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Surfen ist heute einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren rund um Biarritz
Surfen ist heute einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren rund um Biarritz
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iStockphoto / Getty Images

(R)Evolution des Surfens Die alten weißen Männer und das Meer

Die ersten Wellenreiter in Biarritz galten noch als rebellisch. Heute surfen dort Besuchermassen aus aller Welt. Wie blicken die Pioniere von damals auf den Rummel, den unbeholfene Touristen veranstalten?
Von Aileen Tiedemann

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Wenn René Bégué, 73, sein Haus an der Côte des Basques verlässt und mit seinem Surfbrett unterm Arm aufs Meer zuläuft, dann wissen alle am Strand: Jetzt sind die Bedingungen zum Wellenreiten ideal. Bégué ist eine lebende Legende in seiner Heimatstadt Biarritz, einer der ersten Surfer Europas. Acht Jahre war er alt, als er am Strand das erste Mal jemanden aufrecht auf einem Brett durch die Wellen gleiten sah: »Das war der kalifornische Drehbuchautor Peter Viertel«, erinnert sich Bégué beim Gespräch an der Strandpromenade der Côte des Basques.

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Die "Surfonkel" - als das Surfen nach Europa kam

Foto: René Bégué / privat

1957 verfilmte ein kalifornisches Filmteam »The Sun also rises« von Hemingway hier an den Stränden südlich von Biarritz. Der Sohn des Produzenten hatte Surfbretter mitgebracht, auf denen sich das Team in den Drehpausen vergnügte. Bégués Job sei es damals gewesen, die Bretter wieder einzufangen, wenn die Surfer von ihren Boards gefallen waren. »Es gab ja damals noch keine Knöchelbänder, um die Boards an den Beinen zu sichern«, sagt Begué. »Während die Surfer zurück an den Strand schwammen, nutzte ich die Zeit, um selbst aufs Board zu springen.«

Bis zu diesem Zeitpunkt seien Bégué und seine Freunde an den Stränden von Biarritz bäuchlings auf »Plankys« durch die Wellen geritten: Schwimmbrettern aus Holz, die an halbierte Snowboards erinnern. »Das machte Spaß, aber ich mochte nie, dass man dabei so nass wurde«, erzählt der einstige französische Surfchampion Bégué. »Deshalb war ich gleich vom Surfen begeistert. Endlich gab es eine Möglichkeit, durch die Wellen zu gleiten, ohne nasse Haare zu bekommen. Das dachte ich jedenfalls …«

Die frühen Tage des Wellenreitens in Europa – man kann sie sich heute kaum mehr vorstellen in Biarritz, wo Surfen einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren ist. Eine Surfschule reiht sich an die nächste in der 25.000-Einwohner-Stadt und im Meer buhlen Surfbegeisterte aus aller Welt um die Wellen. Am Nachbarstrand der Côte des Basques, der berühmten Grande Plage, surfen unzählige Anfänger auf breiten Schaumboards auf das prunkvolle Hôtel du Palais zu, das Napoleon III einst als Sommerresidenz für seine Gattin Eugenie errichten ließ. Der älteste Surfwettbewerb Europas »Biarritz Quiksilver Maïder Arosteguy« lockt seit 1984 jedes Jahr Tausende Besucher in die Stadt.

Meine Freunde und ich verweigerten uns dem System, weil die Wellen unser Leben bestimmten.

Gibus de Soultrait

Aber als Bégué und die »Tontons Surfeurs« (Surfonkel), wie sich die letzten noch lebenden Surfpioniere von Biarritz heute nennen, das Surfen lernten, war der Sport noch kein Tourismusmagnet, sondern eine Verrücktheit, die vom Bürgermeister nicht gern gesehen wurde. Schließlich konnten sich die Badegäste leicht an den 20 Kilogramm schweren Holzboards verletzen, wenn die Surfer die Kontrolle über sie verloren hatten. »Unsere ersten Surfversuche sahen ziemlich lustig aus«, erinnert sich Begué, der bis heute den wachen Blick und den aufrechten Gang eines jungen Mannes besitzt. »Wir wussten ja nicht, wie es wirklich funktioniert. Wir fuhren auf unseren Brettern immer nur geradeaus, weil uns niemand gezeigt hatte, wie man Kurven fährt. Stattdessen malten wir Striche auf die Bretter und schauten, wer am weitesten bis zur Spitze des Boards hinauslaufen konnte. Oder hielten beim Surfen Mädchen in die Höhe.«

Diese frühen Tage des Surfens hat Bégué auf zahlreichen Fotos und später in dem Bildband »Biarritz Sixites – Surf Origins« festgehalten. Einige davon sind in der »Maison du Surf« zu sehen, einem Museum mit nur einem Raum, genau an der Stelle, wo einst Europas erster Surfclub »Waikiki« lag. Kleine Autos, beladen mit Surfbrettern, Surfboards vor den Prunkbauten von Biarritz, die Surflegende Joël de Rosnay bringt Catherine Deneuve das Wellenreiten bei – die Bilder zeigen eine Umbruchstimmung. Die Ausstellungsfläche wirkt fast unpassend klein.

