Als Hitler 1938 in Wien einmarschierte, ging Robert Musil ins Exil. In der Schweiz blieben ihm noch vier Jahre und ein Leben zwischen allen Stühlen

Zuerst lebte der österreichische Schriftsteller in Zürich, dann in Genf. Sein Hauptwerk aber konnte er nicht mehr zu Ende bringen.

Paul Jandl
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Im grauen Anzug und mit Krawatte stilvoll an der Arbeit: der Schriftsteller Robert Musil in einer Aufnahme um 1930.

Im grauen Anzug und mit Krawatte stilvoll an der Arbeit: der Schriftsteller Robert Musil in einer Aufnahme um 1930.

Imagno / Hulton Archive

So sind sie, die Deutschen: Sie haben ein Faible für den Himmel und die Hölle. Und sie sind begeistert von der Idee, beide zu organisieren. Robert Musil, von dem diese Bemerkung stammt, konnte mit dem deutschen Hang zur Transzendenz wenig anfangen. Und er musste versuchen, der Gründlichkeit der deutschen Hölle zu entgehen. Als sich die Heimat 1938 jubelnd in die Arme Adolf Hitlers warf, waren die Tage gezählt, bis der österreichische Schriftsteller das Land verliess. Im Spätsommer 1938 reiste der österreichische Schriftsteller mit seiner Frau über Italien in die Schweiz. In ein prekäres Exil, das trotz seinen hastigen Ortswechseln wie eine innere Emigration wirkt.

Robert Musil ist 1938 ein Schiffbrüchiger, der auf dem Meer der Zeiten treibt und sich an alles klammert, was er zu fassen bekommt. Keine komfortable Lage, aber immerhin besser als der Untergang. Der Österreicher verschleiert seine Haltungen und lässt sie je nach Möglichkeit in die eine oder andere Richtung ausschlagen. Mit dem Mut der Verzweiflung und in der Hoffnung auf eine staatliche Pension entwirft er noch vor dem Exil einen Brief, in dem er sich als früher Anhänger des «Anschlusses» Österreichs an Deutschland outet.

Während der Kalamitäten des Ersten Weltkriegs habe er in der «Tiroler Soldaten-Zeitung» auf «die engste Einheit zwischen den beiden Reichen, die damals zu fordern war, hingewirkt». Dass es gerade die engste Einheit zwischen den Reichen ist, die ihn selbst und seine jüdische Frau Martha in die Zange nimmt, muss Robert Musil unterschlagen. Als milder Machiavellist sucht er das Arrangement.

Schwieriges Exil in der Schweiz

«Handle, so gut du kannst und so schlecht du musst», heisst es in seiner Rede über die Dummheit aus dem Jahr 1937, in der in einem Warnhinweis auch von den «Fehlergrenzen» dieses Handelns gesprochen wird. Wer etwas macht, kann manches falsch machen, aber als die Musils am 15. August 1938 Österreich verlassen, sind die Optionen ohnehin deutlich geschrumpft. Offiziell ist man nur ins Ausland verreist, um mit neuen Verlagen zu verhandeln, die Perspektiven allerdings müssen auch längerfristig halten.

Robert Musils Exil hat etwas Romanhaftes, manchmal fast Romantisches. Mäzene und Hilfsbereite von internationalem Rang kümmern sich um ein Ehepaar, das schicksalshaft aus den Zeiten gekippt ist. Der Aufenthalt in der Schweiz muss von den Behörden immer wieder neu bewilligt werden. Robert Musils offizielle Ansuchen sind Offenbarungseide aus einem Leben zwischen allen Stühlen.

Die jüdische Identität Martha Musils, einer Bankierstochter aus Berlin, wird verschwiegen, so gut es eben geht. Die Geldknappheit ist umgemünzt in euphemistische Beschreibungen zu erwartender Einkünfte. Auch der überstandene Schlaganfall, die Krankheiten des österreichischen Autors bleiben heikles Terrain. Gesunde und starke Exilanten sind in der Schweiz willkommen, weil die Gefahr, dass sie dem Staat auf der Tasche liegen, geringer ist. Man verschont den schwerkranken und kinderlosen Musil, während ein Kollege namens James Joyce mitsamt seinen vier Kindern eine hohe Kaution hinterlegen muss.

Robert Musils Hoffnung, nach dem Zerwürfnis mit Bermann Fischer einen neuen Verlag zu finden, zerschlägt sich, als der «Mann ohne Eigenschaften» im Herbst 1938 verboten wird. Im Exil gibt der Schriftsteller Bittbriefe auf, die zeigen, dass er nicht aufgeben will. Thomas Mann erweist sich als ausserordentlich grosszügig und wird von Musil mit einer Epistel bedacht, in der er den um seinen Erfolg beneideten deutschen Auswanderer als «festen Stein im Morast» bezeichnet. Durch Thomas Mann geht es ein paar Schritte weiter. Dann ist wieder Endstation.

