33. Sitzung - Deutscher Bundestag
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Plenarprotokoll 12/33<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong><br />
Stenographischer Bericht<br />
<strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong><br />
Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Inhalt:<br />
Verabschiedung des Direktors beim Deut<br />
schen <strong>Bundestag</strong> Dr. Joseph Bücker<br />
2547 A<br />
Bestimmung des Abg. Lothar de Maizière<br />
zum ordentlichen Mitglied im Vermittlungs<br />
ausschuß anstelle des ausgeschiedenen Abg.<br />
Ulrich Klinkert<br />
2547 C<br />
Nachträgliche Überweisungen von Vorlagen<br />
an Ausschüsse<br />
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord<br />
nung<br />
Tagesordnungspunkt 2:<br />
Überweisung im vereinfachten Verfahren:<br />
Erste Beratung des vom Bundesrat<br />
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />
zur Änderung des Waffengesetzes<br />
(Drucksache 12/471)<br />
in Verbindung mit<br />
2547 C<br />
2547 D<br />
Zusatztagesordnungspunkt 1:<br />
Beratung des Antrags der Fraktion der<br />
SPD: Ausschuß zur Kontrolle der eini-<br />
-<br />
gungsbedingten Fördermittel des Bundes<br />
für Kultureinrichtungen (Kontrolle<br />
Kulturelle Fördermittel) (Drucksache<br />
12/790) 2548 B<br />
Zusatztagesordnungspunkt 2:<br />
Beratung des Antrags der Fraktionen der<br />
CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe<br />
Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Zum KSZE-<br />
Expertentreffen über nationale Minderheiten<br />
in Genf vom 1. bis 19. Juli 1991<br />
(Drucksache 12/796)<br />
Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/<br />
CSU<br />
Freimut Duve SPD<br />
Freimut Duve SPD<br />
Ulrich Irmer FDP<br />
Angela Stachowa PDS/Linke Liste<br />
Hartmut Koschyk CDU/CSU<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />
Hartmut Koschyk CDU/CSU<br />
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU<br />
Zusatztagesordnungspunkt 3:<br />
Beratung des Antrags der Fraktionen<br />
CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe<br />
Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Zur Krise in<br />
Jugoslawien (Drucksache 12/795)<br />
in Verbindung mit<br />
Zusatztagesordnungspunkt 4:<br />
Beratung des Antrags der Fraktionen der<br />
CDU/CSU, SPD und FDP: Zur Lage in<br />
Kosovo (Drucksache 12/797)<br />
in Verbindung mit<br />
Zusatztagesordnungspunkt 5:<br />
Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />
Gerd Poppe und der Gruppe Bündnis 90/<br />
DIE GRÜNEN: Zur Lage in Kosovo<br />
(Drucksache 12/780)<br />
Friedrich Vogel (Ennepetal) CDU/CSU<br />
Dr. Peter Glotz SPD<br />
2548 C<br />
2549 C<br />
2549D, 2557 C<br />
2552 B<br />
2553 B<br />
2553 D<br />
2554 B<br />
2555 C<br />
2557 A<br />
2558 B<br />
2559 D
II <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Olaf Feldmann FDP<br />
Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste<br />
Heinrich Lummer CDU/CSU<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />
Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD<br />
Tagesordnungspunkt 3:<br />
Beratung der Beschlußempfehlung und<br />
des Berichts des Auswärtigen Ausschusses<br />
zu dem Antrag der Fraktion der SPD:<br />
Einrichtung eines baltischen Informationsbüros<br />
in der Bundesrepublik<br />
Deutschland<br />
zu dem Antrag des Abgeordneten Gerd<br />
Poppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE<br />
GRÜNEN: Einrichtung eines baltischen<br />
Informationsbüros in der Bundesrepublik<br />
Deutschland (Drucksachen 12/164,<br />
12/166, 12/673)<br />
Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD<br />
Helmut Sauer (Salzgitter) CDU/CSU<br />
Dr. Cornelie von Teichman FDP<br />
Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste<br />
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/<br />
CSU<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />
Tagesordnungspunkt 4:<br />
Zweite und dritte Beratung des von der<br />
Abgeordneten Ursula Männle, weiterer<br />
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/<br />
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Eva<br />
Pohl, weiterer Abgeordneter und der<br />
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs<br />
eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung<br />
über die weitere Verbesserung<br />
der Arbeits- und Lebensbedingungen<br />
der Familien mit Kindern (Gesetz zur<br />
Einführung von Mütterunterstützung für<br />
Nichterwerbstätige in den neuen Bundesländern)<br />
(Drucksachen 12/409,<br />
12/754, 12/755)<br />
Angelika Pfeiffer CDU/CSU<br />
Michael Habermann SPD<br />
Dr. Eva Pohl FDP<br />
Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste<br />
Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS<br />
Tagesordnungspunkt 5:<br />
— Zweite und dritte Beratung des von der<br />
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs<br />
eines ... Gesetzes zur Änderung<br />
des Grundgesetzes (Artikel 146 GG)<br />
(Drucksachen 12/656, 12/794)<br />
-<br />
2562 C<br />
2563 A<br />
2563 C<br />
2564 B<br />
2565 A<br />
2566 B<br />
2567 C<br />
2568 B<br />
2569 A<br />
2569 C<br />
2570 C<br />
2571 D<br />
2572 C<br />
2573 D<br />
2574 C<br />
— Zweite und dritte Beratung des von der<br />
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs<br />
eines Gesetzes über das Verfah<br />
ren zur Durchführung des Volksentscheides<br />
nach Artikel 146 Abs. 2 des<br />
Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2)<br />
(Drucksachen 12/657, 12/794, 12/801)<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . 2576A, 2584 C<br />
Norbert Geis CDU/CSU<br />
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD<br />
Uwe Lambinus SPD<br />
2580B, 2585 A<br />
2581 C<br />
2582 A<br />
Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 2585 B<br />
Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU<br />
Norbert Geis CDU/CSU<br />
Franz Heinrich Krey CDU/CSU<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD<br />
Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste<br />
Jörg van Essen FDP<br />
2585 C<br />
2585 D<br />
2586 B<br />
2586 C<br />
2587 A<br />
2588 A<br />
Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU 2589B, 2592 A<br />
Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste (Erklä<br />
rung nach § 30 GO)<br />
Wolfgang Lüder FDP (Erklärung nach § 31<br />
GO)<br />
Namentliche Abstimmung<br />
Ergebnis<br />
Zusatztagesordnungspunkt 6:<br />
Beratung der Beschlußempfehlung des<br />
Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />
(Vermittlungsausschuß) zu dem<br />
Gesetz zur Förderung von Investitionen<br />
und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet<br />
sowie zur Änderung steuerrechtlicher<br />
und anderer Vorschriften<br />
(Steueränderungsgesetz 1991 — StÄndG<br />
1991) (Drucksachen 12/219, 12/402,<br />
12/459, 12/562, 12/698, 12/768)<br />
in Verbindung mit<br />
Zusatztagesordnungspunkt 7:<br />
Beratung der Beschlußempfehlung des<br />
Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />
(Vermittlungsausschuß) zu dem<br />
2574 D Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung<br />
der öffentlichen Haushalte sowie über<br />
strukturelle Anpassungen in dem in Artikel<br />
3 des Einigungsvertrages genannten<br />
Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz 1991 —<br />
HBeglG 1991) (Drucksachen 12/221,<br />
12/401, 12/461, 12/581, 12/697, 12/769)<br />
Dr. Peter Struck SPD<br />
2591 D<br />
2592 B<br />
2633 B<br />
2638 C<br />
2592 D
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
III<br />
Tagesordnungspunkt 6:<br />
Beratungen ohne Aussprache<br />
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung<br />
des von der Bundesregierung<br />
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />
zu der Dritten Änderung des<br />
Übereinkommens über den Internationalen<br />
Währungsfonds (Drucksachen<br />
12/336, 12/791)<br />
b) Beratung der Beschlußempfehlung<br />
und des Berichts des Ausschusses für<br />
Verkehr<br />
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />
Mitteilung über eine Eisenbahnpolitik<br />
der Gemeinschaft:<br />
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates<br />
zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen<br />
in der Gemeinschaft<br />
Vorschlag für eine Verordnung<br />
(EWG) des Rates zur Änderung der<br />
Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 über<br />
das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei<br />
mit dem Begriff des öffentlichen<br />
Dienstes verbundenen Verpflichtungen<br />
auf dem Gebiet des Eisenbahn-,<br />
Straßen- und Binnenschiffsverkehrs<br />
Vorschlag für eine Entscheidung des<br />
Rates über die Schaffung eines Hochgeschwindigkeitsnetzes<br />
für Eisenbahnen<br />
Vorschlag für eine Richtlinie des<br />
Rates zur Änderung der Richtlinie<br />
75/130/EWG über die Festlegung gemeinsamer<br />
Regeln für bestimmte Beförderungen<br />
im kombinierten Güterverkehr<br />
zwischen Mitgliedstaaten<br />
(Drucksachen 12/210 Nr. 162, 12/701)<br />
c) Beratung der Beschlußempfehlung<br />
und des Berichts des Ausschusses für<br />
Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung<br />
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />
Vorschlag für eine Entscheidung des<br />
Rates über ein spezifisches Programm -<br />
für Forschung und technologische<br />
Entwicklung im Bereich der nuklearen<br />
Sicherheit bei der Kernspaltung<br />
(1990 bis 1994)<br />
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />
Vorschlag für eine Entscheidung des<br />
Rates zur Annahme eines spezifischen<br />
Programms für Forschung und<br />
technologische Entwicklung auf dem<br />
Gebiet der kontrollierten Kernfusion<br />
(1990 bis 1994)<br />
Vorschlag für einen Beschluß des Rates<br />
zur Billigung der Änderung der Satzung<br />
des Gemeinsamen Unternehmens Joint<br />
European Torus (JET), Joint Undertaking<br />
(Drucksachen 12/210 Nr. 176, 12/152<br />
Nr. 61, 12/702)<br />
d) Beratung der Beschlußempfehlung und<br />
des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft<br />
zu der Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Fünfzehnte Verordnung zur<br />
Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />
(Drucksachen 12/333, 12/760)<br />
e) Beratung der Beschlußempfehlung und<br />
des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft<br />
zu der Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Vierundsiebzigste Verordnung<br />
zur Änderung der Ausfuhrliste<br />
— Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung<br />
— (Drucksachen 12/334,<br />
12/761)<br />
f) Beratung der Beschlußempfehlung und<br />
des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft<br />
zu der Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Fünfundsiebzigste Verordnung<br />
zur Änderung der Ausfuhrliste —<br />
Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung<br />
— (Drucksachen 12/482, 12/762)<br />
g) Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Vierzehnte Verordnung zur<br />
Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />
(Drucksache 12/268)<br />
h) Beratung der Beschlußempfehlung des<br />
Petitionsausschusses<br />
Sammelübersicht 18 zu Petitionen<br />
(Drucksache 12/684)<br />
i) Beratung der Beschlußempfehlung des<br />
Petitionsausschusses<br />
Sammelübersicht 20 zu Petitionen<br />
(Drucksache 12/747)<br />
j) Beratung der Beschlußempfehlung des<br />
Petitionsausschusses<br />
Sammelübersicht 21 zu Petitionen<br />
(Drucksache 12/748)<br />
Tagesordnungspunkt 1:<br />
Fragestunde<br />
— Drucksachen 12/366 vom 14. Juni 1991<br />
und 12/799 vom 18. Juni 1991 —<br />
Zwangsdeportationen von in Kuwait leben<br />
den Irakern; Maßnahmen gegen die Men-<br />
2593 C
IV <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
schenrechtsverletzungen durch die kuwaitische<br />
Regierung<br />
DringlAnfr 1, 2<br />
Dr. Klaus Kübler SPD<br />
Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />
ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD<br />
ZusFr Monika Ganseforth SPD<br />
ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />
2595A, C<br />
2595B, 2596 B<br />
2595 C, 2596D<br />
2596 C<br />
Verfassungsmäßigkeit von Nahverkehrsabgaben<br />
MdlAnfr 9, 10<br />
Ingrid Walz FDP<br />
Antw PStSekr Wolfgang Gröbl FDP<br />
ZusFr Ingrid Walz FDP<br />
ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />
ZusFr Dr. Margrit Wetzel SPD<br />
ZusFr Otto Schily SPD<br />
ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos<br />
2600 A<br />
2600 C<br />
2600 D<br />
2601 B<br />
2601 C<br />
2602 D<br />
Finanzielle Hilfen für die Kommunen zur<br />
Entsorgung des Belags „Kieselrot" aus Freizeitanlagen<br />
MdlAnfr 1<br />
Karl Stockhausen CDU/CSU<br />
Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU<br />
ZusFr Karl Stockhausen CDU/CSU<br />
ZusFr Marion Caspers-Merk SPD<br />
Verwendung von Hydrauliköl auf biologischer<br />
Basis (z. B. Rapsöl) bei Bundespost,<br />
Bundesbahn, Zoll, Bundeswehr, BGS usw.<br />
MdlAnfr 2<br />
Karl Stockhausen CDU/CSU<br />
Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU<br />
ZusFr Karl Stockhausen CDU/CSU<br />
