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Literatur Anna Amalia

Die verkannte Mutter der deutschen Klassik

Leitender Feuilletonredakteur
Wenn Anna Amalia in Weimar zur Mittwochstafel lud, kamen Goethe, Wieland und Herder. Drei biografische Bücher erforschen das Geheimnis der kunstliebenden Herzogin. Aber ihre Lebensleistung wird nicht angemessen gewürdigt.

Am Ende ihrer Biografie schreiben Leonie und Joachim Berger: „Anna Amalia von Weimar war eine von vielen Herzoginnen im Alten Reich des 18. Jahrhunderts. Ihre Leistungen sind nicht ,bedeutender’ als die der etwa gleichaltrigen Charlotte Amalia von Sachsen-Meiningen, die heute kaum jemand mehr kennt.“ Das ganze Dilemma der heutigen Geschichtswissenschaft findet sich in diesem törichten Satz.

In seiner Mischung aus Positivismus und Dekonstruktionswahn verfehlt er das Wesentliche. Es mag ja sein, dass auch die genannte Charlotte Amalia von Sachsen-Meiningen eine interessante, ja bedeutende Frau gewesen ist. Aber schon ein Quentchen Ehrfurcht vor dem, was Glück, Schicksal, Eigenleistung und nicht zuletzt das deutsche kollektive Gedächtnis aus der einen und der anderen Fürstin gemacht haben – und ein Satz wie der zitierte verböte sich von selbst.

Nicht Charlotte Amalia ist die Ermöglicherin dessen geworden, was wir heute als unser höchstes kulturelles Gut verehren: jenes Zusammenwirken von Kunst, Gelehrsamkeit und Geselligkeitskultur, das wir„deutsche Klassik“ nennen. Es war vielmehr Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, das sie 17 Jahre lang regierte – bis ihr ältester Sohn, Carl August, volljährig war. Doch auch als Herzoginmutter hat sie mit ihrem „Nebenhof“ das kulturelle Weimar stark geprägt.

Anna Amalia erfand den Musenhof

Was immer ihre Motive gewesen sein mögen – Prestigebewusstsein, eigenes Bildungsbedürfnis oder einfach die Unlust, sich von den Regularien eines oft langweiligen und geisttötenden Hoflebens überwältigen zu lassen: Sie schuf die Voraussetzungen dafür, dass im Herzen Thüringens das entstand, was später als Musenhof bezeichnet wurde und zahllose Menschen von fern und nah anzog.

Joachim Berger verwendet in seiner fundierten und in vielem aufschlussreichen Studie „Anna Amalia – Denk- und Handlungsräume einer ,aufgeklärten’ Herzogin“ viel Müh’ und Fleiß darauf, die Wendung vom „Musenhof“ als Konstrukt des 19. Jahrhundert zu entlarven und überhaupt den Anteil Amaliens an der Entstehung von Weimar als kulturellem Zentrum Deutschlands so gering wie möglich zu halten.

Doch selbst, wenn es stimmen sollte, dass sie hauptsächlich Leute engagierte, die ihr das Leben bei Hofe angenehm und abwechslungsreich zu gestalten versprachen, so bleibt doch die Tatsache bestehen: Es gibt in der Geschichte kaum Beispiele, dass ein Fürst und nun gar eine Fürstin so viele bürgerliche Intellektuelle an einen Hof zog wie diese Braunschweigische Prinzessin, die 1737 in Wolfenbüttel geboren wurde und vor 150 Jahren in Weimar starb.

Lebensleistung zu wenig gewürdigt

Umso erstaunlicher, dass sich die Biografen so schwer tun, die Lebensleistung dieser ungewöhnlichen Frau angemessen zu würdigen. Unter den Versuchen der vergangenen Jahre ragt darum das Buch von Annette Seemann heraus. Elegant geschrieben, steht es fest auf dem neuesten Stand der Erforschung dessen, was als „Ereignis Weimar“ längst ein großer Studienschwerpunkt vor allem an der Universität Jena ist.

Und es besitzt, neben dem klaren, schnörkellosen Stil, eine ganz spezifische Anschaulichkeit durch die vielen, meist farbigen Abbildungen, die ihm beigegeben sind. Auch wenn die Autorin vielleicht ein wenig zuviel Aufmerksamkeit jener Bibliothek schenkt, die heute Anna Amalias Namen trägt, so widmet sie sich doch auch ausgiebig der Frage, die heute natürlich vor allem die Gemüter beschäftigt:

Was war das für eine Frau, die, absichtlich oder nicht, so geschichtsmächtig wurde? Nichts nämlich, so Annette Seemann, sprach dafür, dass die Tochter aus dem hauptsächlich auf Preußen hin orientierten Herzogtum Braunschweig einst eine so große Rolle spielen sollte.

Anna Amalias Feuerprobe

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Doch die Weichen wurden früh gestellt. „In meinem 18. Jahr fing die größte Epoche meines Lebens an. Ich wurde zum zweiten Mal Mutter, wurde Witwe, wurde Vormundschaftsregentin. Die schnellen Veränderungen, welche Schlag auf Schlag kamen, machten mir einen solchen Tumult in meiner Seele, dass ich nicht zu mir selber kommen konnte. Ein Zusammenfluss von Ideen, von Gefühlen, die alle unentwickelt waren, kein Freund, dem ich mich aufschließen konnte. Ich fühlte meine Untüchtigkeit, und dennoch musste ich alles in mir selber finden.“

Soweit Anna Amalia in ihrer Autobiografie von 1772. Friss oder stirb, so könnte man die Lage der jungen Frau zu dem beschrieben Moment im Jahre 1758 beschreiben. Untergang oder Neuerfindung. Anna Amalia entschied sich dafür, sich neu zu erfinden. Sie, die immer betonte, ein unglückliches, ja ungeliebtes Kind gewesen zu sein, das im Gegenzug viel „Eigensinn“ entwickeln musste, um zu überleben – sie brach mit vielen Konventionen ihres Standes. Dabei setzte sie vor allem auf Professionalisierung und berief bürgerliche Experten.

