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Fotostrecke

Gebundene Füße: Erbe aus vergangener Zeit

Foto: Jo Farrell

Chinas Tradition gebundener Frauenfüße "Das ist herzzerreißend"

Dem Betrachter tun diese Fotos weh: Verkrüppelte Füßchen chinesischer Frauen, die nach alter Tradition gebunden wurden. Doch Fotografin Jo Farrell entdeckt darin Schönheit. Mit ihren Bildern will sie die Kraft der Betroffenen offenlegen.

SPIEGEL ONLINE: Frau Farrell, wie haben Sie die Frauen für Ihr Fotoprojekt "Living History"  gefunden?

Jo Farrell: Als ich angefangen habe, nach ihnen zu suchen, sagte man mir, dass es gar keine Frauen mit gebundenen Füßen mehr in China gebe. Ich habe trotzdem einfach weitergefragt, und irgendwann bin ich dann an einen Taxifahrer geraten, der mir sagte, seine Großmutter habe gebundene Füße.

SPIEGEL ONLINE: Wie war das Zusammentreffen?

Farrell: Die Frau hieß Zhang Yunying. Sie hat mir ihre Füße gezeigt und in meine Hände gelegt. Sie waren so zart und klein. Wunderschön und gleichzeitig kraftvoll, weil sie zeigen, was die Frau durchgemacht haben muss.

SPIEGEL ONLINE: Was wurde mit den Füßen gemacht?

Zur Person

Jo Farrell, 48, ist in London geboren und hat Dokumentar-Fotografie und Kulturanthropologie in den USA studiert. Momentan lebt sie in Hongkong. Vor vielen Jahren ist sie in einer der engen Gassen in Peking, in denen die traditionellen Wohnhöfe stehen, einem Mann begegnet. Der bedankte sich dafür, dass sie das alles fotografierte, weil es bald abgerissen werden sollte. Seitdem beschäftigt sie sich in ihren Bildern vor allem mit Traditionen, die bald so nicht mehr existieren werden.

Farrell: Den meisten Frauen, die ich fotografiert habe, wurden mit elf oder zwölf Jahren die Füße gebunden. Die Füße werden in enge Stoffbahnen geschnürt, sodass die kleinen Zehen unter die Fußsohle gedrückt werden, der große Zeh bleibt nach vorne gerichtet. Der Stoff wird dann um die Fußknöchel geschlungen, sodass sich der Fuß noch zusätzlich aufwölbt. Dann werden die gebundenen Füße in kleine Schuhe gesteckt und die Mädchen müssen darin laufen, was extrem schmerzhaft ist, weil die Zehen unter ihrem Körpergewicht brechen. Nach und nach werden die Schnürungen enger gemacht und noch kleinere Schuhe getragen.

SPIEGEL ONLINE: Am Ende sollen die Füße wie eine Lotusblüte aussehen.

Farrell: Wie eine geschlossene Lotusblüte, ja. Um 1911 wurde das Prozedere verboten, im Zuge der Kulturrevolution unter Mao 1949 wurde das noch vehementer durchgesetzt und geächtet. Einige der Frauen, die ich getroffen habe, hatten deshalb nur für kurze Zeit die Füße gebunden, aber der Schaden war auch bei ihnen schon angerichtet.

SPIEGEL ONLINE: Warum wurde das überhaupt gemacht?

Farrell: Ein Mädchen, dem die Füße gebunden worden waren, galt als potenziell gute Ehefrau, weil sie so viel Schmerz ertragen hat. In der Ehe würde sie sich dann wenig beschweren und vieles hinnehmen, dachte man.

SPIEGEL ONLINE: Was passierte, wenn sie sich weigerten?

Farrell: Sie hatten keine Wahl, weil sie in einer Zeit aufgewachsen sind, in der es wichtig war, die Eltern und die Familie zu ehren. Normalerweise hat die Mutter die Füße der Tochter gebunden, weil sie dem Mädchen so ein besseres Leben ermöglichen wollte. Viele Frauen berichteten, dass sie bestraft wurden, wenn sie die Bandagen dennoch entfernt haben. Eine Frau erzählte mir, dass ihre Mutter dann Haut vom großen Zeh weggeschnitten hat, um sie zu bestrafen. Man muss dazu wissen: Die Mütter haben nur das Beste für ihre Töchter gewollt.

SPIEGEL ONLINE: Für Ihr Fotoprojekt haben Sie in den vergangenen Jahren fast 50 Frauen besucht, denen die Füße gebunden wurden. Wie geht es denen heute damit?

Farrell: Den schlimmsten Schmerz haben sie schon in den ersten Jahren, in denen ihre Füße gebunden wurden, erlebt. Keine der Frauen hat heute Probleme mit dem Rücken oder den Beinen, obwohl die meisten schon 80, 90 Jahre alt sind. Als die Rote Armee sie damals zwang, die Stoffschnürungen wieder abzulegen, haben manche der Frauen ihre Füße sogar weiter heimlich gebunden, weil es zu schmerzhaft war, sie wieder normal auszubreiten. Die Frauen haben dann einfach dicke Socken vorne in große Schuhe gestopft.

SPIEGEL ONLINE: Wie stehen die Porträtierten heute zu ihren kleinen Füßen?

Farrell: Sie sind nicht stolz darauf. Sie sehen es als eine Art Erbe des "alten China", das nicht in die moderne Welt passt. Sie wissen, dass es eben etwas war, das die Gesellschaft von ihnen verlangt hat. Und dass ihre Mütter nur etwas machten, was schon deren Mütter bei ihnen gemacht hatten. Viele haben ihre Füße aber bis heute nicht einmal ihren anderen Familienmitgliedern gezeigt.

SPIEGEL ONLINE: Dann müssen sie verwundert gewesen sein, dass Sie die Füße sehen und fotografieren wollten.

Farrell: Nachdem ich schon ein paar Aufnahmen hatte, konnte ich ihnen zeigen, was ich vorhatte. Und mithilfe eines Übersetzers habe ich ihnen erklärt, worum es mir geht. Es gibt schon viele Bücher über gebundene Füße, aber darin geht es vor allem um die hübschen kleinen Schuhe oder den erotischen Aspekt des Füßebindens. Mir ging es aber um die Frauen hinter dem Schicksal, die schon so viel durchgestanden haben. Die Aufnahmen sind eher anthropologische Porträts als touristische Schnappschüsse. Ich will diese Tradition damit für kommende Generationen verständlich machen, weil die Frauen, die jetzt noch davon erzählen können, schon sehr alt sind.

SPIEGEL ONLINE: An welche Frau erinnern Sie sich besonders?

Farrell: Zhang Yunying, die erste, war für mich auch die eindrücklichste. Ich habe sie seit dem ersten Treffen jedes Jahr besucht. Manche der Frauen sind auch schon gestorben, aber ihre Bilder hängen in meinem Atelier, deswegen sind sie irgendwie auch noch bei mir. Wenn ich die Frauen besuche, halten sie mich oft am Arm fest, damit ich nicht gehe, das ist herzzerreißend. Das sind Chinas vergessene Frauen, und dann kommt jemand, der sie endlich sichtbar macht.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie die Frauen gefragt, ob sie ihren Töchtern heute auch noch die Füße binden würden?

Farrell: Das habe ich nicht gefragt. Aber ich glaube schon, dass sie es tun würden, wenn es nicht verboten wäre.