkrieg durch: wer Namen wie Goldstein und Rosenbaum hatte, blieb in Geiselhaft, die nichtjüdischen Passagiere durften gehen. Ein israelisches Einsatzkommando hat die Geiseln in Entebbe befreit und die Entführer liquidiert – mein Mitleid hält sich bis heute in sehr engen Grenzen. Aber einen Teil meiner deutschen linken Freunde beschäftigte nur eines: «die flagrante Verletzung der Souveränität Ugandas» durch die Israeli! Für mich war das wie ein Albtraum im Wachzustand.

Was war der zweite Moment?

9/11. Die Schadenfreude, die ich da in Deutschland erlebt habe, hätte ich nie für möglich gehalten. Auf den Plakaten, die ich damals fotografierte, standen Dinge wie: «Wer Wind sät, wird Sturm ernten.» Oder: «Dresden, Hamburg, Hiroshima, New York.» Also die Amis kriegen zurück, was sie ausgesät haben. Die damalige Berliner Kultursenatorin sagte in einer Veranstaltung, man dürfe auch nicht vergessen, dass die beiden Türme des World Trade Center eine phallische Struktur gehabt hätten. Da brach im Publikum grosses Gelächter aus.

Und das Dritte ist der Krieg in der Ukraine. Was bleibt von diesen Erschütterungen zurück? Verbitterung, eine zunehmend düstere Sicht auf die Welt?

Alles auf einmal. Wobei ich ein langsamer Mensch bin. Ich brauche viel Zeit, bis sich eine Erkenntnis erst einmal festsetzt und bis mir dann die Konsequenzen klarwerden. Entebbe war 1976, und ich bin erst mit vier Jahren Verspätung nach Israel gezogen. Ich wollte nur kurz dahin, bin dann aber zehn Jahre geblieben. Ich wollte mit diesem ganzen verlogenen, bigotten linken Klüngel in Deutschland nichts mehr zu tun haben. Nach 9/11 dachte ich, das sei das Ende der Welt. Es war ein totaler Vertrauensverlust. Ich glaube nichts mehr. Wenn ich höre, dass deutsche Politiker immer noch auftreten an jedem Feiertag: Ausbruch des Krieges, Ende des Krieges, Befreiung von Auschwitz, Aufstand im Warschauer Ghetto – und dann sagen: «Wehret den Anfängen» und «Nie wieder!», dann weiss ich inzwischen, was sie damit meinen: Wir werden es nie erlauben, dass die Polen Auschwitz wieder in Betrieb nehmen! Das werden wir zu verhindern wissen! Aber sie beziehen das nicht auf sich selbst. Für mich hat sich vieles erledigt.

In Ihren Texten erkunden Sie den Wahnwitz der Gegenwart, oft selbst in komischer Art. Wenn ich Ihnen jetzt so zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Ihnen der Humor zunehmend abhandenkommt.

Ja, mit Sicherheit. Es ist nicht komisch, wenn 3000 Menschen innerhalb von Sekunden pulverisiert werden. Komisch ist es, wenn jemand wie der hochgefeierte deutsche Philosoph Peter Sloterdijk ein paar Wochen nach 9/11 sagt, das Ganze sei nur ein «Zwischenfall in amerikanischen Hochhäusern», eine Bagatelle, die nicht auf die Titelseiten gehöre. Das ist schon wieder komisch, weil es kein Zwischenfall gewesen wäre, wenn Peter Sloterdijk damals zufällig seinen Whisky Soda in der Roof-Top-Bar im World Trade Center eingenommen hätte. Dann wäre es eine Katastrophe gewesen.

Wie erklären Sie sich den bigotten Umgang der deutschen Politik mit dem Antisemitismus? Etwas überspitzt kann man sagen: Die deutschen Politiker reisen ständig nach Jerusalem und vergiessen Tränen in Yad Vashem, wenn es dann aber politisch darauf ankäme, reagieren sie nicht, wie das Beispiel der Documenta schön zeigt. Hier liess man ein in Teilen antisemitisches Kuratorenkollektiv die wichtigste Kunstveranstaltung in Deutschland planen. Wird der Antisemitismus bewusst delegiert? Sollen andere sagen, was Deutsche nicht sagen dürfen?

