Wie Vögel auf ihrer Reise in den Süden den richtigen Weg finden, welche Gefahren auf sie lauern und was es mit Pfeilstörchen auf sich hat: die wichtigsten Antworten zum Vogelzug

Jedes Jahr im Spätsommer und Herbst fliegen weltweit Milliarden Zugvögel in ihre Winterquartiere. Doch weshalb verlassen sie ihre Brutgebiete überhaupt, und welche Arten kommen besonders weit?

Gian Andrea Marti (Text), Jonas Oesch und Eugen U. Fleckenstein (Grafiken)
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Der Vogelzug ist ein Naturphänomen, das die Menschen seit je fasziniert. Um das Verschwinden der Vögel im Herbst und ihr Auftauchen im Frühling rankten sich früher zahlreiche Mythen und Legenden. Im Mittelalter wurden Masseneinflüge, sogenannte Invasionen gewisser Arten, als Vorzeichen für Krieg und Pest gedeutet. Noch im 18. Jahrhundert glaubten Wissenschafter, dass Schwalben die kalte Jahreszeit im Schlamm von Teichen und Seen verbringen würden. Noch länger – nämlich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – hielt sich der Aberglaube, dass sich der Kuckuck im Herbst in den ähnlich aussehenden Sperber verwandle, einen kleinen Greifvogel.

Die meisten obskuren Theorien zum Verbleib der Vögel im Winter fanden 1822 dank einem sogenannten Pfeilstorch ein jähes Ende. In jenem Jahr hielt sich an der mecklenburgischen Ostseeküste ein Weissstorch auf, in dessen Körper ein langer Gegenstand steckte. Um das Rätselraten um den Gegenstand zu beenden, schoss man den Storch und fand in ihm einen afrikanischen Pfeil. Der Vogel war beim jährlichen Flug nach Afrika durch einen Jagdpfeil verletzt worden und hatte mit der Waffe im Körper den Rückflug nach Europa überstanden. Durch diese Entdeckung konnte erstmals belegt werden, dass Störche den Winter in Äquatorialafrika verbringen. In späteren Jahren gefundene Pfeilstörche sollen diese Theorie untermauern. Der erste Pfeilstorch kann heute in der Zoologischen Sammlung Rostock besichtigt werden.

Heute weiss man, dass sich jährlich weltweit etwa 50 Milliarden Vögel im Herbst auf den Weg in den Süden machen, um den kalten Wintermonaten zu entfliehen. Allein zwischen Europa und Afrika sind es fünf Milliarden. Einige Arten fliegen dabei um den halben Erdball. Doch weshalb ziehen viele Vogelarten im Herbst eigentlich in den Süden? Und wie finden sie den richtigen Weg? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Weshalb ziehen Vögel im Herbst Richtung Süden?

Die wichtigste Ursache für den Vogelzug sind nicht, wie wohl viele vermuten würden, die im Herbst tiefer werdenden Temperaturen, sondern ist das je nach Jahreszeit extrem unterschiedliche Nahrungsangebot in den Brutgebieten. Laut Livio Rey von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach ist es deshalb kein Zufall, dass sich unter den Zugvögeln viele Insektenfresser befinden. Im Sommer würden diese in Mitteleuropa zwar noch einen reich gedeckten Tisch vorfinden. «Im Winter sind die Temperaturen in unseren Breitengraden aber oft zu tief, als dass die Insekten noch draussen aktiv sind.» Viele Arten ziehen deshalb im Herbst in Gebiete, in denen sie wieder ein grosses Nahrungsangebot finden. Würden die Vögel den Winter über im Brutgebiet bleiben, würden sie an Nahrungsmangel zugrunde gehen.

Der Vogelzug ist also eine notwendige Anpassung jener Arten, die eigentlich nur in warmem Klima überleben können, im Laufe ihrer Stammesgeschichte aber auch in Regionen vorgestossen sind, in denen das Klima im Verlauf des Jahres stark schwankt.

Das Jahr der Zugvögel

Ob, wann und wohin ein Vogel im Herbst in den Süden zieht, ist genetisch festgelegt. Flugrichtung und Flugdauer sind angeboren. Dies haben unter anderem die Ornithologen Peter Berthold, Eberhard Gwinner und Wolfgang Wiltschko in Experimenten nachgewiesen. So ist der Drang zum Ziehen auch bei Zugvögeln zu beobachten, die in Gefangenschaft und ohne Kontakt zu frei lebenden Artgenossen und äusseren Umwelteinflüssen aufgewachsen sind.

Welche Vogelarten ziehen im Herbst in den Süden?

Zu den Zugvögeln gehören eine ganze Reihe von Arten. Die meisten ernähren sich hauptsächlich von Insekten oder leben bevorzugt in warmen Klimazonen.

Je nachdem, wie weit die Distanz ist, welche die Vögel auf ihrem Zug zurücklegen, wird zwischen Langstrecken- und Kurzstreckenziehern unterschieden.

