Im Krieg sehnen sich die Arbeiter von Tschernobyl nach Normalität

Im Krieg sehnen sich die Arbeiter von Tschernobyl nach Normalität

Dominic Nahr / Nzz

Mit der Besetzung der verseuchten Sperrzone zeigte Russlands Armee einen fahrlässigen Umgang mit nuklearen Risiken. Die wegen des Kriegs geschlossenen Grenzen verlangen den Arbeitern in der Schwesterstadt Slawutitsch viel ab.

Ivo Mijnssen (Text) und Dominic Nahr (Bilder), Tschernobyl 7 min
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Ohne die Atomruine von Tschernobyl gäbe es Slawutitsch nicht. Der fast idyllisch wirkende Ort im Norden der Ukraine entstand unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe 1986, als «Stadt der Liquidatoren». Hier fanden jene eine neue Heimat, die das verseuchte Pripjat verlassen mussten – und jene, die an der Beseitigung der nuklearen Folgen arbeiteten. Im Stadtwappen trägt Slawutitsch ein Atom und einen Engel.

Bis heute sind die beiden Orte schicksalhaft miteinander verbunden. Ein erheblicher Teil der Einwohner von Slawutitsch beobachtet und kontrolliert die heiklen Prozesse in den abgeschalteten Reaktoren. Weit ist der Weg mit 50 Kilometern Luftlinie nicht. Vor dem russischen Angriffskrieg fuhr ein Lokalzug in vierzig Minuten ohne Stopp praktisch bis zur Haustür. Doch er führte über weissrussisches Territorium.

Der einst geschäftige Bahnhof von Slawutitsch liegt heute fast verlassen da. Die wichtigste Verbindung ist unterbrochen.

Der einst geschäftige Bahnhof von Slawutitsch liegt heute fast verlassen da. Die wichtigste Verbindung ist unterbrochen.

Nun ist die Eisenbahnbrücke gesprengt, die Grenze zu und die Direktroute blockiert. Der Bahnhof von Slawutitsch liegt verlassen da. Die Technikerinnen und Ingenieure müssen ebenso im Firmenbus zur Arbeit fahren wie die Köche und Putzfrauen. Dabei nehmen sie einen erheblichen Umweg über Kiew in Kauf, wo die nächste Brücke über den Dnipro auf ukrainischem Gebiet steht. Sechs Stunden lang rumpelt der Bus über schlechte Strassen das Flussufer herunter und wieder hoch.

Russisch besetzte Gebiete, 31. März 2022

Russland greift die «Zone» an

Tetjana Matjucha ist eine der 98 Personen, die trotz Krieg und russischer Okkupation stets ihrer Arbeit in Tschernobyl nachgingen. An den 24. Februar 2022 erinnert sich die Kassiererin in der Betriebskantine ganz genau. Sie hätten gerade mit dem Frühstückservice im Verwaltungsgebäude neben dem «Sarkophag» beginnen wollen. «Dann sah ich die heranfahrenden Panzer. Zuerst dachte ich, es seien die unseren.» Dass die Invasion begonnen hat, realisiert sie erst, als sie die ukrainischen Soldaten in den Luftschutzkeller beordern.

Obschon Satellitenbilder die russische Truppenkonzentration direkt an der Grenze über Wochen dokumentierten, überrascht der Vorstoss durch die Sperrzone die Ukrainer: Auf eine Verteidigung verzichten sie wegen der grossen Risiken einer weiteren atomaren Verstrahlung durch Kampfhandlungen. Laut Völkerrecht geniessen Kernkraftwerke einen speziellen Schutz vor militärischen Angriffen. Die 169 Angehörigen der Grenzwache kapitulieren. Rasch kontrollieren die Streitkräfte der Russländischen Föderation das gesamte radioaktiv verseuchte Gebiet.

Die Kassiererin Tetjana Matjucha arbeitet im Verwaltungsgebäude neben dem «Sarkophag». Sie tat dies auch unter russischer Besetzung.