Es ist leider noch schlimmer. Man hat sich in Deutschland über die Jahrzehnte hinweg darauf geeinigt, was Antisemitismus ist: nämlich Holocaust, Auschwitz, Endlösung, 6 Millionen. Dass Antisemitismus viel früher anfängt und sich auch wandelt, nimmt man hingegen nicht zur Kenntnis. Entsprechend sah man in diesem Dreck, der auf der Documenta ausgestellt wurde, auch keinen Judenhass. Die Benchmark für Antisemitismus ist immer Auschwitz. Und dann kommt noch hinzu: Die Deutschen haben eine unfassbar grosse Liebe zu toten Juden – zu jüdischen Dichtern, Musikern und Intellektuellen. Sie werden gefeiert. Es wird immer noch behauptet, es habe eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben, so etwas wie die Symbiose zwischen einem Karpfen und einem Krokodil. Die Deutschen, cum grano salis, können nicht einsehen, dass sich der Antisemitismus gewandelt hat, wie sich Moden wandeln. Nein, sie bestehen auf der klassischen Ausprägung des Antisemitismus, der sich in Pogromen äussert. Kein Problem haben die meisten Deutschen, einschliesslich unserer Politiker, mit Iran, das klar und offen erklärt, es wolle Israel vernichten. Aber das ist dann kein Antisemitismus, das ist schlimmstenfalls massive Israelkritik oder Antizionismus.

Dieses Thema begleitet Sie seit einer Ewigkeit.

Seit 1986.

Damals haben Sie das Buch «Der ewige Antisemit» veröffentlicht. Sie haben viel Aufklärung und Kritik betrieben in Deutschland. Aber hatten Sie auch eine Wirkung?

Ich hätte genauso gut über Voodoo-Rituale bei Eintritt des Vollmonds schreiben können. Aber ich habe auch nicht mit Wirkung gerechnet. Darum ging es mir gar nicht, weil ich ja vielleicht naiv, aber nicht dumm bin.

Warum schreiben Sie?

Weil ich mir selbst über Dinge klarwerden möchte. Wenn ich schreibe, weiss ich nicht, womit es endet oder wo es endet. Ich schreibe eigentlich auch gar nicht, es schreibt sich. Ich bin nicht die Botschaft, ich bin das Medium.

Das ist alles?

Eines verschafft mir schon eine gewisse Befriedigung: Wenn ich anhand von Briefen merke, wie viele Leute sich über mich aufregen. Das finde ich richtig gut. Ich stehe morgens auf – selten vor 10 Uhr früh –, dann gehe ich mit dem Hund spazieren. Und schon in dieser kurzen Zeit bin ich sicher, dass ungefähr ein Dutzend Leute ein frisches Magengeschwür haben. Meinetwegen. Das ist ein schöner Gedanke.

Ich glaube, Sie und Maxim Biller mögen sich nicht besonders.

Wir lieben uns nicht, aber ich schätze ihn sehr. Er ist ein knallkluger Mensch.

Er hat einmal in einer Talkshow gesagt, es gehe ihm mit Deutschland wie einem Psychiater, der auf seinen Patienten keine Lust mehr habe. Haben Sie manchmal auch genug von Deutschland?

Also ich glaube, ich habe kapiert, was hier passiert, und ich bin es eigentlich leid. Ich will die Deutschen auch nicht mehr therapieren. Ich bin nicht Dr. Henryk Freud. Das war auch nicht meine Absicht. Aber irgendwie hatte ich doch tief im Innern gedacht, ich trage meinen Teil zur Aufklärung bei. Jetzt fühle ich ein zunehmendes Unbehagen: Ich kann den Leuten nicht jedes Mal wieder das Gleiche erklären, gleichzeitig hört der Antisemitismus nicht auf. Es gibt ein grosses Interesse, Juden schlechtzumachen, vor allem Juden als üble Nationalisten hinzustellen, weil dann die Last, die auf den deutschen Schultern ruht, kleiner werden könnte. Sie wird dadurch aber nicht kleiner. Und auch dieser deutsche Antipatriotismus, der sich in den letzten Jahrzehnten entfaltet hat, dieser Versuch, dem Deutschtum zu entkommen, ist eine lächerliche Übung. Der deutsche Patriotismus äussert sich jetzt darin, dass die Deutschen keine Deutschen sein wollen. Viele meiner Freunde sehen sich als Europäer. Sie glauben, sie hätten die Stufe des Deutschseins schon hinter sich gebracht.

Und Sie sind Deutscher?

Ja. Und wenn ich auf eine Party gehe und ich eine billige Pointe einheimsen will, dann sage ich: Ich bin ein stolzer Deutscher. Darauf verdunkeln sich die Gesichter.

Sie sind in Kattowitz, Polen, aufgewachsen. Welche Rolle spielt Ihre Herkunft?

