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Audienz bei der Schwarzen Madonna – im Eiltempo

Vier Millionen Menschen wollen jedes Jahr die Schwarze Madonna in Polen sehen. Die Ikone von Tschenstochau gewährt selbst Atheisten eine Audienz – allerdings müssen die dafür ganz schön sprinten.
Der Besucheransturm kann die Nonnen im Kloster auf dem Jasna Góra ganz schön ins Schwitzen bringen Der Besucheransturm kann die Nonnen im Kloster auf dem Jasna Góra ganz schön ins Schwitzen bringen
Der Besucheransturm kann die Nonnen im Kloster auf dem Jasna Góra ganz schön ins Schwitzen bringen
Quelle: Getty Images

High Noon im Kloster, und Schwester Margarethe ist verflixt spät dran. Doch was der Westernheld im Schießen war, ist Schwester Margarethe im Slalomlaufen – präzise, schnell und nervenstark. Sie soll heute Touristen durch das Paulinerkloster führen, ihre Reisegruppe ist aber gerade erst eingetroffen.

11.40 Uhr. Das bringt den Zeitplan der Ordensfrau völlig durcheinander. Um Punkt 12 Uhr schließt die Vormittagssprechstunde der Gottesmutter, und jeder, wirklich jeder, der das Kloster auf dem Jasna Góra (Heller Berg) besucht, will doch nur das eine: Polens heiligste Reliquie sehen, die Schwarze Madonna.

Um 12 Uhr endet die Audienz bei ihr. Dann wird die Ikone verhüllt, und während die Madonna all die aufgelaufenen Gebete des Vormittags im Back Office abarbeitet, reinigt ihr irdisches Personal die Kapelle, isst zu Mittag und hält ein Nickerchen, bevor die nächsten Danksagungs- und Fürbittenkarawanen durch die Anlage ziehen. Jetzt ist es 11.43 Uhr.

Das Herz des wahren Polens

In Tschenstochau (Częstochowa) schlägt „das Herz des wahren Polens“ heißt es. Verschwiegen wird aber, dass dieses Herz an Arterienverkalkung und Rhythmusstörungen leidet, verursacht durch Busladungen von Pilgern und Polen-Touristen, die alle Gänge und Wege des Klosters verstopfen. Über vier Millionen Menschen besuchen jährlich Tschenstochau, eines der größten Mariensanktuarien der Welt.

Umringt von Schulklassen und Seniorengruppen, frommen Katholiken und bildungsbeflissenen Kulturtouristen soll Schwester Margarethe ihre Gruppe nun also binnen Minuten in die Kapelle des Gnadenbildes bringen, die sich nördlich der Basilika am östlichsten Ende der Klosterfestung befindet. Sie sprintet los und teilt das Menschenmeer.

Denn meine Schafe hören meine Stimme, und sie folgen mir
Johannes 10,27

In diesem Tempo laufen arme Seelen sonst nur, wenn der Teufel hinter ihnen her ist. Heute hetzen sie, weil die Audienz der Muttergottes in 14 Minuten endet. Schwester Margarethe schlägt Haken und Schneisen, schlüpft durch Lücken, nimmt drei Treppenstufen auf einmal, rempelt – wenn nötig – und zieht ihre trödelnde Gruppe wie eine Schleppe hinter sich her. „Denn meine Schafe hören meine Stimme, und sie folgen mir.“ (Johannes 10,27)

Wo die Autorität ihrer grauen Nonnentracht nicht ausreicht, drückt sie sich mit einem Grace-Kelly-Lächeln vorbei. Die verärgerten Blicke der Überholten und Verdrängten treffen nicht sie, sondern ihre braven Gefolgsleute, die Schritt zu halten versuchen. Alles Sonntagssportler, gewappnet für ein Bibel-Quiz, aber im Fitnesstest mit Schwester Margarethe chancenlos.

Evangelist Lukas malte die Ikone

Nach all der Anstrengung taucht kurz vor dem Ziel noch ein letztes Hindernis auf – eine Nonne, mit dem blassen Teint derer, die mehr Zeit in Beichtstühlen als an der frischen Luft verbringen. Sie will Schwester Margarethes Gruppe nicht mehr in den Altarraum lassen, der bis auf den letzten Platz besetzt ist. Noch zehn Minuten bis zur Verhüllung. Zu den Kernkompetenzen für ein gutes klösterliches Miteinander gehören: Empathie, Wertschätzung, Wohlwollen und Freundlichkeit.

Seit sich das Kloster der Belagerung durch Schweden erwehrte, wird die Schwarze Madonna auch als „Königin von Polen“ verehrt
Seit sich das Kloster der Belagerung durch Schweden erwehrte, wird die Schwarze Madonna auch als „Königin von Polen“ verehrt
Quelle: picture-alliance/ KNA

All das kann Schwester Margarethe in ein einziges verständnisvolles Nicken legen und schiebt die Teilnehmer ihrer Gruppe dann trotzdem einen nach dem andern in die Kapelle. Mit Schwester Margarethe knien sie in der ersten Reihe, vor all den Gläubigen, die sich ihre Plätze pünktlich gesichert haben und denen eine Ordensschwester nun ein paar schwitzende Touristen vor die Nase gesetzt hat. „Die Letzten werden die Ersten sein, und die Ersten die Letzten.“ (Matthäus 19, 30)

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So nah an der Madonna müssen die Zuspätkommer ihre Köpfe in den Nacken kippen und zur Ikone emporschauen. Da ist sie also, die Gebetserhörerin, Krankenheilerin, Helferin in Krisenzeiten – die Schwarze Madonna.

