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Wir werden immer älter – aber nicht mehr lange

Die nachfolgenden Generationen haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als die früher geborenen – aber es gibt Grenzen Die nachfolgenden Generationen haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als die früher geborenen – aber es gibt Grenzen
Die nachfolgenden Generationen haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als die früher geborenen – aber es gibt Grenzen
Quelle: pa
Die durchschnittliche Lebenszeit ist wohl nie so schnell gestiegen wie im vergangenen Jahrhundert. Doch dieser Aufwärtstrend kann schnell vorbei sein, meinen Experten. Das belegen zurückliegende Krisen.

Die Lebenserwartung steigt. Wächst damit die Zahl der Jahre, die wir uns mit Krankheiten und Zipperlein plagen – oder gewinnen wir vor allem gesunde Jahre hinzu?

„Bisherige Ergebnisse weisen darauf hin, dass wir vor allem gesunde Lebenszeit gewonnen haben“, sagt Prof. Siegfried Geyer von der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Bedeutung solcher Daten ist immens: Brauchen wir wirklich mehr Altersheime? Können wir die Pensionsgrenze nach oben schieben?

Mehr als 14.000 Menschen in Deutschland sind nach Daten des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock 100 Jahre oder älter. Ihre Zahl habe sich damit binnen 30 Jahren etwa verzehnfacht. Ein heute geborenes Baby hat in Deutschland statistisch etwa 78 Jahre Leben zu erwarten – wenn es ein Junge ist. Bei einem Mädchen sind es sogar 83 Jahre.

Viele Kinder starben in ihren ersten Lebensjahren

Um 1750 lag die Lebenserwartung bei kaum mehr als 30 Jahren. Allein in den vergangenen 130 Jahren hat sich die durchschnittliche Lebenszeit mehr als verdoppelt. Was nicht bedeutet, dass es einst keine 80-Jährigen gab.

„Alte gab es zu allen Zeiten, aber sie waren seltener“, sagt der Humanbiologe Prof. Carsten Niemitz von der Freien Universität Berlin. Vor allem aber hätten es viel weniger Kinder geschafft, überhaupt erwachsen zu werden.

Anstieg der Lebenserwartung seit 1871
Anstieg der Lebenserwartung seit 1871
Quelle: Infografik Die Welt

„Auf Gemälden von Stifterfamilien spätmittelalterlicher Kirchen sind oft Vater und Mutter mit sieben oder acht Kindern zu sehen, fünf oder sechs sind schon tot und in Leichentücher gewickelt dargestellt, aufgereiht wie kleine, weiße Puppen“, sagt Niemitz.

Krankheiten, die heute leicht zu vermeiden oder zu behandeln sind, ließen vor allem vor der großflächigen Einführung von Antibiotika zum Ende des Zweiten Weltkriegs viele Kinder schon in ihren ersten Lebensjahren sterben. Allein Tuberkulose tötete in Europa vor 100 Jahren jährlich Zehntausende Menschen. Entsprechend gering fiel das statistische Mittel der Lebenserwartung aus.

In Zeiten des tödlichen Vitamin-C-Mangels

Neben der Medizin sind Frieden und gute Ernährung die Hauptfaktoren längeren Lebens. „Zipperlein wie Arthrose, Diabetes oder Herzprobleme überleben 80-Jährige heute wegen der guten Versorgung“, sagt Niemitz. „Vitamine gibt es auch im Winter, frieren muss auch niemand mehr.“

Einst, vor Einführung der Konservierung durch Milchsäuregärung, seien nicht nur Seefahrer an der Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut gestorben. „Tödlich waren oft auch Zahnkrankheiten und Entzündungen des Mundraums.“

Wer mehr als zehn Zigaretten pro Tag raucht, verliert bis zu neun Lebensjahre
Wer mehr als zehn Zigaretten pro Tag raucht, verliert bis zu neun Lebensjahre
Quelle: Infografik Die Welt
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Ihren Tribut forderte zudem die lebenslange Schufterei. „Die meisten Menschen waren hart arbeitende Bauern.“

Statistiken aus den USA vor 150 Jahren zeigten, dass 40 Prozent der jungen Männer wehruntauglich waren, sagt Geyer. „Herz-Kreislaufkrankheiten traten offenbar viel eher auf als heute.“ Eine mögliche Ursache sei neben den wesentlich längeren Arbeitszeiten und härteren Arbeitsbedingungen die schlechtere Ernährung.