Aufgewachsen ist fast ein bisschen zu viel gesagt. Ich war elf Jahre, als meine Eltern Polen verliessen. Für mich war das ein riesiges Abenteuer. Ich habe kein Wort Deutsch gesprochen.

Aber Ihre Eltern sprachen Deutsch?

Ja. Meine Mutter war aus Krakau, das war ja Österreich. Mein Vater war ein galizischer Jude, also Russe, sprach fliessend Jiddisch und sehr ordentlich Deutsch. Ich habe lange negiert, dass ich einen polnischen Hintergrund habe, wie es so schön heisst. Dann habe ich ihn irgendwie entdeckt und finde ihn immer besser. Ich war jetzt ein paarmal in Polen und muss sagen, das Land hat sich wahnsinnig gut entwickelt. Es gibt zum Beispiel vor Synagogen keine Polizeiwachen. Es gibt hier und da noch Antisemitismus, aber es gibt keinen Antizionismus, im Gegenteil, die Polen bewundern Israel sehr. Also der polnische Hintergrund nimmt mit dem Alter zu. Neulich habe ich mich bei dem Gedanken ertappt, dass ich gerne in Krakau leben möchte.

Ich habe im vergangenen Jahr ein Gespräch mit Alain Finkielkraut geführt. Und da haben wir auch über seine Beziehung zu den Eltern gesprochen. Sein Vater hat Auschwitz überlebt und über die Verbindung zu ihm einmal geschrieben: «Der Abgrund zwischen dem Lagerinsassen und dem Sohn eines Lagerinsassen ist unüberbrückbar.» Ihre Eltern sind auch Überlebende von Konzentrationslagern. Wie war es bei Ihnen?

Es ist so: Der Abgrund zwischen mir und meinen Eltern war gigantisch. Ich habe auch einen gewissen Groll auf meine Eltern, weil sie mich aus Polen nach Deutschland gebracht haben, aber dann meinten, ich sollte mich eher auf Abstand von der deutschen Gesellschaft halten. Deutsche Freunde waren eigentlich ein No-Go. Ich habe mich immer gefragt: Warum sind wir in dieses Land gekommen, wenn ich mich abschotten muss? Später wurde es mir klar, aber da waren meine Eltern schon tot. Ich glaube, meine Eltern waren so kaputt, so entwürdigt, so entmenschlicht und zerstört, dass sie alles, was sie sein wollten, nur sein konnten in der Nähe der Deutschen, in der Nähe der Täter, die keine Täter mehr sind. Meine Mutter hat Panikattacken bekommen, wenn sie von einem Amtsarzt untersucht werden sollte. Die Amtsärzte waren alle sehr nett. Aber sie sah in jedem weissen Kittel einen Mengele. Man kann den Juden aus dem KZ holen, aber nicht das KZ aus den Juden. Es war sehr viel Streit. Wir haben uns nicht gut verstanden, meine Eltern und ich.

Wurde über die Vergangenheit und das Verhältnis zu den Deutschen zu Hause gesprochen?

Die Vergangenheit war ein Dauerthema. Das Überleben wog mehr als das Leben. Meine Eltern sind nie ausgegangen, sie haben auch keine Freunde gehabt. Sie hockten immer zu Hause, stritten sich untereinander, und mir blieb nur die Flucht nach aussen. Ich habe Schülerzeitungen gemacht und Konzerte organisiert. Wir und die Deutschen – das war kein Thema. Es war so ein lautes Beschweigen. Wir alle wussten, worum es geht, wollten es aber nicht sagen. Hinzu kam: Meine ältere Schwester hat den Krieg überlebt im Versteck einer katholischen Familie. Sie ist traumatisiert, bis heute. Und meine Mutter hat es eines Tages geschafft, meiner Schwester zu sagen: Sei froh, dass du überhaupt überlebt hast. Mir wurde erst Jahre später klar, was das für ein barbarischer Satz war. Wenn die Mutter einem Kind, das im Versteck überlebt hat, sagt: Sei froh, dass du überhaupt überlebt hast.

Weil Ihre Schwester nun auch noch dankbar sein musste?

Ja. Ich fürchte, meine Eltern haben die Dimension des Schreckens beim Überleben nicht ganz begriffen.

Haben Ihre Eltern auch darüber nachgedacht, nach Israel auszuwandern?