Rentenversicherung für freischaffende<br />
Künstler in den neuen Bundesländern<br />
MdlAnfr 4<br />
Angela Stachowa PDS/Linke Liste<br />
Antw PStSekr Horst Günther BMA<br />
Ausbau der Ems nach Durchführung einer<br />
Umweltverträglichkeitsprüfung; Bereitstellung<br />
von Bundesmitteln; Annahme der Unterschriftenliste<br />
zur Erhaltung des Wasser<br />
Rendsburg durch<br />
-straßen-Maschinenamts<br />
BMin Dr. Krause<br />
MdlAnfr 7, 8<br />
Ulrike Mehl SPD<br />
Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV<br />
ZusFr Ulrike Mehl SPD<br />
ZusFr Jürgen Koppelin FDP<br />
ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />
ZusFr Dr. Hermann Scheer SPD<br />
2597A<br />
2597B<br />
2597 D<br />
2598 A<br />
2598 B<br />
2598 C<br />
2599A, B<br />
2599B, C<br />
2599 D<br />
2599 D<br />
2600 A<br />
Kosten für die Asbest-Sanierung<br />
MdlAnfr 13<br />
Otto Schily SPD<br />
Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau<br />
ZusFr Otto Schily SPD<br />
ZusFr Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD<br />
Sanierung von Gastronomiebetrieben in den<br />
neuen Bundesländern<br />
MdlAnfr 14<br />
Jürgen Koppelin FDP<br />
Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau<br />
ZusFr Jürgen Koppelin FDP<br />
ZusFr Dr. Rolf Olderog CDU/CSU<br />
ZusFr Dr. Olaf Feldmann FDP<br />
ZusFr Ulrich Schmalz CDU/CSU<br />
ZusFr Klaus Brähmig CDU/CSU<br />
ZusFr Jürgen Türk FDP<br />
2602 A<br />
2602 B<br />
2602 C<br />
2602 D<br />
2603 B<br />
2603 C<br />
2603 D<br />
2604 A<br />
2604 B<br />
2604 C<br />
Bewertung von Rüstungsausgaben im Zusammenhang<br />
mit der Vergabe von Entwicklungshilfe<br />
MdlAnfr 20<br />
Jürgen Augustinowitz CDU/CSU<br />
Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2604 C<br />
ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 2605 B<br />
ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />
2605 C<br />
ZusFr Josef Grünbeck FDP<br />
2605 D<br />
ZusFr Gernot Erler SPD<br />
2606 A<br />
ZusFr Ingrid Walz FDP<br />
2606 B<br />
Entwicklungspolitische Gespräche mit chinesischen<br />
Regierungsvertretern seit Juni<br />
1989<br />
MdlAnfr 21<br />
Jürgen Augustinowitz CDU/CSU<br />
Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2606 C<br />
ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 2607 A<br />
ZusFr Otto Schily SPD<br />
2607 B<br />
ZusFr Dr. Harmut Soell SPD<br />
2607 B<br />
ZusFr Gernot Erler SPD<br />
2607 C<br />
ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />
2607 D
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
V<br />
Einholung der Ermittlungsergebnisse von<br />
amnesty international über die Lage der<br />
Menschenrechte vor einer Erörterung der<br />
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit<br />
mit Marokko und der Türkei<br />
MdlAnfr 22, 23<br />
Rudolf Bindig SPD<br />
Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ<br />
ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />
ZusFr Dr. Ingomar Hauchler SPD<br />
2608A, C<br />
2608B, D<br />
2609 A<br />
ZusFr Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . 2609 B<br />
Gerhard Neumann (Gotha) SPD<br />
Karl Stockhausen CDU/CSU<br />
Günther Friedrich Nolting FDP<br />
Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister<br />
BMVg<br />
Brigitte Schulte (Hameln) SPD<br />
Dr. Egon Jüttner CDU/CSU<br />
Manfred Opel SPD<br />
Hans Raidel CDU/CSU<br />
Thomas Kossendey CDU/CSU<br />
2618B<br />
2619 C<br />
2620 C<br />
2621 D<br />
2622 C<br />
2623 D<br />
2624 C<br />
2625 C<br />
2626 C<br />
Absicht der politischen und psychologischen<br />
Beeinflussung der ehemaligen Mitgliedstaaten<br />
des Warschauer Paktes laut Strategiepapier<br />
des Zentralkomitees der KPdSU<br />
MdlAnfr 25<br />
Ortwin Lowack fraktionslos<br />
Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />
ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos<br />
ZusFr Gernot Erler SPD<br />
Beginn - der amerikanisch-sowjetischen SNF<br />
Verhandlungen<br />
MdlAnfr 26<br />
Dr. Hermann Scheer SPD<br />
Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />
ZusFr Dr. Hermann Scheer SPD<br />
ZusFr Otto Schily SPD<br />
ZusFr Katrin Fuchs (Verl) SPD<br />
Zeitvorstellungen für den Beginn der amerikanisch-sowjetischen<br />
SNF-Verhandlungen;<br />
Überlegungen der amerikanischen Regierung<br />
zum Verzicht auf amerikanisch-sowjetische<br />
Verhandlungen<br />
MdlAnfr 27, 28<br />
Manfred Opel SPD<br />
Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />
ZusFr Manfred Opel SPD<br />
Zusatztagesordnungspunkt 8:<br />
Aussprache zum Stationierungskonzept<br />
der Streitkräfte<br />
Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD<br />
Claire Marienfeld CDU/CSU<br />
Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />
Jürgen Koppelin FDP<br />
Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE<br />
Klaus Beckmann, Parl.<br />
BMWI<br />
2609 C<br />
2609 C<br />
2610A<br />
2610 B<br />
2610B<br />
2610 C<br />
2610 D<br />
2611 A<br />
2611 B<br />
2611D<br />
2613 A<br />
2614 A<br />
2615 A<br />
2616B<br />
Staatssekretär<br />
2617B<br />
Zusatztagesordnungspunkt 9:<br />
Aktuelle Stunde betr. Verhalten der Bundesregierung<br />
bezüglich der geplanten<br />
Einlagerung von radioaktiven Abfällen<br />
in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung<br />
der Bedenken der betroffenen<br />
Bevölkerung und der Landesregierung<br />
von Niedersachsen<br />
Jutta Braband PDS/Linke Liste 2628 B<br />
Klaus Harries CDU/CSU<br />
2629 B<br />
Arne Fuhrmann SPD<br />
2630 B<br />
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann FDP 2631B<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2632 B<br />
Tagesordnungspunkt 7:<br />
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses:<br />
Bitten und Beschwerden an<br />
den Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es im Jahre<br />
1990 (Drucksache 12/683)<br />
Dr. Gero Pfennig CDU/CSU<br />
2633 D<br />
Horst Peter (Kassel) SPD<br />
Günther Friedrich Nolting FDP<br />
Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE<br />
Martin Göttsching CDU/CSU<br />
Lisa Seuster SPD<br />
Birgit Homburger FDP<br />
Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste<br />
Günther Friedrich Nolting FDP<br />
Gertrud Dempwolf CDU/CSU<br />
Bernd Reuter SPD<br />
Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU<br />
Steffen Kampeter CDU/CSU<br />
Tagesordnungspunkt 8:<br />
Beratung des Antrags der Fraktionen der<br />
CDU/CSU, SPD und FDP: Umsetzung der<br />
EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen<br />
Auftragswesens (Drucksache<br />
12/770)<br />
2636 A<br />
2640 C<br />
2642 C<br />
2644 A<br />
2645 A<br />
2646 D<br />
2649 B<br />
2650 D<br />
2651 A<br />
2652 A<br />
2652 C<br />
2654 A
VI <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Hermann Schwörer CDU/CSU<br />
Gabriele Iwersen SPD<br />
Dr. Heinrich L. Kolb FDP<br />
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär<br />
BMWi<br />
Georg Brunnhuber CDU/CSU<br />
2655 D<br />
2657 A<br />
2658 D<br />
2659 D<br />
2660 C<br />
Tagesordnungspunkt 9:<br />
Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />
Claudia Nolte, weiterer Abgeordneter<br />
und der Fraktion der CDU/CSU sowie<br />
der Abgeordneten Dr. Margret Funke-<br />
Schmitt-Rink, weiterer Abgeordneter und<br />
der Fraktion der FDP: Fristverlängerung<br />
zur Antragstellung auf Aufhebung von<br />
Zwangsadoptionen (Drucksache 12/763) 2661 D<br />
Tagesordnungspunkt 11:<br />
Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe<br />
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationale<br />
und internationale Konsequenzen der<br />
ökologischen Auswirkungen des Golf<br />
Krieges (Drucksache 12/779)<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2662 B<br />
Dr. Norbert Rieder CDU/CSU<br />
Dr. Klaus Kübler SPD<br />
Birgit Homburger FDP<br />
Dr. Klaus Kübler SPD<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär<br />
BMU<br />
-<br />
2663 D<br />
2664 B<br />
2665 D<br />
2666C, 2668 B<br />
Tagesordnungspunkt 10:<br />
Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />
Dr. Liesel Hartenstein, weiterer Abgeordneter<br />
und der Fraktion der SPD: Minderung<br />
der Ozon-Belastung — Maßnahmen<br />
zur Bekämpfung des Sommer-Smogs<br />
(Drucksache 12/772)<br />
Dr. Liesel Hartenstein SPD<br />
Dr. Peter Paziorek CDU/CSU<br />
Dr. Jürgen Starnick FDP<br />
Dr. Liesel Hartenstein SPD<br />
Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär<br />
BMU<br />
Tagesordnungspunkt 12:<br />
Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />
Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow und<br />
der Gruppe der PDS/Linke Liste: Erlassung<br />
der Schulden Nicaraguas gegenüber<br />
der DDR (Drucksache 12/427)<br />
Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste<br />
Ulrich Irmer FDP<br />
2667 D<br />
2670 D<br />
2672 C<br />
2673 D<br />
2674 B<br />
2675 B<br />
2675 D<br />
2677 C<br />
2678 A<br />
Dr. Uwe Holtz SPD<br />
Werner Zywietz FDP<br />
2678 D<br />
2679 D<br />
Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 2680 B<br />
Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste<br />
Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE<br />
Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste (Erklä<br />
rung nach § 30 GO)<br />
Werner Zywietz FDP (Erklärung nach § 30<br />
GO)<br />
2680 C<br />
2681 C<br />
2682 B<br />
2682 D<br />
Tagesordnungspunkt 13:<br />
Beratung des Antrags der Gruppe der<br />
PDS/Linke Liste: Aufnahme des grünen<br />
Pfeils in die Straßenverkehrsordnung<br />
(Drucksache 12/728)<br />
2683 A<br />
Tagesordnungspunkt 14:<br />
Erste Beratung des von der Bundesregierung<br />
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />
über die Anpassung von Dienstund<br />
Versorgungsbezügen in Bund und<br />
Ländern 1991 (Bundesbesoldungs- und<br />
-versorgungsanpassungsgesetz 1991 —<br />
BBVAnpG 91) (Drucksache 12/732) 2683 B<br />
Zusatztagesordnungspunkt 10:<br />
Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />
Dr. Walter Franz Altherr, weiterer Abgeordneter<br />
und der Fraktion der CDU/CSU<br />
sowie des Abgeordneten Dr. Uwe Holtz,<br />
weiterer Abgeordneter und der Fraktion<br />
der SPD, der Fraktion der FDP und der<br />
Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:<br />
Westsahara-Friedensplan der Vereinten<br />
Nationen (Drucksache 12/798)<br />
Dr. Uwe Holtz SPD<br />
2683 C<br />
Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 2684 B<br />
Ulrich Irmer FDP<br />
Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU<br />
Dr. Hartmut Soell SPD<br />
Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/<br />
CSU<br />
Nächste <strong>Sitzung</strong><br />
Anlage 1<br />
Liste der entschuldigten Abgeordneten<br />
Anlage 2<br />
Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztagesordnungspunkt<br />
2 — Antrag betr. KSZE-Expertentreffen<br />
über nationale Minderheiten in<br />
Genf vom 1. bis 19. Juli 1991 —<br />
Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE<br />
2686A<br />
2686 C<br />
2686 D<br />
2687 A<br />
2688 C<br />
2689* A<br />
2689* B
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
VII<br />
Anlage 3<br />
Zu Protokoll gegebene Rede zu den Zusatztagesordnungspunkten<br />
3, 4 und 5 — Anträge<br />
betr. Krise in Jugoslawien und zur Lage in<br />
Kosovo —<br />
Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE<br />
2690* B<br />
Anlage 7<br />
Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt<br />
11 — Antrag betr. nationale und<br />
internationale Konsequenzen der ökologischen<br />
Auswirkungen des Golf-Krieges —<br />
Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />
2702* B<br />
Anlage 4<br />
zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt<br />
3 — Anträge betr. Einrichtung<br />
eines baltischen Informationsbüros der Bundesrepublik<br />
Deutschland —<br />
Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE<br />
2691* B<br />
Anlage 5<br />
zu Protokoll gegebene Reden zu Zusatztagesordnungspunkt<br />
9 — Aktuelle Stunde —<br />
betr. Verhalten der Bundesregierung bezüglich<br />
der geplanten Einlagerung von radioaktiven<br />
Abfällen in das Zwischenlager Gorleben<br />
und Berücksichtigung der Bedenken der<br />
betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung<br />
von Niedersachsen<br />
Dr. Harald Kahl CDU/CSU<br />
2692* A<br />
Horst Kubatschka SPD<br />
2692* D<br />
Dr. Paul Laufs CDU/CSU<br />
2693* B<br />
Dietmar Schütz SPD<br />
2694* A<br />
Heinrich Seesing CDU/CSU<br />
2694* D<br />
Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD 2695* B<br />
Wolfgang Ehlers CDU/CSU<br />
2696* A<br />
Dr. Jürgen Starnick FDP<br />
2696* C<br />
Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU 2697* B<br />
Anlage 6<br />
Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt<br />
9 — Antrag betr. Fristverlängerung<br />
zur Antragstellung auf Aufhebung von<br />
Zwangsadoptionen —<br />
Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 2698 * B<br />
Dr. Michael Luther CDU/CSU<br />
2698* D<br />
Dr. Eckhart Pick SPD<br />
2699* C<br />
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP 2700 * C<br />
-<br />
Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste<br />
2701* B<br />
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ 2701 * C<br />
Anlage 8<br />
Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord<br />
nungspunkt 12 — Antrag betr. Erlassung<br />
der Schulden Nicaraguas gegenüber der<br />
DDR —<br />
Klaus Jürgen Hedrich CDU/CSU<br />
Anlage 9<br />
Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord<br />
nungspunkt 13 — Antrag betr. Aufnahme<br />
des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsord<br />
nung —<br />
Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />
Eduard Oswald CDU/CSU<br />
Dr. Dietmar Matterne SPD<br />
Dr. Klaus Röhl FDP<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär BMV<br />
Anlage 10<br />
Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt<br />
14 — Erste Beratung zum Bundesbesoldungs-<br />
und -versorgungsanpassungsgesetz<br />
1991 —<br />
Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU<br />
Fritz Rudolf Körper SPD<br />
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI<br />
Manfred Richter (Bremerhaven) FDP<br />
Anlage 11<br />
Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztages<br />
ordnungspunkt 10 — Antrag betr. West<br />
sahara-Friedensplan der Vereinten Natio<br />
nen —<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />
2703* B<br />
2704* A<br />
2704* C<br />
2705 * B<br />
2705* D<br />
2706* B<br />
2706* D<br />
2708* A<br />
2709* C<br />
2710* B<br />
2711* D
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2547<br />
<strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong><br />
Bonn, den 19. Juni 1991<br />
Beginn: 9.00 Uhr<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen,<br />
liebe Kolleginnen und Kollegen! Die <strong>Sitzung</strong> ist eröffnet.<br />
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte<br />
ich einige Worte an den Direktor beim Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>, Herrn Dr. Joseph Bäcker, richten, der mit<br />
dem Ablauf dieses Monats seine aktive Dienstzeit beenden<br />
wird.<br />
Sie haben, Herr Dr. Bücker, 33 Jahre dem Parlament<br />
gedient, darunter viele Jahre als Sekretär des<br />
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung,<br />
als Leiter des Fachbereichs Parlamentsrecht,<br />
als Abteilungsleiter Parlamentarische<br />
Dienste und dann sieben Jahre als Direktor.<br />
Es war ohne jeden Zweifel ein engagierter und nicht<br />
selten auch anstrengender Dienst. Denn die <strong>Bundestag</strong>sverwaltung<br />
war gerade in den letzten Jahren vor<br />
ungeheure Herausforderungen gestellt.<br />
(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wohl<br />
wahr!)<br />
Da gab es beispielsweise große technologische Umbrüche,<br />
den Abriß des alten Plenarsaals, den Bezug<br />
des Ersatzplenarsaals und den Neubau unseres Plenarsaals,<br />
große und leidenschaftlich umstrittene Gesetzesvorhaben<br />
und schließlich das große Werk der<br />
Wiederherstellung der deutschen Einheit mit den Aufgaben<br />
für insbesondere die Abgeordneten aus den<br />
neuen Bundesländern. Hier waren alle Kräfte für eine<br />
Aufgabe gefordert, die sicher den Höhepunkt Ihres<br />
beruflichen Lebens ausmachte.<br />
Sie haben sich, Herr Dr. Bäcker, Verdienste um unsere<br />
Arbeit und um das Parlament insgesamt erworben.<br />
Dafür danken wir Ihnen mit dem Wunsch für<br />
viele weitere gesunde und erfüllte Lebensjahre.<br />
(Anhaltender Beifall — Die Abgeordneten<br />
erheben sich — Zahlreiche Abgeordnete begeben<br />
sich zu Direktor Dr. Bücker, um ihm<br />
Dank und gute Wünsche auszusprechen)<br />
Ich komme zu den amtlichen Mitteilungen zur Verlesung.<br />
Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2<br />
des Grundgesetzes scheidet Herr Kollege Klinkert als<br />
ordentliches Mitglied aus. Die CDU/CSU-Fraktion<br />
schlägt als seinen Nachfolger Herrn Kollegen de Maizière<br />
vor.<br />
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? —<br />
Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete<br />
de Maizière als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß<br />
bestimmt.<br />
Der Antrag der Fraktion der SPD „Mehr Arbeit<br />
durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern"<br />
auf Drucksache 12/676 soll nachträglich dem<br />
Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.<br />
Das von den Koalitionsfraktionen eingebrachte<br />
„Flächenstillegungsgesetz 1991 " auf Drucksache<br />
12/721 soll nachträglich dem Haushaltsausschuß gemäß<br />
§ 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden.<br />
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die<br />
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die<br />
Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste<br />
aufgeführt:<br />
1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Ausschuß zur<br />
Kontrolle der einigungsbedingten Fördermittel des Bundes<br />
für Kultureinrichtungen (Kontrolle Kulturelle Fördermittel)<br />
— Drucksache 12/790 —<br />
2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD<br />
und FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zum<br />
KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in<br />
Genf vom 1. bis 19. Juli 1991 — Drucksache 12/796 —<br />
3. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD und<br />
FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur<br />
Krise in Jugoslawien — Drucksache 12/795 —<br />
4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD<br />
und FDP: Zur Lage in Kosovo — Drucksache 12/797 —<br />
5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerd Poppe und<br />
der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage in Kosovo<br />
— Drucksache 12/780 —<br />
6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach<br />
Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu<br />
dem Gesetz zur Förderung von Investitionen und Schaffung<br />
von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung<br />
steuerrechtlicher und anderer Vorschriften (Steueränderungsgesetz<br />
1991 — StÄndG 1991) — Drucksachen 12/219,<br />
12/402, 12/459, 12/562, 12/698, 12/768 —<br />
7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach<br />
Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu<br />
dem Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentli-
2548 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth<br />
chen Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen in<br />
dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet<br />
(Haushaltsbegleitgesetz 1991 — HBeglG 1991) — Drucksachen<br />
12/221, 12/401, 12/461, 12/581, 12/697, 12/769 —<br />
8. Stationierungskonzept Aussprache zum der Streitkräfte<br />
8. Aktuelle Stunde: Verhalten der Bundesregierung bezüglich<br />
der geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen<br />
in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung der<br />
Bedenken der betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung<br />
von Niedersachsen<br />
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Walter Franz<br />
Altherr, Hans-Dirk Bierling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),<br />
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie<br />
der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Norbert Gansel, Rudolf<br />
Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der<br />
SPD, der Fraktion der FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/<br />
DIE GRÜNEN: Westsahara-Friedensplan der Vereinten<br />
Nationen — Drucksache 12/798 —<br />
11. Aktuelle Stunde: Hunger und Bürgerkrieg im Sudan<br />
12.<br />
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten<br />
Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten<br />
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten<br />
Ulrich Heinrich, Günther Bredehorn, Johann<br />
Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP<br />
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Förderung<br />
einer einjährigen Flächenstillegung im Wirtschaftsjahr<br />
1991/1992 (Flächenstillegungsgesetz 1991) — Drucksache<br />
12/721 (neu)<br />
—Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für<br />
den Beginn der Beratung abgewichen werden.<br />
Sind Sie mit den genannten Ergänzungen einverstanden?<br />
— Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.<br />
Dann möchte ich Ihnen mitteilen, daß sich die Fraktionen<br />
darauf verständigt haben, die heutige <strong>Sitzung</strong><br />
von 16.30 Uhr bis 18.00 Uhr zu unterbrechen, um noch<br />
einmal Gelegenheit zur Beratung über den Parlaments-<br />
und Regierungssitz in den Fraktionen zu haben.<br />
Um 18.00 Uhr wird die <strong>Sitzung</strong> mit der namentlichen<br />
Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung<br />
des Grundgesetzes fortgesetzt.<br />
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 2 und den Zusatzpunkt<br />
1 auf:<br />
2. Überweisung im vereinfachten Verfahren<br />
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten<br />
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des<br />
Waffengesetzes<br />
—Drucksache 12/471 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Innenausschuß (federführend)<br />
Rechtsausschuß<br />
ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion<br />
-<br />
der SPD<br />
Ausschuß zur Kontrolle der einigungsbedingten<br />
Fördermittel des Bundes für Kultureinrichtungen<br />
(Kontrolle Kulturelle Fördermittel)<br />
—Drucksache 12/790 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Ältestenrat (federführend)<br />
Innenausschuß<br />
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen<br />
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse<br />
zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge?<br />
— Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.<br />
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:<br />
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />
CSU, SPD und FDP und der Gruppe Bündnis<br />
90/DIE GRÜNEN<br />
Zum KSZE-Expertentreffen über nationale<br />
Minderheiten in Genf vom 1. bis 19. Juli<br />
1991<br />
— Drucksache 12/796 —<br />
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die<br />
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. —<br />
Dazu sehe ich keinen Widerspruch.<br />
Ich eröffne die Ausprache. Als erster spricht der<br />
Abgeordnete Reinhard von Schorlemer.<br />
Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU):<br />
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und<br />
Herren! Ich möchte zunächst auch im Namen der<br />
CDU/CSU-<strong>Bundestag</strong>sfraktion dem langjährigen Direktor<br />
Dr. Bäcker ganz herzlich danken. Der Direktor<br />
hat viele Freunde in der Fraktion; das wollte ich hiermit<br />
noch einmal zum Ausdruck bringen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU)<br />
Lassen Sie mich zu unserem Antrag für das KSZE-<br />
Expertentreffen über nationale Minderheiten mit einem<br />
guten Beispiel beginnen. Die ungarische Regierung<br />
arbeitet an einem Gesetzentwurf zum Schutz der<br />
Rechte und Interessen der in Ungarn lebenden Minderheiten.<br />
Vertreter dieser Minderheiten wirken an<br />
der Formulierung des Gesetzes mit. Ich halte diesen<br />
Vorgang für nachahmenswert.<br />
Der Schutz der Rechte nationaler Minderheiten ist<br />
kein Problem, das allein Ungarn angeht. Minderheiten<br />
treffen wir in nahezu allen europäischen Staaten:<br />
Flamen, Bretonen, Korsen, Basken, Elsaß-Lothringer<br />
in Frankreich, Slowenen, Friulaner, Deutsche und La<br />
diner in Italien, Lappen und Samen in Schweden und<br />
Finnland, Deutsche in Dänemark, Dänen und Sorben<br />
bei uns. Diese Aufzählung könnte man beliebig verlängern,<br />
und man brauchte dabei auch keinen europäischen<br />
Staat auszulassen.<br />
Die Minderheiten tragen erheblich zur Pluralität<br />
und zur kulturellen Vielfalt unseres Kontinentes bei.<br />
Hierzu gehört auch die Anmerkung, daß die CDU/<br />
CSU-<strong>Bundestag</strong>sfraktion stolz ist, eine Sorbin als stellvertretende<br />
Fraktionsvorsitzende zu haben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Die Minderheitengruppen haben das Recht, gemeinsam<br />
mit anderen Angehörigen ihrer Gruppen ihr<br />
eigenes kulturelles Leben zu pflegen, sich zu ihrer<br />
eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben<br />
oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Kein<br />
Staat mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen<br />
Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten<br />
diese Rechte vorenthalten. Dies sind keine neuen<br />
Formulierungen. Der Artikel 27 des Internationalen<br />
Paktes über bürgerliche und politische Rechte wurde<br />
schon vor 25 Jahren abgeschlossen.<br />
Warum steht nun dieser Antrag heute auf der Tagesordnung?<br />
Weil die Rechte nationaler Minderheiten<br />
immer noch nicht allgemein anerkannt und ausreichend<br />
geschützt werden. Dies ist nicht nur meine persönliche<br />
Auffassung. Es waren immerhin die Staats-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2549<br />
Reinhard Freiherr von Schorlemer<br />
und Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten, die dieses<br />
