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Österreich und das Deutsche Reich: "Ein Volk, ein Reich, ein Führer"

Foto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz/Heinrich Hoffmann

"Anschluss" Österreichs Wiedervereinigung auf Alpenart

Hysterisch vor Begeisterung ließ sich Österreich 1938 von Ex-Landsmann Adolf Hitler "heim ins Deutsche Reich holen". Der Diktator stürzte die Alpenrepublik mit ins Unglück - und so sieht sie sich bis heute lieber als Opfer.
Von Marion Kraske

Plötzlich geht alles ganz schnell: Es ist zehn Minuten vor acht Uhr am Abend, es ist der 11. März 1938, und der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg wendet sich in einer Radio-Ansprache an die Bevölkerung. Bedeutungsschwer verabschiedet er sich mit den Worten "Gott schütze Österreich".

Am nächsten Tag, um fünf Uhr in der früh, landet SS-Reichsführer Heinrich Himmler mit einem Mitarbeiterstab am Flughafen in Wien-Aspern, nur wenig später überquert die deutsche Wehrmacht die deutsch-österreichische Grenze. Das "Unternehmen Otto", der Einmarsch in Österreich und die "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich", wie Hitler es im Gesetz am selben Tag formulieren lässt, ist in vollem Gange. Eine von Schuschnigg für den 13. März geplante Volksbefragung über die Unabhängigkeit veranlasst Hitler, Tatsachen zu schaffen und die Lösung der "Österreich-Frage" blitzartig voranzutreiben.

Hitler begibt sich zunächst nach Linz, schließlich fährt er nach Wien, wo sich auf den Straßen Jubelspaliere bilden - Zehntausende heißen ihn begeistert willkommen. Am 15. März verkündet er vom Balkon der Hofburg den "Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich". Auf dem Heldenplatz haben sich an die 250.000 Menschen versammelt, um das Ereignis zu feiern. Es folgt eine Parade auf der Ringstraße, bei der sich neben der 8. Armee auch SA- und SS-Einheiten formieren und Panzer und Jagdflugzeuge vorbeirollen - eine exakt geplante Inszenierung für die johlenden Massen. So unterschiedlich waren die Voraussetzungen: Ein Jahr später, als die Deutschen auf dem Prager Wenzelplatz aufmarschieren, herrscht gähnende Leere.

Fatale Rolle des Klerus

Als fatal erweist sich in Österreich vor allem die Haltung des Klerus: In einer Erklärung vom 18. März sprechen sich die österreichischen Bischöfe dezidiert für die Vereinigung aus, die Unterstützung des neuen Regimes, so das Kalkül, sichere den Erhalt der eigenen Privilegien. Auch führende Politiker stimmen dem "Anschluss" ohne Zögern zu: Karl Renner etwa, der frühere sozialdemokratische Staatskanzler, unterstreicht in einem Zeitungsinterview sein klares "Ja".

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Die Nazis treiben derweil die Machtübernahme weiter voran. Die Propagandamaschinerie läuft auf Hochtouren, überall werden Transparente angebracht, allein in Wien hängen nun 200.000 Hitler-Bilder, versehen mit Parolen wie "Ein Volk, ein Reich, ein Führer". Selbst die Wiener Straßenbahnen werden eingesetzt, um die Nazi-Ideologie zu transportieren. Bei der anschließenden Volksbefragung erklären sich 99,73 Prozent für die "Wiedervereinigung" mit dem Deutschen Reich. Das Votum ist ein Produkt aus militärischem Druck von außen und der Bereitschaft im Innern, sich der Nazi-Bewegung anzuschließen.

Die Gründe für die "Massenbegeisterung, ja Hysterie" (so der Wiener Historiker Wolfgang Neugebauer) waren vielschichtig: 1918 war die k.u.k-Monarchie zerfallen, am 12. November 1918 entstand an ihrer Stelle die Republik Deutsch-Österreich. Ein traumatisches Ereignis - dem neuen Kleinstaat mangelte es von Anbeginn an Staatsbewusstsein, große Teile der Bevölkerung befürworteten den Anschluss an Deutschland. Als weitaus schwerwiegender erwies sich jedoch die Wirtschaftskrise mit ihrer grassierenden Arbeitslosigkeit: im Februar 1933 waren 600.000 Österreicher ohne Job.