Die Kassiererin Tetjana Matjucha arbeitet im Verwaltungsgebäude neben dem «Sarkophag». Sie tat dies auch unter russischer Besetzung.

Die Okkupanten sind längst abgezogen, doch ihre Spuren bleiben sicht- und spürbar.

Die Okkupanten sind längst abgezogen, doch ihre Spuren bleiben sicht- und spürbar.

Für die Angreifer ergibt der Vorstoss durch Tschernobyl strategisch Sinn: Am linken Dnipro-Ufer steht die Basis einer Panzereinheit, und die nukleare Sperrzone liegt an der direktesten Verbindungsstrasse zwischen Weissrussland und Kiew. Für die Eroberung der Hauptstadt hätte sie deshalb eine bedeutende Rolle als Versorgungsroute spielen können. In den ersten Tagen rollt ein Militärfahrzeug nach dem anderen durch die 2600 Quadratkilometer grosse «Zone».

Die Besetzer richten ihr Hauptquartier im Verwaltungsgebäude ein. Russen und ukrainische Arbeiter leben wochenlang im gleichen Komplex, eng nebeneinander und doch getrennt: Die Kantinen sind auf zwei Etagen aufgeteilt, mit einer gemeinsamen Küche. «Wir wuschen ihr Geschirr und hätten sie ohne weiteres vergiften können», erzählt die Köchin Tatjana, die ihren vollen Namen nicht veröffentlicht haben will, weil sie sich um ihren in der Armee dienenden Sohn sorgt.

Es droht eine Katastrophe

Von Misshandlungen weiss sie nichts zu berichten. Doch die Soldaten, grösstenteils Burjaten aus Sibirien, seien völlig ahnungslos in die Ukraine gekommen. So erzählen Augenzeugen, die Besatzer hätten ständig gefragt, wo denn nun die Nato-Basen und Bio-Labors stünden. Deren angebliche Existenz gehört zu jenen Lügen, welche die Kreml-Propaganda zur Rechtfertigung des Angriffskrieges verbreitete. Im Verwaltungsgebäude der Atomruine laufen derweil weiterhin die ukrainischen Nachrichten.

Die Besatzer brauchen die Kooperation der Techniker, denn die Sicherheitslage auf dem Gelände ist prekär. Die Kühlung der nuklearen Abfälle und die Überwachung des explodierten Reaktors Nummer 4 erfordern eine externe Energieversorgung. Die Leitung führt jedoch aus der Zentralukraine durch russisch besetztes Gebiet nach Tschernobyl. Anfang März wird sie unterbrochen – mit potenziell fatalen Folgen. Die ukrainischen Techniker müssen widerwillig auf eine Stromquelle aus Weissrussland ausweichen. Sie stehen unter Dauerstress.

Die Techniker sorgen heute wieder für die Sicherheit der abgeschalteten Reaktoren.

Die Techniker sorgen heute wieder für die Sicherheit der abgeschalteten Reaktoren.

Im Wald stösst man immer wieder auf Überreste von russischen Stellungen.

Im Wald stösst man immer wieder auf Überreste von russischen Stellungen.

Dazu kommt, dass sich die russischen Soldaten in ihrer Unkenntnis verantwortungslos verhalten. Sie bewegen sich ohne Schutz im stark kontaminierten «Roten Wald» rund um das AKW Tschernobyl und Pripjat, entfachen dort Feuer. Augenzeugen berichten auch von wachsender Unruhe unter den Okkupanten, die im Kampf um Kiew riesige Verluste erleiden: Eine Einheit betrinkt sich demnach eines Abends bis zur Bewusstlosigkeit, nachdem sie Dutzende von getöteten Kameraden geborgen hat. Diese waren in einen Hinterhalt geraten.