Standeszugehörigkeit war ihr nicht wichtig

Die Erziehung ihrer beiden Söhne, aber auch die von ihr geförderten Bildungseinrichtungen für die Bevölkerung im Herzogtum waren ihr Hauptanliegen. Damit entstand, während ringsum in Europa der Absolutismus herrschte, so etwas wie eine erste offene Gesellschaft an einem deutschen Hof.

Dazu Annette Seemann: „Anna Amalias Gesellschaftsbegriff war durchlässig. Es war nicht nötig, mit dem Adelsprädikat auf der Brust bei ihr zu erscheinen. Man musste sich allerdings für Künste und/oder Wissenschaften interessieren, wenn man bei ihr reüssieren wollte. Insofern waren auch Jenenser Professoren immer wieder willkommen. Anna Amalias Berufungen folgten ihrem privaten Interesse, sich mit Kultur und Bildung zu umgeben, von neuen Erkenntnissen zu erfahren und zu diskutieren, ästhetische Eindrücke mit Freunden zu teilen, die eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse zu üben und zu überprüfen.“

Und solche Fähigkeiten und Kenntnisse hatte sie, baute sie aus. Sie spielte vier Instrumente. Sie komponierte, malte und zeichnete. Sie übersetzte aus mehreren Sprachen, vor allem aus dem Italienischen, das sie besonders liebte. Sie schrieb sogar einige fiktionale Texte. Zusammen mit Goethe gründete sie das Weimarer Liebhabertheater. Und sie unternahm, um endlich einmal „sich selbst zu gehören“, wie sie später sagte, die epochentypische Reise nach Italien. Zwei volle Jahre, von 1788 bis 1790, blieb sie dort. Anders als Goethe, der ihr vorausgegangen war, zog sie das lebendige, fröhliche, unbeschwerte Neapel dem standesbewussten Rom vor.

Treffpunkt der intellektuellen Elite

Sie liebte das einfache Leben, das sie als Frau von Stand zu Hause nicht leicht durchsetzen konnte. Man spürt ein wenig die Indignation ihres Kammerdieners Karl Wilhelm Heinrich von Lyncker, der die Zusammenkünfte bei der Herzogin folgendermaßen beschrieb:

„Zur Mittwochstafel der Herzogin wurden nur einer oder zwei von Adel, jederzeit aber mehrere schöne Geister eingeladen. Goethe, Wieland und Herder gerieten regelmäßig in lebhaften Streit; von Knebel und Einsiedel nahmen dann Partei. So entstand ein zwar an sich interessantes, aber oft solch lautes Gespräch, dass die Herzogin, Mäßigung gebietend, zuweilen die Tafel früher aufheben musste.“

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Hier sind einige Namen gefallen, die sich mit dem „Musenhof von Weimar“ verbinden. Goethe, Wieland, Herder, die „drei Großen“, bezeichnen gewissermaßen lediglich die Spitze des Eisbergs. Sie, zu denen sich am Ende des Jahrhunderts dann auch noch Schiller gesellen wird, der allerdings bereits nach fünf Jahren stirbt, bilden die intellektuelle Elite Deutschlands zu der Zeit.

Knebel, der, wie Wieland und Goethe, zunächst als Prinzenerzieher berufen wird, ist ein großer Freund der Antike und übersetzt Lukrez und Properz. Einsiedel, der als Oberhofmeister der Herzogin gewissermaßen der Chef des kleinen Hofstaats ist, steuert für das genannte Liebhabertheater Schauspiele, Singspiele, Lieder und Prosageschichten bei.

Auch bildende Künstler loben Herzogin

Zur Entourage der Herzogin gehören allerdings auch die Bildenden Künstler, die sie sämtlich gleichfalls beruft, wie der Bildhauer Klauer, oder der Leiter der Zeichenschule Kraus, dem wir die vielen Porträts der Weimarer Protagonisten jener Jahrzehnte verdanken.

Sie und viele andere, von denen wenigstens noch der hinreißende „Klatschreporter“ Carl August Böttiger genannt sei, sie alle konnten in einer Zeit, da bürgerliche Künstler und Intellektuelle noch oft die Willkür des feudalen Zeitalters zu spüren bekamen, von Glück sagen, dass sie in Weimar gelandet waren. Kein Wunder, dass sie miteinander wetteiferten in Lob und Preis der Landesmutter.

Überlassen wir das letzte Wort Wieland, von allen „Köpfen“ in ihrem Umkreis Anna Amaliens Herzen wahrscheinlich am nächsten. In seiner zierlichen Würdigung charakterisiert er, ganz im Geist der Epoche, 1784 seine Dienstherrin als griechisch-römische Schutzgöttin: „Unsere Herzogin-Mutter scheint an allen Qualitäten, die eine Fürstin allen Menschen, die Zutritt bei ihr haben, lieb und verehrenswert machen, mit jedem Jahre zuzunehmen. Sie ist unsere Pallas und unser Palladium zugleich, und ich begreife nicht, wie wir ohne sie existieren wollten.“

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