Die Machtübernahme läuft wie geschmiert

Antidemokratische Überzeugungen haben Hochkonjunktur, viele wünschen sich eine starke Führung, einen starken Führer. Die NSDAP wird immer einflussreicher: Bei den Landtagswahlen 1932 in Wien, Salzburg und Niederösterreich verbuchen die Nationalsozialisten beachtliche Stimmengewinne. Viele erhoffen sich von der "Partei der kleinen Leute" endlich ein besseres Leben. "Österreich", sagt Brigitte Bailer, wissenschaftliche Leiterin beim Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW), "ist Nazi-Deutschland wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen".

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Foto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz/Heinrich Hoffmann

Die Machtübernahme verläuft denn auch wie geschmiert. Bereits 1933, nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland, machen einheimische Nationalsozialisten in Österreich mobil: Politische Gegner werden terrorisiert, 300 Attentate werden alleine in der ersten Jahreshälfte 1934 verübt - die logistische Unterstützung kommt häufig aus Deutschland. Die Gewalt gipfelt in einem Putschversuch am 25. Juli 1934, bei dem der damalige Kanzler Engelbert Dollfuß getötet wird.

Der Christsoziale Dollfuß hatte in den Jahren zuvor eine Politik mit fatalen Konsequenzen betrieben: 1933 schaltete er das Parlament aus, um einen christlichen Ständestaat mit faschistischem Antlitz zuschaffen; der konnte freilich weder die wirtschaftliche Misere noch den Mangel an nationalem Bewusstsein beheben. Systematisch wurde die Linke verfolgt, die Arbeiterbewegung brutal unterdrückt. Außenpolitisch verbündete sich Dollfuß mit Italiens faschistischem Diktator Benito Mussolini, der ihm zeitweise als Garant galt, um einen "Anschluss" Österreichs an Deutschland zu verhindern. Mussolini allerdings wendete sich später Hitler-Deutschland zu.

Auf den "Anschluss" folgte der Terror

Auch Dollfuß' Nachfolger Kurt Schuschnigg agierte glücklos bei dem Versuch, die NS-Diktatur zu verhindern. Das Juliabkommen, das er 1936 mit Deutschland schloss, definierte Österreich als "zweiten deutscher Staat". Was eigentlich als Schachzug gedacht war, um den Druck Hitler-Deutschlands abzumildern, führte de facto zu einer Aushöhlung der österreichischen Souveränität. Diese Entwicklung mündete schließlich im "Berchtesgadener Abkommen": Am 12. Februar 1938 traf sich Schuschnigg mit Hitler auf dem Obersalzberg. In luftigen Höhen besiegelte er hier, massiv unter Druck gesetzt, Österreichs weiteres Schicksal. Das Alpenland wurde nun vollends zum Anhängsel Nazi-Deutschlands. Ein Monat später machte Hitler dann mit dem Einmarsch auch militärisch Ernst.

Für Hitler, den gebürtigen Oberösterreicher, der erst im Alter von 43 Jahren deutscher Reichsbürger wurde, hatte die Vereinigung beider deutschen Staaten aus zwei Gründen Priorität: Österreich verfügte 1938 - ganz im Gegensatz zur deutschen Wirtschaft, die aufgrund der Rüstungsvorbereitungen mehr und mehr ausgezehrt war - über wertvolle Gold- und Rohstoffreserven. Rund 2,7 Milliarden Schilling an Gold und Devisen gerieten nach dem "Anschluss" unter Kontrolle der deutschen Reichsbank. Und auch aus geopolitischer Sicht war Österreich für die Kriegspläne der Nazis von Interesse - das Land galt als Brückenkopf zur Eroberung von Ost- und Südosteuropa.