Nein. Wir waren nur einmal dort. Meine Eltern sprachen zwar Jiddisch, aber kein Hebräisch. Es war ihnen zu heiss, und dann waren da auch noch so viele Juden. Deutschland war die einzige Option, um das Leben zu verändern. Und das ist ja eigentlich die diabolische Dimension der Geschichte: In Deutschland gab es etwas, das Wiedergutmachung genannt wurde. Hier konnten meine Eltern eine bescheidene materielle Existenz führen. Wir wurden wieder gut gemacht. Ist es nicht verrückt, dass jemand in einer Verwaltung nach einem sechsmillionenfachen Mord auf den Begriff «Wiedergutmachung» kommt? Dahinter steckt die Idee, dass man zum Status quo zurückkehren kann oder, einfacher gesagt: dass man seine Unschuld wiedererlangen kann. Nicht der Tod ist ein Meister aus Deutschland, sondern der Euphemismus.

Der Nonkonformist

Das Treffen mit Henryk M. Broder, 75, findet im «Hot Spot» statt, einem Restaurant in der Nähe des Adenauer-Platzes im Westen Berlins. Broder nennt es «Fischers Suppenküche», weil man hier ständig Joschka Fischer antrifft bei Riesling und chinesischem Essen. Der Journalist der «Welt» kommt im hellen Sommeranzug, mit weissen Klettverschlussturnschuhen und einem Ledertäschchen im Stil osteuropäischer Männer, das über Kreuz leger an der Seite hängt. Bis in die Details zeichnet sich Broder als Nonkonformist aus. Das eigentliche Interview wird dann im Charlottenburger Altbau geführt bei Radler und Cola. Broders Couchtisch ist ein Xylofon (er übe noch), irgendwo steht die Plastikfigur von Papst Johannes Paul II, ein Mitbringsel aus Polen. Dem Gast werden Schweizer Kägi-Fret offeriert. Am Ende besteht Broder darauf, den Journalisten mit seinem eckigen weissen Volvo selbst an den Flughafen zu fahren. Broder kann austeilen, aber er ist auch ein sehr freundlicher Herr. Und gemessen an der Branche der Eitelkeit von seltener Bescheidenheit.

Wir sollten auch über die sogenannte deutsche Zeitenwende reden. Als Bundeskanzler Olaf Scholz seine Zeitenwende-Rede hielt, hatte ich kurz den Eindruck, dass Deutschland erwachsen werden könnte. Endlich kündigte man an, sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen zu wollen, und zeigte Einsicht, dass die Russlandpolitik verfehlt war.

Es ist keine Zeitenwende, es war nur ein kurzes Aufflackern. Es gibt viel Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Aber es gibt kein Verständnis dafür, dass Menschen bereit sind, zu kämpfen und zu sterben, um frei zu sein. Das kann ein Deutscher nicht verstehen. Darum erklären nun Leute wie Ulrike Guerot, Lars Eidinger und Margot Kässmann, dass Krieg nie zu Frieden führe. Wissen Sie, was ich glaube? Dass es denen letztlich nur darum geht, den Krieg der Alliierten gegen die Deutschen zu delegitimieren – und sich und die eigenen Vorfahren von jeder historischen Belastung freizusprechen. Schliesslich wissen diese Leute sehr genau, dass das Eingreifen der Alliierten zu Frieden geführt hat. Jetzt aber sagen sie: Verteidigung? Wehrbereitschaft? Bitte nicht! Okay, das ist Dr. Freud für Anfänger. Aber es macht nichts. Eine schlichte Küchenpsychologie kann besser sein als die klügste Analyse von Peter Sloterdijk.

Und Sie glauben, dass dies unterbewusst auch in der deutschen Regierungspolitik mitschwingt?

Ja, mit Sicherheit. Die ersten Wochen waren durch den Wunsch bestimmt, die Ukrainer mögen ehrenvoll verlieren. Sie sollen bitte aufhören, weil es die Deutschen beschämt, dass es so ein Volk wie die Ukrainer, das sich selbst verteidigt, überhaupt gibt. Wir hingegen haben unseren Schutz über Jahrzehnte den Amerikanern überlassen. Das Geld, das wir an Wehrausgaben gespart haben, haben wir in Sozialprojekte gesteckt. Diese Situation beschämt viele Deutsche. Und diese Scham kann nur überwunden werden, indem die Ukrainer als korrupt und demokratieunfähig dargestellt werden. Und wissen Sie, was mich auch wundert: Warum wurden die Palästinenser nicht auch schon lange aufgefordert, ihren sinnlosen Kampf aufzugeben, um weiteres Leid zu verhindern?

