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DDR-Volksaufstand "Magdeburg folgt Berlin"

Aus nächster Nähe erlebte Claus Fritzsche in Magdeburg die Revolte des 17. Juni 1953 mit. Er sah Panzer auf Demonstranten zurasen und wurde Zeuge, als wütende Menschen Akten und Möbel aus dem SED-Bezirksbüro schleuderten. Aus Angst, selbst denunziert zu werden, floh er aus der Stadt.
Aufgebrachtes Volk: Auf dem Hof der BdVP (Bezirksverwaltung der Deutschen Volkspolizei) in Magdeburg hatten sich am 17. Juni zahlreiche Demonstranten versammelt

Aufgebrachtes Volk: Auf dem Hof der BdVP (Bezirksverwaltung der Deutschen Volkspolizei) in Magdeburg hatten sich am 17. Juni zahlreiche Demonstranten versammelt

Foto: BStU

Am 16. Juni hörte ich im RIAS, dem Rundfunksender im amerikanischen Sektor von Berlin, dass die Arbeiter auf der Musterbaustelle "Stalinallee" streikten. Sie verlangten von der Regierung, die Erhöhung der Arbeitsnormen zurückzunehmen. Die Bauarbeiter waren besonders hart getroffen, sollten sie doch für ihren bisherigen Lohn 20 Prozent mehr Leistung erbringen. Und das tat weh!

Als ich am 17. Juni wie üblich um 7.30 Uhr meine Arbeit im Dolmetscherbüro der SAG (Sowjetische Aktiengesellschaft) "AMO" in Magdeburg antrat, war noch alles ruhig. Ich spürte aber, dass irgendetwas in der Luft lag. Etwa eine halbe Stunde später ertönte Lärm auf dem Fabrikhof, und von der Großen Schmiede kam eine Kolonne von einigen Hundert Männern in Arbeitsanzügen herbeimarschiert. Auf einer Blechtafel, die vornweg getragen wurde, stand mit Kreide geschrieben: "Magdeburg folgt Berlin".

Als unbeteiligte Zuschauer beobachteten wir vom Dolmetscherbüro aus, wie am Werkstor plötzlich etwa 15 Lastkraftwagen anrollten und die Demonstranten einstiegen. Da vermuteten wir bereits, dass die Aktion zentral organisiert war. Gleichzeitig hörten wir eine Mitteilung: "Die fahren jetzt nach den anderen Magdeburger Großbetrieben und sorgen dafür, dass auch dort gestreikt wird." Von den 12.000 Arbeitern und Angestellten, die das Werk damals beschäftigte, schlossen sich die meisten im Verlauf der nächsten Stunde dem Streik an. Wir erfuhren, dass sie in einer Kolonne zum Stadtzentrum marschieren wollten.

Die Angestellten der Verwaltung, die Techniker der Konstruktionsbüros und auch die Beschäftigten im Dolmetscherbüro blieben am Arbeitsplatz. Sie hatten keinen ökonomischen Grund zum Streiken. Gegen 10 Uhr kam schließlich eine Weisung des sowjetischen Generaldirektors Gladkij: "Arbeit einstellen, alle nach Hause gehen!"

Eine tausendköpfige Menge

Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller und wollte auf kürzestem Weg die etwa drei Kilometer zu meiner Wohnung zurücklegen. Daraus wurde aber nichts. Alle Straßen zum Stadtzentrum waren voller Menschen. Sie bildeten Sprechchöre und bewegten sich in dieselbe Richtung wie ich. Am Bezirksgericht versuchten mehrere Arbeiter mit Schmiedehämmern, die schwere Tür des Hauptportals zu zertrümmern. Eine tausendköpfige Menge ermunterte sie durch laute Rufe.

Hinter dem Gericht befand sich ein Gefängniskomplex; aus dieser Richtung waren Gewehrschüsse zu hören. Männer mit Leitern machten sich daran, die Gefängnismauer zu erklettern, auf der mit Gewehren bewaffnete Polizisten lagen. Sie schossen über die Köpfe der Menge hinweg und wurden dafür mit Steinen beworfen. Ich bekam Angst, dass die Polizisten nun gezielt auf die Angreifer schießen würden.

