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Sex war in Rom eine inflationäre Handelsware

Freier Autor Geschichte
Gladiatoren, Prostituierte, Legionäre: Der Althistoriker Robert Knapp rekonstruiert eindrucksvoll die Lebenswirklichkeit von Römern, die nicht der gesellschaftlichen Elite des Imperiums angehörten.

Als vor einigen Jahren Deutschlands politische Klasse über spätrömische Dekadenz debattierte, stellte das vor allem zwei Dinge klar: zum einen, dass Spitzenpolitiker aller Parteien vor dem Verlust historischer Bildung nicht gefeit sind; zum anderen, dass die Entfernung zwischen ihnen und dem Rest der Bevölkerung sich seit den Tagen der Cäsaren nur unwesentlich verringert hat.

Auch die Senatoren und Ritter, die beiden höchsten sozialen Gruppen der römischen Gesellschaft, wussten nicht wirklich, was in den Köpfen der gemeinen Bürger, Unterworfenen, Sklaven vor sich ging. Das aber hatte fatale Folgen. Während heutzutage buchstäblich jede Ansicht oder Begierde von Meinungsforschern entschlüsselt wird, hielten Roms Eliten auf Distanz. Da aber ihre Angehörigen es waren, die die Bücher schrieben, die Zeugnisse ihrer Zeit für die Nachwelt wurden, erhielten diese ein frappierendes Manko: Das Gros der Römer kam darin nicht vor.

Sie lebten im Schatten, konstatiert der amerikanische Althistoriker Robert Knapp. Der Emeritus der Universität Berkeley hat viel Zeit seines Lebens darauf verwendet, aus Nebensätzen großer Historiker, aus Orakelsprüchen, Traumbüchern, Papyri, Inschriften, Theaterstücken, Gedichten oder Romanen ein Bild davon zu gewinnen, wie die normalen Männer und Frauen im Imperium lebten, Gladiatoren, Prostituierte oder Soldaten.

5000 von 60 Millionen Einwohnern

Zusammengefasst hat er das in dem Buch "Römer im Schatten der Geschichte", das nicht nur ein schönes Beispiel ist für einen Nebenweg der Altertumswissenschaften. Sondern auch für das Engagement des Stuttgarter Verlages Klett-Cotta, der seit Jahren mit eindrucksvoller Regelmäßigkeit historische Bücher aus der angelsächsischen Welt für den deutschen Markt entdeckt. Auch Knapps Buch verbindet wunderbares Lesevergnügen mit hohem Erkenntnisgewinn.

Vorweg ein paar Zahlen, um den Kosmos zu konturieren, um den es geht: Rom beherrschte die mediterrane Welt mehr als 800 Jahre lang, von den Siegen über die hellenistischen Könige 197/190 v. Chr. bis zum Arabersturm ab 634. In seiner besten, der hohen Kaiserzeit vom ersten bis dritten Jahrhundert lebten in diesem Weltreich zwischen 50 bis 60 Millionen Menschen, rund neun Millionen davon besaßen das römische Bürgerrecht.

Von diesen gab es vielleicht 5000 erwachsenen Männer, die einen Reichtum von mehr als einer Million Sesterzen (Senatoren) oder mehr als 400.000 Sesterzen (Ritter) verfügten. Hinzu kamen noch 30.000 bis 35.000 Männer, die in den 250 bis 300 Städten des Imperiums das Sagen hatten, was auch eine sozioökonomische Stellung markierte.

Ein Viertel gehörte der Mittelschicht an

Während aber diese – mit Familienanhang – 0,5 Prozent Bevölkerung nach Knapp "wahrscheinlich 80 Prozent oder mehr des Gesamtvermögens" kontrollierten, verteilte sich auch der Rest in höchst ungleicher Weise. Das Gros gehörte vielleicht 25 Prozent der übrigen Bevölkerung, einer Mittelschicht, die sich durch relativ gesicherte Ressourcen und ein Arbeitsethos auszeichnete. Das waren Händler, Gewerbetreibende, Handwerker oder auch größere Bauern. Der Rest führte ein prekäres, oft unfreies Leben.

Was das bedeutete, macht Knapp am Beispiel eines allgegenwärtigen und umsatzstarken Gewerbes deutlich: der Prostitution. "Ich bin dein für ein Kupferstück", heißt es auf einem Graffiti aus Pompeji. Allerdings gab es auch Frauen wie eine gewisse Attica, die nur "für 16 Asse" zu haben war. "Quadrantaria" (nach ein Viertelas), wir würden sagen "Fünf-Cent-Huren" markierten das andere, untere Ende der Beischlaf-Hierarchie.

