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75 Jahre Hiroshima "Am nächsten Morgen ging ich die Knochen meines Mannes einsammeln"

Am 6. August 1945 starben im Inferno des ersten Atombombenabwurfs Zehntausende Menschen. Die Überlebenden trugen Wunden davon, die nie verheilten.
Überlebende in Hiroshima: Eine Mutter sitzt mit ihrem Kind in den Trümmern

Überlebende in Hiroshima: Eine Mutter sitzt mit ihrem Kind in den Trümmern

Foto:

Alfred Eisenstaedt/ The LIFE Picture Collection/ Getty Images

Anmerkung: Dieser Text enthält zum Teil drastische Darstellungen, die verstörend wirken können.

Hiroshima, 6. August 1945. An diesem Morgen ist der Himmel blau, kleine Wolken malen Kontraste. Für die über 300.000 Menschen in der japanischen Hafenstadt beginnt der Tag freundlich. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Denn neben den Bewohnern drängen sich Flüchtlinge, Kriegsgefangene und Zehntausende Soldaten in der Stadt.

Einem frühen Fliegeralarm, der viele aufschreckt, folgt schon um 8.05 Uhr die Entwarnung. Wieder einmal, glauben die Bewohner, ist Hiroshima von Bombardements verschont geblieben. Sie ahnen nicht, dass der morgendliche Flieger ein Kundschafter war und soeben per Funk das Okay für den Bombenabwurf gegeben hat.

Zwei weitere B29-Bomber folgen. Einer trägt die Bombe, der andere Kameraleute und Beobachter. Doch das sieht man von unten nicht, vom Boden, vom Ziel. Und dass kleine Verbände amerikanischer Bomber hoch über der Stadt hinwegziehen, daran sind die Menschen in Hiroshima seit Langem gewöhnt.

Ob sie diesen sommerlichen Montagmorgen überleben werden, hängt davon ab, was sie in den folgenden Minuten tun oder nicht tun, wo genau sie sind, wohin sie gehen oder wo sie bleiben. Der Zweite Weltkrieg geht seinem Ende entgegen, und die USA wollen das beschleunigen. Nur um Japan wird noch gekämpft: Prinzipiell ist der Tod der Bewohner von Hiroshima deshalb seit Tagen beschlossene Sache.

  • Hiroko Kawaguchi, damals acht Jahre jung, berichtet: "Ich hatte keine Schule, und so war ich mit anderen Kindern in der Nachbarschaft unterwegs. Als wir sahen, dass eine B29 geflogen kam, hielten wir uns sofort die Augen und die Ohren zu. Das sollten wir tun, wenn man glaubte, es könnte eine Bombe abgeworfen werden. Da ich mir die Augen zugehalten hatte, sah ich den Blitz nicht."

Viele der Überlebenden sehen den Blitz nicht. Manche überleben, gerade weil sie den Blitz nicht sehen: Sie stehen geschützt, in Gebäuden, fahren gerade durch Tunnel, laufen zufällig zwischen zwei Mauern hindurch oder sind gerade in einem Waschkeller.

Vielen, die den Blitz sehen, kocht die Haut am Körper, ihre Kleidung fängt Feuer. Die, die direkt unter der Explosion stehen, verschwinden einfach: Es ist strittig, ob sie im Wortsinn verdampfen oder so vollständig verbrennen, dass ihre Asche hinfort geweht wird. Manche ihrer Schatten brennen sich bei 6000 Grad Hitze in den Asphalt und auf Mauern ein. Als ob der Tod ein Foto machte.

Erstversorgung: Großflächige Verbrennungen gehörten zu den häufigsten Verletzungen der Überlebenden

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Foto: The Asahi Shimbun/ Getty Images
  • Makie Fujii, 22, spielt um 8.16 Uhr im oberen Geschoss ihres Hauses mit ihren beiden kleinen Töchtern Fangen, als ein Feuerball die Fenster eindrückt und den Raum des sofort kollabierenden Hauses füllt. Makie fühlt sich nach unten gesaugt und wird verschüttet.

    "Unterhalb meiner Füße rief meine ältere Tochter: 'Mama, hier, Mama, hier!' Ich rief ihr zu: 'Kazuko-chan, Mama kommt dir gleich helfen, halte durch!' Ich war jedoch von Mauerteilen eingeklemmt und konnte nicht einmal meinen Kopf bewegen."

