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Aus für den Begriff »Fräulein« 1972 »Als Freiwild markiert«

Weil es ja auch kein Herrlein gibt: Vor 50 Jahren schaffte die Bundesrepublik die Anrede »Fräulein« im Amtsdeutsch ab. Nach zähem Ringen endete die Verzwergung der Frau – was wir heute daraus lernen können.
Hallo, hallo? Das »Fräulein vom Amt« saß jahrzehntelang in der Telefonzentrale (Foto von 1945)

Hallo, hallo? Das »Fräulein vom Amt« saß jahrzehntelang in der Telefonzentrale (Foto von 1945)

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Hulton Archive / Getty Images

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Sie besitzt weder Humor noch Mann, hat panische Angst vor Katzenbabys und quält die arme Heidi, wann immer sie kann: Die alte Rottenmeier ist die schmallippige Schreckgestalt in Johanna Spyris Kinderbuchklassiker »Heidi«. Und zugleich die wohl unsympathischste Vertreterin einer Spezies, die vor 50 Jahren formal ausgerottet wurde – das Fräulein.

Am 16. Januar 1972 veröffentlichte FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher, damals Bundesminister des Innern, den Runderlass »Führung der Bezeichnung ›Frau‹«: Es sei »an der Zeit, im behördlichen Sprachgebrauch der Gleichstellung von Mann und Frau  und dem zeitgemäßen Selbstverständnis der Frau von ihrer Stellung in der Gesellschaft Rechnung zu tragen«. Und daher »nicht länger angebracht, bei der Anrede weiblicher Erwachsener (...) anders zu verfahren, als es bei männlichen Erwachsenen seit jeher üblich ist«, hieß es in der Anordnung. Ab sofort müsse jede Volljährige als »Frau« tituliert werden – die Bezeichnung »Fräulein« sei nur noch dann zu verwenden, wenn die Adressatin dies ausdrücklich wünsche.

Damit gilt seit 50 Jahren im Amtsdeutsch: Eine Frau ist eine Frau. Ob verheiratet oder ledig, berufstätig oder ohne Arbeit, ob Mutter oder kinderlos, 22 oder 72 Jahre alt. Warum das keine sprachliche Nichtigkeit, sondern ein Grund zum Anstoßen ist? Weil dem Begriff »Fräulein«, so putzig er heute auch klingen mag, ein ungeheuerliches Konzept innewohnte.

»Mit der Anrede ›Fräulein‹ wurden unverheiratete weibliche Erwachsene öffentlich als Freiwild markiert, als ›noch zu haben‹ stigmatisiert«, sagt Luise F. Pusch , Autorin des Werks »Deutsch als Männersprache« (1984) und Mitbegründerin der feministischen Linguistik in Deutschland. Während der Personenstand der Männer seit jeher – und das völlig zu Recht – reine Privatangelegenheit war, wusste jedermann sofort: »Ein ›Fräulein‹ ist automatisch unverheiratet. Und muss damit rechnen, in der Männerwelt bemitleidet, belächelt oder belästigt zu werden«, so Sprachwissenschaftlerin Pusch im Telefoninterview.

»Weshalb nennt man unvermählte Männer niemals ›Herrleins‹?«

Frauenrechtlerin Franziska Essenther

Darum begehrten Frauen gegen das »Fräulein« auf, seit der Begriff um 1850 nicht mehr nur ledigen Adelsdamen vorbehalten war, sondern als Bezeichnung aller unverheirateter weiblicher Erwachsener diente.

»Das Weib wird fast nie vom objektiven, rein menschlichen Standpunkt, als selbstständiges Glied der menschlichen Gesellschaft beurtheilt (...), sondern nur in seinem Verhältniß zum Mann«, empörte sich die österreichische Frauenrechtlerin Franziska Essenther 1871. Unverheiratete Frauen blieben »etwas Kleines, Unbedeutendes, Unvollendetes – Neutrales – sie sind ›Fräulein‹«. Essenther fragte die Leserinnen der Zeitschrift »Frauen-Anwalt«: »Weshalb nennt man unvermählte Männer, selbst die kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglinge, niemals ›Herrleins‹«?