Für zwei Asse (2,5 Asse waren ein Sesterz, zehn ein Dinar) konnte sich ein Römer sein tägliches Brot, einen Becher Wein und vielleicht etwas Käse leisten. Acht bis zehn Asse waren ein guter Tageslohn, mit dem ein Familienvater seine Familie über die Runden bringen konnte, vorausgesetzt, er hatte viele Tage im Jahr Arbeit (was aber kaum der Fall war).

Als Zwischengang oder als Quickie

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Eine Prostituierte der Mittelklasse konnte es also leicht auf 20 Asse pro Tag bringen. Kein Wunder also, dass Sex gegen Geld geradezu omnipräsent angeboten wurde, in klassischen Bordellen ebenso wie zum Zwischengang in der Kneipe oder als Quickie in den Thermen.

Die hohe Nachfrage und ständige Verfügbarkeit von käuflichem Geschlechtsverkehr erklärt sich nicht nur durch das Fehlen von den elektronischen Unterhaltungsformaten unserer Tage. Die Ehe war keine Liebesangelegenheit, sondern eine Geschäftsbeziehung, in der der Mann das fast absolute Sagen hatte.

Waren die meisten Familien froh, ihre Töchter mit fünfzehn Jahren zu verheiraten und sie damit aus der Liste der zu Ernährenden streichen zu können, fanden Männer oft erst in den späten Zwanzigern zur Ehe. Die – wie viele Quellen bezeugen - "minderwertige Frau" hatte den Haushalt zu führen, die Kinder aufzuziehen und dem Mann zu dienen, was auch bedeutete, seinen – hohen – Vorstellungen von Ehre zu genügen. Sex diente der Reproduktion und Schaffung neuer Arbeitskräfte, nicht der Erfüllung von Leidenschaften.

Keine tödlichen Geschlechtskrankheiten

Der Mann, der auf Stellungen stand, die nicht "Körper an Körper" vollzogen wurden, tat sich daher auf dem Markt um. Eine Ahnung von der Fülle seines reichhaltigen Angebots hat sich in Pompeji und seinen Inschriften erhalten. Knapp versäumt es im Übrigen nicht, darauf hinzuweisen, dass der erotische Markt der Antike sich von seinen Nachfolgern in einem Aspekt unterschied: tödliche Geschlechtskrankheiten wie Syphilis und Aids gab es noch nicht.

Aber das Leben der meisten Römer war trotzdem kein Zuckerschlecken. Weil es keine Polizei gab, grassierte der Diebstahl. Täglich konnten Brände das Vermögen vernichten. Bei Krankheiten opferte man lieber einem Gott als dass man einen teuren Arzt konsultierte. Die meisten Arbeitsverträge wurden auf Tagesbasis abgeschlossen. Jederzeit konnten Schiffe untergehen, Ernten verdorren, Kinder sterben. Kein Wunder, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei 45 Jahren lag. Nur Feinde sah man lange nicht so oft, das war der Vorteil, wenn man Herr der Welt war.

Genussvoll räumt Knapp mit liebgewordenen Vorstellungen auf. Etwa, dass die Thermen beispielhafte Hygienestationen gewesen seien: "Alles, was die Menschen an Unrat, Dreck, Körperflüssigkeiten und Keimen mit ins Bad brachten, hatte das Wasser alsbald auf die übrigen Badenden übertragen. Vor allem im Warmbad dürfte die Bakterienzahl astronomische Höhen erreicht haben." Zwar standen, wie auch allerorts in den Städten, auch hier Latrinen zur Verfügung. Aber das "Traumbuch" des Artemidor von Daldis warnt nicht umsonst vor der Notdurft im Bade.

Viele zog es zu den Legionären

Das Leben der Legionäre war dagegen keineswegs so qualvoll, wie uns das im "Asterix"-Universum immer vorgegaukelt wird. Im Gegenteil. Rund 300.000 Mann umfasste die Militärmacht der hohen Kaiserzeit. Da sich die Zahl der Kriege bis zum Ende des 2. Jahrhunderts in überschaubarem Rahmen hielt, nimmt Knapp eine Zahl von 7500 bis 10.000 Mann an, die pro Jahr rekrutiert werden mussten.

