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Geschichte Volksaufstand in der DDR

Streik ohne Streikführer und die Rachsucht des Systems

Der vermeintliche Streikführer blieb dem Streik fern: Das Schicksal des Berliner Hilfsarbeiters und FDGB-Funktionärs Max Fettling illustriert, wie es zum Volksaufstand 1953 kam – und wie sich die SED rächte. Insgesamt gab es mindestens 55 Tote.
Leitender Redakteur Geschichte
Massendemonstration in der Stalinallee am 16.06.1953. In der Ost-Berliner Stalinallee kam es am Dienstag (16.06.1953) zu Masendemonstrationen gegen das kommunistische Regime in der Sowjet-Zone. Angeführt von den Ost-Berliner Maurern, die am gleichen Tage in den Streik traten, formierte sich gegen zehn Uhr ein Demonstrationszug mit erregten Arbeitern. Etwa um 17 Uhr versammelten sich wieder etwa 1000 Bauarbeiter zu neuen Zügen, die durch die gesamte Stalinallee führten und in Sprechchören zum Generalstreik aufriefen. Nach Streiks in Ost-Berlin kam es am 17. Juni 1953 zum Volksaufstand in der DDR, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde. Massendemonstration in der Stalinallee am 16.06.1953. In der Ost-Berliner Stalinallee kam es am Dienstag (16.06.1953) zu Masendemonstrationen gegen das kommunistische Regime in der Sowjet-Zone. Angeführt von den Ost-Berliner Maurern, die am gleichen Tage in den Streik traten, formierte sich gegen zehn Uhr ein Demonstrationszug mit erregten Arbeitern. Etwa um 17 Uhr versammelten sich wieder etwa 1000 Bauarbeiter zu neuen Zügen, die durch die gesamte Stalinallee führten und in Sprechchören zum Generalstreik aufriefen. Nach Streiks in Ost-Berlin kam es am 17. Juni 1953 zum Volksaufstand in der DDR, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde.
Ost-Berliner Bauarbeiter demonstrieren am 16. Juni 1953 gegen die SED und ihre Politik – es ist der Auftakt zum Volksaufstand in der gesamten DDR am folgenden Tag
Quelle: picture alliance / UPI
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Vier Jahre Zuchthaus für eine einzige Unterschrift – das ist eine harte Strafe. Und es hätte noch schlimmer kommen können, denn eigentlich war der Hilfsarbeiter Max Fettling zu gleich zehn Jahren hinter Gittern verurteilt worden. Von denen er nach fast 49 Monaten im Sommer 1957 „auf Bewährung“ entlassen wurde.

Um die Freiheit gebracht hatte ihn die Rachsucht der SED. Denn sein Name stand am 15. Juni 1953 unter einem spektakulären Brief an den DDR-Ministerpräsidenten und SED-Mitvorsitzenden Otto Grotewohl. Darin hieß es: „Wir Kollegen der Großbaustelle des Krankenhauses Friedrichshain vom VEB Industriebau wenden uns an Sie, Herr Ministerpräsident, mit der Bitte, von unseren Sorgen Kenntnis zu nehmen. Unsere Belegschaft ist der Meinung, dass die zehn Prozent Normerhöhung für uns eine große Härte ist. Wir fordern, dass von dieser Normerhöhung Abstand genommen wird.“

kombo fettling 17. juni
Max Fettling (li. das einzig bekannte Foto) unterschrieb das Protestschreiben seiner Kollegen (Mi.), demonstrierte aber nicht mit (re. Arbeiter am Haus der Ministerien)
Quelle: via SPD; BStU; picture alliance/ZUMAPRESS.com

Das Schreiben enthielt sogar eine Fristsetzung: „In Anbetracht der erregten Stimmung der gesamten Belegschaft fordern wir, zu diesen schwerwiegenden Punkten unverzüglich Stellung zu nehmen und erwarten Ihre Stellungnahme bis spätestens morgen Mittag.“ Unter seine Unterschrift drückte Fettling einen Stempel: „Betriebsgewerkschaftsleitung des VEB Industriebau.“

Ein Funktionär der Staatsgewerkschaft FDGB schrieb also an den Regierungschef und stellte offene Forderungen: Für den vermeintlichen „Arbeiter- und Bauern-Staat“ DDR war das ein ungeheuerlicher Vorgang. Was war geschehen?

