Medizin
Alt geboren, um jung zu sterben: Krankheit lässt Kinder rapide altern

Eine seltene Krankheit lässt Kinder vier- bis fünfmal schneller altern: Progerie. Ein Medikament könnte das Leben positiv beeinflussen. Doch es ist in Europa nicht zugelassen.

Sascha Karberg
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Sehen aus wie Greise, sind aber noch Kinder: Opfer der seltenen Krankheit Progerie.

Sehen aus wie Greise, sind aber noch Kinder: Opfer der seltenen Krankheit Progerie.

HO

525 949 lange Minuten hat ein Jahr. Zeit im Überfluss. Doch für ein Mädchen aus dem schwäbischen Süddeutschland vergehen die Minuten vier- bis fünfmal so schnell.

Obwohl Alina erst zwei Jahre alt ist, ähnelt ihr Körper schon jetzt dem einer Greisin. Sie hat Progerie, eine extrem seltene Krankheit, die das Mädchen so rapide altern lässt, dass es vielleicht nie ein Teenager wird sein können.

Doch es gibt Hoffnung. Bostoner Forscher entdeckten vor gut zehn Jahren die Genmutation, die das galoppierende Altern auslöst, und konnten nach jahrelangen Tests 2012 nachweisen, dass ein Krebsmedikament namens Lonafarnib den Verfall der Zellen zumindest zügeln kann.

Seitdem kämpft Alinas Arzt dafür, das Medikament importieren und verabreichen zu dürfen. Ein Kampf gegen Vorschriften und Regelungen, Krankenkassen und Pharmafirmen wie ihn Patienten mit seltenen Erkrankungen viel zu oft erleben.

Nur bei 50 Patienten diagnostiziert

Dass irgendetwas nicht stimmte, ahnten Alinas Eltern schon, als sie ihr Kind nach der Geburt genauer betrachteten: lederartige Haut am Bauch, kleine Ohren, vogelartiges Gesicht mit grosser Stirn, spitzer Nase und fliehendem Kinn.

Und dann nahm Alina kaum ein paar Gramm zu. Immer wieder musste das Mädchen ins Krankenhaus, wurde per Magensonde ernährt.

«Keiner konnte uns sagen, was mit ihr los ist», sagt der Vater, der nach Krankheitsbildern googelte.

«Da habe ich das erste Mal von Progerie gelesen.» Aber warum sollte ausgerechnet seine Tochter eine Krankheit haben, mit der nur eines von 400 000 Kindern geboren wird und die nur bei rund 50 Patienten weltweit diagnostiziert ist?

Doch nach einem Gentest steht fest, dass Alinas Erbgut im sogenannten Lamin-A-Gen eine ungewöhnliche Mutation hat – Ursache einer besonders schnell verlaufenden Progerie, sagt Alinas Arzt Thorsten Marquardt, ein Spezialist für Progerie und andere seltene Kindererkrankungen am Universitätsklinikum Münster: «Normalerweise wird Progerie so früh noch gar nicht diagnostiziert, aber Alina sah schon im ersten Jahr so aus wie andere Progerie-Kinder erst mit sechs.»

Lamin-A ist ein Protein, das die Zellkerne aller Zellen wie ein Gerüst stabilisiert. Ist es defekt, zum Beispiel durch Alterungsprozesse oder wie bei Alina aufgrund einer Mutation im Gen für Lamin-A, wird das Gerüst brüchig, die Zellen sterben ab, der Körper altert. Das defekte Lamin-A-Protein hat ein chemisches Anhängsel, ein Farnesyl, zu viel, das nicht entfernt werden kann.

Alle experimentellen Progerie-Medikamente haben deshalb zum Ziel, das überflüssige Farnesyl-Anhängsel loszuwerden oder es gar nicht erst entstehen zu lassen.

Und tatsächlich hemmt Lonafarnib die Übertragung von Farnesyl auf das Lamin-A-Protein, so das Ergebnis einer Studie am Children’s Hospital in Boston, Massachusetts.

«Zum allerersten Mal sehen wir, dass eine Arznei den Krankheitsverlauf von Kindern mit Progerie positiv beeinflussen kann», jubelte Studienleiterin Leslie Gordon, die vor zehn Jahren die ursächliche Genmutation entdeckte und selbst Mutter eines Progerie-Jungen ist.