    Ihre Panik wächst, als sie wahrnimmt, dass die Reste des Hauses brennen. Fast erstickt sie ihre jüngste Tochter, die sie fest umklammert hält. Als die Kleine schreit, kreischt Makie: "Das Kind stirbt!", und führt so ihren Mann zu ihr, der hektisch in den Trümmern sucht. Er kann die zwei ausgraben. Sie fliehen, die Ruine geht in Flammen auf. Kazuko, inzwischen tot, verbrennt in den Trümmern. Makies jüngste Tochter stirbt sieben Jahre später an den Folgen der Strahlung.

DER SPIEGEL

Die Kraft der Bombe

Die Schätzungen über die Zahl der Hiroshima-Opfer divergieren erheblich. Als relativ sicher gilt die Zahl von 80.000 Menschen, die durch die Explosion, die nachfolgenden Brände und durch die Schwere ihrer Verletzungen binnen wenigen Tagen ihr Leben verloren - es ist eine Mindestzahl, es können auch 140.000 gewesen sein. Die Opferzahl durch die Spätfolgen der Bomben von Hiroshima und Nagasaki ist dagegen stark umstritten: Waren es 700 oder 20.000 oder gar 200.000? Welcher Krebs wurde durch die Bombe verursacht, welcher nicht? Ist ein Überlebender, der im Alter an Krebs stirbt, noch ein Strahlenopfer?

So oder so: Der Blutzoll war monströs, und an den Verletzungen litten Hunderttausende Opfer über Jahrzehnte. Jeder Streit um Zahlen wirkt da letztlich zynisch.

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Hiroshima und Nagasaki: Der Weg zum Bombenabwurf

Foto: Joe Rosenthal/ AP

1945 waren Zahlen und Vergleiche dagegen wichtig - in ihnen lag eine Botschaft, die man per Bombe übermittelt hatte. Die Hiroshima-Bombe hatte nach US-Schätzungen eine Sprengkraft, für die man die Ladungen von 2000 konventionellen B29-Bombern gebraucht hätte, um eine vergleichbare Zerstörungskraft zu entfesseln. Eine noch abstraktere Zahl: Die 64 Kilogramm Uran der verniedlichend "Little Boy" genannten Bombe verursachten eine Explosion, für die man 13.000 bis 15.000 Tonnen TNT gebraucht hätte. Man kann, man will sich auch das nicht vorstellen.

  • Der Blitz hat den achtjährigen Hiroko Kawaguchi verschont, eine Mauer rettet ihn vor der Druckwelle. Nun rennt er nach Hause, voller Angst um seine Mutter und seine zwei Geschwister. Bruder und Mutter findet er: Sie hat schwere Verbrennungen und "eine große eingedrückte Stelle am Kopf".

    Aber sie lebt, und sie ist voller Angst um Hirokos Schwester. Sie beginnen, in den Ruinen der Stadt nach ihr zu suchen. Als schwarzer, radioaktiver Regen fällt, der in die Haut beißt, ducken sie sich unter ein Stück Wellblech. Die Schwester finden sie nicht: "Sie hatte am Morgen des 6. August gesagt, dass sie nicht in die Schule gehen wollte. Meine Mutter hatte jedoch vor, sie auf die Mädchenoberschule Yamanaka zu schicken und ließ nicht zu, dass sie die Schule versäumte. Auch an diesem Morgen hatte meine Mutter sie wie immer in die Schule geschickt. Von dort kam meine Schwester nicht wieder."

    Die Brüder suchen nach ihr, tagelang, die Mutter ist nun zu schwach dafür, liegt in den Trümmern ihres Hauses und wartet: "Die Brandwunden auf dem Rücken wollten nicht heilen. Als wir dachten, sie wären getrocknet und verheilt, schälte sich plötzlich die Haut ab. Die Unterseite war voller Maden. Sie hatten sich dicht an dicht dort festgesetzt, sodass man sie nicht entfernen konnte. Ich und mein Bruder schliefen neben meiner Mutter, ich störte mich jedoch an dem üblen Geruch, der von den Maden kam."

    Sie stirbt erst am 4. September. Hiroko kennt sich inzwischen gut aus mit dem Tod: "Es war eine große Leistung von ihr, mit der großen Wunde, die ihr den Kopf gespalten hatte, noch einen ganzen Monat zu leben. Ich glaube, einzig und allein der Wunsch, meine Schwester zu sehen, hatte meine Mutter am Leben gehalten."

Hiroshima wurde nach dem Weltkrieg zu einer Art Maßeinheit für den nuklearen Irrsinn: Das verursachte Grauen maß man nun in "Kilotonnen". Bis heute zieht man die Hiroshima-Bombe als Vergleich heran, um die Kraft einer Waffe vorstellbar zu machen. So etwas klingt immer sehr sachlich, verdeutlicht in Wahrheit aber gar nichts.

