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Chaos nach Sturm auf Mursi-Lager: Ägypten am Abgrund

Foto: Ahmed Gomaa/ AP/dpa

Krise in Ägypten Der arabische Alptraum

Der Westen muss sich in Ägypten jetzt entscheiden: zwischen Realpolitik und seinen immer wieder propagierten Werten. Zahme Ermahnungen an die Machthaber in Kairo reichen nicht mehr, es muss Klartext gesprochen werden.
Von Erich Follath

Es gibt diese historischen Wendepunkte, an denen sich keiner mehr vor grundsätzlichen Entscheidungen drücken kann. Jetzt, da sich die ägyptische Armee, gedeckt und gepriesen von einer ihr hörigen Zivilregierung, entschlossen hat, mit brutaler Gewalt gegen demonstrierende Muslimbrüder vorzugehen, ist für den Westen so ein Wendepunkt gekommen. Und zwar völlig unabhängig davon, ob die Opferzahlen der einen Seite ("nur" 520 Tote) oder der anderen Seite (mehr als 1000 Tote) stimmen. Die Reaktion auf das Massaker von Kairo wird über Jahre hinaus darüber entscheiden, wie die USA und Europa in den arabischen Staaten und in der muslimischen Welt insgesamt beurteilt werden. Welche Glaubwürdigkeit und auch welcher Einfluss ihnen bleibt.

Wie so oft geht es dabei nicht um das Entsetzen und das Mitleid, das wohl jeden angesichts der erschütternden Bilder von schwerverletzten Männern, hilflosen alten Frauen und weinenden Kindern überwältigt. Sondern um Grundsätzlicheres: um "Realpolitik" gegen "Menschenrechtspolitik".

Wollen wir - nach strengen diplomatischen Mahnungen, zum Dialog zurückzukehren - mit einem starken Mann in Ägypten zusammenarbeiten, der zwar Blut an den Händen hat, aber wohl für ein gewisses Maß an Stabilität im Land und in der Region sorgen kann und uns in den Grundzügen seiner Außenpolitik nahesteht? Oder wollen wir - nach ebenfalls strengen Mahnungen, doch nicht in den Untergrund zu gehen oder Märtyrer zu produzieren - die bedrängten Muslimbrüder in ihren Grundrechten unterstützen? Jene Bärtigen also, die uns mit ihrer fundamentalistischen Ideologie so fremd sind und die ohne Zweifel eine Mitverantwortung für das politische Scheitern in Ägypten tragen.

Die Krise, so viel steht schon einmal fest, hat zwei Sieger und einen tragischen Verlierer produziert. Die Rede ist von einem Terroristen, einem General, einem Friedensnobelpreisträger.

Der erste Profiteur der Krise: Aiman al-Sawahiri

Gewinner ist Aiman al-Sawahiri, 62. Der Sohn eines Medizinprofessors aus dem Nildelta war selbst lange als Chirurg tätig und hat sich in den frühen siebziger Jahren der damals verbotenen Untergrundbewegung der Muslimbrüder angeschlossen. Doch bald waren ihm diese nicht mehr radikal genug, er half mit, den "Islamischen Dschihad" aufzubauen. 1981 wurde Sawahiri bei der Planung eines Staatsstreichs festgenommen, im Gefängnis schwer gefoltert. Nach seiner Freilassung verließ er Ägypten, kämpfte an der Seite Osama Bin Ladens in Afghanistan für einen weltweiten Dschihad. Nach dessen Tod im Juni 2011 hat Sawahiri die Führung der Terrororganisation al-Qaida übernommen und meldet sich immer mal wieder aus dem Untergrund.

So auch vor anderthalb Jahren. Da äußerte er sich empört über seine einstigen Glaubensgenossen von der Muslimbruderschaft. Die hätten "Verrat" begangen, indem sie sich den "Spielregeln des Westens" unterordneten. Sawahiri hatte aufgebracht, dass die Muslimbrüder an der Seite von Liberalen und Linken gegen den Autokraten Husni Mubarak protestiert hatten und sich dann sogar an demokratischen Wahlen beteiligten - für den Terroristen eine Todsünde.

Als die Ultrareligiösen dann im Juni 2012 den Urnengang für sich entschieden und mit Mohamed Mursi, 62, einer der Ihren ganz legal zum Präsidenten gewählt wurde, schien Sawahiri endgültig auf der Verliererseite der Geschichte gelandet. Der Westen applaudierte. Das Militär blieb in den Kasernen. Zunächst.

Mohammed Mursis Katastrophenjahr

Doch dann folgte ein katastrophales Regierungsjahr. Mursi karikierte sein Versprechen, ein "Präsident aller Ägypter" zu sein. Er ließ sich eine islamistische Verfassung schreiben, schaltete das höchste Gericht aus, schikanierte die Presse. Und er ruinierte durch Inkompetenz die ohnehin angeschlagene Wirtschaft. Die Opposition formierte sich auf der Straße, 22 Millionen unterschrieben die Petition zum Mursi-Rücktritt.

