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SPIEGEL ONLINE

Love-Parade-Protokoll Das Auge der Katastrophe

Sie sollten Sicherheit garantieren und dokumentierten schließlich eine Tragödie: 16 Überwachungskameras filmten die Love Parade, die Verantwortlichen sahen zu. Protokoll einer aufgezeichneten Katastrophe.

Duisburg - Das Hoist-Haus, ein Hochhaus in der Duisburger Friedrich-Wilhelm-Straße. Keine 500 Meter vom Veranstaltungsgelände der Love Parade entfernt. Hier, im dritten Stock, befindet sich das Lagezentrum der fünf Sicherheitsfirmen, die für das Techno-Festival Ordner stellten. Hier haben die Verantwortlichen der Security-Unternehmen Blick auf die Bilder der 16 Überwachungskameras, die auf dem Areal installiert sind. Per Glasfaserkabel werden die Aufnahmen auf Flachbildschirme übertragen - in Farbe, mit Zoom, exzellente Qualität.

Auch ein Verbindungsbeamter der Polizei Duisburg ist anwesend. Seine Vorgesetzten sitzen 14 Stockwerke über ihm, mit Fensterblick auf den Alten Güterbahnhof, den Hauptbahnhof und die Menschenmengen, die sich zwischen diesen beiden Posten bewegen.

"16 Kameras - das ist für uns schon Luxus", sagt Jan-Ole Dietrich SPIEGEL ONLINE. Gemeinsam mit Robert Ahrlé leitet er die Kölner Sicherheitsfirma R.A.D., die 400 Mann im Einsatz hat. 150 weitere Mitarbeiter sind von der Stadt Duisburg für die Straßenkontrollen engagiert worden.

"Wir konnten alles einsehen, beobachteten auch einen starken Zulauf, aber aufgrund der Kameraperspektive kann man anhand der Stauung nicht erkennen, ob das Gelände nur voll ist oder ob es sich um Gedränge handelt", erklärt Dietrich. Zudem habe man das Augenmerk auf den Bereich gerichtet, in dem man Mitarbeiter eingesetzt habe. Im Fall von R.A.D. waren das die Sicherung der Bühne sowie des alten Bahnhofgebäudes, der VIP-Bereich und einige Paradewagen.

Von den rund 1100 Ordnern auf dem gesamten Gelände seien 159 für den Eingangsbereich zuständig gewesen, bestätigten mehrere Security-Unternehmen. Nach Informationen von SPIEGEL ONLINE stellte die Firma Challenge aus Essen in diesem Areal 110 Kräfte, das Sicherheitsteam Andermann aus Duisburg 33 Mitarbeiter, die SMS GmbH aus Köln 16 Männer. Den Supervisor, der die Ordner im Bereich des Unglücks koordinieren sollte, entsandte die Firma Challenge.

Den Zugangsbereich koordinierte ein sogenannter Crowd Manager, der mit einem Verbindungsbeamten in einem fensterlosen Container saß. Dieser Container stand dort, wo die Ströme aus beiden Tunneln aufeinanderstießen.

Wie sich die Tragödie mit 21 Todesopfern und mehr als 500 Verletzten anbahnte, was der Crowd Manager und andere Verantwortlichen sehen konnten, zeichnen Kameras auf:

16 Uhr: Die Polizei übernimmt nach Aussagen des Crowd Managers und zweier Sicherheitsfirmen die Befehlsgewalt. "Im Fall der Katastrophe hat die Polizei mehr zu sagen als die Ordner", sagt Peter Nasse, Chef der SMS GmbH, SPIEGEL ONLINE. "Wenn die Polizei die Federführung übernimmt, haben unsere Mitarbeiter den Anweisungen der Beamten zu folgen." Die Polizei sagt, sie habe nur auf Bitte des Veranstalters in die Situation eingegriffen.

16.02 Uhr: Kamera 13 filmt, wie Polizisten eine Kette im unteren Drittel der Rampe bilden, rechts und links von den Beamten sind Absperrgitter aufgestellt. Oben, auf dem Alten Güterbahnhof, ziehen die Floats ihre Kreise. Die Polizeikette ist eine Maßnahme gegen den Rückstau auf der Rampe: Der Eingangsbereich soll entlastet werden. Hier entsteht zunehmend ein Rolltreppen-Effekt: hochfahren, gucken, stehenbleiben.

16.05 Uhr: Besucher passieren die Kette, die meisten verlassen die Love Parade. An der Böschung rechts tummeln sich Leute, manche schauen von oben auf die Rampe. Das Gelände ist gut gefüllt, es gibt dennoch freie Stellen, Polizisten stehen in Grüppchen beisammen.

16.08 Uhr: Der Zustrom auf die Polizeikette wird dichter: Vor allem vom Partygelände drängen Besucher nach unten, offensichtlich auf dem Weg, das Festival zu verlassen. Obwohl um 17 Uhr erst der Haupt-Act beginnen soll. Einen anderen Ausgang gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht. Kein Besucher darf mehr das Veranstaltungsgelände betreten, um den Rückstau am Ende der Rampe zu lockern. An anderen Stellen ist das Festival weiterhin leer. Doch niemand fordert die Massen im Eingangsbereich auf, sich von der Stelle zu bewegen.

Auf der Treppe links, an der es später zur tödlichen Massenpanik kommen soll, steht ein Ordner im hellblauen "Security"-T-Shirt und beobachtet das Treiben von oben. Die Treppe ist leer, ihr Aufgang unten abgesperrt.