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»Mit einem Federstrich hingemordet« : Abschaffung des »Fräuleins« 1972

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Ja, warum eigentlich? »Weil das der Ordnung der Welt entsprach«, sagt Luise Pusch. »Die Unterordnung der Frau unter den Mann war dermaßen weitverbreitet und selbstverständlich, dass niemand groß darüber nachdachte.«

Heirat und Mutterschaft galten als natürliches Ziel einer jeden Heranwachsenden. Mit dem Einlaufen in den sicheren Hafen der Ehe endete für die bürgerliche Musterfrau in der Regel jegliche Berufstätigkeit. Für Lehrerinnen galt ab 1880 sogar ein explizites Heiratsverbot; auch das »Fräulein Schwester« wurde noch Anfang der Fünfzigerjahre entlassen, sobald es heiratete. Dafür durfte es sich »Frau Doktor« nennen, wenn der Mann promoviert war.

Die meisten anderen Rechte jedoch gaben die Bräute am Traualtar ab, etwa ohne Einwilligung des Mannes zu studieren, zu arbeiten, ein Konto zu eröffnen, das eigene Vermögen zu verwalten. Weshalb die Frauenrechtlerin Anita Augspurg  1905 schrieb: »Für eine Frau von Selbstachtung (...) ist es nach meiner Überzeugung unmöglich, eine legitime Heirat einzugehen.«

Ein erschwerender Übelstand

Die einzige Möglichkeit, in Preußen den Makel »Fräulein« loszuwerden, ohne sich gleich in eine Ehe zu stürzen, war ein Bittgesuch an den König höchstselbst. So erbat etwa der Deutsch-Evangelische Frauenbund aus Bonn den Monarchen 1908, das »Fräulein von Weitz«, tätig bei der Sittenpolizei und in der Fürsorge für weibliche Gefangene, mit dem Titel »Frau« auszuzeichnen. Die Anrede »Fräulein« habe sich bei ihrer Arbeit als »erschwerender Übelstand« erwiesen, zitiert die Historikerin Christine von Oertzen das Bittgesuch – es wurde kommentarlos abgelehnt.

»Fräulein Lehrerin!« Hier bereitete eine per Zwang ledige Pädagogin sechs Mädchen mit Puppen auf ihre spätere Mutterrolle vor – das Lehrerinnenzölibat wurde 1880 im Kaiserreich eingeführt.

»Fräulein Lehrerin!« Hier bereitete eine per Zwang ledige Pädagogin sechs Mädchen mit Puppen auf ihre spätere Mutterrolle vor – das Lehrerinnenzölibat wurde 1880 im Kaiserreich eingeführt.

Foto: Imagno / ullstein bild

Das preußische Innenministerium hob die Verfügung von 1869 erst nach dem Ersten Weltkrieg auf. Die »Frau« sei »weder eine Personenstandsbezeichnung noch ein Teil des Namens noch ein Titel, der verliehen werden müsste oder könnte.« Daher dürfe es keiner Erwachsenen mehr verwehrt werden, sich »Frau« zu nennen, so der Erlass von 1919.

Die Praxis sah jedoch anders aus: Unverheiratete Frauen wurden jahrzehntelang munter weiter als »Fräulein« tituliert. Wer das Thema aufs Parkett hob, erntete auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch Augenrollen. So erlebte es Marie Elisabeth-Lüders: »Die Angelegenheit steht seit etwa hundert Jahren in der Öffentlichkeit auf der Tagesordnung«, monierte die FDP-Politikerin in einer Bundestagssitzung am 17. Dezember 1954 – das Protokoll verzeichnet mehrfach »Heiterkeit«.

Immerhin: Am 9. Februar 1955 ermunterte das Bundesinnenministerium die Behörden in einem weiteren Erlass, die Anrede »Frau« zu verwenden. Es sei »gerechtfertigt und geboten«, wenn die weiblichen Personen dies wünschen.

Fräuleinwunder made in Germany

Doch auch danach hielt sich das »Fräulein« hartnäckig – und erfuhr gar eine erotisch-knisternde Aufwertung: Die amerikanischen GIs priesen das »Frollein« nach 1945 in den höchsten Tönen. Und das »Fräuleinwunder« galt in den USA als Synonym für die moderne, attraktive, selbstbewusste Schönheit made in Germany.

Berühmtes Filmfräulein: Liselotte Pulver als Ingeborg in Billy Wilders Komödie »Eins, zwei, drei« (1961)

Berühmtes Filmfräulein: Liselotte Pulver als Ingeborg in Billy Wilders Komödie »Eins, zwei, drei« (1961)

Foto: Bavaria Film / Capital Pictures / ddp images

Hierzulande indes wollten sich immer weniger das betulich-herablassende »Fräulein« gefallen lassen. »Es ist der Beharrlichkeit vieler Frauen zu verdanken, dass dieses absurde Wort auf immer breiterer Basis in die Kritik geriet«, sagt Linguistin Pusch. 1967 ging Düsseldorf voran: »Als erstes Land der Bundesrepublik hat Nordrhein-Westfalen den ›Fräulein-Zopf‹ abgeschnitten«, meldete das »Hamburger Abendblatt«.

