Joachim Meyerhoff ist gerade dabei, seiner Tochter bei einer Hausarbeit zu helfen, da hängt plötzlich die Zimmerdecke durch. Das Mauerwerk beginnt, sich in sanften Wellen zu bewegen, und zwei Fotografien seiner Töchter treiben auf und davon, „wie in einem Horrorfilm“. Als auch noch alle Kraft aus seinem linken Arm entweicht, ist ihm klar: Das ist ein Schlaganfall.

Ohne Vorwarnung

Der Infarkt im Gehirn tritt fast immer ohne Vorwarnung auf und stellt das Leben auf den Kopf, so oder so. Im besten Fall, weil der Vorfall das Bewusstsein prägt. Im schlechtesten Fall, weil wichtige Funktionen des Geistes und Körpers dauerhaft ausfallen.

Als Schauspieler muss Meyerhoff Unmengen an Texten auswendig lernen und in perfekter Artikulation aussprechen. Auf der Bühne stürzt er sich in Degenkämpfe und Prügeleien, beschreibt mit einer einfachen Geste ganze Welten. Es ist ein Job mit hohem Stressfaktor, eine Tätigkeit, die das Schlaganfallrisiko massiv erhöht. Und zugleich gibt es kaum einen anderen Beruf, in dem die möglichen Folgen einer solchen Attacke so gravierend sind.

MRT-Aufnahmen von Blutgefäßen im Gehirn können krankhafte Veränderungen sichtbar machen.
MRT-Aufnahmen von Blutgefäßen im Gehirn können krankhafte Veränderungen sichtbar machen. | Bild: samunella – stock.adobe.com

Weil Joachim Meyerhoff seit fast zehn Jahren nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Erzähler seines eigenen Lebens in Erscheinung tritt, ist es nur folgerichtig, dass auch dessen bedrohlichster Moment eine literarische Verarbeitung findet.

„Hamster im hinteren Stromgebiet“ lautet der Titel des biografischen Romans, der mit einer durchhängenden Zimmerdecke beginnt und mit der Entlassung eines genesenen Schlaganfallpatienten aus dem Krankenhaus endet.

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Was dazwischen stattfindet, ist von bisweilen bühnenreifer Tragikomik. Das fängt an mit der Einlieferung in die sogenannte Stroke Unit, jener Station, in der Schlaganfallpatienten schnellstmöglich behandelt werden sollen. Wer Pech hat und keine resolut auftretenden Angehörigen, der versauert im Rettungswagen bei angezogener Handbremse am Straßenrand, weil zufällig alle Stationen schon mit anderen Unglücklichen belegt sind.

Meyerhoff hat Pech, dafür aber auch eine selbstbewusste Tochter. Weil sie darauf drängt, auch Krankenhäuser außerhalb der Stadt abzufragen, kann es endlich doch noch losgehen: Sage und schreibe 30 Minuten sind da schon vergangen.

Lebensuntauglicher Dussel

In der Klinik scheitert der Meister großer Gesten an einfachsten Übungen. So endet der Versuch, mit der linken Hand die eigene Nase zu berühren, in drei wilden Schlenkern. „Als wäre ich ein irrer Diktator, der ausrastet und letzte Befehle erteilt.“ Erst nach Tagen wird die Hand – unter dem Beifall eines wohlbeleibten Mitpatienten – den Weg ins Gesicht wiederfinden. „Sich an die eigene Nase fassen, und dann ruft Schweinchen Dick: ‚Super!‘“, ächzt Meyerhoff: „Mein Schauspielerdasein war am Nullpunkt angekommen.“

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Dem tristen Klinikalltag entflieht der Patient in Erinnerungsarbeit. Wir folgen ihm auf der Suche nach den Spuren jenes Lebens, das ihn hierher geführt hat. Und wundern uns, warum dabei so gar keine Rede ist vom Theaterstress: von all den belastenden Auftritten und unsicheren Arbeitsverhältnissen, den ganzen Umständen, die doch ursächlich scheinen für Schicksalsschläge wie diesen.

Erst allmählich wird deutlich, dass der wahre Stress ganz woanders verborgen liegt. Darin, diesen „Schuldachttausender“ abzutragen, der einfach nicht kleiner werden will, seit der Erzähler seine Familie verlassen hat. Ständig Brücken zu bauen zwischen dem alten Leben und dem neuen an der Seite einer anderen Frau. Den Kindern weiter ein guter Vater zu sein – trotz allem oder vielmehr jetzt erst recht.

Joachim Meyerhoff: „Hamster im hinteren Stromgebiet“, Roman, Kiepenheuer & Witsch 2020; 320 Seiten, 24 Euro.
Joachim Meyerhoff: „Hamster im hinteren Stromgebiet“, Roman, Kiepenheuer & Witsch 2020; 320 Seiten, 24 Euro. | Bild: Kiepenheuer & Witsch

Sein Körper, zerrissen zwischen einer gesunden rechten und einer außer Kontrolle geratenen linken Hälfte, erscheint wie das logische Spiegelbild zu einem zerrissenen Leben. Auf dessen gesunder Seite zeigt sich der umjubelte Schauspielstar, der im Krankenhaus ein Einzelzimmer bekommt und bei der Kernspin gefragt wird: „Sind Sie der Herr Meyerhoff, von dem ich annehme, dass Sie es sind?“

Auf der anderen Seite kommt der lebensuntaugliche Dussel zum Vorschein, der vor lauter schlechtem Gewissen seiner Tochter einen Hasen schenkt – um den sich dann deren Mutter kümmern darf.

Auf den Händen tanzen

Es liegt keine Weinerlichkeit und keine Koketterie in diesen Selbstbezichtigungen, eher eine Verwunderung darüber, dass ein Mensch in solche Situationen geraten kann. Denn so sehr das Schuldgefühl ihn auch plagt, eine Alternative sieht er nicht, die Liebe ließ ihm keine Wahl. Und so liegt der einzige Ausweg in der Kunst. Wer keine Füße hat, muss eben auf den Händen tanzen.

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Mit seinem staunenswerten Erinnerungsvermögen, seiner überbordenden Fantasie und seinem untrüglichen Sinn für Alltagskomik wandelt Meyerhoff in seinen Romanen auf dem schmalen Grat zwischen Prosa und Geschwätzigkeit. Das ist zuletzt nicht immer gut gegangen. Sein fünfter Roman aber vereint existenzielle Wucht mit selbstironischer Leichtigkeit, die Lust an Unterhaltung mit dem Leiden an den Achttausendern des Lebens: der zweifellos größte Wurf seit seinem Debüterfolg „Amerika“ 2011.

Inzwischen steht Meyerhoff wieder auf der Bühne und spricht Texte wie Georg Büchners „Dantons Tod“. Die Erde, heißt es da, ist eine dünne Kruste: „Man muss mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen.“