Was stehenblieb: Im September 1945 steht ein Auslandsberichterstatter fassungslos vor der Ruine der Messehalle, heute als Atombombenkuppel ein Friedensdenkmal und Teil des Weltkulturerbes

Was stehenblieb: Im September 1945 steht ein Auslandsberichterstatter fassungslos vor der Ruine der Messehalle, heute als Atombombenkuppel ein Friedensdenkmal und Teil des Weltkulturerbes

Foto: Stanley Troutman/ AP

Denn auch der Vergleich macht das Unvorstellbare nicht plastischer. Kann man mit Kilotonnen das Grauen vervielfältigen? Die 1961 von der Sowjetunion getestete "Zar-Bombe" AN602 hatte eine Sprengkraft von circa 57 Millionen Tonnen TNT, was rund 4000-mal der Hiroshima-Bombe entspricht. Exakt messen lässt sich so etwas nicht. Und vorstellbar machen auch nicht: Jeder Vergleich versagt, wenn man über Bomben spricht.

  • Chiyoko Shimotake ist 24 und frisch verheiratet, als die Bombe fällt. Sie sieht nur von Weitem das Licht, und bald darauf regnet es angekohltes Papier vom Himmel. Drei Tage zuvor fuhr sie zu ihren Eltern aufs Land. Dass sie sich erst jetzt, am 6. August, auf den Weg zurück machen will, rettet ihr das Leben.

    Chiyoko schafft es erst zwei Tage später in die Stadt. Überall liegen oder brennen Leichen. "Bei dem Anblick fühlte ich nichts und merkte auch nichts von dem Gestank. Ich glaube, meine Sinne waren gelähmt."

    Sie findet ihre Familie, die die Explosion überlebt hatte, doch die Schwiegermutter ist inzwischen gestorben. "Mein Schwiegervater baute eine Holzkiste, dort hinein legten wir meine Schwiegermutter und verbrannten sie auf dem Süßkartoffelfeld." Chiyoko zündet sie an, weil ihr Schwiegervater es nicht schafft, seine Frau zu verbrennen.

    Ihr eigener Ehemann, äußerlich unverletzt, stirbt sieben Tage später, während Chiyoko gerade Essen zubereitet. Stunden später legt sie auch an seinen Scheiterhaufen Feuer. Als er brennt, gewinnt ihre Verzweiflung die Oberhand. Sie rennt davon, stürzt, verbrennt sich die Hände und Knie. Der Boden ist immer noch so heiß von der Explosion, dass er Fleisch verbrennt, und die Scheiterhaufen ringsum machen es nicht besser.

    "Am nächsten Morgen ging ich die Knochen meines Mannes einsammeln. Ich kann mich erinnern, dass ich mich wunderte, dass es keinen Fliegeralarm gab, obwohl doch direkt über uns feindliche Flugzeuge flogen. Eine ganze Zeit lang wusste ich nicht, dass der Krieg zu Ende war."

Das Leiden am Tag danach: Wenn man die Verbrannten berührte, berichtet ein Augenzeuge, blieb die Haut des anderen an den eigenen Fingern kleben

Das Leiden am Tag danach: Wenn man die Verbrannten berührte, berichtet ein Augenzeuge, blieb die Haut des anderen an den eigenen Fingern kleben

Foto: Masami Onuka/ Hiroshima Peace Memorial Museum/ REUTERS

Japan hatte kapituliert, drei Wochen, nachdem am 9. August auch auf Nagasaki eine Bombe gefallen war. Bestätigte das indirekt die Rechtfertigung der Abwürfe? Begründet worden waren sie damit, Japan durch den nuklearen Schock in die Aufgabe treiben zu wollen. Damit, so argumentieren die Amerikaner bis heute, ließ sich am Ende eine Invasion vermeiden, die möglicherweise weit mehr Leben gekostet hätte. Durch den Tod Zehntausender wurden so angeblich Hunderttausende gerettet.

Vielleicht war das so.

Die Bombenabwürfe ordneten aber auch die globalen Machtverhältnisse neu: Die USA waren nun die unangefochtene Supermacht. Künftige Kriege, das war jetzt klar, waren mit Mannstärke und Material nicht mehr zu gewinnen. Der Kalte Krieg, der dem durch den nuklearen Doppelschlag gegen Japan beendeten Zweiten Weltkrieg folgen sollte, wurde mit einem technologischen Wettrüsten begonnen. So eine "Hiroshima-Bombe" wollten jetzt alle haben.