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An Interessenten war kein Mangel. Nicht nur lockten hohes Sozialprestige, regelmäßige Versorgung und gute ärztliche Betreuung. Sondern Soldaten waren auch dem väterlichen Zugriff entzogen und verdienten soviel wie ein fleißiger Arbeiter am Tag, das aber an jedem Tag des Jahres ohne die Last chronischer Unterbeschäftigung.

Untersuchungen zeigen, dass nach allen Abzügen und Ausgaben für persönliche Bedürfnisse wie des Bordell-Besuchs noch ein Viertel des Jahressolds gespart werden konnten. Brachte es der Legionär gar zum Centurio, bekam er den 17-fachen Sold. Und wenn es doch mal zum Krieg kam, lockten außerordentliche Zulagen und Beute.

Sklaven konnten sich freikaufen

Man hat das römische Kaiserreich auch eine Militärmonarchie genannt. Ihr größter Ausgabenposten waren die Legionen. Entsprechend gut ließ sich in ihnen leben. Doch selbst am anderen, unteren Ende der sozialen Skala war es nicht so trostlos, wie es das Schlagwort von der Sklavengesellschaft nahe legt. Rund fünfzehn Prozent der Bevölkerung gehörten ihr an, in Italien wohl mehr, in vielen Gebieten weniger. Gewiss: "Es gab eine unbegrenzte Zahl besonderer Formen der Misshandlung, oft begleitet von bleibenden Zeichen der Erniedrigung wie dem Brandmarken", schreibt Knapp.

Sklaven waren der vollständigen Verfügungsgewalt ihrer Besitzer ausgesetzt, verfügten selten über einen Hauch von Privatsphäre, waren Opfer von Sadismus, sexueller Ausbeutung oder sonstiger Launen. Andererseits war es vielen erlaubt, eigene Geschäfte zu betreiben. Mit dem Gewinn konnten sie sich freikaufen oder, was gerade in städtischen Haushalten geschah, sie wurden irgendwann freigelassen.

Die ganze Ambivalenz einer sklavischen Existenz zeigte sich in der Arena. Vor allem waren es Sklaven, die bei den Kampfspielen zu Tode kamen. Massenhaft starben sie im Vorprogramm, bei Tierhetzen oder Massenhinrichtungen. Bei den Kämpfen zwischen ausgebildeten Kämpfern dagegen lag die Chance zu überleben bei 80 bis 95 Prozent.

Gladiatoren waren Popstars

Gladiatoren waren die Popstars der Antike. Sie gewannen Ruhm, Geld, die Gunst hochadeliger Frauen und mit etwas Glück am Ende ihre Freiheit. Allerdings fanden sich in einem branchenüblichen Massengrab, das 1997 in Ephesos entdeckt wurde, 67 Skelette von Kämpfern, von denen kaum einer älter als 30 Jahre geworden war.

Es ist faszinierend, aus welchen zum Teil entlegenen Puzzlesteinchen Knapp sein Panorama von Römern im Schatten zusammensetzt. Die historische Schlussfolgerung aber überlässt er dem Leser: So heikel das Leben eines Tagelöhners, so trostlos die Existenz eines Sklaven gewesen sein mag, sie alle konnten Trost und Ansporn finden in einer Welt, die voll war von Karrieren, die dem Prekariat entkommen waren.

Kern der spätrömischen Dekadenz

Der Freigelassene, der es zum Reeder, der Centurio, der es in den Rat einer Provinzstadt, die Prostituierte, die es zur ehrbaren Unternehmersgattin gebracht hatte – sie alle boten alltägliche Beispiele für eine gewisse Mobilität der römischen Gesellschaft. Über viele Jahrhunderte gab es die Chance auf einen "römischen Traum".

Der Soziologe Max Weber hat in der grassierenden Bürokratisierung in der Spätantike und ihrer brachialen Reduktion individueller Handlungsspielräume einen zentralen Grund für den Untergang Roms ausgemacht: "Die bürokratische Ordnung tötete, wie jede politische Initiative der Untertanen, so auch die ökonomische, für welche ja die entsprechenden Chancen fehlten." Weber wusste, dass eine solche Entwicklung nichts der Antike Spezifisches ist. Denn "jede Bürokratie hat die Tendenz, durch Umsichgreifen die gleiche Wirkung zu erzielen".

In diesem Sinne hatte Guido Westerwelle doch nicht ganz Unrecht, als er in unserer Gegenwart gewisse Zeichen spätrömischer Dekadenz entdeckte.

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