Nach dem "Anschluss" folgte der Terror, systematische Einschüchterung, Verfolgung, Vertreibung. Die Opfer: Juden, Sozialisten, ebenso die Vertreter des Ständestaates. "Spätestens ab 1936 waren Justiz und Polizei von Nazis unterwandert", sagt Historikerin Bailer. "Die Gestapo konnte daher unmittelbar auf komplette Namenslisten sogenannter Volksfeinde" zurückgreifen." An den landesweit stattfindenden Terrormaßnahmen beteiligten sich nicht nur Mitglieder der NSDAP, sondern auch tausende Mitläufer, die von der systematischen Verfolgung ihrer Mitbürger profitierten. Plötzlich gab es leerstehende Wohnungen, freie Arbeitsplätze.

Die Opferthese und ihr Paradoxon

Von etlichen Wiener Bahnhöfen fuhren Züge in die Konzentrationslager. Insgesamt kamen 65.000 österreichische Juden durch den Nazi-Terror ums Leben, Tausende wurden aus politischen Gründen inhaftiert. Auch etwa 2700 Widerstandskämpfer - genaue Zahlen gibt es nicht - wurden zum Tode verurteilt. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite, die eigene Mitverantwortung am Holocaust, wurde in Österreich jahrzehntelang geleugnet. Eisern hielt das Land, das 1938 die staatliche Eigenständigkeit verlor, an einer "umfassenden Opferdoktrin" fest, so der Historiker Oliver Rathkolb in seinem Buch "Die paradoxe Republik". Die alleinige Verantwortung für den Holocaust wurde an das Deutsche Reich abgeschoben - obwohl zeitweise bis zu 600.000 Österreicher als Nationalsozialisten registriert waren.

Grundlage für das schiefe Geschichtsbild, das jahrzehntelang aufrechterhalten wurde, war unter anderem die Moskauer Erklärung von 1943. In ihr wurde Österreich als erstes Opfer Hitlerscher Aggression gewürdigt. Doch auch der österreichische Staatsvertrag von 1955 beinhaltet die Opferthese. Noch immer.

Der einseitige Blick auf die Vergangenheit änderte sich erst, als in den achtziger Jahren Historiker begannen, die Selbsteinschätzung von Österreich als Opfer Hitlers infrage zu stellen. Die Affäre um den ehemaligen österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim, der seine NS-Vergangenheit verschwiegen hatte, wirkte für die öffentlichen Diskurs wie ein Befreiungsschlag.

Die Frage nach den Tätern rührt noch immer an Tabus

Und heute? Noch immer tut sich die Alpenrepublik schwer mit dem eigenen NS-Erbe. Die Auseinandersetzung mit Nazi-Tätern wie Heinrich Gross - er leitete in Wien ein Kinder- Euthanasieprogramm, bei dem mehr als 800 Mädchen und Jungen getötet wurden, und machte später, nach dem Krieg, als Gerichtsgutachter Karriere - rührt noch immer an Tabus. Nach wie vor, sagt Historikerin Bailer, "gibt es keine seriöse Täterforschung".

Wo es keine Täter geben darf, weil möglicherweise der eigene Vater, der eigene Onkel in NS-Gräueltaten verstrickt war, bleibt zwangsläufig der Umgang mit den wahren Opfern auf der Strecke. Das in Wien geplante Simon-Wiesenthal-Zentrum beispielsweise kämpft noch immer um seine Finanzierung. Bislang konnten sich die Republik Österreich und die Stadt Wien auf keinen Kompromiss einigen.

Von den 61 jüdischen Friedhöfen im Alpenland sind etwa ein Drittel verwahrlost - die Soldatenfriedhöfe präsentieren sich dagegen in hervorragendem Zustand. Man hat den Eindruck, sagt der Politologe Anton Pelinka, "dass die Großparteien noch immer die Sorge umtreibt, es könnte sich nachteilig auswirken, wenn man als judenfreundlich gilt." Das sei "das Paradoxe an der Opferthese", konstatiert der Wissenschaftler: "Die eigentlichen Opfer werden schlechter behandelt als die Täter."