16.11 Uhr: Stau vor der Polizeikette. Nur vereinzelt zwängen sich Besucher durch die Sperre.

16.16 Uhr: Der Ordner im hellblauen T-Shirt verlässt die Treppe, unterhält sich mit einem Polizisten.

16.17 Uhr: Ein Mann in einem rosafarbenen T-Shirt klettert über die Absperrgitter und rennt die kleine Treppe hoch. Der Ordner kehrt zurück, stellt eine Frau im pinkfarbenen T-Shirt, lässt diese jedoch dann auch nach oben. Die beiden jubeln auf der Anhöhe, machen das Victory-Zeichen. Der Ordner winkt in die Überwachungskamera 13, anschließend stützt er sich auf das Absperrgitter.

16.18 Uhr: Die Polizeikette wankt. Von beiden Seiten drängen die Besucher gegen die uniformierte Sperre: Die einen wollen auf das Veranstaltungsgelände, die anderen runter. Beide Ströme drücken gegen die Menschenkette.

16.19 Uhr: Stillstand kurz vor der Katastrophe: An der Polizeikette geht nichts mehr. Die aufeinanderstoßenden Besucherströme blockieren sich, beide Gruppen wachsen stetig. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Polizeikette bricht.

Kamera 15 zeigt den westlichen Eingang vor dem Tunnel. Ein Rettungswagen der Malteser stockt vor der Menschenmenge. Um 16.19 Uhr, nach knapp 20 Minuten Stillstand, versucht er ein umständliches Wendemanöver. Eine Absperrung muss für den Wagen geöffnet werden - eine Maßnahme, die möglicherweise zur Katastrophe beigetragen hat: Tausende nutzen die Öffnung, strömen in den Tunnel.

Nach Polizeiangaben versuchen Beamte, im Tunnel eine neue Sperre zu errichten. Nach Informationen von SPIEGEL TV und Augenzeugenberichten ist das jedoch aufgrund der Massen nicht möglich.

Was Kamera 13 nun filmt, dokumentiert die Katastrophe: Innerhalb der nächsten 30 Minuten nimmt die Masse gewaltig an Dichte zu. Auf der rechten Seite beginnen die ersten, die Lichtmasten hochzuklettern - eine Art Abkürzung, um die verstopfte Rampe zu umgehen und so auf die obere Ebene zu gelangen.

Im Lagezentrum im Hoist-Haus sieht man diese Entwicklung, bleibt aber zunächst gelassen. "Das ist völlig normal bei solchen Veranstaltungen", sagt R.A.D.-Chef Jan-Ole Dietrich, seit 15 Jahren bei der Love Parade mit Mitarbeitern im Einsatz. Viele an den Bildschirmen der Einsatzzentrale glauben, die Leute wollten gucken, sich inszenieren, Freunden zuwinken. Dass sie in Not handeln, registriert zunächst keiner. "Für uns war keine Paniksituation erkennbar", so Dietrich.

Doch das Dach über dem Tunnel gilt als marode. Das THW soll verhindern, dass sich Besucher dort aufhalten. Polizisten ziehen inzwischen erste eingeklemmte Teilnehmer aus der Menge nach oben.

16.40 Uhr: Die Polizisten können ihre Kette auf der Rampe nicht mehr halten. Der Druck ist zu groß. Sie werden auseinandergeschoben. Die Beamten sind aus Blickwinkel von Kamera 13 nur noch winzige grüne Punkte, sie hangeln sich an den Rand der Rampe.

16.54 Uhr: Die Überwachungskamera dokumentiert die extreme Verdichtung vor der winzigen Treppe. Drei Ordner stehen dort, hieven Ohnmächtige und Geschwächte aus der Menge. Einige werden über die Köpfe der Masse Richtung Treppe getragen. Der erste Notruf bei der Polizei geht ein. Die Rede ist von "mehreren Verletzten".

16.55 Uhr: Auf Kamera 13 ist die Wellenbewegung der Masse zu sehen. Menschen verhaken sich ineinander, kleinere bekommen in der Menge kaum Luft, viele verlieren die Bodenhaftung, ringen nach Luft, schreien um Hilfe.

Gegen 17 Uhr fallen mehrere Kameras aus, erinnert sich Security-Chef Dietrich. "Wir gingen davon aus, dass die Glasfaserkabel gerissen und die Leitungen getrennt worden waren." Damit ist die Einsatzleitung im Container blind.

Dem Crowd Manager, einem promovierten Psychologen, bleibt nur der Kontakt per Funk mit beiden Einlasskontrollen vor den jeweiligen Tunneleingängen und mit den Ordnern auf der Hauptrampe. Er sieht nicht, wie sich Menschenmassen an die Tunnelwände und Außenwände pressen, aber er muss hören, wie sie gegen den Container gedrückt werden, in dem er sitzt. Einige Besucher klettern das Häuschen hinauf, ziehen andere auf das kleine Dach.

Um 17.02 Uhr werden nach Angaben des nordrhein-westfälischen Innenministeriums die ersten Toten gemeldet. Um 17.30 Uhr wird Joachim Müller-Lange, Landespfarrer für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland, mit seinem Notfallseelsorger-Team zum Tatort gerufen.

Für 21 Menschen bedeutet das Chaos den Tod. Allein vor dem Aufgang zu der Treppe sterben 14 Festival-Besucher, zwei kommen vor der Plakatwand ums Leben. Fünf weitere sterben in Krankenhäusern. 511 werden verletzt. Noch immer liegen einige von ihnen im Klinikum Duisburg.

Und die Verantwortlichen schieben sich seither gegenseitig die Schuld zu.