Kolumne

Kann man nur ein bisschen untreu sein?

Wann, wie und wo beginnt die Untreue in einer Beziehung? Die Frage ist so alt wie die Liebe. Und wird gerade durch ein neues Wort angeheizt: der Mikro-Betrug. Was der für Folgen haben kann, hat schon Goethe gezeigt.

Von Birgit Schmid
Drucken
Sie wollen nur kuscheln? Jean Sorel und Catherine Deneuve in «Belle De Jour», 1967. (Bild: Imago)

Sie wollen nur kuscheln? Jean Sorel und Catherine Deneuve in «Belle De Jour», 1967. (Bild: Imago)

Es passiert ja noch nichts. Nichts, das gleich eine Liebe zerstören würde. Und doch fühlt es sich an wie ein Verrat. Ein kleiner zwar, aber trotzdem einer.

Man verschweigt einer Frau, die man kennenlernt, dass man verheiratet ist.

Eine gute Nachricht, die einen betrifft, wird als Erstes mit einer Person geteilt, die im Moment wichtiger ist als der Eine.

Man denkt jemandem nach.

Oder phantasiert ihn herbei in einer Situation, in der ein Dritter nichts verloren hat. Zum Beispiel im Bett.

Wo beginnt die Untreue in einer Beziehung? Dass man womöglich täglich untreu handelt und betrogen wird, darauf verweist ein neuer Begriff: der Mikro-Betrug. Er meint ein scheinbar harmloses Verhalten, das bereits mit den romantischen Ansprüchen kollidiert, die man an die Liebe hat.

Heikel am winzigen Betrug ist die Täuschung, die zur Lüge wird.

Kleine Mengen sind angesagt. Denn schon sie können hochwirksam sein. Das Wort Mikro-Betrug, auf Englisch «Micro-Cheating», erinnert an die Mikrodosierung: die Einnahme von niedrig dosierten psychoaktiven Substanzen, dank denen man im Alltag besser zurechtkommt. Und keiner merkt es. Zwar sieht man dem gedanklich abschweifenden Partner auch nichts an. Die kleine Dosis könnte hier aber zum Brandbeschleuniger werden. Schon Spuren davon führen zu einem schlechten Gewissen. Was, wenn Verliebung droht? Heikel am winzigen Betrug ist die Täuschung, die zur Lüge wird. Zum Beispiel, wenn man einen Kontakt unter fremdem Namen abspeichert. Oder schnell den Computer zuklappt, wenn der andere ins Zimmer tritt. Man das Telefon abstellt, um keine SMS zu bekommen. Das Telefon wieder einstellt, um die SMS zu bekommen. Die Heimlichkeit befeuert also auch das Fremdgehen, bei dem man körperlich zu Hause bleibt.

Trotz neuem Namen ist der Vorgang des emotionalen Betrugs so alt wie die Liebe. Und so häufig, dass uns Sigmund Freud beruhigt hat: Jeder Mensch habe gelegentlich Untreuephantasien. Ein Paar besteht nun einmal aus zwei Menschen. Die vielleicht schon lange zusammen sind. Es kommt darauf an, wie man gerade zueinander steht, wer ich selber bin oder sein möchte, oder wie häufig und intensiv der abwesende Dritte anwesend ist. Und es gibt klare Übertretungen. Sie schenkt ihrem Mann das Parfum eines Kollegen, damit sie diesen besser herbeiphantasieren kann: grenzwertig. Er dreht sich nach der Fremden um, die eine Sehnsucht in ihm weckt: nicht weiter schlimm.

Trotz neuem Namen ist der Vorgang des emotionalen Betrugs so alt wie die Liebe.

Etwas Quälendes hat das erotische Abschweifen von der Person trotzdem, mit der man Tisch und Bett teilt. Jeder Liebende will einzigartig sein für den andern, und dann passiert diese Kränkung. Auch wenn klar ist, dass man jemanden in seiner Phantasie nicht kontrollieren kann und es besser ist, nicht immer zu wissen, was in seinem Kopf vorgeht: Das anzuerkennen, fällt schwer.

Und wer sagt denn, dass das subtile Hintergehen nicht böse enden kann? Eines der faszinierendsten Beispiele geben noch immer Goethes «Wahlverwandtschaften». Das Ehepaar Charlotte und Eduard, beide mit starken Gefühlen für jemand anderen, schläft eines Nachts miteinander. «In der Lampendämmerung behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.» Das Resultat dieses doppelten geistigen Ehebruchs, als das er im Roman bezeichnet wird, kommt neun Monate später zur Welt. In den Gesichtszügen gleicht das Kind dem Hauptmann, die Augen hat es von Ottilie.

Für Risiken und Nebenwirkungen des Mikro-Betrugs lesen Sie also Goethe.

NZZ-Redaktorin Birgit Schmid schreibt in ihrer Kolumne «In jeder Beziehung» wöchentlich über Zwischenmenschliches.