Gastkommentar

Disziplin und Rücksichtnahme bei Katastrophen – Japan macht vor, was wir erst üben müssen

Abstand halten, anderen nicht lästig fallen und sich selbst zurücknehmen – diese Tugenden werden in Japan gepflegt, auch wenn gerade keine Katastrophe ansteht. Solche aber gibt es oft, was sich in einem ausgeprägten Gemeinsinn niederschlägt.

Florian Coulmas
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Schutzmasken tragen im Parlament – in Japan kein Grund zur Aufregung.

Schutzmasken tragen im Parlament – in Japan kein Grund zur Aufregung.

Koji Sasahara / AP

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie des Schicksals, dass die Gedenkfeierlichkeiten am Jahrestag der Katastrophe von Fukushima vorige Woche wegen der gegenwärtigen Katastrophe angepasst werden mussten. Grossveranstaltungen sollte es auch in Japan wegen des Infektionsrisikos nicht geben.

Zwei Katastrophen, auf so unerwartete Weise in Zusammenhang gebracht – was aber haben sie miteinander zu tun?

Katastrophen wie Covid-19, könnte man meinen, haben eine egalisierende Wirkung, denn die Ansteckungsgefahr ist für alle gleich. Aber Reaktionen auf Katastrophen, wie die Menschen mit solchen Ereignissen umgehen, sind gesellschaftlich bedingt. Einige Wochen nach der Kernschmelze von Fukushima war es zu einem Standardwitz geworden, dass dieses Desaster genau zwei Länder betraf, Japan und Deutschland. Der Witz zielte auf die der Hysterie nahekommenden Reaktionen in Deutschland, die es in keinem anderen Land gab, weil das Thema Atomkraft im politischen Diskurs der BRD eine so prominente Stelle einnahm.

Damit muss man leben

In Japan war Fukushima zunächst eine Naturkatastrophe, der Tausende von Menschen zum Opfer gefallen waren. In Deutschland hingegen konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf Technik und menschliches Versagen, nämlich die fatale Beschädigung des Kernkraftwerks. Zweifellos hatte Fukushima beide Aspekte, weswegen wir inzwischen von der Dreifachkatastrophe sprechen: Erdbeben, Tsunami, Atomunfall. Ob der eine betont wird oder der andere, hängt von der Gesellschaft ab, in der man lebt.

Japanische Selbstverständlichkeiten des Verhaltens wie Vorsicht, Rücksichtnahme und Disziplin erweisen sich auch diesmal als äusserst nützlich.

In Japan ereignen sich jedes Jahr mehr oder weniger dramatische Naturkatastrophen, insbesondere Erdbeben und Taifune; damit muss man leben. In Mitteleuropa nimmt die Gewalt der Natur vergleichsweise selten katastrophale Ausmasse an, aber mit der Technik kann schon das eine oder andere schiefgehen. War Fukushima also eine Naturkatastrophe oder eine vom Menschen gemachte? Heute und retrospektiv liegt das im Auge des Betrachters.

Und Covid-19? Auch hier haben wir beide Aspekte. Viren sind Naturphänomene, aber die Fachleute sind sich einig in ihrer Einschätzung, dass das neue Virus eine Krise neuer Qualität ausgelöst hat. Ohne die globale Verflechtung von Produktion, Handel und Konsum, ohne Massentourismus, ohne billigen Flugverkehr und ohne Kreuzfahrten wäre Covid-19 vielleicht eine Plage in der chinesischen Provinz geblieben. Dafür, dass es so nicht kam, sorgte der Mensch. Wie in Fukushima wirken auch hier Mensch und Natur zusammen, um die Katastrophe herbeizuführen.

Deshalb unterscheiden sich auch die Reaktionen darauf, denn sie betreffen das Verhältnis von Mensch und Natur, das von Staat und Gesellschaft und das der Menschen zueinander.

In Japan, wie auch in anderen ostasiatischen Ländern, beobachten wir relativ disziplinierte Reaktionen. Gesichtsmasken zu tragen, ist in der Grippesaison ohnehin üblich, fällt also überhaupt nicht auf. Aber auch andere, staatlicherseits empfohlene oder verordnete Vorsichtsmassregeln werden weithin prompt und diszipliniert befolgt, auch wenn es schwerfällt. In Vietnam, wo es bisher nur wenige Ansteckungsfälle gab, werden Kunden schon seit Wochen mit Infrarot-Thermometer überprüft, bevor sie ein Kaufhaus betreten. In Japan wurde in vielen Firmen und manchen öffentlichen Einrichtungen beschlossen, das Personal möglichst von zu Hause aus arbeiten zu lassen.

Versagen der Autoritäten

Man kann das als Ausdruck einer autoritätsgläubigen Haltung gegenüber dem Staat sehen – oder als gesellschaftlichen Konsens, dass man sich bei der Bewältigung von Katastrophen auf den Staat verlassen können muss. Diesbezüglich liessen die Autoritäten 2011 in Fukushima einiges zu wünschen übrig – und dieses Mal wieder. Die Handhabung des Kreuzfahrtschiffs «Diamond Princess», auf dem es zu beinahe 700 Ansteckungen kam, war dilettantisch. Das Testen auf Infektion begann insgesamt langsam. Die Infektionsrate in Japan war deutlich niedriger als im benachbarten Südkorea, was jedoch nach Auffassung sachkundiger Beobachter nicht oder nicht nur partiell daran lag, dass das Virus Japan später erreichte, sondern daran, dass weniger getestet wurde.