Wie erklären Sie sich, dass sich das deutsche Schuldbewusstsein seit je immer viel stärker auf Russland als etwa auf Polen und die Ukraine bezogen hat?

Ich wundere mich selbst und habe dafür nur eine banale Erklärung: Wenn ein Hund auf einen grösseren Hund trifft und dieser anfängt zu knurren, legt sich der kleine Hund sofort auf den Rücken und streckt alle viere von sich. Es ist die proaktive Kapitulation. Und ich glaube, so agiert auch Deutschland gegenüber Russland. Ich habe auch grosse Sympathien für Russland: Meine Mutter ist von russischen Soldaten befreit worden, ohne vergewaltigt zu werden. Mein Vater wiederum wurde von den Amerikanern befreit. Aber man kann deswegen nicht die Augen verschliessen, permanent den amerikanischen Imperialismus anklagen und den russischen Imperialismus nicht einmal zur Kenntnis nehmen.

In der Schweiz erleben wir gerade, wie Exponenten der rechtsbürgerlichen SVP grosses Verständnis für Russland zeigen. Sie nehmen also nicht für den kleineren Staat Partei, der in Freiheit leben möchte, sondern für den Imperator. Wenn man bedenkt, dass sich diese Partei sonst gern für Freiheit und Souveränität einsetzt, ist es geradezu grotesk.

Ja. Und darüber denke ich gerade viel nach: Es gibt eine Dominanz des Absurden. Alles, was früher bei Ionesco auf der Bühne stattfand oder bei Monty Python im Film gespielt wurde, findet jetzt wirklich statt. In Deutschland wurde gerade eine Frau zur Antidiskriminierungsbeauftragten gewählt, die selbst eine Rassistin ist.

Sie sprechen von Ferda Ataman. Wieso soll sie eine Rassistin sein?

Weil sie den Rassismus nur den Weissen unterstellt. Sie glaubt, ein schwarzer Mensch oder ein People of Color könne per se kein Rassist sein. Das ist eine rassistische Haltung. Natürlich gibt es auch Schwarze, die Rassisten sind. Frau Ataman hat die Deutschen ausserdem pauschal als Kartoffeln bezeichnet, sie ist voller Verachtung für das Land und für die indigene Bevölkerung. Das ist keine Deutschenkritik, das ist Deutschenhass. Und ich finde, so eine Frau darf nicht eine Beauftragte der Bundesregierung sein, egal, wofür. Nicht einmal eine Beauftragte für die Entsorgung von Einwegflaschen.

In Ihrem Wikipedia-Beitrag ist die Rubrik «Kontroversen» fast am längsten. Die heutige Kulturministerin Claudia Roth haben Sie einmal als «Doppelzentner fleischgewordene Dummheit» bezeichnet. Ein Gericht stufte die Aussage als hetzerisch ein. Würden Sie so etwas heute noch sagen?

Ja, aber ich würde mich korrigieren. Vielleicht sind es nur noch anderthalb Zentner.

Also ein bisschen politisch korrekt sind Sie in der Zwischenzeit geworden.

Gott behüte! Ich habe ein paar Kilo zugenommen. Aber ich glaube nicht, dass ich politisch korrekt geworden bin.

Brauchen Sie «Die Achse des Guten» eigentlich auch, weil Sie bei der «Welt» nicht alle Ihre Texte publizieren können?

Nein. Ich bin jetzt zwölf Jahre bei der «Welt», und in der Zeit sind zwei Texte von mir nicht gedruckt worden. Das war ungefähr der Fall-out beim «Spiegel» in einem Monat.

Im Ernst?

So ungefähr, ja. Kürzlich habe ich zufällig alte Texte von mir gelesen, die im «Spiegel» erschienen sind. Es ist vollkommen klar, das würde heute in Deutschland nur noch die «Welt» drucken. Der vielbeschworene «Meinungskorridor» ist viel enger geworden. Das Verrückte aber ist: Es gibt keine Gleichschaltung, auch keine Zensur. Was wir erleben, ist eine Gleichformung von unten. Es braucht dafür keine Pressekammer, keine Kulturkammer, sie formt sich von allein. Ein grosser Teil der Intelligenzia in Deutschland ist dieser Krankheit der Anpassung verfallen.

Sie haben ja 2019 eine Rede vor der AfD-Fraktion gehalten.

Ein Riesenspass.

Allein, dass Sie diese Rede gehalten haben, war ein Skandal in Deutschland. Die Partei wurde in den vergangenen Jahren in den Medien dämonisiert. Mittlerweile spielt sie nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Was ist passiert?