Trotzdem gelingt es dem Schichtleiter Walentin Geiko, mit dem russischen Kommandanten in Tschernobyl einen Austausch der Arbeiter auszuhandeln. Am 20. März 2022 ersetzen Kollegen aus Slawutitsch die Hälfte der ausgelaugten Spezialisten vor Ort. Geiko erhält dafür zunächst einen Orden von Präsident Selenski. Gleichzeitig verdächtigt ihn der Geheimdienst deswegen der Kollaboration. Sein Fall illustriert den widersprüchlichen Umgang der Ukraine mit jenen, die unter der Besatzung schwierige Entscheidungen treffen mussten.

Die Besatzung hinterlässt Spuren

Als sich die Russen Ende März aus der Gegend um Kiew zurückziehen, verlassen sie auch die «Zone» rund um das ehemalige AKW Tschernobyl. Ein Jahr später erinnern nur noch eine zerstörte Brücke und ausgebrannte Militärfahrzeuge an die Präsenz der Okkupanten. Auf einem Lastwagen ist ein Z aufgesprüht, das Symbol des Angriffskriegs.

Auf beklemmende Weise passen diese Spuren zur Stimmung in der verseuchten Zone mit ihren 162 Ortschaften, die seit dreieinhalb Jahrzehnten verlassen sind. Der Wald überwuchert die Häuser, auf dem Hauptplatz von Pripjat steht ein geplünderter Supermarkt, dahinter der Rummelplatz mit dem berühmten Riesenrad. Die Trostlosigkeit erinnert an die Ruinenstädte des Krieges im Donbass und im Süden der Ukraine.

Die Zerstörung in Pripjat stammt von der Nuklearkatastrophe, gleicht aber Kriegsschäden.

Die Zerstörung in Pripjat stammt von der Nuklearkatastrophe, gleicht aber Kriegsschäden.

Auch das berühmte Riesenrad im Städtchen stand 1986 fast über Nacht still.

Auch das berühmte Riesenrad im Städtchen stand 1986 fast über Nacht still.

Den Ort Tschernobyl hingegen hat der Krieg transformiert. Noch 2019 war er das touristische Zentrum für jährlich 120 000 Besucherinnen und Besucher. Nun kommen hier die ungefähr 1000 ukrainischen Soldaten unter, die in der Gegend stationiert sind. Sie rotieren laut einer Behördenvertreterin regelmässig, um eine übermässige Strahlenbelastung zu vermeiden. Auf der Strasse zum Verwaltungsgebäude bewegen sich Haubitzen und Militärlastwagen. Im Hof davor haben sich Soldaten zu einer Verteidigungsübung versammelt.

Für die zivilen Techniker ist die Überwachung der nuklearen Prozesse innerhalb des Sarkophags und der 2017 darüber gestülpten modernen Schutzhülle deutlich schwieriger geworden, seit die abziehenden Russen die Büros geplündert haben. Sie liessen einen Grossteil der Computer und Instrumente zur Messung der Strahlung mitgehen.

Die Arbeit ist schwierig geworden

Da die verbliebenen Angestellten aus Gründen der Geheimhaltung kaum über ihre Arbeitsbedingungen sprechen, ist Olexander Kupni zu ihrem Sprachrohr geworden. Der 63-Jährige kam 1988 als einer der ersten nach Slawutitsch und arbeitete bis 2010 als Dosimetrist. In dieser Funktion mass der Sohn eines berühmten sowjetischen Nuklearforschers regelmässig die Strahlung im zerstörten Reaktor 4. «Die Arbeit am AKW Tschernobyl steht seit letztem Jahr praktisch still», erzählt der jugendlich wirkende Pensionär in seiner grosszügigen Wohnung.

Olexander Kupni hat sein halbes Leben lang in Atomkraftwerken gearbeitet, so auch in Tschernobyl.

Olexander Kupni hat sein halbes Leben lang in Atomkraftwerken gearbeitet, so auch in Tschernobyl.

«Slawutitsch ist der Schatten der Sowjetunion», sagt Kupni.

«Slawutitsch ist der Schatten der Sowjetunion», sagt Kupni.

