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Wimmelbilder-Erfinder Ali Mitgutsch Baden im Miteinander

Die Wimmelbilder von Ali Mitgutsch erinnern uns an den Wert des Gewusels. Im Sommer des Corona-Abstands zeigen die Bücher des heute 85-Jährigen, wie sich Rücksicht und Freiheit ausbalancieren lassen.

Dichter geht's kaum. Auf der Freibadrutsche herrscht ein einziges Gedrängel. Die Fans des FC Kick sitzen beseelt singend im Bus. Auf dem Jahrmarkt geht's ohne Schlangestehen vor der Geisterbahn nicht weiter. In der fluoreszierenden "Flozi Disco" wird geschwoft. Und am Badestrand müssen Neuankömmlinge ihre Handtücher über dem Kopf tragen, um durchzukommen. Es sind Bilder, die prima als visueller Ersatz taugen - für das, was derzeit so abwesend ist. 

Eine Doppelseitenpappe nach der anderen demonstrieren uns die Wimmelbild-Klassiker des Münchner Illustrators Alfons "Ali" Mitgutsch gerade das Verrutschen unseres Alltags im Corona-Modus. Sicher, diese wortlosen Kinderbücher, mit denen Mitgutsch 1968 begann, kommen einem immer mal wieder unter die Finger; zumal wenn man mit ihnen aufgewachsen ist.

Fotostrecke

Ali Mitgutsch und seine Wimmelbilder

Foto: Ali Mitgutsch / Ravensburger Verlag

Aber jetzt, im Sommer seines 85. Geburtstags, springt einen beim Durchblättern ein Detail aus dem Gewimmel geradezu an: das Miteinander als Wert an sich. Selbst für jene, die wegen ihrer zarten Misanthropie weniger unter der Corona-bedingten Distanz leiden als jene, die das Gewusel von Menschenmassen zum Leben brauchen wie Sauerstoff. 

Die Requisiten lassen keinen Zweifel: Mitgutschs Bilder sind weit entfernt vom gesamtdeutschen Jetzt. Telefonzellen, Mülltonnen aus Stahlblech, dazu feister westdeutscher Überfluss der Siebziger- und Achtzigerjahre. Aber das Allgemeingültige ist stärker. Egal welches Sujet er sich vorgenommen hat, die Stadt, das Dorf, die Berge, das Wasser: Seine Panoramen vergegenwärtigen, worauf es ankommt im gesellschaftlichen Wir des öffentlichen Raums.

Und zwar in aller Ruhe.

Denn Mitgutsch hält seine flirrenden Mikrokosmen an: Die Dachlawine rutscht auf die Autodächer, irgendwer lenkt einen Springbrunnenstrahl so um, dass Passanten im nächsten Moment klatschnass werden müssen. So ist unübersehbar: Auf diesen menschenvollen Bildern wird Gemeinschaft ausgehandelt. Zusammen sorgen sie dafür, dass "der Laden läuft", wie Angela Merkel sagen würde - und zeigen uns, wie. Im Straßenverkehr, auf dem Bauernhof, beim Schiffebetanken. Egal, wenn der Bauarbeiter derweil mal ein Nickerchen macht.

Und irgendwer muss immer gerade dringend aufs Klo.

Ein Solidarprinzip also, das gut zur Extremform unserer vergangenen Monate passt. Diese fiktionale Kinderbuchrealität taugt gut als sanfte Erinnerung, wie es funktionieren kann, wenn die Normalität eben nicht auf Existenzielles zusammenschnurrt.

Denn Mitgutschs Mikrokosmen bebildern vor allem den demokratischen Versuch, Rücksicht, Verantwortung und Freiheit auszubalancieren. Eine Frau hält sich die Ohren zu, weil der Knirps neben ihr in die Trompete bläst. Kinder zeigen dem Polizisten, dass der Hund der blasierten Dame mitten auf den Spielplatz gekackt hat. Teenager tanzen zu den Beatles, die Nachbarin von unten klopft mit dem Besenstiel.

Das alles wirkt so stark, weil bei Mitgutsch alles gleichzeitig passiert. Wie übrigens auch auf den besten Wimmelbildern seines alten flämischen Vorgängers Pieter Brueghel . Und wegen der schrägen Draufsicht, die Überblick erlaubt, ohne sich über das Geschehen zu erheben.

Auf seinen Bildern gibt es keine Hierarchien. Jede Figur zählt (anders als beim englischen "Where's Waldo?" ): Der Junge im Rollstuhl, die Oma mittendrin, FKKler, die einen still am Rand, die anderen mit Geheul im Gewühl, die meisten Figuren rosafarben, aber auch schwarze Kinder gehören zu Mitgutschs bis zu 40 Jahre alten Welten.

Es gibt den Mann im Cabrio und die Frau, die am Straßenrand Müll aufsammelt, den Budenbesitzer, der sich neben dem Jahrmarktgetümmel wäscht. Typen sitzen im Abenddämmer am Großstadtbrunnen und spucken Kirschkerne, so weit sie können. Zwei Erwachsene amüsieren sich mit Seifenblasen. Väter tragen ihre Kinder in Tragetüchern herum. Und irgendwer muss immer gerade dringend aufs Klo. 

Heißt auch: Alles, was erlebt wird, ist gleich wichtig. Eine Bühne für Normalität, also Drama, Tragödie, Komödie - und zwar nebeneinander. Bei Mitgutsch ist die Derbheit des Lebens zwar im Gewimmel versteckter als etwa bei seinem 2019 verstorbenen Kollegen Tomi Ungerer. Aber Freude, Faxen, Frechheiten, alles ist da. Der Tod, die Angst, der Schmerz. Auf dem Bootssteg vom Jachthafen wird jemand wiederbelebt, während sich zwei Meter weiter die Leute sonnen. Am Skihang lässt sich ein Mann mit kaputtem Bein im Biwak retten, während schräg daneben ein Paar im Schlepplift knutscht, und ganz ehrlich: Es könnten auch zwei Männer sein.

Dass all das zusammengehört, hat Mitgutsch als Knirps in den Kriegstrümmern der Maxvorstadt erlebt, wie er in seiner Autobiografie "Herzanzünder" erzählt. Sorgenvoll, hungrig, aber eben auch: nassforsch mit dem Erwin und dem Paule durch die Gegend strawanzend. Auf dem Rummel der "Auer Dult” dann, mit seiner Schwester im Riesenrad, der erste Blick von oben: "Es gab unendlich viel zu sehen, auf gewisse Weise hatte alles seine Ordnung und dann auch wieder nicht." 

Es gehört zur Genialität seiner Bilder, dass auch hier beides möglich ist: die Distanz zum Trubel, als sei man auf jenem Riesenrad seiner bekannten Jahrmarktszene. Und das Mittendrinsein. Dreidimensional sogar, dank der Riesenpappbücher, 62 Zentimeter hoch, 80 Zentimeter breit. Einfach aufklappen und davorsetzen! Um sich zu erinnern, wie sich Gemeinschaft genießen lässt. Und um mal wieder im Miteinander zu baden.