In der Schweiz zieht das Ehepaar Musil in Etappen weiter. In der Zürcher Pension Fortuna sind es zwei Zimmer unterm Dach, die man bewohnt, bis die «schalldurchlöcherten Pensionswände» jede schöpferische Konzentration vereiteln. Bei grösster Stille wartet Robert Musil auf das nächste Geräusch. Das wird auch in Genf so sein, wohin er 1939 mit seiner Frau übersiedelt. Aus der «bloss anerkennenswerten» Landschaft Zürichs geht es Richtung Westen. Man entfernt sich noch weiter vom deutschen Feindesland und gerät auch in Genf wieder in die Hände unberechenbaren Lärms.

Kinder, die Musil «so wenig mochte wie Schnecken», tanzen dem Schriftsteller lautstark auf der Nase herum, während er die Dinge zu ordnen versucht. Das Finanzielle. Die Aufenthaltsbewilligungen. Und in seinem Kopf: die Welt. Der aus den Ordnungen der Monarchie in die strategische Kontingenz der neuen Gegenwart katapultierte Robert Musil versucht etwas zu verstehen, für das es vielleicht geringere intellektuelle Fähigkeiten gebraucht hätte.

«Ich bin überhaupt nirgends»

Der soziologische Blick, der Blick auf die Gegensätze der Klassen, war nicht die Sache des Schriftstellers. Der Gesellschaftsanalytiker Musil war von der gleichen zögerlichen Genauigkeit wie sein Romanheld Ulrich. Als Mann ohne Eigenschaften war er gegen die Feinde nicht in Stellung zu bringen. Er war ein Privatier des Politischen, und deshalb bleibt in seiner Biografie gerade das Private immer interessant. Mehr noch: das Intime.

Über die erste Zeit in der Schweiz schreibt Musils Ehefrau Martha, dass das Paar «incognito» hier sei. «Offiziell ist R in Italien und ich bin überhaupt nirgends.» Überhaupt nirgends zu sein, ist der biografische Reisepass Martha Musils. Sie ist eine von nicht wenigen Schriftstellerehefrauen, die ihren Männern den schmerzenden Rücken freihalten und selbst das narzisstische Ego aushalten. Robert Musil, der Ex-Offizier des Ersten Weltkriegs, war ein Mann der Manieren und der feinsten Maniküre. Er glänzte in seinen grauen Anzügen, die er aus Friedenszeiten gerettet hatte und die viel materialschonender getragen wurden als der eigene Körper: Hanteltraining, Liegestütze und bis zu 2000 Seilsprünge gehörten zum Fitnessprogramm des gesundheitlich schwer angegriffenen Autors.

Daneben, die Keule der Ermahnung schwingend: Martha Musil. Sie war die heroische Küchenfee seines Schreibens und die krittelnde Krankenschwester seiner Gewohnheiten. Selbst während einschlägiger ehelicher Betätigungen soll Martha Musil ihren Mann zur körperlichen Mässigung aufgefordert haben. Die Vorstellung, dass der hypertonische Schriftsteller in ihren Armen sein Leben aushauchen könnte, wäre vielleicht auf romantische Art schön gewesen. Das Pflichtgefühl der Ehefrau allerdings hätte sich solche Vorstellungen verbeten. Auch verbitten wollte sie sich einen Tagebucheintrag Robert Musils, in dem er die Jahrzehnte dauernde Beziehung statistisch in eine Form zu bringen versuchte. Das aus dem Tagebuch herausgerissene Blatt hat sich Martha Musil ins Futter ihres Mantels einnähen lassen.

Tod an der Badewanne

Dass Schriftstellerei idiosynkratisch ist, angetrieben von Neigungen und Widerständen, kann man an Robert Musil deshalb so gut sehen, weil er genau das ins Bild einer ganzen Epoche bringen wollte: die Neigungen und Widerstände dieser Epoche. Es war eine Art statistische Psychologie, die der gelernte Techniker Musil entwarf. Ein Rationalitätsprodukt, dessen Zuverlässigkeit im gleichen Mass wuchs, wie auch seine blinden Flecken zunahmen. Das ist Psychologie.

Im Grunde hat gerade das Schreiben am «Mann ohne Eigenschaften» die Vollendung des Romans immer mehr hinausgezögert. Weil die von Musil erforschte Idee des Möglichkeitssinns auch die Möglichkeiten seines Monumentalwerks immer mehr vergrösserte, kam es zu exponentiellen Unmöglichkeiten. Zu einer Verzettelung auf allen Gebieten. Essayistisches nahm überhand, und im Grunde hätten die frühen, längst erschienenen Passagen des Romans immer wieder neu geschrieben werden müssen. Die politischen Ereignisse der Gegenwart veränderten auch den Blick auf die Vergangenheit.

Über den Schreibtischen des Exils lagen die Manuskriptseiten ausgebreitet. Auf ihnen Musils Schrift «wie Millionen von Samenkörnern», wie sich eine Zeitzeugin erinnert. Nur spriessen wollte nicht viel. Am 15. April 1942 wurde der 61-jährige Robert Musil in Genf am Badewannenrand von einem Schlaganfall getroffen und war tot. Das Alter war noch nicht erreicht, das er für sich berechnet hatte: achtzig Jahre. Vielleicht genügend Zeit, den «Mann ohne Eigenschaften», diesen berühmtesten unter den ungelesenen und unfertigen Romanen, fertig zu schreiben.

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