Robert Musil: Morgens noch zwei Zigaretten, die letzte um 11 Uhr. Um halb eins war er tot

Der österreichische Schriftsteller hatte eine lange Karriere als Raucher. Zuletzt führte er penibel Buch über seinen Konsum.

Karl Corino
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Da rauchte er längst: Robert Musil im Alter von zwanzig Jahren.

Da rauchte er längst: Robert Musil im Alter von zwanzig Jahren.

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Not lehrt Rauchen. So könnte man eine der Folgen des Ersten Weltkriegs zusammenfassen. «Der Krieg hat Millionen Tote verursacht und Millionen Raucher hervorgebracht», schreibt der Kulturwissenschafter Dirk Schindelbeck. Viele Soldaten sagten, der Krieg habe sie zum Rauchen verführt. Es habe keine Ablenkung gegeben, und dann habe man eben geraucht. Man zog als Nichtraucher ins Feld und kam als Raucher zurück.

Nur einmal wurde anscheinend die blutige Routine des Krieges unterbrochen, als sich zu Weihnachten 1914 an der Westfront feindliche Soldaten verbrüderten. Zuerst flogen statt der Handgranaten Raucherwaren über den Stacheldraht, dann fraternisierten die Boches und die Franzmänner, besuchten einander in ihren Stellungen und rauchten gemeinsam.

Nach den Feiertagen war der Spuk vorbei, Mord und Totschlag kehrten zurück, der militärische Alltag hatte alle wieder. «Militär hat Zeit, das ewige Warten, die Zigarette. Das uneigentliche Tun.» So bilanziert Robert Musil ein Dutzend Jahre nach Kriegsende seine Raucherkarriere. Aber der sinnliche Eindruck vom Ende eines Raucherlebens hatte eine andere Wucht. Er sah die Hinterlassenschaft eines Toten des deutsch-österreichischen Alpenkorps.

Musil
blechdose um 1910.jpg

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novelta Musil

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In the early 1900s, manufacturers of Turkish and Egyptian cigarettes tripled their sales and became legitimate competitors to leading brands. In 1911, The American Tobacco Company introduced Omar, a premium Turkish blend cigarette, in order to compete with other leading Turkish brands like Murad.br/br/ The cigarette was named after the medieval Persian poet Omar Khayyam, who experienced a resurgence of popularity from 1900-1930. Advertisements for Omar cigarettes referenced Khayyam s famous poem, The Rubaiyat , and focused on themes of pleasure, leisure, and luxury. USA: Advertisement for Omar brand Turkish cigarettes featuring a Rubaiyat of Omar Khayyam Orientalist theme, American Tobacco Company, New York, c. 1915 xSupplier:xCPAxMediaxCo.xLtd.x Copyright: xx

In the early 1900s, manufacturers of Turkish and Egyptian cigarettes tripled their sales and became legitimate competitors to leading brands. In 1911, The American Tobacco Company introduced Omar, a premium Turkish blend cigarette, in order to compete with other leading Turkish brands like Murad.br/br/ The cigarette was named after the medieval Persian poet Omar Khayyam, who experienced a resurgence of popularity from 1900-1930. Advertisements for Omar cigarettes referenced Khayyam s famous poem, The Rubaiyat , and focused on themes of pleasure, leisure, and luxury. USA: Advertisement for Omar brand Turkish cigarettes featuring a Rubaiyat of Omar Khayyam Orientalist theme, American Tobacco Company, New York, c. 1915 xSupplier:xCPAxMediaxCo.xLtd.x Copyright: xx

Imago

Robert Musils bevorzugte Zigarettenmarken.

«Patrouillengefecht. In einen Fetzen Zeitungspapier eingeschlagen liegen auf unserem Speisetisch die paar Habseligkeiten des Toten. Ein Geldtäschchen, seine Kappenrose, eine kleine kurze Pfeife, zwei ovale Blechdosen mit zerschnittenen Toskana, ein kleiner runder Taschenspiegel. Eine schwere Traurigkeit strömt davon aus . . .» Die Rauchutensilien als Teil der ärmlichen Hinterlassenschaft. Als wären sie ein Memento mori für die Überlebenden.

Fast wäre Musil ertrunken

Zu Beginn der 1920er Jahre formulierte Musil ein angesichts der Nachkriegsdepression überraschendes Lustprinzip für sein Schreiben. Das schloss auch eine Absage an die Zigarette mit ein: «Sei tätig – Tue stets das, wozu du die meiste Lust hast – Tue alles ganz: – dann wirst du nicht rauchen.»