Am 3. Juli enthob das Militär den gescheiterten gewählten Präsidenten des Amtes, stellte ihn unter Hausarrest und will ihn jetzt anklagen. Die meisten Ägypter reagierten erleichtert. Manche sprachen von einer "zweiten Revolution" - doch trotz aller semantischer Verrenkungen: Es war ein Putsch. Und klar musste auch sein, dass die Muslimbrüder ihre Entmachtung nicht so ohne weiteres hinnehmen würden. Sie organisierten tägliche Demonstrationen und richteten große Protestlager ein. Nicht viel anders, als sie es noch 18 Monate zuvor gemeinsam mit den Liberalen und Linken gemacht hatten.

Nicht alle Muslimbrüder hielten sich an das offizielle Ziel des gewaltlosen, Widerstands, die Bewegung schien ratlos, wie es weitergehen sollte. Dann kam am vergangenen Mittwoch die Armee mit ihrem brutalen Eingreifen den Radikaleren entgegen, die dazu aufgerufen hatten, "Märtyrer" zu schaffen.

Terroristenchef Sawahiri darf sich jedenfalls bestätigt sehen. Jeden Tag könnte jetzt eine neue triumphierende Botschaft aus seinem Geheimversteck eintreffen. Tenor: Seht her, ich habe es euch immer gesagt. Wahlen sind etwas für Phantasten, deren Ergebnis wird von den Militärs und dem Westen doch nur respektiert, wenn die ihnen genehmen "antireligiösen" Laizisten gewinnen. Siehe Algier 1991 (wo das Militär mit westlicher Zustimmung putschte). Siehe Gaza 2006 (wo der Westen die radikalen Wahlsieger isolierte). Und siehe nun Kairo 2013.

Der zweite Profiteur der Krise: Abd al-Fattah al-Sisi

Der zweite große Gewinner der blutigen Auseinandersetzungen heißt Abd al-Fattah al-Sisi, 58. Der neue starke Mann ist zwar formal nur Verteidigungsminister der ägyptischen Zivilregierung, aber bei ihm laufen alle machtpolitischen Fäden zusammen. Er war es, der zu Massenkundgebungen gegen die Organisatoren des "Terrorismus" aufrief, gemeint waren damit pauschal die Muslimbrüder. Er war es, der geschickt die nationalistischen Gefühle aufwiegelte und an die Zeiten seines Vorbilds Nasser erinnerte, der zum unbestrittenen Anführer der arabischen Welt wurde. Er war es, der versprach, endlich wieder für "Ordnung", Jobs und wirtschaftlichen Wohlstand zu sorgen. Ohne Zweifel macht ihn das - und das harte Eingreifen gegen die inzwischen weithin verachtete Muslimbruderschaft - zum derzeit populärsten Mann im Land. Aber auch zum kontroversesten, denn seine Bekenntnisse zur Demokratie sind offensichtlich nicht ernst gemeint.

General Sisi gilt zwar als streng gläubiger Muslim und als Hüter einer fundamentalistischen Moral - die unsäglichen Jungfräulichkeitstests bei jungen Demonstrantinnen auf dem Tahrir-Platz gehen auf sein Konto. Aber wichtiger war ihm stets seine gute Verbindung zu den USA und das Wohlergehen der ägyptischen Armee. Sisi belegte 2006 den "Kriegskurs" am United States Army War College in Carlisle und unterhält seitdem beste persönliche Kontakte zum Pentagon. Im eigenen Land muss er als Oberbefehlshaber dafür sorgen, dass die Privilegien seiner Mit-Offiziere nicht angetastet werden.

Das Militär ist die mit Abstand größte Wirtschaftsmacht in Ägypten, kontrolliert Hotels und Tankstellen, Elektronikkonzerne und Nudelfabriken. Ein Staat im Staate: Armeeangehörige dürfen nicht wählen, sie stehen in Ägypten über den Dingen. Wer in diesen Selbstbedienungsladen hineinpfuschen will, wird aus dem Weg geräumt.

Sisi, der Sieger, behauptet auch jetzt noch ebenso vollmundig wie großzügig, er wolle die Streitkräfte in den Kasernen halten, das Land nach einem festen Zeitplan in die Demokratie zurückführen. Doch erst einmal hat er für einen Monat den Ausnahmezustand ausrufen lassen und sich damit alle Macht der Welt gegeben. Nun darf "gesäubert" werden.

Der große Verlierer der Krise: Mohamed ElBaradei

Der große, tragische Verlierer im ägyptischen Machtpoker heißt Mohamed ElBaradei, 71. Als Kind einer prominenten Anwaltsfamilie in Kairo geboren, hat er in seiner Heimat wie in den USA Recht studiert und als Diplomat eine große internationale Karriere gemacht. Mehr als zwölf Jahre lang war er Chef der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien, die im Auftrag der Uno die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen überwacht. 2005 erhielt er für seinen Einsatz den Friedensnobelpreis. Als er im November 2009 nach über zwölf Jahren an der Spitze der IAEA in Pension ging, rechneten alle damit, dass sich der Weltbürger in sein Haus in Südfrankreich zurückziehen und allenfalls noch mit Vorträgen an den führenden Universitäten und Buchveröffentlichungen befassen würde. Doch die politischen Umwälzungen in seiner Heimat trieben ihn um. Er zog nach Kairo und mischte an der Seite der liberalen Anti-Mubarak-Opposition mit.