Niedersachsen folgte dem Beispiel, zudem diskutierte die Politik über eine nationale Anordnung, wie aus den Akten des Bundesinnenministeriums  hervorgeht. Erbittert rangen die Verantwortlichen um Details, bis der 1971 vorgestellte Erlass von FDP-Mann Genscher am 16. Januar 1972 endlich veröffentlicht wurde: Ab sofort hatte das »Fräulein« aus der Behördensprache zu verschwinden.

Das Fräulein ist tot, es lebe das Fräulein

»Amtlich gemeuchelt wurde diese ehrenwerte Person, einfach mit einem Federstrich hingemordet«, verulkte die »Süddeutsche Zeitung« in einer Glosse den längst überfälligen Akt. Die Bonner Bundesbehörden hätten »sämtliche Fräuleins mit bürokratischem Würgegriff erledigt«. Dieser »besonderen Spezies Mensch« sei jedoch »kein rascher, schmerzloser Tod beschieden«. Das Fräulein werde vielmehr »langsam dahinsiechen, gleich einem Greisenleben, das immer noch einmal aufflackert und doch nicht mehr zu retten ist«.

So titulierten gerade ältere Herrschaften unverheiratete Frauen auch nach 1972 unbeirrt mit »Fräulein«, erinnert sich Linguistin Pusch. Zudem habe ausgerechnet so manche Vertreterin aus der Riege der ersten Frauenbewegung bewusst auf der antiquierten Anrede beharrt. Pusch nennt das Beispiel der Schriftstellerin Annette Kolb: »Es ging ihr um die Demonstration der eigenen Unabhängigkeit von einem Mann«, sagt die 77-Jährige.

»Es schwingt etwas Nostalgisch-Keckes mit«

Iris Berben übers »Fräulein«

Kaum war der Begriff Ende des 20. Jahrhunderts endgültig ausgestorben, bog auch schon sein ironischer Wiedergänger um die Ecke: »Das Fräulein ist tot! Es lebe das Fräulein!«, schrieb der japanische Germanist Saburo Okamura 2006 in einem Aufsatz über die Renaissance des Begriffs.

Ob veganer Cupcake-Laden, Girlieband oder Frauenmagazin : Das »Fräulein« des 21. Jahrhunderts avancierte zum Marketinggag, der Frische, Frechheit, Frohsinn suggerieren soll. »Ist doch ein Kompliment, es schwingt so etwas Nostalgisch-Keckes mit«, sagt Schauspielerin Iris Berben am Telefon – die 71-Jährige freut sich nach wie vor, mit der Anrede »Fräulein« bedacht zu werden.

Auch das in Frankreich seit 2012 offiziell geächtete »Mademoiselle« sowie das im Englischen durch »Ms.« (mit bienenhaft gesummtem s) ersetzte »Miss« höre sie noch immer gern, so Berben. Zwar habe auch sie in den Siebzigern das sexistische Konzept hinter dem »Fräulein«-Begriff abgelehnt. Dennoch ziehe sie es vor, mit Sprache spielerisch umzugehen. »Die Verbissenheit in der derzeitigen Gender-Sprachdebatte kann ich nicht ganz nachvollziehen«, sagt Iris Berben. »Wir müssen Inhalte verändern und Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen, statt uns Wortgefechte zu liefern.«

»Was Frauen betrifft, dauert es immer mindestens 40 Jahre, bis sich etwas ändert.«

Linguistin Luise Pusch

Sprachwissenschaftlerin Pusch, leidenschaftliche Verfechterin des generischen Femininum , hält beides für nötig: das Ringen um die Sprache und den Einsatz gegen Diskriminierung. »Sprache zementiert Machtstrukturen«, sagt sie. Insofern sei die Abschaffung des »Fräulein« vor 50 Jahren ein Meilenstein, von dem wir in der aktuellen Diskussion vor allem eines lernen könnten: Geduld.

»Was Frauen betrifft, dauert es immer mindestens 40 Jahre, bis sich etwas ändert«, sagt Pusch und lacht. Ähnlich wie das »Fräulein« irgendwann obsolet gewesen sei, habe sich im 21. Jahrhundert das »Mitmeinen« der Frauen durch das generische Maskulinum überlebt.

»Wir müssen beharrlich bleiben«, empfiehlt Luise Pusch. »Und den Optimismus nicht aufgeben, dass irgendwann die Vernunft gewinnt.«