Vier Jahre später verfügte auch die Sowjetunion über Nuklearwaffen, kurz darauf England und Frankreich. Seit den Siebzigerjahren ist der sogenannte Overkill möglich: Die Großmächte besitzen ausreichend viele Sprengköpfe, um jedes strategische Ziel eines potenziellen Gegners mehrfach treffen und vernichten zu können. Das reicht bis heute zur mehrfachen Weltvernichtung.

Ausgebrannte Straßenbahn: Wer früh genug am Morgen eine Tram stadtauswärts nahm, überlebte. Zu spät und in Gegenrichtung war das nicht so

Ausgebrannte Straßenbahn: Wer früh genug am Morgen eine Tram stadtauswärts nahm, überlebte. Zu spät und in Gegenrichtung war das nicht so

Foto: Yotsugi Kawahara/ AP

Viele der Überlebenden Hiroshimas trugen sichtbare, nicht zu verbergende Verletzungen davon. Alle aber trugen ein Stigma, gerade weil sie überlebt haben: Die Atombombe hängt ihnen als Unheils- und Krankheitsbringer an. Man nennt sie bis heute Hibakusha, und viele von ihnen versuchen zu verbergen, dass sie Bombenüberlebende sind.

  • Kyoko Fujie ist neun Jahre alt, als die Bombe fällt. Sie sieht den Bremsfallschirm von "Little Boy" vom Himmel schweben, als der Zug, in dem sie sitzt, zufällig gerade in einen schützenden Tunnel fährt. Am anderen Ende angekommen sehen die Passagiere statt der Stadt einen Atompilz, "was sehr schön aussah. Die alte Frau, die mit mir gefahren war, sagte: 'Ach je, das ist sagenhaft!'"

    Ab diesem Moment ist Kyoko eine Hibakusha, obwohl sie fast unverletzt davonkommt. Anders ihre kleine, erst 16 Monate alte Schwester - sie ist mit der Mutter im Freien, als es passiert: "Mein Vater und mein Cousin liefen auf der Suche nach ihnen zwei volle Tage durch die Stadt. Als sie sie fanden, war der Körper meiner Mutter von den Verbrennungen so schlimm angeschwollen, dass nicht mehr zu erkennen war, ob sie eine Frau oder ein Mann war."

    Die Männer erkennen sie an den Fetzen ihrer Kleidung, sie lebt nicht mehr lange. Das kleine Mädchen dagegen wird wieder gesund und könnte zu einer lebenslustigen jungen Frau heranwachsen - wenn da nicht ihr durch Wulstnarben deformierter Fuß wäre. Der stigmatisiert sie als Hibakusha: "Damals gingen Gerüchte um, dass die Krankheiten der Atombombe ansteckend wären. Leute zeigten mit dem Finger auf sie und sagten: 'Vorsicht, der Finger verfault' oder 'Nicht aus der Nähe ansehen, sonst steckt man sich an'."

    Als die Schwester 20 Jahre alt wird, geht sie in die USA. Kyoko lässt sie ziehen: "Ich dachte, wenn sie Japan verlassen und an einem Ort leben könnte, an dem niemand sie kennt, würde sie wahrscheinlich dort ihr Glück finden."

Erst Mitte der Achtzigerjahre begann die japanische Öffentlichkeit, das Schicksal der Hibakusha zu würdigen.

Eingebrannte Narben: Ein Stigma, das eine junge Frau zur Hibakusha machte

Eingebrannte Narben: Ein Stigma, das eine junge Frau zur Hibakusha machte

Foto: Peace Memorial Museum/ dpa

Die Zitate der Zeitzeugen in diesem Artikel sind Video-Interviews entnommen, die ab 2002 von Mitarbeitern der Hiroshima National Peace Memorial Hall for the Atomic Bomb Victims  aufgezeichnet wurden. Seit 2014 produziert das Hiroshima-Nagasaki-Projekt der Universität Bonn  deutsche Untertitel und Transkripte dieser Interviews, die ehrenamtlich von Studierenden der Abteilung für Japanologie und Koreanistik erstellt werden. Wir danken für die freundliche Kooperation.

Die Transkripte und Videos, die hier nur in kurzen Auszügen wiedergegeben sind, sind erschütternde Zeitzeugnisse, gerade weil sie aus der Perspektive des Alltags der persönlich Betroffenen erzählt sind. Viele sind in ganzer Länge abrufbar. 

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