Robert Musil (ganz rechts) beim Fasching, selbstverständlich mit Zigarette.

Robert Musil (ganz rechts) beim Fasching, selbstverständlich mit Zigarette.

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In den Texten, die nach dem Krieg entstehen, in «Grigia» oder der kurzen Erzählung «Die Durstigen» oder im «Slowenischen Dorfbegräbnis», hat Musil die Spuren des Krieges, so gut es ging, verwischt, aber die Konditionierung durch die Gegebenheiten des Militärs liess sich nicht so leicht rückgängig machen. Um 1927 wurde seine Arbeitskrise so bedrängend, dass er bei dem Adler-Schüler Dr. Hugo Lukács psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm und seine Schwierigkeiten nach den Regeln der Individualpsychologie analysierte.

Auf eine Umfrage der «Literarischen Welt» zur «Physiologie des dichterischen Schaffens» antwortete Musil am 18. September 1928 auf die Frage nach der Enthaltung von bestimmten Genüssen während intensiver Arbeit und dem Gebrauch von Stimulanzien, er trinke reichlich starken Kaffee und rauche sehr viel. Der gute alte Brockhaus bemerkt dazu: In kleinen Dosen wirke das Nikotin anregend auf die Ganglien des vegetativen Nervensystems und setze aus den Nebennieren Adrenalin frei. Die Gesamtwirkung sei uneinheitlich, weil sich anregende und lähmende Wirkung zeitlich überschnitten.

Es kam also bei der Kombination von Koffein und Nikotin sehr auf die Mischung und das Timing an, um paralysierende Wirkungen zu vermeiden. Diese Balance scheint Musil, buchstäblich unter Hochdruck am «Mann ohne Eigenschaften» arbeitend, nicht immer oder immer seltener gelungen zu sein: So kam es im Winter 1928/29 zu einem Kollaps.

Am 5. März 1929 sprach Musils Ehefrau Martha von «zu viel Arbeit, Sorgen, Nikotinvergiftung und zuletzt aus alledem ein nervöser Zusammenbruch». Die akute Nikotinvergiftung äussert sich durch Übelkeit, Erbrechen, Leibschmerzen, Durchfall, Herzklopfen, Schweissausbruch, Schwindel und Zittern. Welche Therapie die Wiener Ärzte Musil angedeihen liessen, ist nicht überliefert, fest steht nur, dass der Patient eine Zeitlang nikotinfreie Zigaretten rauchte. Wie das Tagebuch zeigt, dauerte die Enthaltsamkeit nur kurz, dann rauchte er wieder gewöhnliche Zigaretten, allerdings mit dem Vorsatz, stündlich nur eine zu konsumieren.

Auch die Ehefrau Martha Musil war eine geübte Raucherin seit frühen Jahren.

Auch die Ehefrau Martha Musil war eine geübte Raucherin seit frühen Jahren.

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Dass er den Schlaganfall, den er am 20. Mai 1936 beim Schwimmen im Diana-Bad erlitt und bei dem er fast ertrunken wäre, auch seiner jahrzehntelangen Raucherkarriere verdankt, liegt auf der Hand. Die Folgen waren unübersehbar: leichte Gesichtslähmung, zittrige Schrift, Störung des Sprechapparats. Auch wenn sich die Symptome im Lauf der folgenden Monate langsam besserten, klagte der Patient am 14. August 1936 gegenüber Johannes von Allesch: «Hypertonie der Gefässe ist der unschuldige Name für den Sturz von einem recht guten und starken Körper zu einem bedächtig hatschenden, der sich vor Sonne und Wind schützen muss, nicht rauchen darf usw. Es soll mir mit der Zeit immer besser gehen, aber niemals mehr so wie früher.»

Späte Versuchungen

Das Nikotin hatte etwas Bedrohliches, aber auch etwas Entlastendes. Im Sommer 1935 nahm Musil an dem berühmt-berüchtigten Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris teil. Bei dieser Gelegenheit traf er einen alten Bekannten aus Berlin wieder, den Philosophen Bernhard Groethuysen. Dieser verband geistige Disziplin mit menschlicher Schwäche, denn er war leidenschaftlicher Raucher, und seine Kleidung war dem Gerücht nach mit kleinen Brandflecken übersät.