Auf der Großbaustelle Krankenhaus Friedrichshain wurde am Montag, dem 15. Juni 1953, vormittags nicht gearbeitet. Im Kulturraum der Baustelle trafen sich Vorarbeiter (in der „klassenlosen Gesellschaft“ bekannt als „Brigadiers“) mit Fettling und einigen Funktionären der SED und forderten die umgehende Rücknahme der zum 1. Juni verfügten Normerhöhung. Denn faktisch handelte es sich um ein zehnprozentige Lohnkürzung.

Auf den Gerüsten saßen die Arbeiter und skandierten: „Streiken! Streiken!“ Die Vorarbeiter formulierten ein Ultimatum. Martin Ullrich, Abteilungsleiter der SED-Kreisorganisation in Friedrichshain, erinnerte sich später an die „unverschämte Form“ des Briefes. Denn darin wurde den selbst ernannten Führern der Arbeiterpartei bei Nichterfüllung der Forderung binnen 24 Stunden ein Streik angedroht.

Ullrich versuchte, die Empörung in den Griff zu bekommen. Er entwarf einen neuen Brieftext, viel weniger scharf und mit einer viertägigen Frist versehen. In dieser Zeit, so hoffte der SED-Mann, würde man die Empörung der Arbeiter wieder in den Griff bekommen. Nach längeren Diskussionen unterzeichnete Fettling als Vertreter seiner Leute schließlich einen Protestbrief, der die beiden Entwürfe miteinander kombinierte. Er war es auch, der ihn zum Haus der Ministerien an der Leipziger Straße brachte.

Massendemonstration in der Stalinallee am 16.06.1953. In der Ost-Berliner Stalinallee kam es am Dienstag (16.06.1953) zu Masendemonstrationen gegen das kommunistische Regime in der Sowjet-Zone. Angeführt von den Ost-Berliner Maurern, die am gleichen Tage in den Streik traten, formierte sich gegen zehn Uhr ein Demonstrationszug mit erregten Arbeitern. Etwa um 17 Uhr versammelten sich wieder etwa 1000 Bauarbeiter zu neuen Zügen, die durch die gesamte Stalinallee führten und in Sprechchören zum Generalstreik aufriefen. Nach Streiks in Ost-Berlin kam es am 17. Juni 1953 zum Volksaufstand in der DDR, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde.
Auf der Stalinallee formiert sich am 16. Juni 1953 gegen zehn Uhr ein Demonstrationszug mit erregten Arbeitern auf dem Weg zum Haus der Ministerien an der Wilhelmstraße
Quelle: picture alliance / dpa

Doch Otto Grotewohl hatte an diesem Tag andere Sorgen: Wieder einmal stritt sich das SED-Politbüro über die „richtige“ Richtung. Seit Stalins Tod im vergangenen März verschärften sich ständig die Spannungen; nun stand der Konflikt unmittelbar vor der Eskalation. Also schob Grotewohl die Behandlung des Schreibens an die SED-Bezirkleitung Berlin ab, und die unternahm, in bester kommunistischer Tradition bei Ausbleiben der Anweisungen von oben: nichts.

Am nächsten Morgen, Dienstag, dem 16. Juni, heizte ein Artikel in der „Tribüne“, der Zeitung der SED-Einheitsgewerkschaft FDGB, die Stimmung weiter an. Denn darin verteidigte ein Funktionär die Normerhöhung. Sein Artikel war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

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Jetzt richteten sich die Bauarbeiter gegen die Regierung der „Diktatur des Proletariat“, die in Wirklichkeit nur eine Diktatur der Staatspartei und ihrer Funktionäre war. Fettling versuchte, sie aufzuhalten. Vergebens: Er hatte keinen Einfluss mehr auf seine Leute. Und blieb auf der Baustelle zurück.

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Seine Kollegen und viele andere Arbeiter strömten zur Kreuzung Wilhelm- und Leipziger Straße in Mitte. Hier gab es die erste regierungskritische Massendemonstration; West-Berliner Zeitungen beschrieben das Geschehen überrascht, aber zutreffend: „Vor dem Regierungsgebäude, dem ehemaligen Luftfahrtministerium in der Leipziger Straße, kam es zwischen empörten Arbeitern und Mitgliedern der Sowjetzonenregierung zu turbulenten Szenen, die einem Volksaufstand glichen.“

Auch am nächsten Tag, dem 17. Juni, beteiligt sich Max Fettling nicht an den Protesten, sondern saß weitgehend allein auf der Baustelle in Friedrichshain herum. Weitgehend allein, denn sehr viele Menschen in Ost-Berlin waren nun auf den Straßen unterwegs, und die das nicht wollten, blieben lieber daheim.