Expertentreffen vorgeschlagen und einberufen haben<br />
im — ich zitiere — „Bewußtsein der dringenden Notwendigkeit,<br />
im Hinblick auf nationale Minderheiten<br />
die Zusammenarbeit zu verstärken und diesen Schutz<br />
zu verbessern".<br />
Das Kopenhagener Treffen der KSZE über die<br />
Menschliche Dimension der KSZE vom Juni 1990 ist<br />
auf diesem Wege entschieden vorangeschritten. Das<br />
Kopenhagener Dokument markiert mit seinen Formulierungen<br />
zur Frage der nationalen Minderheiten<br />
einen entscheidenden Durchbruch. Es wirkt tief in die<br />
rechtlichen und politischen Strukturen der KSZE-Teilnehmerstaaten<br />
ein. Und dies ist gut so.<br />
Zwei Tage nach Unterzeichnung des Vertrages mit<br />
Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche<br />
Zusammenarbeit, der für mich einer der bedeutsamsten<br />
Verträge ist, die die Bundesrepublik Deutschland<br />
in den letzten Jahren abgeschlossen hat, ist festzustellen,<br />
daß der Standard der in dem Vertrag erreichten<br />
Regelung der Rechte der deutschen Minderheit in<br />
Polen ohne Kopenhagen wohl kaum zu erreichen gewesen<br />
wäre.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Freimut Duve<br />
[SPD]: Sehr richtig!)<br />
Daß Polen die deutsche Minderheit erstmalig förmlich<br />
anerkannt hat, daß sie ihr Recht, einzeln oder in<br />
Gemeinschaft mit anderen Gruppen ihre ethnische,<br />
kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum<br />
Ausdruck zu bringen, vertraglich gesichert weiß, daß<br />
zu ihren Rechten zählt, sich privat und in der Öffentlichkeit<br />
ihrer Muttersprache frei zu bedienen, in ihr<br />
Informationen zu verbreiten, eigene Bildungs-, Kultur-<br />
und Religionseinrichtungen zu unterhalten, sich<br />
zu ihrer Religion zu bekennen und diese auch in ihrer<br />
eigenen Muttersprache durchzuführen, stellt unsere<br />
Beziehung zu Polen auf eine neue Grundlage. Die<br />
Forderung des Kopenhagener Dokuments findet damit<br />
Aufnahme in einem völkerrechtlichen Vertrag.<br />
Wir Deutsche haben daher allen Grund, mit Befriedigung<br />
auf dieses Dokument zu verweisen.<br />
Ich möchte in diesem Zusammenhang dem Bundeskanzler<br />
danken, der den Abschluß des Vertrages zu<br />
seinem persönlichen Anliegen gemacht hat. Der Bundeskanzler<br />
hat, als er den hohen Stand der erreichten<br />
Minderheitenrechte würdigte, diese Rechte als entscheidend<br />
zur Gewinnung des inneren Friedens in<br />
Deutschland und Polen hervorgehoben.<br />
Wir dürfen dabei nicht vergessen, auch der Arbeit<br />
der Vertriebenen unsere Anerkennung auszudrükken.<br />
-<br />
(Beifall bei der CDU/CSU)<br />
Die Vertriebenen haben auf die Bestätigung der Minderheitenrechte<br />
unerschütterlich und zäh hingewirkt.<br />
Sie haben in den vergangenen Jahren oft Anlaß gehabt,<br />
sich in ihrer Arbeit mißverstanden, belächelt<br />
oder allein gelassen zu fühlen.<br />
(Freimut Duve [SPD]: Es gab manches, was<br />
nicht mißzuverstehen war!)<br />
Das Parlament, das eben, Herr Kollege Duve, die Un<br />
terzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages leb<br />
haft begrüßt hat, sollte bereit sein, auch den Einsatz<br />
der Vertriebenen für eine Aussöhnung zwischen dem<br />
deutschen und dem polnischen Volk auf gesicherter<br />
vertraglicher Grundlage zu würdigen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter<br />
Schorlemer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />
Duve?<br />
Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU): Ja,<br />
bitte.<br />
Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Schorlemer, wir<br />
freuen uns, wenn wir gemeinsam diesen deutsch-polnischen<br />
Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag<br />
würdigen können. Aber sind Sie bereit, die Sorge zu<br />
teilen, die man haben muß, wenn man weiß, daß der<br />
Vorsitzende des von Ihnen eben genannten Verbandes<br />
bis heute nicht bereit ist, die Grenze als endgültig<br />
anzuerkennen?<br />
Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU):<br />
Herr Kollege Duve, ich habe von den Vertriebenen<br />
gesprochen. Ich glaube, die Aussagen, die gerade in<br />
den letzten Wochen und Monaten zu diesem Vertrag<br />
und auch zur Sicherstellung der Minderheitenrechte<br />
gemacht worden sind, bringen zum Ausdruck, daß die<br />
Vertriebenen dieses Werk positiv unterstützen. Das<br />
möchte ich zum Ausdruck gebracht haben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU)<br />
Für manche unserer Partner stellt der Kopenhagener<br />
Katalog der Rechte von Angehörigen nationaler<br />
Minderheiten das Maximum des Wünschbaren und<br />
des Vertretbaren dar. Dennoch sollte sich die Bundesregierung<br />
verpflichtet fühlen, den Schutz der Rechte<br />
nationaler Minderheiten weiter voranzutreiben. Dies<br />
soll mit dem vorliegenden Antrag erreicht werden.<br />
Vor der Vereinigung war Deutschland auf Grund<br />
seiner exponierten Lage häufig genug zur besonderen<br />
Zurückhaltung gezwungen. Das vereinte Deutschland<br />
sollte, gerade wenn es um den Schutz von Menschen-<br />
und Minderheitenrechten geht, diese Zurückhaltung<br />
aufgeben. Der Einsatz für Freiheit und Demokratie,<br />
für Menschenrechte und Minderheitenrechte<br />
liegt im wohlverstandenen deutschen Interesse. Die<br />
Gestaltung des größeren Europa, in dem alle Länder<br />
und Völker unseres Kontinents in Stabilität und Frieden<br />
zusammen leben und auch zusammen leben wollen,<br />
ist dauerhaft nur durch den Schutz und Ausbau<br />
der Rechte nationaler Minderheiten, die Freiheitsrechte<br />
sind, zu garantieren.<br />
Ich bedanke mich.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />
Abgeordnete Herr Duve das Wort.<br />
Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen<br />
und Herren! Ich denke, es fügt sich gut, daß<br />
heute morgen, just zu dieser Stunde, die Außenminister<br />
der KSZE zum ersten Mal in Berlin zur KSZE-<br />
Tagung zusammentreten. Wir begrüßen dies. Es ist für<br />
uns in Deutschland ein besonderer Tag.<br />
(Beifall bei der SPD)
2550 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Freimut Duve<br />
Es wäre gut, wenn sich diese Konferenz auch mit<br />
der Situation in Jugoslawien befassen würde. Es ist zu<br />
begrüßen, daß die Außenminister baltischer Staaten<br />
in Berlin anwesend sind.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Sie nehmen nicht offiziell teil. Aber dennoch ist dies<br />
ein Schritt, der zeigt, wie offen dieser KSZE-Prozeß<br />
inzwischen geworden ist.<br />
Ich will in diesem Zusammenhang an ein Wort des<br />
Philosophen Karl Jaspers erinnern. Vor genau 25 Jahren<br />
hat er geschrieben:<br />
Das Mögliche und Wünschenswerte wäre zukünftig<br />
ein Gewebe von Verträgen, das die<br />
Menschheit zu einer faktisch friedlichen Einheit<br />
in einem dann immer noch labilen Zustand verbände.<br />
In seinem Text schließt Japsers aus, daß es zu einer<br />
Weltgesellschaft oder zu einem Weltstaat kommen<br />
würde. Nein, meint er, es würden viele kleine Staaten<br />
sein, aber sie müßten durch solche Vertragssysteme<br />
zusammengehalten werden.<br />
Dieses Gewebe vieler Verträge existiert heute in<br />
Europa. Die Gefahr eines großen Konflikts, den man<br />
Weltkrieg nennen könnte, ist heute geringer als je<br />
zuvor in den vergangenen 40 Jahren. Daran hat Helsinki<br />
und daran hat die KSZE einen nicht geringen<br />
Anteil.<br />
Wir sind im Zusammenhang mit der Außenministerkonferenz<br />
heute morgen in Berlin stolz, an Willy<br />
Brandt und Helmut Schmidt zu erinnern. Ohne die<br />
Leistung der Ostpolitik gäbe es dieses Treffen in diesem<br />
Berlin heute nicht.<br />
(Beifall bei der SPD — Ul rich Irmer [FDP]:<br />
Genscher nicht vergessen, Herr Duve!)<br />
- Es ist für einen Angehörigen des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />
völlig unmöglich, Herr Kollege Irmer, Herrn<br />
Genscher je zu vergessen. Dafür sorgt er schon selber.<br />
(Heiterkeit bei der FDP)<br />
Die KSZE ist in den letzten zwei Jahren nicht immer<br />
so ernst genommen worden wie heute und morgen in<br />
Berlin. Daß auch der amerikanische Außenminister in<br />
ihr wieder ein wichtiges Element für die friedlichen<br />
Konstruktionen des europäischen und transatlantischen<br />
Brückenbaus sieht, läßt hoffen, daß der Helsinki-Gedanke<br />
neue Strahlkraft auch woanders bekommt.<br />
Ich denke etwa daran, daß sich viele einen<br />
Friedensprozeß im Nahen Osten nur unter den Möglichkeiten<br />
eines Helsinki-Vorgangs, nämlich eines<br />
-<br />
breiten Prozesses, in dem man über die verschiedenen<br />
Körbe dann auch an unterschiedlichen Tischen diskutiert,<br />
vorstellen können.<br />
KSZE, meine Damen und Herren, das ist nicht nur<br />
ein Reichtum an Dokumenten, sondern auch an Erfahrungen.<br />
Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern,<br />
daß es schon auf der Budapester Kulturkonf e-<br />
renz der KSZE zu keinem Schlußdokument gekommen<br />
war, weil sich Rumänien nicht dazu verstehen<br />
konnte, einen Passus über kulturelle Rechte von Minderheiten<br />
zu akzeptieren. Er hätte die Ungarn und die<br />
Deutschen in Rumänien betroffen.<br />
Damals war dies in der öffentlichen Diskussion völlig<br />
untergegangen. Die beiden Warschauer-Pakt-Mitgliedstaaten<br />
Ungarn und Rumänien haben das unter<br />
der Decke gehalten, und alle gemeinsam haben den<br />
Eindruck erweckt, als läge es an den USA und an der<br />
Sowjetunion, daß es nicht zu einem Schlußdokument<br />
gekommen war. Das war noch der Kalte Krieg. Aber in<br />
Wahrheit gab es tief unter der Decke dieser Konferenz<br />
bereits einen völlig anderen Konflikt, den eigentlichen<br />
Konfliktstoff. Ich erinnere daran immer gern,<br />
weil wir es leicht vergessen.<br />
Ich darf an das Schlußdokument von Malta aus dem<br />
Februar dieses Jahres erinnern, als ein Expertentreffen<br />
ein Rechtssicherheitsnetz zur f riedlichen Beilegung<br />
von Streitigkeiten gesucht hatte. Dieses Treffen<br />
hat wirklich kein revolutionäres Ergebnis zustande<br />
gebracht, aber immerhin einen Schlichtungsmechanismus<br />
mit KSZE-Schiedsrichtern etabliert; dies ist ein<br />
erster Schritt. Und ich erinnere an die Pariser Konferenz<br />
vom November 1990, als die Regierungschefs die<br />
Charta für ein neues Europa vorstellten, die sich auch<br />
schon insbesondere mit den Menschenrechtsforderungen<br />
befaßte.<br />
Wenige Tage nach dem Außenministertreffen in<br />
Berlin nimmt das Expertentreffen Anfang Juli in Genf<br />
ein wichtiges Element der europäischen Wirklichkeit<br />
auf. Über nationale Minderheiten soll im Anschluß an<br />
die Kopenhagener Erklärung zwölf Monate später<br />
diskutiert werden. Die Fraktionen des Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>es haben in den vergangenen Tagen eine<br />
gemeinsame Entschließung zu diesem Thema vorbereitet.<br />
Sie soll heute verabschiedet und den Genfer<br />
Experten mit auf den Weg gegeben werden. Lassen<br />
Sie mich einige grundsätzliche Fragen dazu aufwerfen.<br />
Wenn ich unsere Verfassung richtig verstehe, dann<br />
regelt sie die Notwendigkeit, immer wieder Mehrheiten<br />
zu finden, deren vornehmste Aufgabe es ist, Minderheiten,<br />
den einzelnen und die vielfältigen Gruppen,<br />
zu denen sich einzelne zusammenschließen, zu<br />
schützen. Mehrheit in diesem Verständnis ist eine demokratische<br />
Notwendigkeit, aber kein fester sozialer<br />
oder kultureller Tatbestand. Wir alle gehören in der<br />
modernen Gesellschaft im Laufe unseres Lebens sehr<br />
verschiedenen Gruppen an, in der Regel in Wahrheit<br />
Minderheiten.<br />
In Genf wird es um nationale Minderheiten gehen.<br />
Ich denke, wenn wir Deutschen darüber diskutieren,<br />
müssen wir einmal an die glückliche Homogenität<br />
unseres Volkes denken. Auf der anderen Seite dürfen<br />
wir nicht vergessen, daß es nach wie vor das Welter<br />
schrecken über den grausamsten Völkermord gibt,<br />
den ausgerechnet wir Deutschen in diesem Jahrhundert<br />
an Juden, an Sinti und Roma verübt haben.<br />
Meine erste Bemerkung: Wir möchten den Experten<br />
in Genf gerne die Frage mit auf den Weg geben,<br />
ob zu dem Beg riff nationale Minderheiten etwa auch<br />
das Volk der Sinti und Roma gehört. Ich weiß nicht, ob<br />
wir für all das, was uns in Europa mit Minderheitenfragen<br />
beschäftigt, den Begriff nationale Minderheiten<br />
wirklich ausreichend nutzen können. Gehören<br />
also Sinti und Roma dazu? Wie werden die seit Jahrhunderten<br />
in Europa lebenden fast fünf Millionen
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2551<br />
Freimut Duve<br />
Menschen im Kontext der KSZE-Debatte gewürdigt?<br />
Zweifellos bilden sie in Rumänien eine große nationale<br />
Minderheit, aber ganz zweifellos haben sie unter<br />
den anderen Minderheiten Rumäniens keinerlei Fürsprecher;<br />
auch verfügen sie nicht über einen Bruderstaat<br />
oder ein Mutterland, das sich insbesondere ihrer<br />
Rechte annehmen könnte.<br />
(Norbert Gansel [SPD]: Eine internationale<br />
Minderheit!)<br />
— Sie sind eine internationale, eine europäische Minderheit.<br />
Sinti und Roma machen deutlich, daß es nicht nur<br />