»Biarritz war schon immer eine reiche Stadt«, erklärt Gibus de Soultrait, 65, Gründer des Magazins »Surf Sessions«, der zusammen mit Julien Roulland die »Maison du Surf« betreibt. »Rebellische Surfer mit langen Haaren, die den ganzen Tag nichts tun, außer auf gute Wellen zu warten, passten hier noch nie so richtig ins Bild.« Klar ließe sich mit Surfschulen und dem ganzen Lifestyle drumherum viel Geld machen, aber für die Kultur des Surfens sei in der Stadt noch nie viel Geld übrig gewesen.

»Die meisten Leute kommen bloß nach Biarritz, um einen Surfkurs zu machen und sich ein T-Shirt zu kaufen. Sie erfahren nicht, was das Wellenreiten wirklich für diesen Ort bedeutet«, ergänzt sein Kollege Julien Roulland. Soultrait, der sein Haar bis heute schulterlang trägt und das Buch »Le surf change le monde« geschrieben hat, sagt: »Das Wellenreiten brachte eine ganz neue Gegenkultur nach Biarritz. Meine Freunde und ich verweigerten uns dem System, weil die Wellen unser Leben bestimmten. Wir nahmen stattdessen irgendwelche Jobs an, um surfen und reisen zu können.«

Ab Mitte der 1960er-Jahre hätten die Wellen Surfer aus aller Welt ins Paye Basque gelockt. »Das machte Biarritz zu einem weltoffenen Ort«, sagt Roulland. »Daran erinnern wir etwa mit polynesischen Surffestivals. Wir wollen zeigen, dass Surfen in Biarritz nicht bloß Kommerz ist.«

Blickt man an der Côte des Basques durch die salzige Gischt in Richtung Süden, sind in der Ferne die Pyrenäen zu erkennen. Im Dunst liegen weitere legendäre Surfspots wie das Belharra-Riff bei Urrugne, wo sich im Winter 8 bis 15 Meter hohe Monsterwellen auftürmen, oder der Badeort Guéthary, wo Gibus de Soultrait lebt und surft und der »Swell« besonders kraftvoll ist. In Richtung Norden befindet sich im Départment Les Landes der Ferienort Hossegor, der auch als »Hawaii Europas« bezeichnet wird. Der an einigen Stellen bis zu 4500 Meter tiefe Unterwassercanyon Gouf de Capbreton mündet dort direkt vor der Küste und sorgt dafür, dass sich steile Wellen explosionsartig direkt am Strand brechen.

Aber auch für Anfänger gibt es an der Küste mit ihren breiten Sandbänken viele gute Weißwasserwalzen zum Üben, etwa in Vieux Boucau. Hier hat der deutsche Surfpionier Uli Scherb 1998 eines der ersten Surfcamps am Atlantik eröffnet.

Obwohl er bereits 56 Jahre alt ist, fügt er sich in seiner »Atlantic Surf Lodge« perfekt in die Szenerie aus durchtrainierten jungen Shortsträgern ein – dabei stammt der ausgebildete Bäcker noch aus einer ganz anderen Zeit. »Bis ich 17 Jahre alt war, wusste ich nicht, dass Wellenreiten überhaupt existiert. Davon erfuhr ich erst, als ich mir mit einem Kumpel die australische Surf-Doku ›Crystal Voyager‹ beim Münchner Filmfest anschaute«, erzählt Scherb.

Angefixt von dem Film reisten die beiden in den frühen 1980er-Jahren zum Surfen an die französische Atlantikküste. »Dort rutschten wir auf Styroporbrettern im Schaum der Wellen herum und bekamen nichts hin«, erinnert sich Uli. »Aber gerade dieses Unerreichbare hat mich fasziniert«. Er flog nach dem Abi zum Surfen nach Sri Lanka. »Als ich mich in Frankreich niederließ, war das Surfen noch ein Nischensport«, sagt Uli. »Mittlerweile gibt es hier so viele Surfschulen wie anderswo Friseurläden.« Deshalb bietet Uli mittlerweile auch Yoga Retreats, Surfboardbaukurse oder »Silver Surfer Gatherings« an. »Die meisten meiner Schüler sind dreißig Jahre und älter«, sagt Uli. Trotzdem müsse man schon ausreichend Zeit ins Surfen investieren, um es zu lernen. »Eine Woche Surfunterricht ist nur Bespaßung«, sagt Uli. »Erst wenn man zwei Wochen lang jeden Tag zweimal mehrere Stunden lang Surfen geht, bringt es wirklich was.«

Am Abend verschwindet Uli bei der Eröffnung einer Ausstellung im Shaper-Store »Surfin Estate« in Hossegor in einer jungen Surfercrowd. Ein DJ aus Paris legt Hip-Hop auf, alle sind jung und fit und schön. Innen präsentiert Inhaber Vincent Lemanceau seine maßgefertigten Surfboards mit individuellen Designs wie Kunstwerke an einer hohen, weißen Wand, verkauft fair produzierte Surfmode und Poster alter Surffilme. Die Systemverweigerer von damals, sie sind heute der Mythos, der die Kommerzialisierung möglich macht, ob sie das wollen oder nicht.

Aber auf dem Wasser ist ihnen dieser ganze Trubel egal. Bégué, der trotz zwei Rücken-OPs immer noch mehrmals wöchentlich surfen geht, sagt: »Genau das macht für mich das Glück beim Surfen aus: Es ist unvorhersehbar. Man erlebt es nur, wenn man im richtigen Moment auf sein Brett springt und sich vom Meer mitreißen lässt. Man wird Teil der Welle und vergisst, dass der Rest der Welt existiert.«