Von Heilung kann zwar keine Rede sein, doch immerhin nahmen 9 der 25 Progerie-Kinder unter Lonafarnib-Therapie zu, zehn konnten ihr Gewicht halten. Und bei 17 von 18 Kindern verbesserte sich die Elastizität der Blutgefässe, die zum Beispiel Herzinfarkten vorbeugt.

Studien rentieren sich nicht

Sofort bemühte sich Marquardt für Alina um das Medikament: «Die Krankheit schreitet so schnell voran, dass wir keine Zeit zu verlieren haben.»

Doch es dauerte über ein Jahr, bis das Mädchen vor wenigen Tagen endlich die erste Dosis bekommen konnte. Monatelang hatte Marquardt mit der US-amerikanischen Pharmafirma Merck (MSD Sharp & Dohme) verhandelt, denn «lokale gesetzliche Rahmenbedingungen», so eine Firmensprecherin, hätten verhindert, auch europäische Patienten zeitnah zu versorgen.

Das Problem: Lonafarnib ist noch nicht als Medikament zugelassen, weder in den USA noch in Europa, und darf deshalb nicht einfach importiert und verschrieben werden.

Um unvorhergesehene Nebenwirkungen zu verhindern, dürfen Arzneimittel nur dann verschrieben werden, wenn sie nach einem dreistufigen Prüfverfahren von der jeweils zuständigen Arzneimittelbehörde, in der Schweiz Swissmedic, zugelassen wurden.

Doch bei seltenen Erkrankungen kommt es oft gar nicht dazu, weil sich die teure Entwicklung und die klinischen Tests für die wenigen Patientinnen und Patienten nicht rentieren.

«Wenn es in Deutschland keine zugelassene Therapie für eine Krankheit gibt, dann darf im Ausnahmefall für einzelne Patienten ein Arzneimittel importiert werden aus einem Land, in dem es zugelassen ist», so Gerhard Nitz, Anwalt für Arzneimittelrecht der Berliner Kanzlei Dierks und Bohle.

Deutsche Krankenkassen müssen die Kosten dafür jedoch nur dann übernehmen, wenn eine «schwerwiegende» Krankheit vorliegt und eine «hinreichende Aussicht auf einen Behandlungserfolg» besteht.

Dazu müssen die Ärzte auf Studien verweisen können, die die Wirksamkeit des Medikaments belegen – die es aber oft nicht gibt.

Seit 2006 gilt deshalb, dass Ärzte Medikamente wie Lonafarnib zumindest im Fall einer «akut lebensbedrohlichen» Erkrankung einsetzen dürfen.

«Seitdem streiten Patienten, Ärzte und Krankenkassen in Deutschland darüber, ob eine ‹akut lebensbedrohliche Erkrankung› vorliegt oder nicht», so Nitz.

Bessere Regelung für die Schweiz

Würde Alina in der Schweiz leben – wo derzeit allerdings kein Fall von Progerie bekannt ist –, wäre die Importierung des Medikaments etwas einfacher verlaufen.

In der Schweiz ist die Situation für Patienten mit seltenen Erkrankungen zumindest seit 2011 ein Stück weit besser geregelt, so Ursula Eggenberger Stöckli, Rechtsanwältin und Apothekerin bei der Berner Kanzlei Bratschi, Wiederkehr & Buob.

Zwar werden auch hier Arzneimittel, die nicht zugelassen sind oder ausserhalb der zugelassenen Indikation eingesetzt werden, von der sozialen Krankenversicherung eigentlich nicht vergütet.

Doch seit 2011 regulieren die Artikel 71 a und b in der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) den Einsatz und die Erstattung von Medikamenten wie Lonafarnib.

Demnach werden die Kosten übernommen, wenn vom Einsatz ein «grosser therapeutischer Nutzen» zu erwarten ist, gegen Krankheiten, «die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder schwere und chronische gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen kann, und wegen fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame und zugelassene Behandlungsmethode verfügbar ist».

Noch immer müssen Ärzte wie Marquardt, die seltene Erkrankungen behandeln wollen, gegen bürokratische Widerstände kämpfen.

«Solche Auseinandersetzungen kosten mich einen Grossteil meiner Arbeitszeit», seufzt der Arzt.

Dieses Mal hat er Behörden und Krankenkassen überzeugen können. Alina und vielleicht auch bald anderen Progerie-Kindern in Europa kann jetzt ein wenig geholfen werden. Es war höchste Zeit.