um nationale Minderheiten im klassischen Sinne gehen<br />
kann. Bei der Europäisierung muß sich der<br />
Schutzgedanke gerade solcher Gruppen annehmen,<br />
auf die der Begriff national nur eingeschränkt zutrifft.<br />
Zweite Bemerkung: Auf einer Anhörung meiner<br />
Fraktion zur künftigen sogenannten ostdeutschen<br />
Kulturpolitik hat Klaus von Bismarck in eindrucksvoller<br />
Weise daran erinnert, wie schwer es ist, von ganz<br />
kompakten Minderheitengruppen, etwa in den ehemals<br />
zu Deutschland gehörenden Teilen Osteuropas,<br />
zu sprechen. Er hat auf die von vielen Völkern geprägte<br />
Mischkultur dieser Region hingewiesen, auf<br />
Perioden friedlichen Zusammenlebens und auf solche,<br />
in denen gerade die besondere Betonung des je<br />
Eigenen zu Konflikten geführt hat.<br />
Günter Grass hat auf dem diesjährigen Kirchentag<br />
auch daran erinnert, daß es ja im wesentlichen der<br />
Reichtum dieser Region, daß es die Mischung der Kulturen<br />
gewesen ist, die das Zusammenleben von Menschen<br />
ganz verschiedener religiöser oder anderer<br />
Überzeugungen geprägt haben.<br />
Kulturen des Zusammenlebens unterschiedlicher<br />
Gruppen bestimmen die europäische Wirklichkeit<br />
stärker als ihre präzise, geradezu mathematische<br />
Trennbarkeit. Das Leben der modernen Gesellschaft<br />
befördert dieses ebenfalls. Es gibt kaum ein Volk in<br />
der Sowjetunion, das nicht auch Angehörige aus allen<br />
anderen Gruppen und Völkern der Sowjetunion bei<br />
sich leben hätte. In Litauen leben sogar Aserbeidschaner.<br />
Es gibt natürlich eine riesige Minderheit von Polen<br />
und Russen. Wir müssen also das eigentliche Problem<br />
nicht nur im Schutz dieses einen Korpus sehen,<br />
sondern im Schutz des Geflechts Verschiedener, die<br />
zusammen leben wollen und auch aus einer Geschichte<br />
des Zusammenlebens kommen.<br />
Dieser Wirklichkeit entspricht der Grundgedanke<br />
des Minderheitenschutzes, wie ihn das Kopenhagener<br />
Dokument darstellt und festgelegt hat und wie ihn<br />
der deutsch-polnische Vertrag wieder aufgreift. Es<br />
geht um die Rechte der einzelnen, sich gemeinsam mit<br />
anderen in der je eigenen Kultur auszudrücken und<br />
die eigene Sprache zu sprechen. Es geht um die individuellen<br />
Bürgerrechte, sich zu ganz unterschiedlichen<br />
Gruppen zusammenzuschließen, das kulturelle<br />
Erbe der Eltern zu pflegen. Es geht auch um das individuelle<br />
Recht, dieses möglicherweise zu unterlassen<br />
und sich anderen Gruppen anzuschließen, sich also<br />
gegen die Minderheitenkultur der Eltern zu stellen<br />
und gar aus ihr auszuscheren. Das alles meint Minderheitenrechte<br />
als das Individualrecht, sich zusammenzuschließen.<br />
Wir Sozialdemokraten legen auf diesen individualrechtlichen<br />
Ansatz besonderen Wert. Allzu schnell<br />
könnten sonst Bürger zur Verrätern gestempelt werden,<br />
die für ihre Gemeinde einen anderen Weg suchen<br />
als den ihrer sogenannten Volksgruppe. Wir haben<br />
ja solche Beispiele in Schlesien, wo Deutsche, die<br />
in dem einen Verband nicht mittun wollen, sondern in<br />
einem anderen, öffentlich als Verräter gebrandmarkt<br />
werden. Es geht auch um den individuellen Schutz.<br />
Zum Thema Einmischung: Wir haben in den letzten<br />
Tagen an der Einmischungsklausel unserer Entschließung<br />
— das ist der letzte Spiegelstrich auf Seite 4 —<br />
gearbeitet. Ja, natürlich, Herr Lamers, wir wollen keinem<br />
Diktator erlauben, seine eigenen Bürger zu vertreiben,<br />
zu drangsalieren oder umzubringen. Wir haben<br />
darüber im Falle des Irak und der kurdischen<br />
Flüchtlinge gemeinsam diskutiert. Die Souveränität<br />
der Staaten ist nicht die Souveränität der Diktaturen<br />
oder Diktatoren, ihre eigenen Bürger zu schikanieren.<br />
Da sind wir uns völlig einig.<br />
Wir wollen aber auch kein Europa mehr, in dem der<br />
Minderheitenschutz eines Tages möglicherweise zum<br />
Vorwand einer gewaltsamen Einmischung genommen<br />
werden könnte. Auch das wollen wir nicht mehr.<br />
Auch dafür haben wir Beispiele in der europäischen<br />
Geschichte und auch in diesem Jahrhundert. Das will<br />
heute niemand mehr; das unterstellt auch niemand<br />
irgend jemandem. Aber wo Gruppen immer noch<br />
nicht die bestehenden Grenzen akzeptiert haben und<br />
wo einzelne — das läßt sich doch nun wirklich nicht<br />
leugnen — immer noch an der Revisionschance arbeiten,<br />
ist für uns alle Vorsicht angebracht.<br />
Unser gemeinsames Dokument soll dem Genfer Expertentreffen<br />
Anregungen geben und ihm die Grundüberzeugung<br />
aller im Parlament vertretenen Parteien<br />
übermitteln. Ich glaube, daß unsere Entschließung<br />
dies leistet. Zugleich aber bin ich überzeugt, daß wir<br />
mit dem Begriff der nationalen Minderheit zu kurz<br />
greifen und weiter diskutieren müssen.<br />
Ich kann hier keinen besseren Beg riff aus dem Hut<br />
zaubern, aber je länger man sich mit dem Problem der<br />
Minderheiten in Europa, vor allem in der modernen<br />
europäischen Gesellschaft, befaßt, um so weniger<br />
glaube ich, daß dieser Beg riff ausreicht. Denn neben<br />
der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur gehören<br />
wir als Bürger des 20. Jahrhunderts immer auch<br />
bestimmten Arbeits- und Lebenszusammenhängen<br />
an, leben unterschiedlich in Städten oder auf dem<br />
Lande, sind physisch und psychisch häufig zu einer<br />
neuen Mobilität gezwungen, die uns zu Menschen in<br />
einem ganzen Bündel unterschiedlicher Rollen<br />
macht.<br />
Die neue Wirklichkeit wird mit den alten Beg riffen<br />
nur unzulänglich gekennzeichnet. Die neue Mobilität<br />
der Menschen erzeugt auf der einen Seite die Sehnsucht,<br />
Schutz im Gehäuse der eigenen Kultur zu suchen,<br />
zugleich aber auch die Notwendigkeit, sich den<br />
Anforderungen der modernen Zivil- und Wirtschaftsgesellschaft<br />
zu stellen. Unser von historischen Erfahrungen<br />
geprägtes Denken kann sich mit dieser Viel-
2552 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Freimut Duve<br />
fachrolle des einzelnen nur sehr schwer abfinden. Gerade<br />
deshalb ist der individualrechtliche Ansatz im<br />
Kopenhagener Dokument so wichtig. Nur er deckt die<br />
vielfältigen Spannungen, denen der moderne Mensch<br />
ausgesetzt ist.<br />
Der polnische Autor Ryszard Kapuscinski hat — damit<br />
will ich schließen — diese merkwürdige Spannung<br />
der modernen Menschen zwischen der immer<br />
engeren Bindung an das je Eigene und dem Leben in<br />
der modernen Gesellschaft am Beispiel von Los Angeles<br />
mit dem Begriff der Collagen-Gesellschaft umschrieben:<br />
Es geht weder um die Einschmelzung aller<br />
in die Moderne unterschiedsloser Fernsehgesellschaften<br />
noch um die Rückkehr zu alten Zugehörigkeiten.<br />
Es geht um eine neue Vielfalt, auch im eigenen Leben.<br />
Meine Damen und Herren, ich sehe in der modernen<br />
Welt eigentlich nur drei Beispiele, wo das, was wir<br />
anstreben, bisher für das ganze Volk einigermaßen<br />
gelungen ist. Das ist die amerikanische Gesellschaft<br />
mit all den Fragezeichen, die wir insoweit immer stellen<br />
müssen, das ist — nur für die jüdischen Bürger —<br />
die israelische, wo sich Menschen aus ganz unterschiedlichen<br />
Kulturen unter dem Dach einer Religion<br />
zusammenfinden, und das ist die Schweizer Gesellschaft.<br />
In allen anderen Gesellschaften haben wir sozusagen<br />
neue Typen von Problemen. Auch in allen<br />
westeuropäischen Gesellschaften haben wir alte Konflikte,<br />
wobei ich an Spanien, aber auch an Irland<br />
denke.<br />
Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, daß auf dieser<br />
Konferenz neue Anregungen kommen und daß die<br />
KSZE bald auch zu institutionalisierten Instrumenten<br />
kommt, um auf diesem Wege mit uns gemeinsam weiterzuarbeiten.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der SPD, der FDP sowie bei Abge<br />
ordneten der CDU/CSU und der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />
Abgeordnete Ulrich Irmer das Wort.<br />
Ulrich Irmer (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten<br />
Kollegen! Viele Probleme in der Geschichte und<br />
auch in der Gegenwart sind durch Nationalitätenkonflikte<br />
verursacht. Minderheiten gibt es fast überall,<br />
und innerhalb dieser Minderheiten gibt es wiederum<br />
Minderheiten, die anderswo Mehrheiten sind.<br />
Wenn wir etwa Jugoslawien betrachten, stellen wir<br />
fest: Dort sind die Albaner im Kosovo in -<br />
der Minderheit<br />
gegenüber den Serben. Aber innerhalb des Kosovo<br />
gibt es wiederum eine serbische Minderheit unter<br />
der Mehrheit von Albanern. Die Serben, die in<br />
Kroatien leben, sind dort eine Minderheit; aber in<br />
Jugoslawien sind sie in der Mehrheit.<br />
Wir haben Minderheiten in unserem eigenen Land:<br />
die Dänen in Schleswig-Holstein und die Sorben, die<br />
unserem Lande jetzt zugewachsen sind und die wir<br />
herzlich willkommen heißen. Ich finde es sehr schön,<br />
daß eine Sorbin bei der CDU/CSU Stellvertretende<br />
Fraktionsvorsitzende ist. Ich glaube, daß das Problem<br />
der nationalen Minderheiten bei uns kein Problem<br />
mehr ist, weil wir Regeln gefunden haben, wie wir<br />
miteinander umgehen.<br />
In anderen Ländern gibt es riesige Probleme. Es gibt<br />
nicht nur das Problem der nationalen Minderheiten,<br />
sondern auch der Nationalstaaten, die aus unterschiedlichen<br />
Völkern bestehen. Ich denke an die<br />
Tschechoslowakei, wo zwei Völker leben: Tschechen<br />
und Slowaken. Sie müssen miteinander leben, sie<br />
müssen miteinander auskommen.<br />
(Dr. Peter Glotz [SPD]: Das ist ein Nationali<br />
tätenkonflikt!)<br />
Wenige Kilometer von hier entfernt, in Belgien, leben<br />
Wallonen, Flamen und eine deutsche Minderheit, die<br />
dort Rechte genießt, zusammen. Deutsch ist in Belgien<br />
dritte Amtssprache. Wir haben Vielvölkerstaaten wie<br />
etwa die Schweiz und Jugoslawien.<br />
Wir müssen uns eigentlich eines klarmachen: Im<br />
Lichte des europäischen Zusammenschlusses, im<br />
Lichte dessen, was wir als Europäische Union anstreben,<br />
ist jeder von uns Minderheit. In Europa sind auch<br />
die Deutschen eine Minderheit, obwohl sie an Zahlen<br />
die meisten sind. Auch in der EG sind wir eine Minderheit.<br />
Ich sollte mir immer klarmachen, daß ich<br />
überall auf der Welt, außer in meinem eigenen Lande,<br />
Ausländer bin.<br />
(Beifall bei der FDP und der SPD)<br />
Das Wort „Ausländer" ist ein ganz eigenartiger Begriff.<br />
Ich brauche nur über die Grenze zu gehen, und<br />
ich bin Ausländer. Ich bin eine Minderheit auf der<br />
ganzen Welt, auch als <strong>Deutscher</strong>.<br />
Meine Damen und Herren, es gibt den Begriff der<br />
nationalen Minderheit. Wir haben ihn in unserem<br />
Entschließungsantrag nicht definiert. Die KSZE-Expertenkonfernz<br />
wird sich sicher Mühe geben, eine<br />
Definition zu finden. Aber es gibt über den traditionellen<br />
Begriff der nationalen Minderheit hinaus neue<br />
Formen von nationalen Minderheiten. Traditionell<br />
sagt man: Eine nationale Minderheit ist eine Gruppe,<br />
die die Staatsangehörigkeit des Landes hat, wo sie<br />
lebt. Aber betrachten wir einmal Wanderarbeitnehmer:<br />
Sind die Türken bei uns im Lande nicht auch eine<br />
nationale Minderheit, obwohl sie hierzulande keine<br />
Staatsangehörigkeit haben? Kann sich das nicht ändern?<br />
Wird nicht auch ein Türke der dritten Generation<br />
zur nationalen Minderheit, wenn er ständig hier<br />
lebt?<br />
Vielleicht ist dieser Ansatz — Herr Duve, Sie haben<br />
die USA erwähnt — doch ganz hilfreich; denn die USA<br />
setzen sich nur aus Zuwanderern zusammen, aus<br />
Menschen, die dort heimisch geworden sind und sich<br />
heute alle als Amerikaner fühlen. Ich möchte ein wenig<br />
davor warnen, daß man die Definition der nationalen<br />
Minderheit an die Staatsangehörigkeit des Landes<br />
knüpft, in dem man lebt. Denn es wäre sonst zu<br />
leicht, daß die Mehrheit sagen würde: Dadurch, daß<br />
wir die Staatsangehörigkeit aberkennen oder nicht<br />
zuerkennen, sprechen wir dieser Gruppe die Rechte<br />
der nationalen Minderheit ab.<br />
Wir sollten, meine Damen und Herren, einige<br />
Grundregeln als selbstverständlich akzeptieren. Nationale<br />
Minderheiten sollten loyale Bürger des Landes<br />
sein, in dem sie leben. Das ist eine Grundvorausset-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2553<br />
Ulrich Irmer<br />
zung. Sobald sie eine Abspaltung von dem Land oder<br />
eine Aufspaltung des Landes betreiben, in dem sie<br />
leben, sind sie nicht loyal und schaffen neue Probleme.<br />
Dann, wenn sie die Voraussetzung, loyale Bürger<br />
zu sein, erfüllen, haben sie das Recht, weitgehende<br />
Autonomie zu genießen, die durch die KSZE<br />
und durch den Europarat mittels einer besonderen<br />
Konvention festgelegt und allgemein verbindlich gemacht<br />
werden soll.<br />
Ich möchte Ihnen noch einen Gedanken vortragen:<br />
Wir sollten uns bei dem Verlangen nach Rechten für<br />
nationale Minderheiten, die uns selbst nahestehen,<br />
beispielsweise für deutsche nationale Minderheiten in<br />
anderen Ländern, immer vor Augen halten: Die<br />
