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Fehlende Elektrizität für Kontrollsysteme und Kühlung Welche Folgen hat der Stromausfall in Tschernobyl?

Die Stromleitungen zum Atomkomplex Tschernobyl sind ausgefallen – offenbar durch Beschuss. Was das für die Kühlung der Brennelemente und die Messsysteme bedeuten kann.
Das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl liegt in einer Sperrzone. Geschützt ist die Anlage mit einer neuen Hülle aus Stahl.

Das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl liegt in einer Sperrzone. Geschützt ist die Anlage mit einer neuen Hülle aus Stahl.

Foto: Bryan Smith / ZUMA Wire / IMAGO

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Das ehemalige ukrainische Kernkraftwerk Tschernobyl ist von der Stromversorgung abgeschnitten. Nach Angaben des ukrainischen Netzbetreibers Ukrenerho wurden Stromleitungen durch Beschuss beschädigt. Weil nördlich von Kiew weitere Kampfhandlungen andauerten, sei es aktuell nicht möglich, die notwendigen Reparaturarbeiten durchzuführen, hieß es.

Das staatliche ukrainische Atomenergieunternehmen Energoatom warnt nun davor, dass radioaktive Substanzen aus dem Atomkomplex austreten könnten – ohne eine Stromversorgung könnte der vor Ort befindliche verbrauchte Kernbrennstoff nicht sachgemäß gesichert und überwacht werden.

Auf Twitter  teilte der SSSCIP, ein staatlicher Kommunikationsdienst der Ukraine mit, die 750-Kilovolt-Hochspannungsleitung zwischen Tschernobyl und der ukrainischen Hauptstadt Kiew sei derzeit »aufgrund der von den Besatzern verursachten Schäden« abgeschaltet. Infolgedessen seien das Kraftwerk Tschernobyl und alle kerntechnischen Anlagen in der Sperrzone ohne Strom.

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Die Behörde schilderte, was nun im schlimmsten Fall passieren könne: Vor Ort lagerten rund 20.000 Brennelemente. Sie müssten ständig gekühlt werden. Das ist jedoch nur möglich, wenn es Strom gibt. Ohne eine Anbindung ans Stromnetz könnten die Pumpen nicht dauerhaft kühlen. In der Folge steige die Temperatur in den Lagerbecken an, es komme zu einer Verdunstung – und zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Luft.

Brennelemente klingen seit gut 20 Jahren ab

Auch in der Mitteilung von Energoatom hieß es: Die Erwärmung der 20.000 abgebrannten Brennelemente könnte zur »Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umwelt« führen.

»Der letzte Reaktorblock in Tschernobyl ist im Jahr 2000 stillgelegt worden, die Brennelemente klingen dort schon seit mindestens 20 Jahren ab«, sagt Sven Dokter von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln. »Das heißt, die Nachzerfallsleistung ist mittlerweile sehr gering. Selbst, wenn in den Abklingbecken die Pumpen ausfallen sollten und das gesamte Wasser im Laufe mehrerer Wochen verdunstet und nicht nachgefüllt werden kann, wäre die Hitzeentwicklung der alten Kernbrennelemente nicht hoch genug, um die Hüllen zu beschädigen.«

Es gebe ohne Strom jedoch keine Belüftung im Inneren der Anlage zum Schutz des havarierten Reaktors. Das Personal vor Ort werde dann eine gefährliche Strahlendosis abbekommen, warnte der SSSCIP. Weil zudem das Feuerlöschsystem in der Anlage nicht funktioniere, bestehe grundsätzlich Brandgefahr.

Die Internationale Atomenergiebehörde informierte ebenfalls in einem Tweet  über den Stromausfall. Nach Aussage des Generalsekretärs Rafael Grossi verletze die Unterbrechung der Stromversorgung einen der wichtigsten Sicherheitspfeiler. Allerdings sehe die IAEA »in diesem Fall keine kritischen Auswirkungen auf die Sicherheit«. Die Wärmekapazitäten des Lagerbeckens für abgebrannte Brennelemente und das Volumen des Kühlwassers im Kernkraftwerk Tschernobyl reichten für eine wirksame Wärmeabfuhr aus, ohne dass Strom benötigt wird.

Kein Schichtwechsel seit zwei Wochen

Die IAEA hatte schon zuvor gewarnt, dass das AKW zunehmend von der Außenwelt abgeschnitten sei. 210 Techniker und lokale Sicherheitsmitarbeiter seien seit fast zwei Wochen ununterbrochen im Dienst – seit dem Beginn der russischen Besatzung am 24. Februar. Denn seitdem die russischen Truppen die Kontrolle über das ehemalige Kraftwerk übernommen haben, habe es keinen Schichtwechsel mehr gegeben.