Der Mainstream hat die AfD erst zu dem gemacht, was sie ist. Wissen Sie, hier gab es in Berlin einmal einen Mann, der hiess Attila Hildmann.

Sie meinen den sogenannten Vegan-Koch und Verschwörungsideologen.

Genau, niemand kannte diesen Menschen. Aber eine Weile lang konnte man das Fernsehen nicht mehr einschalten, ohne einen Bericht über Attila Hildmann zu sehen. Die Medien haben ihn gross gemacht. Die konnten gar nicht genug vom Attila Hildmann kriegen. Jetzt hat er sich, glaube ich, in die Türkei abgesetzt, und man hört kein Wort mehr über ihn. Das Gleiche ist mit der AfD passiert. Nach jedem Parteitag hiess es, die Partei sei wieder weiter nach rechts gerückt. Die Partei müsste schon bei Stalingrad stehen! Es hat da eine Verteufelung stattgefunden, und ich habe ein paarmal dagegen geschrieben. Ich fand einfach, dass es ein Fairplay geben müsse: Wenn zum Beispiel jede Fraktion im Bundestag einen Anspruch auf einen Vizepräsidenten des Parlaments hat, dann soll dies auch der AfD nicht verwehrt werden. Deswegen habe ich dann auch vor der AfD gesprochen. Und natürlich auch, weil ich geahnt habe, dass es einen Riesenrummel geben würde.

Und so war es auch.

Ja. Aber dann haben die Leute die Rede gelesen und hatten nichts, worüber sie sich aufregen konnten. Das war eine gewisse Enttäuschung.

Gut, viel entscheidender als Ihre Rede war das Bild einer Umarmung mit der AfD-Politikerin Alice Weidel. Mit der «Weltwoche» haben Sie Berührungsängste, mit Alice Weidel nicht?

Frau Weidel hat mich einfach umarmt. Ich war, zugegeben, etwas überrascht, aber ich war hinterher nicht kontaminiert. Ich hatte keine Affenpocken oder sonst etwas. Heute würde ich bei der AfD nicht mehr auftreten, weil sich die AfD im Krieg in der Ukraine klar auf die Seiten der Russen gestellt hat.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Deutschlands?

Dass Deutschland zur Wirklichkeit zurückfindet. Deutschland ist ein Hochhaus, das auf Treibsand gebaut ist, eine Schönwetterdemokratie. Dieses Land lebt nicht in der Wirklichkeit. Erst jetzt haben die Deutschen entdeckt, dass man Putin gegenüber vorsichtig hätte sein müssen – nach zwanzig Jahren Kuschelpolitik. Die Politiker verkünden dabei ständig, dass Deutschland Vorbildfunktion habe. Ja, wofür denn? Für zwei verlorene Weltkriege, eine versaute Energiewende, die wegweisende Russlandpolitik, das Mautdesaster oder die desolate Infrastruktur? Man müsste das deutsche Wappen neu entwerfen. Das wäre dann ein Adler aus klimaneutralen Materialien. Und in seinen Klauen die Losung: «Grössenwahn, Impotenz und gute Laune».

Wie wird man in Deutschland nicht verrückt?

Indem Sie weggehen und sich irgendwo niederlassen, wo es kein Internet gibt. Das ist die einzige Möglichkeit. Ich werde hier langsam verrückt. Jeden Abend, wenn ich «Tagesschau» geguckt habe, muss ich danach ein längeres Gespräch mit meinem Hund führen.

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P. G.

"Und ich finde, so eine Frau darf nicht eine Beauftragte der Bundesregierung sein, egal, wofür. Nicht einmal eine Beauftragte für die Entsorgung von Einwegflaschen." Gut gesprochen.

Dietmar Schurian

Hr. Broders Analyse ist zutreffend und unterhaltsam scharfzüngig. Danke für dieses Interview! Was die Weltwoche betrifft, so schätze ich die kontroversen Sichtweisen von Hr. Köppel, die sich erheblich am Mainstream reiben, auch wenn ich seine Sichtweise auf den Ukraine-Krieg gerade nicht umfänglich teile. Aber, es muss stattfinden können, das ist eine Stärke, keine Schwäche!  Danke, für die klaren Worte zur Vernunftresistenz Deutschlands und der EU. Es geht im freien Fall breitbandig abwärts und alle entgegnen, es ist ja bisher nichts passiert... bis zum Aufprall, natürlich nach der Sommerpause.