Je früher der Vogelzug beginnt, desto ferner ist das Ziel

Je früher der Vogelzug beginnt, desto ferner ist das Ziel

Langstreckenzieher verlassen im Herbst ihr Brutgebiet vollständig und überwinden grosse Distanzen, um in einer gänzlich anderen Klimazone der Erde zu überwintern. In Europa sind das in der Regel diejenigen Arten, deren Winterquartier in den Tropen Afrikas südlich der Sahara liegt. In Mittel- und Osteuropa sind auch einzelne Vogelarten bekannt, die den Winter im tropischen und subtropischen Asien verbringen. Langstreckenzieher leben somit das ganze Jahr über in warmem Klima und kennen keine Winter in unserem Sinne. Die meisten Insektenfresser sind Langstreckenzieher, da ihre Nahrung im Winter in Europa nicht mehr in ausreichender Menge aufzufinden ist. Bekannte Arten unter ihnen sind etwa Gartenrotschwanz, Neuntöter, Kuckuck sowie die meisten in Europa heimischen Schwalben- und Seglerarten.

Die ersten Mauersegler verlassen bereits im Sommer wieder ihr Brutgebiet. Ihr Winterquartier liegt in Afrika südlich des Äquators. (Bild: R. Sturm / Imago)

Die ersten Mauersegler verlassen bereits im Sommer wieder ihr Brutgebiet. Ihr Winterquartier liegt in Afrika südlich des Äquators. (Bild: R. Sturm / Imago)

Kurzstreckenzieher überwintern hingegen in Klimazonen, die jener ähneln, in der sie brüten. In Europa liegen ihre Winterquartiere deshalb in der Regel im südlichen Mitteleuropa und im Mittelmeerraum. Bekannte Vertreter der Kurzstreckenzieher sind Feldlerche, Rotkehlchen und Hausrotschwanz.

Die Feldlerche ist ein typischer Kurzstreckenzieher. Die europäischen Bestände überwintern in Südeuropa und Nordafrika. (Bild: Fabrice Cahez / Imago)

Die Feldlerche ist ein typischer Kurzstreckenzieher. Die europäischen Bestände überwintern in Südeuropa und Nordafrika. (Bild: Fabrice Cahez / Imago)

Daneben gibt es noch die sogenannten Teilzieher. Bei diesen Arten, die oft auch zu den Kurzstreckenziehern gezählt werden, zieht meist nur ein Teil der Population Richtung Süden, während der andere Teil im Brutgebiet überwintert. Dieser Umstand kann für die einzelnen Tiere Vor- und Nachteile haben: Ist der Winter im Brutgebiet hart, kommen viele der dort verbliebenen Vögel ums Leben. Die weggezogenen Artgenossen sind dann im Vorteil. Ist der Winter im Brutgebiet hingegen mild, erhöht sich die Überlebenschance der sesshaften Vögel, da sie sich nicht den Gefahren des kräfteraubenden Vogelzugs ausgesetzt haben. Ausserdem können sie im Frühling die besten Brutreviere schon für sich besetzen, noch bevor ihre weggezogenen Artgenossen zurückkehren. In der Schweiz sind Amsel und Rotkehlchen typische Teilzieher.

Bei den Rotkehlchen verbleibt meist ein Teil der Population den Winter über im Brutgebiet. (Bild: Philippe Ruiz / Imago)

Bei den Rotkehlchen verbleibt meist ein Teil der Population den Winter über im Brutgebiet. (Bild: Philippe Ruiz / Imago)

Vogelarten, bei denen die gesamte Population während des Winters im Brutgebiet bleibt, werden als Standvögel bezeichnet. Sie sind an kaltes Klima gut angepasst und finden auch im Winter ausreichend Nahrung im Brutgebiet. Typische Vertreter der Standvögel sind Raufusshühner wie das Birk- und das Auerhuhn oder verschiedene Eulenarten.

Das Birkhuhn ist ein typischer Standvogel, der das ganze Jahr im Brutgebiet lebt. Knospen und Triebe von Laub- und Nadelbäumen stellen im Winter seine Hauptnahrung dar. (Bild: David Kjaer / Imago)

Das Birkhuhn ist ein typischer Standvogel, der das ganze Jahr im Brutgebiet lebt. Knospen und Triebe von Laub- und Nadelbäumen stellen im Winter seine Hauptnahrung dar. (Bild: David Kjaer / Imago)

Welche Routen wählen die Zugvögel Europas?

Da die Reise in Richtung Süden äusserst kräftezehrend ist, versuchen Zugvögel in der Regel, die für sie günstigste Route abzufliegen. Hindernisse wie Gebirge und das offene Meer werden, falls möglich, umflogen.