Mittlerweile sei das Rauchen zu einem starken Einzelfaktor für solche Erkrankungen geworden. „Würden weniger Menschen rauchen, läge der Krankheitsbeginn im Schnitt noch viel später.“

Senioren schätzen ihre Gesundheit besser ein

Denn das ist neben dem Mehr an Jahren die zweite gute Nachricht für heutige Generationen: „Wir werden nicht nur älter, wir werden langsamer älter“, sagt Niemitz. „Vor 100 Jahren hat man mit 50 schon auf dem Rentnerbänkchen vorm Haus gesessen.“

Eine Analyse von Florian Trachte von der Medizinischen Hochschule Hannover ergab, dass in Deutschland mehr Senioren zwischen 65 und 89 ohne Hilfe klarkommen als noch in den 90er-Jahren. Verwendet wurden Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP), einer seit 30 Jahren laufenden Wiederholungsbefragung.

Die Studie wurde im Mai in der „Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie“ vorgestellt. „Demnach gibt es eine dezente Verbesserung bei der selbst eingeschätzten Gesundheit von Senioren“, sagt Geyer. „Allerdings liefern solche Umfragen subjektiv gefärbte Ergebnisse, die von den Belastungen des Einzelnen und dessen Ansprüchen an die eigene Gesundheit abhängen.“ Sein Team arbeite darum an einer Studie auf Basis von Krankenversicherungsdaten.

Verglichen werden soll, in welchem Alter Menschen an Bronchialkarzinom, Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes erkranken – und ob sich das Alter beim Auftreten über die letzten Jahrzehnte verändert hat. „Herzinfarkte treten wohl heute später auf“, vermutet Geyer. Beim Diabetes sinke das Alter eher. „Entscheidend ist bei dieser Krankheit aber, wie gut man damit lebt, und nicht, wann man krank wird.“

Biologisch hat sich der menschliche Körper nicht verändert

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Erste Ergebnisse sollen zum Jahresende vorliegen – und werden dann wohl in die Diskussion um ein höheres Renteneintrittsalter einfließen. „Ein geistiges Zur-Ruhe-Setzen zu verhindern, ist jedenfalls wichtig“, sagt Geyer. Studien zeigten klar, dass eine passive Altersgestaltung eher schädlich sei. „Nicht jeder mit viel Zeit weiß auch viel damit anzufangen.“

Mit den Herausforderungen alternder Gesellschaften müssen sich auch viele andere Länder weltweit auseinandersetzen. In Japan haben Mädchen aus dem Geburtsjahrgang 2012 die unglaubliche Lebenserwartung von durchschnittlich 87 Jahren.

Bei den Männern liegt nach Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Island mit 81 Jahren an der Spitze. Deutschland gehört anders als etwa Italien und die Schweiz nicht zu den Top Ten weltweit.

Auch wenn es angesichts des enormen Anstiegs von 30 auf 80 Jahre Lebenserwartung binnen weniger Jahrzehnte so wirken mag: Biologisch hat sich im Menschenkörper nichts getan. „Der Steinzeitmensch war nicht auf ein anderes Alter ausgelegt“, sagt Niemitz. „Nur das Lebensrisiko war ein anderes.“

Eine ähnliches Phänomen gebe es bei Affen in Gefangenschaft, deren Leben weniger stressig und gefahrenvoll sei als das wilder Artgenossen.

Die längere Kindheit lässt das Gehirn wachsen

„Ich bin einmal einem 45 Jahre alten Gorilla in freier Natur begegnet“, erzählt der Biologe. „Da hieß es, das sei ein sehr, sehr alter Herr.“ Im Zoo dagegen kämen 50 Jahre alte Kapuzineraffen vor, auf die 60 zugehende Schimpansen seien keine Seltenheit mehr.

„Der Mensch wird aber eben noch deutlich älter“, so Niemitz. Zu verdanken hat er das seinen Nesthockerkindern: „Unsere hohe Lebenserwartung hat sich mit der Evolution der Großmutter entwickelt.“

Menschenbabys entwickelten sich weit langsamer als Affenjunge. „Vergleichen Sie mal einen Einjährigen mit einem gleich alten Schimpansen, da liegen so viele Welten zwischen.“ Wegen der extrem langen Kindheit hatte Homo sapiens immer dann größere Überlebenschancen, wenn sich auch seine Großeltern – vor allem aber die Oma – um ihn kümmern konnten.