Rechte, die wir für die deutschen Minderheiten dort<br />
fordern, sollten wir auch den nationalen Minderheiten<br />
gewähren, die bei uns leben. Wir sollten nicht über<br />
das hinausgehen, was wir selbst zuzugestehen bereit<br />
sind.<br />
Ich frage nur einmal: Was würde denn geschehen,<br />
wenn etwa die Türken in Kreuzberg jetzt verlangten,<br />
daß dort türkische Straßenschilder aufgestellt werden<br />
sollten? Wie halten wir es denn mit den politischen<br />
Autonomierechten, die wir für die deutsche Minderheit<br />
fordern, beispielsweise gegenüber den Gastarbeitern,<br />
die bei uns leben?<br />
Natürlich hängt das von der Definition der Minderheit<br />
ab. Ich meine aber, daß es nicht abwegig wäre, zu<br />
sagen: Das, was wir von anderen verlangen, sollten<br />
wir auch bereit sein, denen zu geben, die bei uns<br />
leben. Wir kommen hier zu guten Regelungen.<br />
Ich bin überzeugt, im Prozeß des Zusammenwachsens<br />
von Europa müssen wir den nationalen Minderheiten<br />
wie allen Minderheiten Rechte geben. Ich<br />
meine, der Stand einer Kultur erweist sich darin, wie<br />
die Mehrheit mit den Minderheiten umgeht.<br />
Ich bedanke mich.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die<br />
Abgeordnete Angela Stachowa das Wort.<br />
Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Sehr geehrte<br />
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße<br />
es, daß dieser Antrag eingebracht wurde. Ich<br />
kenne aus eigener Erfahrung die nicht zu unterschätzende<br />
Bedeutung, die der Verwirklichung grundlegender<br />
Rechte und Pflichten einer nationalen Minderheit<br />
zukommt. Nationale Minderheiten, die in der Regel<br />
über viele Jahre, ja, zum Teil Jahrhunderte hinweg<br />
inmitten anderer Völker leben und überlebten,<br />
gehören heute zur kulturellen, sprachlichen und ethnischen<br />
Vielfalt unseres Daseins. Sie gilt es zu bewahren,<br />
zu schützen, zu pflegen und zu fördern; denn sie<br />
verkörpern einen Teil der Weltgeschichte und der<br />
Weltkultur.<br />
Ich selbst gehöre einer nationalen Minderheit in<br />
Deutschland an, dem sorbischen Volk, das alle Tiefen<br />
und Höhen in nahezu tausend Jahren inmitten deutschen<br />
Territoriums durchgemacht hat und heute nicht<br />
nur um die Erhaltung und Entfaltung seiner nationalen<br />
Identität, sondern generell um seine Zukunft, ja,<br />
um sein Überleben kämpft.<br />
Die in dem Antrag aufgeführten Forderungen für<br />
das Auftreten der Bundesregierung in internationalen<br />
Gremien müssen uns zugleich zu denken geben; denn<br />
auch im eigenen Land steht nicht alles zum besten.<br />
Auch hier sind einige Forderungen angebracht.<br />
Ein Rückblick auf die vergangene Wahlperiode<br />
zeigt, daß in diesem Hohen Hause mehrfach über die<br />
Lage nationaler Minderheiten in anderen Ländern debattiert<br />
und polemisiert wurde.<br />
(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />
Was heißt hier „polemisiert"? Was wissen Sie<br />
denn davon, ob polemisiert worden ist?)<br />
Unsere Verantwortung gebietet aber, auch über die<br />
positiven Erfahrungen und die Sorgen und Nöte der<br />
drei anerkannten nationalen Minderheiten im geeinten<br />
Deutschland, der dänischen Minderheit, der friesischen<br />
Volksgruppe und des sorbischen Volkes, ohne<br />
Mutterland zu sprechen.<br />
Konkret zum sorbischen Volk: Im Protokoll zum<br />
Art. 35 des Einigungsvertrages werden die Freiheit<br />
zum Bekenntnis zum sorbischen Volkstum und die<br />
Gewährleistung der Fortentwicklung der sorbischen<br />
Kultur festgeschrieben. Von einer Förderung wie in<br />
der Verfassung in Schleswig-Holstein ist hier keine<br />
Rede. Doch gerade das brauchen die Minderheiten,<br />
braucht diese Minderheit.<br />
Die Problematik des sorbischen Volkes kann sich<br />
nicht in der Förderung ihrer Sprache und Kultur erschöpfen;<br />
denn das Thema die Sorben und die Braunkohle<br />
hat etwas mit ihrem direkten Überleben zu<br />
tun.<br />
Ich spreche vom Kampf ums Überleben und frage in<br />
diesem Zusammenhang: Ist die dem sorbischen Volk<br />
vom Bund für dieses Jahr gewährte Summe von<br />
12 Millionen DM für den Erhalt und die Weiterführung<br />
kultureller Einrichtungen wirklich ausreichend?<br />
Aus der Kenntnis der Belange meines Volkes heraus<br />
meine ich: nein.<br />
Die Länder Sachsen und Brandenburg sind arm.<br />
Kunst und Kultur gehen in Krisenzeiten als erste über<br />
Bord. Dieses eindeutige Gesetz von Basis und Überbau,<br />
wird, fürchte ich, vor sorbischer Kunst und Kultur<br />
nicht haltmachen.<br />
(Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/<br />
CSU]: Was?)<br />
Noch einige allgemeine Bemerkungen. Im vorliegenden<br />
Antrag wird das vorgesehene Minderheitenschutzgesetz<br />
in Ungarn als positives Beispiel erwähnt.<br />
Warum gibt es nichts Adäquates bei uns?<br />
Wie Sie sicher alle wissen, gibt es weder eine Aussage<br />
zu den Rechten und Pflichten noch eine zu<br />
Schutz und Förderung nationaler Minderheiten im<br />
Grundgesetz, ganz zu schweigen von einem Gesetz<br />
über nationale Minderheiten.<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Abgeordnete<br />
Stachowa, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />
Koschyk?<br />
Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Ja, bitte.<br />
Hartmut Koschyk (CDU/CSU) : Frau Kollegin, sind<br />
Sie mit mir der Meinung, daß es ein ernsthaftes Bemü-
2554 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Hartmut Koschyk<br />
hen des Landes Brandenburg und des Freistaates<br />
Sachsen gibt, die Rechte der sorbischen Minderheit<br />
in diesen Ländern auch in den Landesverfassungen zu<br />
schützen, und sind Sie bereit, dieses Bemühen entsprechend<br />
zu würdigen und hier nicht zu unterstellen,<br />
daß diese beiden Länder, in denen Angehörige Ihrer<br />
Volksgruppe leben, nicht versuchen, den Rechten Ihrer<br />
Volksgruppe unter Berücksichtigung eines wirklich<br />
europäischen Standards Genüge zu tun?<br />
Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Ich gehe mit<br />
Ihnen konform. Die Länder Sachsen und Brandenburg<br />
bemühen sich. Ich glaube aber, es ist auch die Aufgabe<br />
des Bundes, nationale Minderheiten zu fördern<br />
und zu unterstützen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Li<br />
ste und der SPD)<br />
Inwieweit kommt die Anerkennung des Rechts auf<br />
kollektive Ausübung von Individualrechten und die<br />
damit verbundene Gewährung der Teilhabe nationaler<br />
Minderheiten an politischen Entscheidungen auf<br />
kommunaler, regionaler und gesamtstaatlicher Ebene<br />
in der Praxis überhaupt zum Tragen? Der <strong>Bundestag</strong><br />
sollte die Bundesregierung auffordern, in regelmäßigen<br />
Abständen einen Minderheitenbericht vorzulegen.<br />
Ein solches Dokument würde uns auch erlauben,<br />
konkrete Vergleiche anzustellen und zu prüfen, wie<br />
die von der Parlamentarischen Versammlung des<br />
Europarates verabschiedeten Prinzipien zum Schutz<br />
der Rechte von Minderheiten in der Bundesrepublik<br />
tatsächlich verwirklicht werden.<br />
Meine Damen und Herren, auch in einem zukünftigen<br />
geeinten Europa ohne Grenzen werden die Bayern<br />
Bayern und die Sachsen Sachsen bleiben. Auch<br />
die nationalen Minderheiten sollen bleiben, was sie<br />
sind, nämlich unter anderem Bindeglieder, aber vor<br />
allem Gruppen von Menschen mit einer eigenen nationalen<br />
Identität.<br />
Zum Abschluß noch eine Bemerkung. Wenn heute<br />
diesem Antrag zugestimmt wird, so beantrage ich zugleich,<br />
daß die Bundesregierung nach der Sommerpause<br />
hier vor dem Hohen Hause einen Bericht über<br />
die Ergebnisse des Expertentreffens gibt und notwendige<br />
Schlußfolgerungen für den innerstaatlichen Umgang<br />
mit nationalen Minderheiten darlegt.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />
Abgeordneten der SPD)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt<br />
Herr Staatsminister Helmut Schäfer.<br />
-<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!<br />
Das Expertentreffen über nationale Minderheiten, das<br />
am 1. Juli in Genf beginnen soll, kommt zur rechten<br />
Zeit. Es wurde von den Staats- und Regierungschefs<br />
der KSZE-Staaten bei ihrem Treffen in Paris im vergangenen<br />
November einberufen — ich zitiere —,<br />
„im Bewußtsein einer dringenden Notwendigkeit des<br />
Minderheitenschutzes". Ich gehe davon aus, daß die<br />
Bundesregierung im Anschluß an das Expertentreffen,<br />
Frau Kollegin, natürlich in den Ausschüssen berichten<br />
wird; das ist doch eine Selbstverständlichkeit.<br />
Denn über all diese Konferenzen wird anschließend<br />
zu sprechen sein.<br />
Akute Krisen sowie offene und latente Spannungen<br />
in einigen KSZE-Staaten belegen, wie notwendig das<br />
KSZE -Expertentreffen über nationale Minderheiten<br />
ist und wie zutreffend auch die Bewertung der Staatsund<br />
Regierungschefs im Hinblick auf die Einberufung<br />
dieses Treffens war. Sie belegen auch, daß ungelöste<br />
Minderheitenfragen große Probleme schaffen können.<br />
Meine Damen und Herren, Minderheitenschutz ist<br />
angewandte Menschenrechtspolitik.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der<br />
CDU/CSU)<br />
Der Schutz der Individualrechte allein, der zunächst<br />
beim Helsinki-Prozeß in den Mittelpunkt gerückt war,<br />
reicht nicht aus.<br />
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr rich<br />
tig!)<br />
Nur der besondere Schutz und die besondere Förderung<br />
von Minderheiten trägt dazu bei, historische<br />
Konflikte zu entschärfen und aus früheren Feinden<br />
Freunde zu machen.<br />
Hier ist wiederholt auf das Beispiel Dänemark und<br />
Deutschland verwiesen worden. Wir könnten noch<br />
einige andere Beispiele nennen; Herr Irmer hat es<br />
getan. Aber ich glaube, dieses Beispiel macht besonders<br />
deutlich, wie Minderheiten miteinander bzw.<br />
Mehrheiten mit ihren jeweiligen Minderheiten umgehen<br />
können.<br />
Ich darf auch sagen, daß sich dank unserer beharrlichen<br />
Ostpolitik — hier kann man ja nun eigentlich<br />
alle Parteien mit einbeziehen, Herr Kollege Duve —<br />
die Situation der deutschen Minderheiten in den<br />
Staaten Mittel- und Osteuropas doch grundlegend<br />
verbessert hat. Ich hoffe, daß diese Entwicklung viele<br />
Angehörige der deutschen Minderheit auch zum Bleiben<br />
in ihren jeweiligen Staaten veranlassen wird<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
und daß sie auch ermutigt werden, bei dem schwierigen<br />
Prozeß dort, nämlich Demokratie herzustellen<br />
und eine neue Wirtschaftsordnung zu schaffen, kräftig<br />
mit anpacken, wie sie in den vergangenen Jahrhunderten,<br />
kann man sagen, ja auch ganz wesentlich zum<br />
Lebensstandard, zur Entwicklung nicht nur der Kultur,<br />
sondern auch des Wohlstands der Länder beigetragen<br />
haben, in denen sie heute noch leben.<br />
Im deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft<br />
und freundschaftliche Zusammenarbeit werden<br />
wesentliche Bestimmungen des Kopenhagener<br />
Dokuments rechtlich verbindlich vereinbart. Dies ist<br />
auch ein konkreter wesentlicher Fortschritt und ein<br />
Beitrag zur Fortentwicklung des europäischen Minderheitenschutzes.<br />
Auf dem Genfer Treffen werden<br />
wir uns für weitere Verbesserungen des europäischen<br />
Minderheitenstandards einsetzen.<br />
Ich habe schon gesagt: Minderheitenschutz und<br />
Schutz der Menschenrechte gehören eng zusammen.<br />
Eine Minderheit kann ihre Identität nur wahren, wenn<br />
sie ihr Anderssein als Gruppe und mittels der Gruppe
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2555<br />
Staatsminister Helmut Schäfer<br />
manifestieren kann. Die KSZE-Teilnehmerstaaten<br />
müssen auf dem in Kopenhagen eingeschlagenen<br />
Weg fortfahren, die Individualrechte auszubauen und<br />
damit natürlich auch Konsequenzen für die Behandlung<br />
von Minderheiten zu ziehen.<br />
Es gibt ja nun Staaten, die besorgt sind, daß die<br />
Respektierung der berechtigten Anliegen von Minderheiten<br />
eine Gefahr für ihre staatliche Souveränität<br />
oder gar für den Bestand ihres Staates werden könnte.<br />
Aber, meine Damen und Herren, es hat sich doch<br />
gezeigt, daß akute Probleme nicht dadurch gelöst<br />
werden können, daß man ihr Bestehen leugnet. Es ist<br />
selbstverständlich, daß der Einhaltung der eingegangenen<br />
Verpflichtungen die Bereitschaft der Minderheit<br />
zur Zusammenarbeit mit der Mehrheit in ihrem<br />
jeweiligen Staat entsprechen muß.<br />
Aufgeschlossene und vertrauensvolle Zusammenarbeit<br />
seitens der Minderheit ist aber um so weniger<br />
zu erwarten, je mehr eine Minderheit ihre legitimen<br />
Interessen gefährdet sieht. Eine Minderheit wird ihre<br />
Rechte um so heftiger einklagen, je mehr sie befürchten<br />
muß, bei Entscheidungen, von denen sie betroffen<br />
ist, nicht ausreichend, und zwar auf allen Ebenen,<br />
beteiligt zu werden.<br />
Das Genfer Expertentreffen muß dafür genutzt werden,<br />
über Lösungen gerade für die schwierigsten und<br />
konfliktträchtigsten Situationen nachzudenken. Wo<br />
— wie in Südtirol — eine Minderheit in ihrem geschlossenen<br />
Siedlungsgebiet die Mehrheit bildet, bieten<br />