So konzentriert sich der Vogelzug in den Alpen meist auf die Täler und Pässe. In Afrika überwinternde Tiere ziehen meist in südwestliche Richtung über die Meerenge von Gibraltar in ihr Winterquartier oder in südöstliche Richtung über den Bosporus und anschliessend über die Sinai-Halbinsel. Eine weitere «populäre» Route unter europäischen Zugvögeln führt über Italien und Malta nach Afrika.

Wie orientieren sich Zugvögel?

Heute sind mindestens drei Faktoren bekannt, mit deren Hilfe sich Zugvögel orientieren: die Sonne, die Sterne und das Erdmagnetfeld.

Für die Orientierung am Erdmagnetfeld kommt eine Art «innerer Kompass», der sogenannte Magnetsinn, zum Einsatz. Der deutsche Zoologe Wolfgang Wiltschko konnte Anfang der 1960er Jahre erstmals nachweisen, dass Vögel mit Magnetfeld-Rezeptoren den Neigungswinkel des Erdmagnetfeldes wahrnehmen und sich so orientieren können. Bei Rotkehlchen etwa liegen die Magnetfeld-Rezeptoren im rechten Auge. Wird dieses abgedeckt, verlieren die Tiere ihre Fähigkeit, sich am Erdmagnetfeld zu orientieren.

Auch der Stand der Sonne wird von vielen Zugvogelarten zur Orientierung genutzt. Dies setzt voraus, dass die Vögel die Position der Sonne zu jeder Tageszeit kennen, also eine innere Uhr besitzen.

Einige Vögel können sich auch am nächtlichen Sternenhimmel orientieren, wobei vor allem die Gesamtrotation des Sternenhimmels beachtet wird. Diese astronomische Navigation muss von den Vögeln aber erst erlernt werden. In Versuchen mit Indigofinken konnte der Biologe Stephen Emlen 1970 zeigen, dass von Hand aufgezogene Tiere, die als Jungtiere niemals den Sternenhimmel zu Gesicht bekamen, später nicht in der Lage waren, sich wie ihre frei lebenden Artgenossen zu orientieren. Von Hand aufgezogene Tiere, die in einem Planetarium mit einem um den Nordstern rotierenden Sternenhimmel gross wurden, zeigten später hingegen ein normales Zugverhalten.

Auch markante Geländepunkte, sogenannte Landmarken, wie Hügel, Berge oder auch Autobahnen und die Beleuchtung von Grossstädten könnten bei der Orientierung von Zugvögeln eine Rolle spielen.

Welche Gefahren lauern während des Vogelzugs?

Unabhängig von ihrer Dauer ist die Reise ins Winterquartier anstrengend und gefährlich. Die Tiere müssen Hindernisse wie Gebirge, Wüsten und Meere überqueren und sind gleichzeitig Wetterphänomenen ausgesetzt. So können Stürme die Vögel über weite Strecken verfrachten und sie von ihrem eigentlichen Kurs abbringen.

Auf dem Weg in den Süden lauern aber auch menschengemachte Gefahren. Stromleitungen und schlecht isolierte Strommasten bedeuten für viele Zugvögel den Tod. Auch Siedlungsgebiete und Verkehrsflächen stellen für manche Vögel Hindernisse dar. Die Lichtverschmutzung in dichtbesiedelten Regionen beeinträchtigt in der Nacht die Orientierung von Zugvögeln anhand des Sternenhimmels. Die Zerstörung wichtiger Rastplätze ist ein weiterer Bedrohungsfaktor.

Ein grosses Problem ist zudem die weitverbreitete Wilderei von Zugvögeln in den Ländern um das Mittelmeer. Die Naturschutzorganisation Birdlife Schweiz geht davon aus, dass im Mittelmeerraum jährlich rund 25 Millionen Vögel illegal getötet werden. Die Tiere werden geschossen oder mit Leimruten, Netzen und Fallen gefangen. Letztgenannte Fangmethoden bedeuten oft einen qualvollen Tod. Über den Schwarzmarkt werden die Tiere an Restaurants und Private als Delikatessen verkauft.

Laut Livio Rey von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach setzt die Wilderei vor allem bedrohte Vogelarten zusätzlich unter Druck. Zwar bemühten sich Naturschutzorganisationen darum, die illegale Jagd im Mittelmeerraum einzudämmen. Das grösste Problem für bedrohte Arten liege aber meist im Brutgebiet. «Vor allem Zugvögel des Kulturlands sind wegen der intensiven Landwirtschaft in ihrem Brutgebiet gefährdet», so Rey. «Das zeigt sich auch daran, dass Zugvögel ausserhalb des Landwirtschaftsgebiets wie Buchfink und Singdrossel in ihren Beständen sogar zunehmen, trotz der intensiven Wilderei auf dem Zug.» Der Schlüssel für den Erhalt bedrohter Arten liege deshalb neben der Abschaffung der illegalen Wilderei vor allem in einer Verbesserung der Lebensräume im Brutgebiet.

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