Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Sankt-Lorenz-Golf: Fülle von Leben im Wasser

Foto: Corbis

Sankt-Lorenz-Golf Ökosystem im Wandel

Tonnenweise Kabeljau und Meerestiere - im kanadischen Sankt-Lorenz-Golf holten die Menschen früher riesige Mengen an Nahrung aus dem Wasser. Dadurch und mit dem Klimawandel hat sich das Ökosystem verändert - und jetzt gibt es Pläne für eine große Ölbohrung.
Von Rob Dunn

Der Sankt-Lorenz-Golf ist ein Ergebnis von allem, was abwärtsfließt. Er entsteht aus Flüssen, die Hunderte Meilen entfernt als Rinnsale entspringen - in kanadischen Städten wie Montreal und in Primärwäldern im US-Bundesstaat New York. Er spült Sedimente, Regenwasser und Blätterreste hinweg. Er wirbelt und strudelt in ständigem Wandel. Bakterien und Plankton vermengen sich im Wasser mit Sedimenten und machen das Unbelebte lebendig. Unterm Strich ergibt das eine Fülle von schillerndem, beißendem, schwimmendem Leben - wie kaum irgendwo sonst auf der Erde.

Geologisch betrachtet ist der Sankt-Lorenz-Golf noch sehr jung. Noch vor 19.000 Jahren lag das gesamte Gebiet unter einer knapp zwei Kilometer dicken Eisschicht. Das Eis drückte so schwer auf das Land, dass die Erde sich nach dem Abschmelzen erleichtert emporhob. Während das Eis schmolz und der Boden sich wölbte, füllte sich der Golf mit Wasser - und mit Leben. Süßwasserfische wanderten den Strom hinab; vom Atlantik wanderten Salzwasserfische, Seeigel, Seesterne, Plankton und Wale ein.

Die Insel Kap Breton, ein daumenförmiges Stück Land, begrenzt den Sankt-Lorenz-Golf südlich zum Meer hin. Im Osten der Insel ist das Wasser kalt und manchmal ungestüm. Im Westen ist es zwar nicht warm, aber wärmer, und nicht ruhig, aber ruhiger. Die ersten Nutznießer dieses Klimas waren die Vorfahren der Mi'kmaq, die zu den eingeborenen Volksstämmen der Seeprovinzen Kanadas zählen. Deren Vorfahren kamen vor mindestens 9000 Jahren an den Golf und ließen sich auf der heutigen Insel Neufundland und in der Provinz Nova Scotia nieder.

Im 16. Jahrhundert wanderten die ersten französischen, baskischen und portugiesischen Fischer ein und trieben Handel mit den Einheimischen. Die Europäer siedelten sich in der Nähe der Eingeborenen an.

Die Europäer erfreute das Leben im Golf, da sie zuvor nur die fischärmeren Gewässer ihrer Heimat gekannt hatten. Die Bestände im Golf waren üppig - aber mit dieser Erkenntnis begann eine unvergleichliche Ausbeutungswelle: die erste großflächige Ressourcenabschöpfung in der Neuen Welt. Bis zum 17. Jahrhundert wurden tonnenweise Kabeljau, Wale und andere Meerestiere gefischt und nach Europa verschifft. Güter, die wertvoller waren als das Gold und Silber aus dem Golf von Mexiko. Unter diesem Druck begannen die großen Fischpopulationen bald zu schwinden.

Überfischung und Klimawandel veränderten die Fischbestände

Wie sehr sich die Fischerei der Europäer (die später zu Nordamerikanern wurden) auf die Tierwelt im Sankt-Lorenz-Golf auswirkte, hing mit den Fangmengen, aber auch mit dem Lebenstempo der Arten zusammen. Wale, Walrosse und Störe wachsen langsam, paaren sich selten und spät. Sie waren besonders gefährdet. Erst in letzter Zeit haben einige Walpopulationen angefangen, sich wieder zu erholen. Walrosse leben hier keine mehr, es sei denn, es verirren sich welche aus dem Atlantik. Störe, seit Millionen von Jahren hier lebend, schaffen es so gerade, sich in kleinen Populationen zu halten.

Natürlich gibt es viele Fischarten, die sich schneller als die großen Säugetiere erholen, weil sie schneller ausgewachsen sind und sich schneller fortpflanzen - aber selbst sie haben gelitten. Sie vermehren sich nicht schnell genug, um Millionen von ihnen abhängige Menschen zu ernähren.

Während die Bestände dramatisch zurückgehen, ist der Hummer im Kommen. Er bestimmt inzwischen das Schicksal vieler Menschen in der Region - neben dem Wetter, von dem es abhängt, wann Boote aufs Wasser können oder umkehren müssen. Aber auch den Hummer wird es nicht endlos geben.

Wollen wir ölabbauende Bakterien oder Fische, Robben und Wale?

Der Sankt-Lorenz-Golf wird sich weiterhin verändern, selbst wenn der Fischfang schon morgen eingestellt würde. Durch den Klimawandel droht das Wasser wärmer und durch die vielen Zuflüsse salzärmer zu werden, das beeinflusst auch die Fischbestände.

Außer den Fischern drohen nun noch andere den Strom auszubeuten: Erdölkonzerne. Es gibt Planungen, eine erste große Ölbohrung niederzubringen, in Old Harry, einem Teil des Sankt-Lorenz-Golfs. Umweltschützer sehen in der Ölförderung eine neuartige Tragödie. Man kann darin aber auch eine Fortsetzung bisheriger Veränderungen sehen.

Wir haben schließlich schon Wale nicht nur eingeholt, damit sie uns ernähren, sondern auch damit sie mit ihrem Öl unsere Lampen zum Leuchten brachten. Auch das Öl aus Old Harry wird Treibstoff für unseren Alltag liefern, für Autos, Heizungen und Industrie. Klar ist aber: Sollte es je zu einer Ölpest kommen, wird das zu unserem Nachteil sein. Sie wird nur ölabbauende Bakterien nähren.

Das Gute ist, dass wir die Wahl haben. Wollen wir ölabbauende Bakterien oder Fische, Robben und Wale? Noch ist der Golf wild und lebendig, gefüllt mit Billionen von Organismen, Hoffnungen und Träumen.

Gekürzte Fassung aus "National Geographic Deutschland", Ausgabe Mai 2014, www.nationalgeographic.de .


Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie unter nationalgeographic.de/wasserstrasse .