Staatsgalerie

Die Evolution eines Raumes

Zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys erinnert Stuttgart daran, wie sich der Künstler 1984 im Stirling-Bau einrichtete – und Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ auf Sockel stellte.

26.03.2021

Von MARCUS GOLLING

Joseph Beuys 1971 in Stockholm mit seiner Installation „Plastischer Fuß Elastischer Fuß“. Sie steht seit 1984 in der Staatsgalerie Stuttgart. Foto: Lothar Wolleh Estate Berlin

Joseph Beuys 1971 in Stockholm mit seiner Installation „Plastischer Fuß Elastischer Fuß“. Sie steht seit 1984 in der Staatsgalerie Stuttgart. Foto: Lothar Wolleh Estate Berlin

Stuttgart. Joseph Beuys, der Arbeiter. So kann man ihn sehen auf den Fotos in der Staatsgalerie Stuttgart. Der Künstler, der mit rätselhaften Wörtern wie „Energieplan“ oder „Polarität“ hantierte und jederzeit Spontanvorträge über Geld- oder Friedenspolitik halten konnte, kraxelte selbst auf die Leiter. Eine wichtige Erinnerung an die Normalmenschlichkeit des vor 100 Jahren geborenen Überkünstlers, dessen Größe schon vor dem Jubiläumsjahr auf Legendenformat geschwollen war. Über die Frage, ob er eher Visionär oder Hochstapler, ein moderner Demokrat oder ein völkischer Esoteriker war, wird unter Forschern noch immer gestritten. Die meisten Betrachter wären auch 35 Jahre nach seinem Tod schon froh, wenn sie denn verstünden, was Beuys ihnen mitteilen wollte.

Noch immer unverändert

Die Staatsgalerie unternimmt in ihrer von Ina Conzen betreuten Ausstellung „Joseph Beuys. Der Raumkurator“ dazu einen einigermaßen vielversprechenden Erklärungsversuch, jedenfalls was den vom Künstler zur Neueröffnung des Stirling-Baus 1984 persönlich eingerichteten und seither praktisch nicht angetasteten Eckraum angeht. Dieser, nun im Zentrum der Schau, wird dominiert von zwei großen, bereits in den 1960ern erstmals gezeigten Installationen: „Plastischer Fuß Elastischer Fuß“ und „dernier espace avec introspecteur“. Dazu kommen zwei kleinere Plastiken („Kreuzigung“ und „Friedenshase“) sowie eine Arbeit von Andy Warhol. Vor allem die beiden Installationen greifen so stark ineinander, dass man den Raum als ein Kunstwerk begreifen muss.

Joseph Beuys (1921-1986) jedenfalls brachte für Stuttgart mehr als nur ein paar Kisten Kunstkram mit, er griff, wie der Titel der Ausstellung verrät, als „Raumkurator“ massiv in das sich neu formierende Museum ein. Das fing bereits damit an, dass er eigentlich einen anderen Raum mit dem „dernier espace“ bespielen sollte, diesen aber als zu „mickerig“ empfand – die zur Installation gehörenden Eisen-Filz-Rollen wollte er keinesfalls abschneiden. So erstritt er sich den benachbarten Eckraum, für den er dann selbst vom damaligen Besitzer „Plastischer Fuß Elastischer Fuß“ als Ergänzung organisierte.

Beuys war es auch, der anregte, die Figurinen von Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ nicht mehr auf einer Bühne zu präsentieren, sondern einzeln auf 1,80 Meter hohen Sockeln im Raum zu verteilen. „Der Besucher wird dadurch Teil der Choreografie“, erklärt Kuratorin Ina Conzen. Beuys wollte das Museum als „Ort permanenter Konferenz“, der spirituellen und gesellschaftlichen Aktivierung. Dass er durch seinen Eingriff Schlemmers Werk umdeutete, focht ihn trotz deutlicher Kritik von dessen Familie nicht an. Er sei Schlemmer verwandter als diese, argumentierte er, durch „Geistesbanden, nicht Blutsbanden“. Im Entree der neuen Ausstellung wurde Beuys' Interpretation des „Triadischen Balletts“ wiederhergestellt, aus konservatorischen Gründen allerdings in einen abgedunkelten Saal, was die Präsentation etwas weihevoll daherkommen lässt.

Danach folgt ein Raum mit Zeichnungen aus dem Bestand der Staatsgalerie, auf denen sich – der Künstler verwendete stets gebrauchtes Papier – bereits Spuren der folgenden Installationen erkennen lassen. „Beuys hat in seinen Zeichnungen ganz viel vorbereitet“, sagt Kuratorin Conzen. Dass die Notizen Teil von Kunstwerken werden, sei nur konsequent. „Das Denken ist für ihn ein plastischer Prozess.“ Auf der anderen Seite betonte Beuys selbst: „Kunst ist nicht zum Verstehen da.“ Wobei der Prozess des Verstehenwollens wiederum Wärme und damit Energie freisetze.

Beuys, der Denker-Künstler. Oder der Schwurbler? Es bleibt kompliziert mit ihm, deshalb ist der Zettelkasten in der Ausstellung eine gute Idee: Auf Postkarten zum Mitnehmen werden einige wichtige Begriffe im Werk des Künstlers erklärt – eine große Hilfe beim Betrachten der Installationen im bekannten Beuys-Raum. Die „Wärme“ ist bei „Plastischer Fuß Elastischer Fuß“ wohl der wichtigste Begriff, denn sowohl die Metallplatten am Boden als auch der Filz und das im Fuß versteckte Fett der linken Plane sind in der Definition des Künstlers wärmespeichernde Materialien, während das Gummi der zweiten Plane für Elastizität steht. Diese Kräfte, den Energiestrom zwischen den Elementen, soll der Betrachter erspüren.

Der Filz fehlte anfangs noch

Das kann er allerdings schon seit 1986 (das Filzelement fehlte anfangs wegen eines Schadens), weshalb im Fall von „Joseph Beuys. Der Raumkurator“ der Blick vor allem auf die neu hinzugefügten Arbeiten gerichtet werden sollte. Interessant die vielen Fotografien, welche die Evolution der Installationen auf ihren Stationen vor Stuttgart demonstrieren. „Plastischer Fuß Elastischer Fuß“ etwa wurde 1969 in Düsseldorf in einem schmalen Gang präsentiert, noch ohne die Stahlplatten, die kamen erst 1971 in Stockholm dazu. Eine ganz andere Wirkung, eine ganz andere (geringere) Kraft.

Neben der aufwendig restaurierten Installation „Beuys Video Wall“ von Nam June Paik, die erstmals seit 20 Jahren in der Staatsgalerie wieder nervös flackern und blinken darf, lohnt vor allem eine neu erworbene Zeichnung den Blick: Für das mehr als dreieinhalb Meter breite Blatt pauste Beuys einen 1976 in Paris entstandenen Fettfleck auf einer Metallplatte „Plastischer Fuß Elastischer Fuß“ ab, wobei er neben dem Bleistift auch Hasenblut benutzte. Beuys, der Schamane. Aber auch: Beuys, der selbst aus einem ärgerlichen Zwischenfall noch Kunst erschaffen konnte.

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Erstellt:
26.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 31sec
zuletzt aktualisiert: 26.03.2021, 06:00 Uhr

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