Die Routine der verbliebenen Angestellten hat sich auch wegen des grossen Umwegs verändert, den sie mit dem Bus in Kauf nehmen müssen. Arbeiteten sie zuvor 12-Stunden-Schichten im Verwaltungsgebäude und kehrten danach heim, verbringen sie nun 14 Tage in der «Zone» und sind dann 10 Tage lang zu Hause. Ein so langer Aufenthalt wäre dort aus Sicherheitsgründen eigentlich nicht erlaubt. Doch die gegenwärtige Situation lässt ihnen keine Wahl.

Die Köchin Tatjana hat an diesem Sonntag frei und wartet in ihrer Küche auf den Besuch der Familie. Sie ist froh über die Zeit zu Hause, denn die Unterkünfte beim AKW in provisorisch in Schlafplätze umgerüsteten Büroräumen sind rudimentär. «Am Anfang war das ein Schock», erzählt die zweifache Grossmutter. «Wir hatten zunächst weder fliessendes Wasser noch Strom.» Man improvisiere nun und arrangiere sich eben, meint sie schulterzuckend. Die Leute arbeiteten weiter, weil sich niemand leisten könne, auf einen guten Lohn zu verzichten.

Den Spezialisten, die ab den späten achtziger Jahren in die Stadt zogen, hat die enge Verbindung zum AKW Tschernobyl einen bescheidenen Wohlstand gebracht.

Den Spezialisten, die ab den späten achtziger Jahren in die Stadt zogen, hat die enge Verbindung zum AKW Tschernobyl einen bescheidenen Wohlstand gebracht.

Die Quartiere von Slawutitsch wurden im Stil verschiedener Sowjetrepubliken aufgebaut.

Die Quartiere von Slawutitsch wurden im Stil verschiedener Sowjetrepubliken aufgebaut.

Slawutitsch bleibt abhängig vom AKW Tschernobyl, auch wenn heute nur noch ein Bruchteil der einst Tausende von Arbeitsplätzen übrig geblieben ist. Vor Russlands Invasion lockte die Stadt mit einigem Erfolg, Investitionen und Familien an. Die Bevölkerung stabilisierte sich auf 25 000 – aber im letzten Jahr ist sie auf 17 000 geschrumpft. Immerhin blieb die Kleinstadt von den Kämpfen weitestgehend verschont. Sie wirkt äusserst gepflegt; sogar in Kriegszeiten verhält sich die Polizei extrem korrekt und büsst das Auto der NZZ dafür, dass der Fahrer ein Stoppschild überfährt.

Slawutitsch muss sich neu erfinden

Für Olexander Kupni passt dies zur Tradition der einstigen Modellstadt. «Slawutitsch ist der Schatten der Sowjetunion», findet der Blogger und Fotograf auf einem Rundgang durch den Ort: Die Quartiere wurden in den nationalen Stilen der verschiedenen Republiken gebaut. Wohnungen konnten sich die jungen Spezialisten Ende der achtziger Jahre aus einem Katalog aussuchen – ein extremes Privileg damals. Gerne erzählen sie von der Dynamik jener Zeit und den gemeinsamen Festen einer homogenen und hochgebildeten Stadtbevölkerung.

Die Menschen sind stolz auf ihren Beitrag zur Vermeidung einer noch grösseren Katastrophe, und sie erbringen dafür bis heute grosse Opfer. Der Friedhof und eine Gedenkstätte erinnert an jene, die an den Folgen der Strahlenbelastung starben. Der Krieg und die gekappten Verbindungen über Weissrussland stellen Slawutitsch nun ein weiteres Mal auf die Probe. Olexander Kupni glaubt aber, dass Slawutitsch genug Potenzial hat, um sich neu zu erfinden. «Die Stadt hat viele dunkle Zeiten erlebt», sagt Kupni. «Aber sie hat stets überlebt.»

Krieg, Isolation und die veränderte Lage in der Atomruine von Tschernobyl lassen die Zukunft von Slawutitsch ungewiss erscheinen.

Krieg, Isolation und die veränderte Lage in der Atomruine von Tschernobyl lassen die Zukunft von Slawutitsch ungewiss erscheinen.

Mitarbeit: Kostiantin Karnosa