«Unter der Nähmaschine aufgewachsen»

Seit dreissig Jahren schreibt Hanna Johansen Bücher, sowohl für Erwachsene wie für Kinder. Bei einem Besuch bei ihr zu Hause in Kilchberg sprach sie über ihre Beziehung zur Schweiz, ihre Kindheit im Nachkriegsdeutschland und ihre Schreibanfänge.

Bettina Spoerri
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Die Schrifstellerin Hanna Johansen in ihrem Zuhause in Kilchberg. (Bild: NZZ / Adrian Baer)

Die Schrifstellerin Hanna Johansen in ihrem Zuhause in Kilchberg. (Bild: NZZ / Adrian Baer)

«Was vermuten Sie: Wann hat das letzte Mal eine Schriftstellerin diesen Preis erhalten?», fragt Hanna Johansen. Der Journalistin fallen zwar Namen von Preisträgerinnen ein, aber unter ihnen keine Autorin. Sie habe sich, sagt Johansen, vom Präsidialdepartement extra die Liste schicken lassen, um es genau zu wissen: Siebzig Jahre sei das nun her. Die zuletzt Geehrte: Maria Waser. «, heisst es dann jeweils, wenn wieder ein Mann ausgezeichnet worden ist.» In der Ironie, mit der Johansen diesen Satz placiert, erkennt man die Lust zur Aufmüpfigkeit, mit der viele ihrer Frauenfiguren den schwierigen Verhältnissen in ihrem Leben begegnen.

Nachkriegskindheit in Deutschland

Für den diesjährigen Preis hat man nun also endlich wieder eine Schriftstellerin gefunden, und sie heisst Hanna Johansen. Genau dreissig Jahre ist es her, dass ihr erstes Buch erschienen ist, heute gehört sie zu den bekanntesten und beliebtesten Autorinnen in der Deutschschweiz. Was ihr der Preis denn bedeute, findet sie eine schwierige Interviewfrage, die sie nur mit «sehr viel» beantworten könne. Zur Sprache kommen sodann ihre Befindlichkeit als deutsche Autorin in der Schweiz und das Gefühl, mit dem Preis noch einmal deutlicher hier angekommen zu sein. Schon 39 Jahre lebt Hanna Johansen in der Schweiz, seit 1972 in Kilchberg; sie ist im Literaturbetrieb der Schweiz gut vernetzt und häufiger Gast bei Lesungen und Gesprächen – während sie in ihrem Geburtsland, erzählt sie, noch immer als «Geheimtipp» gelte. Und das, obwohl sie seit ihrem ersten Buch im Münchner Carl-Hanser-Verlag veröffentlicht.

Ihre Kindheit während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Bremen hat die 1939 Geborene stark geprägt. Nach der Trennung der Eltern lebte sie mit der Mutter, die als Schneiderin arbeitete: «Ich bin unter der Nähmaschine aufgewachsen. Sie nähte und kochte, ich erledigte die Hausaufgaben und spielte – alles in einem Zimmer.» Das Wasser musste man aus der Waschküche im Keller holen, und ihr Bett stand «in einem Kabäuschen, hinter einer mit Zuckersackleinen bespannten Holzwand». Das Geld war immer knapp, was man sich wünschte, bastelte und schneiderte man sich selbst. «Von daher kommt es, dass ich noch heute vieles mit meinen eigenen Händen mache.» In Hanna Johansens Haus in Kilchberg zeugt vieles von dieser Tatkraft und handwerklichen Geschicklichkeit. Etwa die Lampe an der Wohnzimmerwand, die sie selbst gestaltet hat, oder das zum Trocknen ausgelegte Quittenbrot auf dem Küchentisch, das übrigens hervorragend schmeckt. Und bevor sie mit Mann Adolf Muschg und den zwei mittlerweile erwachsenen Söhnen hier einzog, strich sie alle Wände selbst, mit den rockigen Klängen von Radio Luxemburg im Ohr.

Hanna Johansens Humor, ihr Pragmatismus und Durchhaltewillen spiegeln sich in ihrem Schreiben. «Ich nehme nicht grosse Stoffe als Vorlage, sondern mache aus kleinen Dingen etwas.» Das Staunen über scheinbare Alltäglichkeiten und die plötzliche Unmöglichkeit, über bisher als normal akzeptierte Gegebenheiten hinwegzusehen, erleben viele ihrer literarischen Figuren. In ihrem neuesten Roman, «Der schwarze Schirm» (2007), entzündet sich dieser Widerstand an einer Zufallsbekanntschaft in der Bahn, die ihren Schirm vergisst und eine Frau an ihre Tochter erinnert, die sie früh zur Adoption weggegeben hat. Auch in «Lena» (2002) oder in den Erzählungen in «Halbe Tage, ganze Jahre» (1998) kommt die Vergangenheit zurück und verunsichert die Verhältnisse, in denen sich die Protagonisten eingerichtet haben.