Gemalt vom Evangelisten Lukas höchstpersönlich, auf einem Stück Zypressenholz, das vom Tisch der heiligen Familie aus Nazareth stammt. Womöglich wurde das Möbel sogar von Josef selbst geschreinert. Maria hat den Brotteig darauf ausgerollt und das Jesuskind gewickelt.

Sie ließ Blinde wieder sehen und Tote auferstehen

So ins Detail gingen die Chronisten zwar nicht, verhedderten sich bei der Rekonstruktion der Geschichte aber trotzdem. Heraus kamen zahllose Versionen, mehr Legenden als historische Befunde. Vergraben, wiederentdeckt, in der Aussteuertruhe einer byzantinischen Prinzessin gelandet, in einem ukrainischen Wald versteckt oder als Geschenk von Adelshaus zu Adelshaus immer weiter- und weitergereicht, bis es bei einem polnischen König der Jagiellonen-Dynastie ankam – so oder so, ein spannender Werdegang für ein bemaltes Stück Holz.

Quelle: Infografik Die Welt

Einig ist sich die Geschichtsschreibung nur darüber, dass die Schwarze Madonna im Jahr 1382 ins Paulinerkloster in Tschenstochau gebracht wurde, um sie vor einem drohenden Tatarenüberfall zu schützen. In Tschenstochau startete die Gottesmutter dann ihre Wundertätigkeit. Sie ließ Blinde wieder sehen und Tote auferstehen, führte Schlachten zur Rettung des Abendlandes an, und auch das „Wunder von Tschenstochau“ geht auf ihr Konto.

Schwedische Truppen zogen brandschatzend durch Polen und griffen auch das Paulinerkloster an. Nach 40 Tagen Belagerung zog das übermächtige Heer jedoch wieder ab, besiegt von einigen Mönchen und der Schwarzen Madonna, die daraufhin zur „Königin Polens“ erhoben wurde. Zwei tiefe Striemen auf der rechten Wange, geschlagen von Säbeln des Feindes, bezeugen ihren heroischen Einsatz. „Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.“ (2. Mose 21,25)

Die Schwarze Madonna in Haft

Natürlich war es auch die Allerheiligste Mutter, da ist sich die polnische Nation einig, die Warschau vor einer Seuche rettete, Karol Wojtyla zum Einzug in den Vatikan verhalf und den Sturz des Kommunismus unterstützte. „Nicht zu glauben“, urteilt der Atheist, und selbst der gute Katholik zeigt sich ob der Fülle an Wundertätigkeiten ein wenig überfordert.

Wie viele Heiligenbilder greifen schon in die Politik ein? Die Frau mit dem hustensaftfarbenen Teint, der löffelförmigen Nase und dem sorgenvollen Lehrerinnenblick hat den staatlich verordneten Kommunismus aber tatsächlich schachmatt gesetzt, so sieht’s aus.

Die Reliquie ist eines der meistbesuchten Ziele in Polen – es gibt lange Warteschlangen
Die Reliquie ist eines der meistbesuchten Ziele in Polen – es gibt lange Warteschlangen
Quelle: pa
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In der Hoffnung, dass friedlicher Widerstand der Kirche zu einem gesellschaftlichen Wandel führt, schickte Kardinal Stefan Wyszyński die Schwarze Madonna neun Jahre lang auf Prozessions-Tournee durch das ganze Land und ließ sie den bevorstehenden „Anbruch der Freiheit“ verkünden. Maria wurde „verhaftet“ und nach Tschenstochau eskortiert. Die Prozessionen aber gingen weiter – mit einem leeren Bilderrahmen.

Dem folgten mehr als eine Million Gläubige und schickten damit ein Signal, das bis zu den Streikenden der Danziger Werft reichte: „Es gibt etwas Mächtigeres als den Menschen.“ Kopien der Schwarzen Madonna hingen am Werkstor, Lech Walesa trug ihr Bild am Revers, und als er 1983 den Friedensnobelpreis erhielt, stiftete er ihn seiner „Königin“.

12 Uhr. Die Zeit mit der Königin war kurz. Fanfaren erklingen, und ein silberner Rollladen senkt sich langsam über das Bildnis. „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.“ (Prediger 3, 1-2)

Warten auf das Marien-Wunder

Zehn Minuten hatten Schwester Margarethes Leute, um wieder zu Atem zu kommen. Zehn Minuten, um den Geist der Sehenswürdigkeit zu erfassen. Ein heiliges Holzstück als Inbegriff der Glaubenstreue und Vaterlandsliebe.

Alle waren danach guter Laune, sogar die Atheisten
Schwester Margarethe

Muss man katholisch sein oder polnisch oder am besten beides, um das zu begreifen? „Ich war schon mit so vielen Menschen bei der Madonna“, erzählt Schwester Margarethe zum Abschied, „und alle waren danach guter Laune, sogar die Atheisten.“

Kein weiteres Marien-Wunder. Die Legenden zur Ikone sind herzerwärmend, die Gebete der Gläubigen überzeugend inbrünstig, Weihrauch und blinkende Blattgoldheiligenscheine sinnbenebelnd – besser lässt sich die Verhüllungsshow der Schwarzen Madonna nicht inszenieren. Bei einem so hohen Unterhaltungswert stellt sich selbst bei denen, die sonst nur religiöse Zaungäste sind, ein klein wenig Frömmigkeit ein.

Das Klostergelände ist täglich von 5 bis 21.30 Uhr geöffnet, die Kapelle der Schwarzen Madonna 6–12 Uhr, 15–19.15 Uhr und 21–21.15 Uhr, weitere Informationen unter jasnagora.pl, Polens Tourismusportal unter polen.travel/de

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Gebeco Reisen. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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