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An diesem Mittwoch griff der Aufstand auf fast die ganze DDR über. An mehr als 700 Orten demonstrierten Millionen Bürger gegen die kommunistische Diktatur und für freie Wahlen. An manchen Orten, etwa Halle, wurden Haftanstalten gestürmt und politische Gefangene befreit. Das SED-Politbüro war ratlos und rief die sowjetischen Besatzungstruppen zu Hilfe. Bald rollten Panzer aus ihren Garnisonen nach Ost-Berlin hinein und walzten ab Mittag den Aufstand nieder. Nachmittags begann Ähnliches in der ganzen DDR. Max Fettling hingegen strebte nach Feierabend ganz ruhig nach Hause, wo er kurz darauf festgenommen wurde.

In West-Berliner Krankenhäusern erlagen acht Menschen den Verletzungen, die sie bei der Niederschlagung des Aufstandes erlitten hatten; sie wurden am 23. Juni 1953 gemeinsam auf dem Urnenfriedhof Wedding zusammen beigesetzt. Insgesamt starben in der ganzen DDR 34 Demonstranten, Passanten und Zuschauer an den Folgen von Schussverletzungen, die ihnen von Volkspolizisten oder sowjetischen Soldaten am 17. Juni zugefügt wurden.

Fünf Männer wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht hingerichtet, zwei weitere Höchststrafen von DDR-Gerichten verhängt und vollstreckt. Vier wegen des 17. Juni Inhaftierte gingen an menschenunwürdigen Haftbedingungen zugrunde, ebenso viele verübten in Haft offiziell Selbstmord, wobei zumindest in zwei Fällen Fremdeinwirkung nicht auszuschließen war. Ein Demonstrant verstarb beim Sturm auf ein Volkspolizei-Revier an Herzversagen.

Auch fünf Angehörige der DDR-Sicherheitsorgane wurden getötet: Zwei Volkspolizisten und ein MfS-Mitarbeiter wurden beim Sturm auf ein Gefängnis von Unbekannten erschossen, ein Mitarbeiter des Betriebsschutzes von einer wütenden Menge erschlagen und ein weiterer Volkspolizist versehentlich von sowjetischen Soldaten getötet.

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Dass in Ost-Berlin und bei Magdeburg zusammen 41 sowjetische Soldaten wegen Befehlsverweigerung von ihren Vorgesetzten exekutiert worden seien, war bald im Westen zu lesen, konnte aber nie bestätigt werden. Von 25 weiteren Todesfällen konnte immerhin in sieben Fällen ermittelt werden, dass es keinen Zusammenhang mit dem Volksaufstand gab. 18 Fälle bleiben zweifelhaft.

Mindestens 55, vielleicht auch bis zu 77 Menschen zwischen 14 und 63 Jahren verloren für den rücksichtslos durchgesetzten Machterhalt der SED im Juni 1953 ihr Leben. Opfer waren aber auch jene, die wie Max Fettling eingesperrt weiterleben durften. Da es gegen den Gewerkschaftsfunktionär schlicht keinerlei auch nur ansatzweise begründete Vorwürfe gab, erfand der SED-Geheimdienst einfach den entscheidenden Anklagepunkt: „Der Beschuldigte Fettling stellte sich durch sein Verhalten in die Dienste der faschistischen Provokateure, die in der DDR einen neuen Kriegsherd entfachen wollten.“ Das Urteil zehn Jahre Zuchthaus und knapp 49 hinter Gittern abgesessene Monate waren die Folge.

Nach seiner Entlassung flüchtete der vermeintliche Streikführer, der in Wirklichkeit dem Streik ferngeblieben war, nach West-Berlin und lebte hier die restlichen, knapp 17 Jahre seines Lebens. Erst seit 2003 trägt die Vorfahrt zum Krankenhaus Friedrichshain den Namen Max-Fettling-Platz.

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