sich lokale und regionale Verwaltung auf territorialer<br />
Basis an. Solche Regelungen eignen sich aber<br />
nicht für Gebiete, in denen eine Minderheit weit verstreut<br />
leben muß. Aber auch dort gibt es natürlich die<br />
Möglichkeit, daß sich staatliche Autoritäten eben<br />
nicht in Dinge einmischen, die die Minderheit selbst<br />
verwalten kann und die sie auch selbst verwalten<br />
soll.<br />
Es geht uns vor allem darum, daß es in vielen Feldern<br />
der öffentlichen Angelegenheiten, der öffentlichen<br />
Verwaltung, die man als partielle oder personelle<br />
Autonomie den Minderheiten getrost selbst<br />
überlassen kann und selbst überlassen sollte, besonders<br />
dort Fortschritte erzielt werden, wo es um den<br />
Schutz und die Förderung der Identität geht, also in<br />
Erziehungs-, Bildungs-, Kultur- und Sozialangelegenheiten.<br />
Die übrigen Bereiche der öffentlichen Verwaltung<br />
brauchen dadurch nicht tangiert zu werden.<br />
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die<br />
Bundesregierung begrüßt den Resolutionsentwurf<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es zum Expertentreffen in<br />
Genf. Er betont den Anspruch, daß Minderheitenpolitik<br />
Menschenrechtspolitik ist und daß Minderheitenpolitik<br />
gemäß dem Wort von Bundesaußenminister<br />
Genscher Minderheiten zu Brücken des Verständnisses<br />
zwischen den Nationen machen soll. Sie ist Teil<br />
einer Politik des Ausgleichs und der Verständigung.<br />
Richtschnur muß der Respekt der KSZE-Verpflichtungen<br />
durch die Mitgliedsregierungen und auch die<br />
Loyalität und der Respekt der Minderheiten gegenüber<br />
ihrem jeweiligen Staat sein, gegenüber der<br />
Mehrheit ihrer Bevölkerung.<br />
Herr Kollege Duve, Sinti und Roma sind in dem<br />
Dokument von Kopenhagen übrigens ausdrücklich<br />
erwähnt.<br />
Wir erwarten, daß das KSZE-Expertentreffen in<br />
Genf weitere Fortschritte für den Schutz der Minderheiten<br />
in Europa bringen wird, für die sich alle Fraktionen<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es gemeinsam mit<br />
der Bundesregierung einsetzen werden. Selbstverständlich<br />
— ich darf das wiederholen — werden wir<br />
über den Ausgang und die Fortschritte dieser Konferenz<br />
berichten.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />
bei Abgeordenten der SPD)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der<br />
Abgeordente Hartmut Koschyk.<br />
Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />
Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird der<br />
Bedeutung des Minderheitenschutzes für die Verwirklichung<br />
einer europäischen Friedensordnung<br />
gerecht, wenn der Deutsche <strong>Bundestag</strong> heute mit den<br />
Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/<br />
GRÜNE einen gemeinsamen Antrag zu diesem wichtigen<br />
Thema verabschiedet. Denn diese Frage sollte<br />
nicht Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen<br />
sein. Man sollte sie auch im zwischenstaatlichen<br />
Bereich bei aller Diskussion um den besten Weg<br />
nicht mit Konfrontation und Antagonismus angehen.<br />
Deshalb war es so bedeutend, daß mit dem KSZE-<br />
Dokument von Kopenhagen erstmals Staatenverpflichtungen<br />
zum Schutz von Minderheiten in einer so<br />
breiten und einer so konkreten Form festgeschrieben<br />
wurden. Es ist ermutigend, daß das Genfer Expertentreffen<br />
zu Minderheitenfragen und die dritte Konferenz<br />
über die menschliche Dimension der KSZE in<br />
Moskau diesen Prozeß vertiefen sollen. Es ist sicher<br />
auch gut und richtig, daß der Unterausschuß des <strong>Bundestag</strong>es<br />
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe<br />
an diesen Konferenzen mit jeweils einer Delegation<br />
teilnehmen wird.<br />
Minderheitenprobleme dürfen und können in Europa<br />
nicht nach unterschiedlichen Standards geregelt<br />
werden. Ein überall in Europa geltender verbindlicher<br />
und einklagbarer Minderheitenschutz muß Bestandteil<br />
der künftigen europäischen Rechtsordnung sein.<br />
Deshalb ist es auch entscheidend, daß parallel zum<br />
KSZE-Prozeß in anderen europäischen Institutionen<br />
wie dem Europarat und im Europäischen Parlament<br />
sehr wichtige, teilweise allerdings von der Öffentlichkeit<br />
unbeachtete Initiativen<br />
(Karl Lamers [CDU/CSU]: Ja, leider!)<br />
zur europäischen Menschenrechtskonvention oder für<br />
eine besondere Minderheitenkonvention bzw. für ein<br />
europäisches Volksgruppenrecht gestartet wurden.<br />
Denn bei aller Bedeutung des KSZE-Prozesses kommt<br />
der Schaffung eines Minderheitsrechtes auf der<br />
Ebene des Europarates eine wesentliche stärkere<br />
rechtliche Verbindlichkeit zu. Um diesen Prozeß zu<br />
unterstützen — das muß man deutlich sagen — , wäre<br />
es natürlich auch entscheidend, daß die Bundesrepublik<br />
Deutschland das neunte Zusatzprotokoll zur Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention, das die Mög-
2556 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Hartmut Koschyk<br />
lichkeit der Individualbeschwerde bei Menschenrechtsverletzungen<br />
vorsieht, alsbald ratifiziert.<br />
(Beifall bei Abgeordenten der CDU/CSU, der<br />
FDP und der SPD)<br />
Auch hier hat die Bundesrepublik Deutschland einen<br />
Nachholbedarf.<br />
Meine Damen und Herren, die Verwirklichung des<br />
gesamteuropäischen Minderheitsschutzes ist natürlich<br />
mit der künftigen Frage der Struktur Europas und<br />
seiner Verfassung auf das engste verbunden. Deshalb<br />
muß die Verfassung der Europäischen Union auch<br />
einen entsprechenden minderheitenrechtlichen Teil<br />
beinhalten. Der europäische Einigungsprozeß verlangt<br />
nicht nur Abgabe von Souveränität nach oben,<br />
sondern auch Abgabe von Souveränität nach unten.<br />
Der international auch für die Menschenrechtspolitik<br />
der Bundesrepublik Deutschland wirkende Bonner<br />
Völkerrechtler Christian Tomuschat beschrieb zu Jahresbeginn<br />
als Aufgabe künftiger Menschenrechtspolitik<br />
Deutschlands, sich für ein notwendiges „Zwischenelement<br />
im Völkerrecht" einzusetzen, „wonach<br />
eine Volksgruppe zwar einen Status der politischen<br />
Autonomie, aber nicht völlig Loslösung aus dem bisherigen<br />
Staatsverband verlangen kann". „Für viele<br />
Länder" — so fährt Tomuschat fort; wir merken das ja<br />
im Hinblick auf Jugoslawien und andere Krisenherde<br />
— „würde es geradezu eine Erlösung bedeuten,<br />
könnte sie das Völkerrecht auf einen Mittelweg hinleiten,<br />
der kompromißhaft die nationale Integrität auf<br />
der einen Seite, die Wünsche bestimmter ethnischer<br />
Minderheitengruppen nach einem Mehr an politischer<br />
Selbstbestimmung unterhalb der kritischen<br />
Schwelle der Sezession andererseits zum Ausdruck<br />
bringt. "<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und<br />
der SPD)<br />
Tomuschats Regensburger Kollege Otto Kimminich<br />
spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit<br />
einer „polyethnischen Staatsorganisation"<br />
— ich finde das einen sehr guten Begriff —, um Minderheiten-<br />
und Volksgruppenprobleme dauerhaft befriedigend<br />
zu lösen.<br />
Wer den Volksgruppen und Minderheiten in Europa<br />
einen effektiven Schutz gewähren will — ich<br />
glaube, das muß immer eine besondere Förderung<br />
einschließen —, der muß ihnen auch ein Repräsentations-<br />
und Interaktionsorgan einräumen. Der Vertiefung<br />
des Minderheitenschutzes und ihrer Förderung<br />
dient es jedenfalls nicht, wenn auf KSZE-Ebene nur<br />
über Minderheiten und Volksgruppen geredet wird<br />
und sie nur am Rande dieser Tagungen - als sogenannte<br />
NGOs zu Wort kommen. Für die künftige<br />
Struktur Europas bedeutet dies auch, daß sich Heimatregionen<br />
von Minderheiten und Volksgruppen in<br />
irgendeiner institutionellen Form darstellen und ihre<br />
Interessen vertreten können. Hierbei kommt dem Regionalismus<br />
eine besondere Bedeutung zu, und die<br />
Initiative des bayerischen Ministerpräsidenten Streibl<br />
für die 1989 ins Leben gerufene Konferenz „Europa<br />
der Regionen" leistet hierzu einen sehr wertvollen<br />
Beitrag.<br />
Meine Damen und Herren, der heute zur Debatte<br />
stehende Antrag weist auch auf einen sehr wichtigen<br />
Punkt für die Weiterentwicklung eines europäischen<br />
Minderheitenschutzes und einer gezielten Förderungspolitik<br />
für Minderheiten hin: Die Schaffung sogenannter<br />
public funds, die Volksgruppen und Minderheiten<br />
in die Lage versetzen, unabhängig von der<br />
eigenen Wirtschaftskraft und auch unabhängig von<br />
der jeweiligen Gunst nationaler Haushälter ihre Institutionen<br />
zu unterhalten und ihre Förderungsprogramme<br />
duchzuführen.<br />
Auf die Notwendigkeit derartiger public funds für<br />
eine wirksame Minderheitenschutz- und effektive<br />
Minderheitenförderpolitik hat der bedeutende angelsächsische<br />
Völkerrechtler Lauterpacht bereits 1950 in<br />
seiner Schrift „International Law and Human Rights"<br />
hingewiesen. Deshalb sollte auch in Genf darüber<br />
nachgedacht werden, ob nicht auf europäischer<br />
Ebene ein Fonds geschaffen werden sollte, aus dem<br />
Institutionen von Minderheiten und deren Programme<br />
gefördert werden können. Ich denke beispielsweise<br />
daran, im Hinblick auf die schwierige volkswirtschaftliche<br />
Situation der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas<br />
auch die notwendigen Mittel für eine effektive<br />
Minderheitenförderpolitik aufzubringen. Es<br />
wäre sicher besonders wegweisend und, ich meine,<br />
auch wichtig, wenn aus einem solchen Fonds auch<br />
gemeinsame Programme von Minderheiten aus verschiedenen<br />
Staaten im Sinne eines Erfahrungsaustausches<br />
und einer Begegnung gefördert werden könnten.<br />
Die Achtung der Rechte von Minderheiten, deren<br />
Schutz und aktive Förderung können jedoch nicht nur<br />
Angelegenheit des Staates sein. In seiner Botschaft<br />
zum Weltfriedenstag mit den Leitwort „Um Frieden zu<br />
schaffen, Minderheiten achten" schrieb Papst Johannes<br />
Paul II. im Dezember 1988 — ich zitiere — :<br />
Die Verpflichtung, die Verschiedenheit anzunehmen<br />
und zu schützen, betrifft nicht nur den Staat<br />
oder die Gruppen. Jede Person als Mitglied der<br />
einen Menschheitsfamilie muß den Wert der Verschiedenheit<br />
unter den Menschen verstehen und<br />
achten und ihn auf das Gemeinwohl hinordnen.<br />
Ein offener Geist, der bestrebt ist, daß kulturelle<br />
Erbe der Minderheiten, dem er begegnet, besser<br />
zu begreifen, wird dazu beitragen, Haltungen zu<br />
überwinden, welche gesunde gesellschaftliche<br />
Beziehungen behindern.<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter<br />
Koschyk, Ihre Redezeit ist zu Ende.<br />
Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Wenn Sie mich noch<br />
einen Satz aus dem sehr bemerkenswerten Papst<br />
Rundschreiben zitieren lassen. —<br />
Und an einer anderen Stelle schreibt der Papst:<br />
(Freimut Duve [SPD]: Das ist keine ganz faire<br />
Methode, die Redezeit mit dem Papst auszu<br />
dehnen!)<br />
— Das zeichnet unsere Fraktion aus, Herr Duve.<br />
Das wachsende Bewußtsein, das man heute auf<br />
allen Ebenen für die Lage der Minderheiten<br />
wahrnimmt, ist in unserer Zeit ein Zeichen begründeter<br />
Hoffnung für die neuen Generationen<br />
und für die Erwartungen dieser Minderheitsgrup-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2557<br />
Hartmut Koschyk<br />
pen. Denn die Achtung ihnen gegenüber muß in<br />
gewisser Weise als der Prüfstein für ein harmonisches,<br />
gesellschaftliches Zusammenleben und als<br />
Beweis für die von einem Land und seiner Einrichtungen<br />
erreichte gesellschaftliche Reife angesehen<br />
werden.<br />
Ich wünsche mir, .. .<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Also, jetzt ist wirklich<br />
Schluß.<br />
Hartmut Koschyk (CDU/CSU): . daß natürlich<br />
auch wir als Bundesrepublik Deutschland diese gesellschaftliche<br />
Reife zeigen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer<br />
Kurzintervention hat der Abgeordnete Wolfgang<br />
Börnsen.<br />
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Frau<br />
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich<br />
beziehe mich in meiner Intervention auf den Beitrag<br />
unseres Kollegen Freimut Duve. Herr Duve, ich teile<br />
in großen Zügen Ihre Aussagen. Nur in einem Punkt<br />
bin ich anderer Meinung. Sie haben in einer mehr<br />
internationalen Sicht klargemacht, daß es gelungene<br />
Beispiele für Minderheitenregelungen gibt: in den<br />
Vereinigten Staaten, in der Schweiz und in Israel. Ich<br />
denke wohl, man sollte und darf nicht vergessen, daß<br />
wir in unserem eigenen Land, nämlich in Schleswig<br />
Holstein, durch die dort vorgenommene Regelung der<br />
deutsch -dänischen Minderheitenproblematik ein<br />
ausgesprochen gelungenes Beispiel haben. Als ehemaliger<br />
Fehmarner werden Sie wissen, daß über fast<br />
40 Jahre hier ein Modell für eine Minderheitenregelung<br />
entstanden ist, über das es sich lohnt, weiter<br />
nachzudenken.<br />
Die Bonn-Kopenhagener-Erklärung von 1955 hat<br />