Plötzlich hörten wir herannahende Motorengeräusche und den sich ständig wiederholenden Schrei: "Russenpanzer!!!" Die rollten mit hoher Geschwindigkeit voran, ohne auf die vor ihnen zur Seite fliehenden Menschen Rücksicht zu nehmen. Ein Wunder, dass niemand überfahren wurde.

'Sie werden alle erschießen'

Der erste Panzer blieb auf einem Bahngleis stehen, der Turm drehte sich, und das Geschütz wurde auf die Angreifer vor der Gefängnismauer gerichtet. Gleichzeitig schoss das MG des Panzers eine lange Serie in die gleiche Richtung, zum Glück über die Köpfe der Menge hinweg. Damit war der Angriff abgewehrt. Die Protestierenden zogen sich in die benachbarte Gartenanlage und den Park zurück.

Auf dem Weg zu meinem Wohnbezirk lag das Gebäude der Bezirksleitung der SED, die sich kaum Sympathien erworben hatte. Auch dort jubelte eine Menschenmenge all denen zu, die bereits in das Gebäude eingedrungen waren und nun Akten, Büromöbel und selbst Schreibmaschinen aus den Fenstern warfen.

Ein Wachmann, der laut Augenzeugen versucht hatte, die Eindringlinge mit der Pistole im Anschlag aufzuhalten, lag blutüberströmt am Boden. Ob er tot oder nur bewusstlos war, weiß ich nicht. Die letzten 200 Meter zu meiner Wohnung legte ich in Panik zurück und dachte: 'Wenn jetzt die Russen auch hierher kommen, dann werden sie alle im Umkreis stehenden Menschen verhaften oder auf der Stelle erschießen.' Wusste ich doch, wie wenig ein Menschenleben galt, wenn die Macht der Kommunisten in Gefahr war.

"Weitermachen, weitermachen!'"

Ein Nachbar erzählte mir, dass die Bezirksleitung der Jugendorganisation FDJ auch gestürmt worden sei. "Die Russenpanzer sind auch da erst angekommen, als alles vorbei war. Oben aus den Etagen flogen Stühle, Tische, Akten - alles durcheinander. Und die Menge hat gebrüllt 'Weitermachen, weitermachen!' Kein Polizist zu sehen. Die haben alle die Uniformen ausgezogen und sich verkrochen. Einen soll es gegeben haben, der sich den Massen in den Weg stellen wollte. Der wurde fürchterlich verprügelt."

Meine Frau war mit der Tochter eine Woche zuvor zu ihrer Mutter nach Eisleben gefahren. Ich war also allein in der Wohnung und hörte von westdeutschen Sendern, dass in allen größeren Städten der DDR Streiks und Massenkundgebungen stattfanden. Patrouillen sowjetischer Infanterie zogen auf meiner Straße entlang und schossen mit Maschinenpistolen in die Luft, um ihre Anwesenheit zu demonstrieren.

Erst gegen Abend wurde es ruhig. RIAS meldete, dass in Berlin und anderen Städten bereits Polizeikommandos unterwegs seien, um Rädelsführer zu verhaften. Da ich am Arbeitsplatz zur Zielscheibe politischer Schikanen geworden war, hatte ich große Angst, denunziert zu werden. Gleich am nächsten Morgen nahm ich den ersten Zug gen Süden. Beim Umsteigen traf ich zufällig meine Frau, die nach Magdeburg zurückkehren wollte, um zu erfahren, wie ich den "Tag X" überstanden hatte.

Am 18. Juni wurde im Radio bekannt gegeben, dass in Magdeburg drei Rädelsführer durch ein sowjetisches Militärgericht zum Tode verurteilt und sofort erschossen worden waren. Wie ich später erfuhr, war einer dieser armen Menschen ein völlig unpolitischer Arbeiter. Vielleicht hatte er nur Steine auf Sowjetsoldaten geworfen und war nach der Festnahme in die Mühlen der sowjetischen Militärjustiz geraten.