Und in Hanna Johansens Kinderbüchern wird die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben führen, durch den Blick aus der Perspektive von Kindern oder Tieren hinterfragt; in «Jacky Gleich: Sei doch mal still» (2001) wird etwa das genaue Hinhören zur Entdeckungsreise, während die Katze Ilsebill («Ich bin hier bloss die Katze», 2007) ihre Menschenfamilie mit kritischer Distanz beobachtet. Bären, Dinosaurier, Hühner, Enten, Eulen, Maulwürfe, Mäuse oder auch Gänse wundern sich über den Homo sapiens oder imitieren nicht nur seine Logik, sondern auch seine Sprechfähigkeit, so dass sich am Ende die Leserinnen und Leser über sich selbst zu wundern beginnen. Gleichzeitig sind aber Hanna Johansens Bücher gerade auch in Schulen deshalb besonders beliebt, weil die Beschreibungen biologisch richtig sind, die Tiere sich also so verhalten, wie sie dies auch in Wirklichkeit tun. «Ich erfinde lieber nichts, was es nicht gibt», sagt Hanna Johansen und lacht über den Widerspruch in diesem Satz.

Selbstverständlichkeiten nicht einfach als solche hinzunehmen – und das betrifft in Johansens Büchern auch immer wieder die Beziehungen zwischen Mann und Frau –, diese Haltung habe sie von ihrer Mutter gelernt: «Sie hat immer nachgefragt, wenn etwas als unverständlich oder verwerflich dargestellt wurde; sie wollte die Geschichte dahinter kennenlernen.» Teile von sich selbst wiederzuerkennen oder das Leben anderer besser zu verstehen, ist denn auch für Hanna Johansen eine wichtige Motivation, die ihr Schreiben antreibt. Manche Charaktere verfolgen sie dabei jahrelang, so zum Beispiel gewisse Nebenfiguren aus ihrer «Universalgeschichte der Monogamie» (1997): «Ich habe mir sie so genau ausgedacht, dass sie nachher weiterleben wollten.»

Material ordnen

Wie ihre ersten Bücher entstanden sind, ist in Hanna Johansens Darstellung glücklichen Umständen zu verdanken. So hatte sie einen solchen Respekt vor dem Schreiben eines Romans, dass sie sich, wie sie sagt, «über die Selbstzensur hinwegmogeln» musste, damit ein langer Text möglich wurde. Der erste Leser von «Die stehende Uhr» war der Literaturkritiker Heinz Schafroth, der begeistert reagierte. Er ist es auch, der morgen Sonntag auf Wunsch von Hanna Johansen die Laudatio halten wird – auf ihn freut sie sich ebenso wie auf Hans Hassler, der die Musik zur Feier spielen wird. Und ihr erstes Kinderbuch habe sie aufgrund einer Anfrage geschrieben – was aber natürlich nicht möglich gewesen wäre, wenn sie nicht schon Phantasien über die Innenwelt von Bären gehegt hätte.

Hanna Johansen gewinnt auch schwierigen Situationen ein Moment von Komik ab. Mit dem Alter werde das Schreiben nicht einfacher, im Gegenteil: «Die Angst nimmt zu, dass es nichts wird.» Aber, sagt sie dann auch, sie stehe sich ja selbst oft gern «auf dem Schlauch». In diesen Tagen beschäftigt sie zudem die teilweise Übertragung des über die Jahre für die zahlreichen Bücher angesammelten Materials an das Schweizerische Literaturarchiv in Bern. Allein für «Ein Mann vor der Tür» habe sie ja jahrelang Material zu militärischen Themen und zur Schweizer Armee gesammelt. «Oben steht alles voll mit säurefreien Pappschachteln.» Dem Besuch zeigt sie ihr Arbeitszimmer deshalb lieber nicht. Sie will das Material selbst sortieren, «sonst weiss man nicht, was wozu gehört». Sie freut sich aber auf den Moment, wenn die Schachteln abgeholt werden: Dann habe sie «klar Schiff» für Neues. Und das klingt sehr unternehmungslustig.