2012 gründete er seine eigene "Verfassungspartei". "Ein Volkstribun wurde der sanfte Intellektuelle nie. Er war nach dem Wahlsieg der Muslimbrüder auf der Seite derer, die fanden, man müsse ihnen eine politische Chance geben. Ihr Versagen traf ElBaradei schwer, er hielt die Absetzung Mursis schließlich für unvermeidlich und befürwortete den Putsch (den er nicht so genannt wissen wollte). "Wir hatten keine andere Wahl", sagte er dem SPIEGEL.

Erst nach langem Drängen erklärte er sich aus Angst vor einem drohenden Bürgerkrieg bereit, den Posten eines Vizepräsidenten in der neuen, nicht gewählten Regierung einzunehmen. Dass er dabei als deren demokratisches Aushängeschild fungierte, war ihm bewusst. In einem Gespräch mit meinem Kollegen Dieter Bednarz und mir machte er noch Anfang Juli klar, dass die "Bruderschaft in den Demokratisierungsprozess miteinbezogen" werden müsse, sie sei ein wesentlicher Bestandteil der ägyptischen Gesellschaft. Mursi müsse fair behandelt werden, es dürfe nicht zu Ausschreitungen kommen. "Meine rote Linie ist: Ich lasse mich mit niemandem ein, der Toleranz und Demokratie missachtet."

Am Mittwoch war diese rote Linie offensichtlich überschritten, blutrot überschritten. Ein sichtlich schockierter ElBaradei sagte: "Ich kann nicht länger Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, mit denen ich nicht einverstanden bin." Es seien längst nicht alle Chancen einer Verhandlungslösung ausgeschöpft gewesen. Offen blieb, ob sich ElBaradei auch seine eigene Naivität vorwarf, die ihn glauben ließ, die Militärs würden wirklich zurück in die Kasernen gehen und "keine politische Rolle spielen wollen", wie er mehrfach öffentlich zu Protokoll gab. Und so wurde ElBaradei, der Anständige, zu einer Figur wie aus einer griechischen Tragödie: Er wollte sich in die ägyptische Politik einmischen, weil er glaubte, sich durch Nichthandeln schuldig zu machen. Und er lud Schuld auf sich, weil er - in einer hohen offiziellen Position - die herannahende Katastrophe trotz großer Anstrengungen nicht abwenden könnte.

Die Euphorie des Arabischen Frühlings ist vorüber

Die Fronten in Ägypten sind klar. Die Euphorie des "Frühlings"-Aufbruchs ist zu Ende, in Tunesien droht ein Fehlschlag, Libyen fällt in alte Stammesstrukturen zurück. Auch all diejenigen Experten, die immer warnend davon gesprochen haben, dass man der arabischen Welt bei der Entwicklung demokratischer Strukturen länger Zeit geben müsste und auf historische Beispiele wie die Nachwehen der Französischen Revolution verwiesen, können angesichts der Rückschritte in Kairo nicht mehr von kleinen Abirrungen sprechen: Das ganze Projekt steht auf dem Prüfstand.

Und dabei zeigen sich: Nicht primär freie Wahlen, auch nicht das Versammlungsrecht machen wahren Fortschritt aus. Sondern die Checks und Balances funktionierender staatlicher Organisationen.

Was also sollte der Westen tun? Emad Shahin, Politik-Professor an der American University in Kairo, sagte der "New York Times": "Am Ende wird der Westen die Gewinnerseite unterstützen. Diktatoren wissen das, und in gewisser Weise haben sie immer recht behalten." Bruce Riedel, der frühere amerikanische Geheimdienstler und jetzige US-Regierungsberater, erklärte ebenfalls in der "NYT": "Wenn es so aussieht, als würden die USA tatsächlich bei einer Konterrevolution mitmachen , dann wird das Gerede über eine neue amerikanische Beziehung mit der islamischen Welt als der Gipfel der Heuchelei entlarvt."

Will Präsident Barack Obama das nicht, muss seine Regierung über ihre jetzige, vorsichtige Kritik an der ägyptischen Armee hinausgehen und sagen: Demokratie heißt, auch seinen ideologischen Gegnern alle Freiheiten und Grundrechte einzuräumen. Ohne einen Dialog mit den Muslimbrüdern kann es keine Fortsetzung der jährlichen Militärhilfe von 1,3 Milliarden Dollar geben.

Manchmal ist Wertepolitik die bessere Realpolitik.

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Foto: SPIEGEL ONLINE