Zwar würden die Mitarbeiter mit Wasser und Nahrung versorgt, ihre Lage verschlechtere sich aber zusehends. Die IAEA habe keine Verbindung mehr zu den Überwachungsgeräten, mit denen sie sicherstellen könne, dass sämtliches radioaktives Material dort ist, wo es sein soll. Normalerweise arbeiten mehr als 2000 Menschen in rotierenden Schichten in dem Sperrgebiet.

1986 hatte sich in Tschernobyl eine Nuklearkatastrophe ereignet: Damals kam es zu einer Explosion in einem Kernreaktor vom Typ RBMK-1000. In diesem Reaktor wurde Grafit als Moderator eingesetzt – also das Mittel, das die bei der Kernspaltung entstehenden Neutronen abbremst. Im Fall der Druckwasserreaktoren, die in den heute laufenden Kernkraftwerken eingesetzt werden, wird Wasser als Moderator genutzt. Bei der Katastrophe von Tschernobyl erzeugte das brennende Grafit eine große Hitze und explodierte, wodurch radioaktive Stoffe in große Höhe gelangten und sich ausbreiten konnten.

Außerdem war der Reaktor weniger gesichert als es heute genutzte Reaktoren sind: Mittlerweile sind die Anlagen mit einem Sicherheitsbehälter aus massivem Stahlbeton umschlossen. Dieser Schutz, der verhindern soll, dass Radioaktivität freigesetzt werden kann, fehlte beim Kernkraftwerk Tschernobyl. Noch heute werden auf dem Gelände des Kraftwerks radioaktive Abfälle gelagert.

Nach dem Unfall wurde eine Schutzhülle erbaut, die man als »Sarkophag« bezeichnete. In den 2010er-Jahren wurde über diesem Sarkophag eine neue Schutzhülle namens »New Safe Confinement« (NSC) errichtet. Sie soll über 100 Jahre den Austritt radioaktiver Stoffe verhindern.

Doch Berichten zufolge steigt seitdem die Neutronen-Strahlung an einzelnen Orten im alten, maroden »Sarkophag« immer mal wieder an. Möglicherweise kommen an einzelnen »Hot Spots« neue Spaltungsreaktionen in Gang, warnte der britische Strahlungsexperte Neil Hyatt im Mai 2021 in einem Beitrag im Wissenschaftsmagazin »Science«:  »Das ist wie das Nachglühen nach einem Barbecue-Feuer.« Für die Überwachung von derlei radioaktiven Glutherden sind Mess- und Sicherheitssysteme in der Anlage verbaut, die Elektrizität benötigen.

Langfristig brauche man Strom

Droht durch den Blackout vor Ort also akut Gefahr?

»Der Reaktorkern im Block 4 in Tschernobyl ist nun schon so lange zerstört, da braucht man keine aktive Pumpleistung mehr für die aktive Kühlung wie bei einem frisch abgeschalteten Reaktor«, sagte Clemens Walther, Strahlungsexperte an der Uni Hannover, dem SPIEGEL. »Ich würde aus dem Stromausfall in Tschernobyl erst einmal keine kurzfristige Notlage ableiten«, so der Experte.

Langfristig brauche man aber Strom, um das NSC, die riesige zweite Metallhülle um den havarierten Reaktor, intakt zu halten. Das NSC besteht aus zwei Metallhüllen mit einem Hohlraum dazwischen. In diesem Hohlraum muss die Luft zirkulieren – nicht zuletzt, um die Korrosion durch Luftfeuchtigkeit zu reduzieren. »Der Ausfall der Ventilatoren ist kein Problem für ein paar Tage, sondern erst, wenn sie dauerhaft ausfallen sollten«, so Walther.

Dennoch sei der Stromausfall in Tschernobyl besorgniserregend und inakzeptabel, sagte der Experte: »Von einem Tag auf den anderen wird daraus kein großes Strahlungsrisiko entstehen, es geht aber um die nächsten Wochen und Monate. Derzeit dürften die Notbeleuchtung und wichtige Messaufgaben wahrscheinlich durch die Notstromversorgung abgedeckt sein, je nachdem, wie lange der Dieselvorrat reicht.«

Laut dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba haben die Dieselgeneratoren in Tschernobyl Kraftstoff für eine Laufzeit von 48 Stunden.

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Aktive Kernkraftwerke sind für den Fall eines Stromausfalls gerüstet, dann werden Notstromdieselgeneratoren eingesetzt. Doch Treibstoff kann in Kriegszeiten knapp werden. Besonders dann, wenn sich die Kämpfe über eine längere Zeit fortsetzen.

Anmerkung der Redaktion: Die Einschätzung der GRS kam nachträglich hinzu, wir haben die Passage entsprechend eingefügt. In einer früheren Fassung haben wir zudem die neue Schutzhülle als »New Safe Containment« bezeichnet, die korrekte Bezeichnung ist »New Safe Confinement«. Wir haben die Stelle geändert.

mit Material von Agenturen