Musil, immer korrekt gekleidet, war in diesem Fall bereit, die Spuren des Lasters zu übersehen, und empfand den gemeinsam verbrachten Abend im Nachhinein als eine der wenigen Trostmöglichkeiten, die man im damaligen Europa besass. Als er im Januar 1936 Widmungsexemplare des «Nachlasses zu Lebzeiten» verschickte, bedachte er auch Groethuysen. Zumindest der Entwurf der Widmungsverse hat sich erhalten: «Es bringt die Hand – doch ängstigt sich das Herz –. / Dem Philosophen einen kleinen Scherz. / Wüsste ich nicht, dass im weisen Barte des Griechen / wie ein Leuchtkäfer sich die Zigarette verbirgt, / Ach ich wagte es nicht.»

Ein einziges Mal scheint der alternde Musil der Lockung des Rauchens in Gestalt einer interessanten Frau um ein Haar, genauer um ein blond gefärbtes Haar, erlegen zu sein. Er hielt sich im Sommer 1937 für Arbeitsferien im Thalhof am Semmering auf. Dort waren er und eine ungarische Baronin einander ins Blickfeld geraten. Doch dann schreckte er zurück: «Das Leben ist so einfach und bereitwillig. Da begriff ich an diesem: Du könntest es sogleich haben, dass ich nichts haben will. Und dass wie gesagt auch die Treue unter anderem nichts ist als der Unwille zu leben.»

Welch lähmende Wirkung dieses Nicht-leben-Wollen hatte, erkannte vor anderen der Bildhauer Fritz Wotruba, der Wegbegleiter Musils während der Schweizer Jahre. Er schrieb: «Durch ihn habe ich zum ersten Mal gesehen, dass auch ein einzigartiges Werk keine Entschädigung für den Verlust des sinnlichen Lebens bieten kann.»

Robert Musil mit seiner Frau Martha im Schweizer Exil.

Robert Musil mit seiner Frau Martha im Schweizer Exil.

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Was hatten die Schweizer Jahre von 1938 bis zum Tod 1942 schon an sinnlichem Leben aufzuweisen? Das Liebesleben der Genfer Katzen war noch das Aufregendste, eine Art tierisches Satyrspiel zu der «letzten Liebesgeschichte» Ulrichs und Agathes in «Der Mann ohne Eigenschaften». Der Rest waren Bettelei um den Lebensunterhalt und der Kampf mit der Fremdenpolizei.

Um elf die letzte Zigarette

Mit der Einreise in die Schweiz Anfang September 1938 und dem Beginn des Exils gewann Musils aus Wien stammender Satz neue Aktualität: «Ich behandle das Leben als etwas Unangenehmes, über das man durch Rauchen hinwegkommen kann.» Der Kampf ging um und gegen die Zigarette. Das Geld für sie musste wie der ganze Lebensunterhalt erbettelt werden, und wenn das geschafft war, hatte man die verheerenden Wirkungen der Nikotinsucht einzudämmen.

Zu deckeln war ein Blutdruck von 250. Die Rezepte klangen zuweilen wie von einer resoluten Hausfrau. «Meide das Rauchen als eine alberne Form des Müssiggangs.» Anderes setzte hochgestochen an, um sich dann den Mühen der Ebene zu widmen: «Messe psychologisch-teleologisch und nicht chronometrisch. Wenn du rauchen möchtest, muss es dir um die Zeit leid tun. Um das, was du machen möchtest, du wirst sie nicht abwarten, sondern nicht entbehren können und nicht genug von ihr haben! Z. B. bei einstündigem Rhythmus warte nicht auf Voll, sondern freue dich, dass du einem Interesse Platz geben kannst. Fehlende Stunden sind dafür mehr wert als fehlende Minuten.»

Das Zigarettenheft mit dem Raucherprotokoll aus den letzten Lebenstagen.

Das Zigarettenheft mit dem Raucherprotokoll aus den letzten Lebenstagen.

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Die praktische Rauchbremse war für ihn das Zigarettenheft, in das jede Zigarette mit genauer Minutenzahl eingetragen wurde. Nur so, glaubte Musil, könne er seinen Konsum der berüchtigten Sargnägel einschränken. Bis zum Tode huldigte er dem Irrglauben, wenig rauchen schade nicht viel. Am 15. April 1942 rauchte er in Genf, am Chemin des Clochettes 1, morgens noch zwei Zigaretten, die letzte um 11 Uhr, wie das Zigarettenheft festhielt. Um halb eins war er tot. Schlaganfall.

Bei jemandem, der als Raucher in seinen knapp 62 Lebensjahren der Welt eine riesige Gaswolke hinterlassen hat, war es naheliegend, dass er eingeäschert wurde. Wenn die Witwe den Inhalt der Urne am Rand zweier verwilderter Gärten am Fuss des Salève verstreute, sparte dies Grabpflege und Liegegebühren. Emigranten mussten noch im Tode haushalten.