Premierminister Shinzo Abe erklärte am 14. März, Japan werde die Verbreitung des Virus bewältigen und die Olympischen Spiele würden wie geplant stattfinden – als ob das die einzige Sorge der Japaner wäre und sich darüber jetzt bereits verlässliche Aussagen machen liessen. Abe betrat die Bühne des Krisenmanagements erst sehr spät. Vorige Woche liess er sich vom Parlament auf Zeit dazu ermächtigen, den Ausnahmezustand zu verhängen, falls nötig. Das wirkte ad hoc wie auch andere Massnahmen. So wurde die Schliessung der Schulen ohne Rücksprache mit Vertretern der Zivilgesellschaft beschlossen. Kritik blieb nicht aus.

Der Ex-Gouverneur von Tokio Yoichi Masuzoe, der auch einmal unter Abe Gesundheitsminister war und als solcher 2009 selbst mit einer Seuche befasst war, äusserte sich dahingehend, dass die Reaktion der Regierung auf die Corona-Epidemie deshalb so misslich gewesen sei, weil Abe zu lange im Amt sei und interne Kritiker mundtot gemacht habe.

Für die Bekämpfung einer Epidemie sei Offenheit äusserst wichtig, betonte Masuzoe. Unter Abe neige die Regierung zu sehr dazu, Informationen zu sammeln und für sich zu behalten. Abe zu widersprechen, sei für viele Ministerialbeamten keine Option, was ein Strukturproblem der gegenwärtigen Politik sei. Tatsächlich stürzten die Zustimmungsraten für Abes Regierung steil ab, denn die Bevölkerung will einen kompetenten Staat und nimmt Anstoss, wenn er Schwächen zeigt.

Stunde der sozialen Netzwerke

Fukushima war die Stunde der sozialen Netzwerke, über die damals noch nicht so viel Desinformation verbreitet wurde wie heute. Im Gegenteil, im Katastrophengebiet konnten Menschen über sie Informationen einholen, die sie von staatlichen Stellen nicht bekamen.

Ein weiterer Effekt von Fukushima war die Stärkung der Opposition gegen die japanische Energiepolitik, die der Atomkraft nach wie vor eine bedeutende Rolle zuschreibt. Seit 2011 demonstrieren Menschen Woche für Woche im Tokioter Regierungsviertel gegen Atomkraft. Die Regierung lässt sie gewähren und ignoriert sie, weil es nur wenige sind.

Für Demonstrationen gegen den Umgang der Regierung Abe mit der Corona-Epidemie ist es noch zu früh, zumal Massenveranstaltungen gleichviel aus welchem Anlass gegenwärtig nicht infrage kommen. Aber auf den einschlägigen Plattformen im virtuellen Raum ist der allgemeine Unmut nicht zu übersehen. Bei Twitter gab es viele hunderttausend Posts, die nach Abes Rücktritt riefen. Es wurden selbst Stimmen laut, die in der Handhabung der Corona-Krise ein Versagen der Demokratie sahen.

Wenn alles seinen normalen Gang geht, geniesst die japanische Regierung relativ hohe Zustimmung in der Bevölkerung, denn die ist Kummer gewohnt. Das weitgehend von einer Partei getragene politische System bescherte Japan im letzten halben Jahrhundert viel Stabilität. Seine Schwächen zeigen sich immer, wenn Katastrophen ungekannter Form oder Dimension über das Land hereinbrechen. Covid-19 ist bis anhin bezüglich Opferzahl und Schaden nicht mit Fukushima zu vergleichen; wohl aber hinsichtlich der sich verbreitenden Unsicherheit und Unzufriedenheit mit einer Regierung, die nicht den Eindruck erweckt, dass sie weiss, was sie tut.

In solchen Fällen zeigt sich freilich auch, dass die japanische Gesellschaft auf ihre eigene Weise auf Krisen reagiert. Japan wird oft als kollektivistische Kultur im Gegensatz zu den individualistischen Kulturen der westlichen Welt beschrieben. Wichtiger als solche pauschalen Kennzeichnungen aber ist, dass das einfache Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme in Japan auch im Krisenfall unabhängig davon, was die Regierung tut oder nicht tut, nicht suspendiert wird. Abstand halten, anderen nicht lästig fallen und sich selbst etwas zurücknehmen, darauf kommt es an. Dass die häufigen Katastrophen in dem Land am Rande der Pazifischen Platte zur Entstehung dieser gesellschaftlichen Normen beigetragen haben, scheint nicht weit hergeholt. Japanische Selbstverständlichkeiten des Verhaltens wie Vorsicht, Rücksichtnahme und Disziplin erweisen sich auch diesmal als äusserst nützlich.

Florian Coulmas ist Professor für japanische Gesellschaft an der Universität Duisburg-Essen. Zusammen mit Judith Stalpers hat er 2011 das Buch verfasst: «Fukushima. Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe» (Verlag C. H. Beck).

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