Robert Musil in der Schweiz: «Er und seine Frau sind zu hundert Prozent Arier»

1939 fliehen Robert und Martha Musil in die Schweiz. Er will an seinem Jahrhundertroman weiterarbeiten, sie beschafft Aufenthaltsbewilligungen. Ein Blick zurück.

Urs Hafner 5 min
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Weiterschreiben am «Mann ohne Eigenschaften» im Schweizer Exil: Robert Musil in einer Aufnahme aus den 1930er Jahren.

Weiterschreiben am «Mann ohne Eigenschaften» im Schweizer Exil: Robert Musil in einer Aufnahme aus den 1930er Jahren.

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Martha Musil hat einen Traum. Sie liegt neben ihrem Mann Robert im Bett, die beiden reden angeregt miteinander. Als er das Licht löscht, sagt sie: Liegst du bequem? Von ihrem eigenem Satz geweckt, den sie laut spricht, wacht sie auf, greift nach Robert «und fand nichts – nur Leere». So schreibt es die Künstlerin in einem Brief an einen Freund.

Kurz zuvor, im April 1942, ist Robert Musil im Exil in Genf gestorben. Ein Hirnschlag streckt den 61-jährigen Autor des Jahrhundertwerks «Der Mann ohne Eigenschaften» nieder. Martha findet ihn leblos, lächelnd liegt er in der Badewanne. Vier Jahre vorher hat das gutbürgerliche Paar Wien verlassen, nachdem sich Österreich dem «Dritten Reich» angeschlossen hatte. Sie ist Jüdin, sein Werk wird von den Nationalsozialisten verboten, die Inflation hat ihr Erspartes aufgefressen. Sie müssen weg.

«Dichterfürst» ohne Publikum

Erst fahren sie nach Italien, im August 1938 fliehen sie in die Schweiz. Diese gewährt Juden kein politisches Asyl. Als Flüchtlinge anerkennt sie hohe Beamte, bedeutende Linkspolitiker und bekannte Schriftsteller, sofern sie nachweisen können, dass sie persönlich verfolgt werden. Migranten sollen so schnell wie möglich weiterreisen. Die Musils erhalten eine provisorische Aufenthaltsbewilligung, die rund alle sechs Monate zu verlängern ist, und müssen eine Kaution hinterlegen. Robert bettelt schweren Herzens den von ihm verachteten Thomas Mann an, der sich spendabel zeigt.

Zeugnisse der Flucht: Passbilder von Robert und Martha Musil auf dem Deckblatt ihrer Akte im Staatsarchiv Genf, vermutlich ihren Pässen entnommen.

Zeugnisse der Flucht: Passbilder von Robert und Martha Musil auf dem Deckblatt ihrer Akte im Staatsarchiv Genf, vermutlich ihren Pässen entnommen.

Staatsarchiv Genf

Musil füllt die Formulare der Behörden nicht wahrheitsgetreu aus. Er gibt an, er lebe von Autorenhonoraren aus den USA, sei aus gesundheitlichen Gründen in die Schweiz gekommen und mit einer Protestantin verheiratet. Dass er seine schlechte körperliche Verfassung preisgibt (er hatte einen Schlaganfall und hat keine Gallenblase mehr), ist ungeschickt. Er hofft auf das Mitleid der Behörden, schürt jedoch ihr Misstrauen: Sie wollen keinen potenziellen Sozialfall im Land. Auf seinen Vorschlag, er könnte in der Armee dienen, gehen sie nicht ein.

Mit der Hilfe von Freunden findet das Paar in Zürich eine Unterkunft. Ein amerikanischer Mäzen schickt ihnen Geld. Die beiden beschliessen, dass sie sich zusammen umbringen werden, wenn sie gar keines mehr haben. Einer Erwerbsarbeit nachzugehen, ist ihnen verboten. Robert versucht, weiter am «Mann ohne Eigenschaften» zu schreiben, kommt aber nicht voran, weil er sich durch das Kindergeschrei vom nahe gelegenen Pausenplatz gestört fühlt. Der erste Band, der tausend Seiten zählt, ist zwar schon 1930 erschienen, aber Robert sieht noch lange kein Ende. Im Gepäck hat er weitere zwanzig Kapitel dabei, deren Überarbeitung ihn nicht mehr loslässt.

In Zürich will er zudem einen neuen Verlag finden, doch die Verhandlungen scheitern. An einer Lesung trägt der schwierige «Dichterfürst», wie ihn sein Zürcher Förderer Robert Lejeune nennt, der sozialistische Neumünsterpfarrer, aus dem «Mann ohne Eigenschaften» vor. Nur dreissig Zuhörer haben sich eingefunden. Musil schreibt Lejeune, die Schweiz halte den Toten die Treue, ob sie nun Gottfried Keller oder Rainer Maria Rilke hiessen, auch ihm werde es so ergehen, «aber erst auf seinen Tod warten zu müssen, um leben zu dürfen, ist doch ein rechtes ontologisches Kunststück».