In einem Wechselspiel habe die steigende Lebenserwartung wiederum eine längere Kindheit und damit weiteres Hirnwachstum möglich gemacht. „Die Evolution der Großmutter und die Evolution des großen Gehirns sind eng verknüpft“, erklärt Niemitz. Dass so manche Oma heute fit und gesund auf Waveboard und Surfbrett umhersaust oder ferne Länder bereist, ist nur ein schöner Nebeneffekt dieser Entwicklung.

Große Ohren mildern den Hörverlust im Alter etwas ab

Mit der Evolution lässt sich auch erklären, warum Ausdauersportler noch mit 45 Jahren Marathonläufe gewinnen – Sieger beim Schwimmen und anderen Sportarten dagegen oft noch keine 20 sind. „Der Mensch hat sich vor Millionen Jahren in den Savannen Afrikas zum Läufer entwickelt, wo er sein ganzes Leben lang umherzog“, erklärt Niemitz. „Es war wichtig, während der ganzen Reproduktionszeit ein guter Wanderer und Läufer zu bleiben.“

Heute wirke Sport zwar oft lebensverlängernd, sei aber auch ein Risikofaktor für einen zu frühen Tod. „Bei Frauen zum Beispiel sind Kajakfahren und Reiten sehr gefährlich“, sagt Niemitz. Das habe eine Studie seines Teams gezeigt.

„Je Stunde betriebenen Sport ist das Kajakfahren mit den meisten tödlichen Unfällen verbunden.“ Männer verunglückten vor allem bei Motorsportarten.

Und noch ein interessantes Detail hat Niemitz’ Team zutage gefördert: Auch das lebenslange Wachstum der Ohren hat wohl evolutionäre Ursachen. Vermessungen Tausender Ohren haben gezeigt, dass die Ohrmuschel alle zwei bis drei Jahre etwa einen Millimeter zulegt.

„Der äußere Teil wird bis ins hohe Alter länger“, sagt Niemitz. Damit werde offenbar der altersbedingte Hörverlust zumindest teilweise kompensiert.

Die Lebenserwartung wird nicht im gleichen Tempo weiter steigen

Werden also künftig 150-Jährige mit gewaltigen Segelohren die Welt bevölkern? Die Experten glauben nicht daran. Zum einen dürfe die im Mittel gestiegene Lebenserwartung nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Mensch mit 80 Jahren nach wie vor meist ein kranker Mensch sei.

„Jeder so alte Mann trägt die Veranlagung für einen Prostatakrebs in sich – der allerdings nicht auszubrechen braucht“, so Niemitz. Auch für andere Krebsarten, Krankheiten und Demenzen gelte, dass sie ab einem bestimmten Alter bei jedem eine Rolle spietlen.

Derzeit kämen in Deutschland mit jedem Jahr drei weitere Monate Lebenserwartung für Neugeborene hinzu, ergänzt Geyer. „Es ist aber sehr zu bezweifeln, dass es noch ewig so weitergeht.“

Infolge der Wirtschaftskrise in Russland 1998/99 sei die Lebenserwartung im Land vor allem bei Männern rasch drastisch auf unter 60 Jahre gesunken. Eine ähnliche Entwicklung habe es in den vergangenen Jahren in Griechenland gegeben.

Frauen werden immer etwas älter als Männer

Abhängig von den Lebensbedingungen vollführt die Lebenserwartung seit jeher ein stetes Auf und Ab. Fast immer aber und in fast allen Gesellschaften konnten die Bessergestellten auf mehr Jahre hoffen – auch die deutsche Statistik zeigt das.

Ein weiterer Unterschied scheint ebenso bis in alle Ewigkeit festgelegt: Frauen werden fast immer ein bisschen älter als Männer. Derzeit sind es im weltweiten Mittel etwa 4,6 Jahre mehr.

Das hänge nicht nur mit einem weniger riskanten Lebenswandel zusammen, sagt Geyer. „Studien haben gezeigt, dass es selbst bei Nonnen und Mönchen, die identische Lebensbedingungen haben, noch eineinhalb bis zwei Jahre Differenz gibt.“

dpa/gux

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