Hinter den Mauern der Pension Fortuna im Zürcher Quartier Riesbach finden Robert und Martha Musil nicht die ersehnte Ruhe.

Hinter den Mauern der Pension Fortuna im Zürcher Quartier Riesbach finden Robert und Martha Musil nicht die ersehnte Ruhe.

Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Musil tut sich schwer mit der Existenz im Exil. Er und seine Frau versuchen partout, den bürgerlichen Lebensstandard zu halten, den sie sich nicht mehr leisten können. In der chinesischen Botschaft ergattern sie ein Visum für Schanghai. Im Juli 1939 ziehen sie nach Genf, weil sie sich in der Nähe Frankreichs sicherer fühlen, wie der Literaturwissenschafter Nanao Hayasaka in seinem neuen Buch über Musils letzte Jahre feststellt («Meinen Schweizer Aufenthalt wohlgefällig zu verbuchen . . .», Brill Fink, 2023). Das Paar befürchtet, die Deutschschweiz könnte sich Nazideutschland anschliessen.

Übereifrige Beamte

Auch in Genf stagniert Musils Arbeit, der «Mann ohne Eigenschaften» bleibt unvollendet. Eine Lesung, die er in Winterthur hält, wird sogar nur von fünfzehn Leuten besucht. Er verliert sein Publikum, mehr und mehr gerät er in Vergessenheit. Das Paar wird nun vom konservativen Diplomaten Carl Jacob Burckhardt und vom freisinnigen Politiker Paul Lachenal unterstützt. Ohne die beiden Kunstliebhaber wären die Musils wohl des Landes verwiesen worden. 1940 bemerkt die Genfer Polizei, dass die Musils sich nicht am neuen Wohnort angemeldet haben, zudem droht ihre Aufenthaltsbewilligung wieder abzulaufen.

Burckhardt und Lachenal schreiben der Fremdenpolizei in Bern, dass «Herr von Musil» (sein Vater war einst in den Adelsstand erhoben worden) ein «angesehener Schriftsteller von hohem Ruf» sei. Bei der Beurteilung seines Falles sei zu betonen, «dass er und seine Frau der protestantischen Religion angehören und zu 100% Arier sind». An den Rand des Briefs kritzelt indes ein findiger Beamter: «Falsch, seine Frau ist J». Die Notiz bleibt folgenlos. Der von den Nazis in Zusammenarbeit mit der Schweiz 1938 eingeführte «Judenstempel», das rote «J», hätte in Marthas Pass stehen müssen. Er wäre ihr Verhängnis gewesen.

Am 15. April 1942 verstarb Robert Musil 61-jährig in Genf an den Folgen eines Hirnschlags.

Am 15. April 1942 verstarb Robert Musil 61-jährig in Genf an den Folgen eines Hirnschlags.

Leo Rosenthal / Landesarchiv Berlin

Die Musils erhalten nun einen Ausländerausweis, doch ihr Status ist nach wie vor prekär. Als seine Staatsangehörigkeit gibt Robert «Ex-Österreicher» an. Er muss der Einwohnerkontrolle die Bestätigung schicken, «keine Anspielung auf politische Fragen in irgendeiner Veröffentlichung zu machen». Die Kaution bezahlt wiederum der amerikanische Mäzen. Martha schlägt sich unermüdlich mit der Fremdenpolizei herum und trabt Mal für Mal bei den Behörden an, stets von Angst erfüllt, die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren und dem Tod ausgeliefert zu werden. Gegen Kriegsende verschärfen die Behörden die Kontrolle der in der Schweiz lebenden Ausländer noch.

1946, ihr Mann ist gestorben, und der Krieg ist vorbei, fährt Martha zu ihrer Tochter in die Vereinigten Staaten. Die Reise finanziert sie mit der Kaution, die sie und ihr Mann in der Schweiz hinterlegt haben. Die Genfer Einwohnerkontrolle erstattet ihr den Betrag erst nach mehrmaligem Insistieren zurück. Sie muss den kostenpflichtigen Nachweis erbringen, dass sie keiner einzigen Behörde Geld schuldet. Ein Jahr später will Martha nach Zürich fahren, um sich um die Gesamtausgabe der Werke ihres Mannes zu kümmern, dessen Totenmaske sie ständig begleitet, doch sie erhält von der Schweiz kein Einreisevisum.

Martha Musil, die früher Malerin war, diente ihrem Mann als Managerin und war zugleich seine intellektuelle Sparringspartnerin. Sie gestaltete sein Schreiben mit. Den «Mann ohne Eigenschaften», der neben Prousts und Joyces Werk steht, gäbe es nicht ohne sie, die Frau mit den vielen Eigenschaften.

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