bis heute um keinen Deut verändert werden müssen,<br />
und sie ist zum Teil auch in die Landessatzung Schleswig-Holsteins<br />
eingeflossen, und alle Parteien dort<br />
stützen diese Art von Zusammenleben.<br />
Ich glaube, daß es wichtig ist, daß man bei der Konferenz,<br />
zu der jetzt sicher viele Regierungsvertreter in<br />
Genf zusammenkommen werden, über gelungene<br />
Beispiele nachdenkt, wie sie in der deutsch-dänischen<br />
-<br />
Grenzregion vollzogen worden sind, ob im Kindergartenwesen,<br />
im Schulwesen, auch in der Darstellung<br />
politischer Parteien. Ich würde mir wünschen, daß<br />
sich die Bundesregierung am Beispiel Dänemarks<br />
orientiert und zu dieser Konferenz — der Staatsminister<br />
wird das sicher auch aufnehmen — auch Vertreter<br />
und Berater der dänischen Minderheit in Deutschland<br />
und auch der sorbischen Minderheit mitnimmt. Ich<br />
denke sehr wohl, daß in einer Regierungskommission<br />
solche Vertreter, die aus dem eigenen Erleben Beiträge<br />
einbringen können für das Gelingen der Konferenz,<br />
ein Glücksfall für den Verlauf einer solchen Konferenz<br />
sein können. Ihr Kollege Uffe Ellemann-Jensen<br />
in Kopenhagen praktiziert das Beispiel mit einem Vertreter<br />
der deutschen Minderheit. Ich glaube sehr<br />
wohl, daß es notwendig ist.<br />
Lassen Sie mich mit einer kurzen Bemerkung<br />
schließen. Wenn die Minderheiten in unserem eigenen<br />
Land den Wunsch haben, daß sie nicht nur international<br />
vertreten sind, sondern auch bei uns im<br />
Grundgesetz ihre Rechte abgesichert werden, dann<br />
sollten wir auch offen sein für diese Frage. Das gilt<br />
auch für die Überlegung, ein Büro für internationale<br />
Minderheiten zu schaffen, wo sie sich wiederfinden<br />
können.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter<br />
Duve.<br />
Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Börnsen, ich<br />
danke Ihnen sehr für diesen korrigierenden Hinweis.<br />
In der Tat wäre ich völlig mißverstanden worden,<br />
wenn ich nicht die vielen Beispiele — Sie haben eines<br />
der besten und schönsten genannt — mit gemeint<br />
hätte, bei denen es sehr gut funktioniert. Ich denke,<br />
letztlich ist das auch in den meisten Zeiten Belgiens<br />
so, obwohl es da manchmal noch Probleme gab.<br />
Ich wollte mit meinem Hinweis auf die drei Staaten<br />
Schweiz, Israel und die Vereinigten Staaten verdeutlichen,<br />
daß es dort in ganz heterogenen Gesellschaften<br />
— es gab dort sozusagen keine „Hauptgesellschaft"<br />
— gelungen ist, unter ganz bestimmten, oft<br />
auch tragischen historischen Bedingungen befriedigende<br />
Formen zu finden. All die Beispiele, die Sie<br />
nennen, sind Beispiele aus einer Region, wo in der<br />
Mehrheit die Dänen als Mehrheitsvolk leben und<br />
diese Minderheitenrechte für die Deutschen ausgehandelt<br />
haben oder wo mehrheitlich die Deutschen<br />
oder die Schleswig-Holsteiner, die, wie wir wissen,<br />
eine besondere Art sind, leben und sich auch Dänen<br />
wohl fühlen. Daß Sie meine Großmutter aus Fehmarn<br />
hier erwähnt haben, wird alle Fehmarner sehr<br />
freuen.<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und<br />
Herren, der Abgeordnete Poppe von der Gruppe<br />
Bündnis 90/GRÜNE hat seine Redebeiträge zu Zusatzpunkt<br />
2, aber auch zu den Zusatzpunkten 3, 4 und<br />
5 nach Abstimmung mit den Geschäftsführern zu Protokoll<br />
gegeben *). Sind Sie in Abweichung von der<br />
Geschäftsordnung damit einverstanden? — Dann ist<br />
es so beschlossen.<br />
Frau Stachowa hat in ihrer Rede den Antrag gestellt,<br />
daß die Bundesregierung einen Bericht zur KSZE erstattet.<br />
Herr Staatsminister Schäfer hat das unmittelbar<br />
zugesagt. Damit ist auch diesem Antrag entsprochen.<br />
Ich schließe somit die Aussprache. Wir kommen zur<br />
Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktio-<br />
*) Anlagen 2 und 3
2558 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth<br />
nen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe<br />
Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/796? — Wer<br />
stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der<br />
Antrag einstimmig angenommen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />
FDP und der SPD)<br />
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:<br />
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />
CSU, SPD und FDP und der Gruppe BÜND-<br />
NIS 90/DIE GRÜNEN<br />
Zur Krise in Jugoslawien<br />
— Drucksache 12/795 —<br />
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />
CSU, SPD und FDP<br />
Zur Lage in Kosovo<br />
— Drucksache 12/797 —<br />
ZP5 Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerd<br />
Poppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE<br />
GRÜNEN<br />
Zur Lage in Kosovo<br />
— Drucksache 12/780 —<br />
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für<br />
die gemeinsame Aussprache eine Dreiviertelstunde<br />
vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist<br />
der Fall.<br />
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete<br />
Friedrich Vogel.<br />
Friedrich Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!<br />
Es fügt sich gut, daß sich diese Debatte an die soeben<br />
geführte Debatte anschließt, weil wir damit unmittelbar<br />
in einen Fall konkreter Umsetzung dessen, was<br />
wir hier erörtert haben, hineinkommen.<br />
(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Das zeigt die<br />
Weisheit des Ältestenrates und des Präsidi<br />
ums!)<br />
— Das habe ich nie in Zweifel gestellt, Herr Kollege<br />
Feldmann.<br />
(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das kann<br />
man auch gar nicht!)<br />
Das liegt schon an der Vorsitzführung im - Ältestenrat;<br />
das ist doch völlig klar.<br />
Meine Damen und Herren, die Aufmerksamkeit,<br />
die der gesamte Deutsche <strong>Bundestag</strong> den Ereignissen<br />
und der Entwicklung in Jugoslawien widmet, wird<br />
dadurch unterstrichen, daß die beiden heute zur Beratung<br />
anstehenden Anträge von allen drei Fraktionen<br />
gemeinsam eingebracht worden sind — auch dadurch,<br />
daß wir übereingekommen sind, diese Anträge<br />
heute ohne vorherige Ausschußüberweisung zu verabschieden.<br />
Schließlich möchte ich daran erinnern, daß in<br />
Deutschland rund 600 000 Menschen aus allen Tei<br />
len Jugoslawiens leben und deshalb die Konflikte dort<br />
auch bei uns Niederschlag finden.<br />
(Freimut Duve [SPD]: Sehr wahr!)<br />
Das verstärkt zweifellos unser Interesse an Jugoslawien.<br />
Mit unseren Anträgen wollen wir in dreifacher Hinsicht<br />
Signale geben. Das erste Signal richtet sich an<br />
unsere eigene Bundesregierung. Es macht die Haltung<br />
des Parlaments zu den Problemen in Jugoslawien<br />
deutlich. Wir erwarten von der Bundesregierung,<br />
daß sie ihre Jugoslawienpolitik an dieser Auffassung<br />
des Parlaments ausrichtet.<br />
Nach den Ausführungen des Bundeskanzlers zu Jugoslawien<br />
in der Haushaltsdebatte am 6. Juni 1991<br />
gehe ich davon aus, daß sich Parlament und Bundesregierung<br />
von den gleichen Grundsätzen leiten lassen.<br />
Das gilt für den Appell des Bundeskanzlers an<br />
alle Verantwortlichen in Jugoslawien, mit Besonnenheit<br />
und unter Verzicht auf Gewaltanwendung zu versuchen,<br />
zu einem vernünftigen, erträglichen Kompromiß<br />
zu kommen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)<br />
— Wenn Sie zuviel Beifall klatschen, geht meine Redezeit<br />
flöten.<br />
(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Wir werden uns<br />
zurückhalten!)<br />
Das gilt vor allem für folgende zwei Feststellungen<br />
des Bundeskanzlers.<br />
Erstens. Nur ein demokratisch erneuertes Jugoslawien,<br />
in dem die Menschenrechte — dazu gehören<br />
immer auch die Rechte der Minderheiten — respektiert<br />
werden, hat Zukunft.<br />
Zweitens. Nur so ist Jugoslawien ein Partner, dem<br />
wir und die Europäische Gemeinschaft unsere Zusammenarbeit<br />
anbieten können.<br />
Das zweite Signal richtet sich an die Europäische<br />
Gemeinschaft und fordert zugleich die Bundesregierung<br />
auf, im Sinne der gemeinsamen Auffassung von<br />
<strong>Bundestag</strong> und Bundesregierung die Jugoslawienpolitik<br />
der Europäischen Gemeinschaft mitzubestimmen.<br />
Ich will nicht verhehlen, daß viele hier im Parlament<br />
mit der Jugoslawienpolitik der Europäischen<br />
Gemeinschaft bis in die jüngere Vergangenheit hinein<br />
höchst unzufrieden gewesen sind.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />
Durch die ständige Beschwörung der Integrität und<br />
territorialen Einheit Jugoslawiens bei gleichzeitiger<br />
Absage an Verhandlung und Zusammenarbeit mit<br />
solchen Republiken, die durch die Trennung von Jugoslawien<br />
entstehen könnten, wurden die mehr und<br />
mehr in die Minderheit geratenden serbischen Kommunisten<br />
unterstützt, die um der Macht willen zäh am
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2559<br />
Friedrich Vogel (Ennepetal)<br />
jugoslawischen Einheitsstaat festhalten und die Unabhängigkeitsbestrebungen<br />
der Kroaten und Slowenen<br />
zu unterdrücken versuchen. Das hat diejenigen<br />
geschwächt, die auf der Grundlage von freiheitlicher<br />
Demokratie, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung<br />
gewährleisteten Menschenrechten und geschützten<br />
Rechten von Minderheiten eine neue Form<br />
des Zusammenlebens der sechs Republiken in Jugoslawien<br />
finden wollen. Eine solche Politik der Europäischen<br />
Gemeinschaft — daran besteht kein Zweifel<br />
— findet im Deutschen <strong>Bundestag</strong> keine Unterstützung.<br />
Nach dem Treffen der EG-Außenminister in<br />
Dresden Anfang dieses Monats hat es erfreulicherweise<br />
den Anschein, daß die Prioritäten der Jugoslawienpolitik<br />
jetzt neu gesetzt worden sind.<br />
Die Europäische Gemeinschaft muß in der Tat gegenüber<br />
allen Verantwortlichen in Jugoslawien deutlich<br />
machen, daß Jugoslawien nur dann auf wirtschaftliche<br />
und andere Hilfe der Europäischen Gemeinschaft<br />
hoffen kann, wenn die zwischennationalen<br />
Streitigkeiten eingestellt werden, überall in Jugoslawien<br />
demokratische Verhältnisse geschaffen<br />
werden, die Menschenrechte und die Rechte nationaler<br />
Minderheiten geachtet werden und im f riedlichen<br />
Dialog über die verfassungsmäßige Zukunft Einigung<br />
erzielt wird.<br />
(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist die Voraus<br />
setzung!)<br />
Nur dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt werden,<br />
ist dem Interesse der Europäischen Gemeinschaft<br />
an einem weiteren jugoslawischen Zusammenhalt<br />
Genüge getan.<br />
(Dr. Olaf Feldmann [FDP]): So ist es!)<br />
Das dritte Signal des Deutschen <strong>Bundestag</strong>s richtet<br />
sich an alle Verantwortlichen in Jugoslawien selbst.<br />
Wir fordern sowohl die Politiker der jugoslawischen<br />
Bundesorgane als auch die politischen Führungen in<br />
den sechs Republiken auf, sich friedlich und in konstruktivem<br />
Dialog auf eine neue Grundlage des Zusammenlebens<br />
der sechs Republiken zu verständigen.<br />
Ich wiederhole, was ich in der Aktuellen Stunde am<br />
21. Februar 1991 gesagt habe:<br />
Unser deutsches wie auch unser gemeinsames<br />
europäisches Interesse, das eigene jugoslawische<br />
Interesse allemal, muß es sein, daß Jugoslawien<br />
im Konsens seiner Republiken als eine freiheitliche<br />
demokratische Gemeinschaft konstituiert<br />
wird.<br />
Die bisherige Grundlage des Zusammenlebens - —<br />
davon haben wir uns bei den zahlreichen Reisen nach<br />
Jugoslawien überzeugen können — findet nicht mehr<br />
die ausreichende Zustimmung aller Völker im Vielvölkerstaat<br />
Jugoslawien und hat deshalb keine Zukunft<br />
mehr.<br />
Natürlich muß die neue Grundlage des Zusammenlebens<br />
in Jugoslawien selbst gefunden werden. Es<br />
wäre falsch und hätte auch keine Aussicht auf Bestand,<br />
wenn von außen her versucht werden würde,<br />
darauf einzuwirken. Aber wir möchten deutlich machen,<br />
welche Voraussetzungen in Jugoslawien erfüllt<br />
sein müssen, damit wir bereit sind, seinen Wunsch<br />
nach Aufnahme als Vollmitglied in den Europarat,<br />
nach wirtschaftlicher Hilfe und nach Assoziierung mit<br />
der Europäischen Gemeinschaft zu unterstützen.<br />
Eine neue Einheit Jugoslawiens — so betonen wir in<br />
unserem Antrag — muß das Ergebnis freier Selbstbestimmung<br />
seiner Völker sein. Das schließt jede Form<br />
von Gewaltanwendung, mit der der eine Teil dem<br />
anderen Teil seinen Willen aufzuzwingen versucht,<br />
aus.<br />
Unabdingbar ist auch unser Verlangen, daß freiheitliche<br />
Demokratie, politischer Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit,<br />
umfassende Gewährleistung der grundlegenden<br />
Menschen- und Freiheitsrechte und nicht<br />
zuletzt der Schutz des Rechts der Minderheiten in<br />
jeder der sechs Republiken auf Wahrung ihrer ethnischen<br />
und kulturellen Identität selbstverständlicher<br />
Bestandteil der Neuordnung in Jugoslawien werden.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />
SPD)<br />
Wir sind davon überzeugt, daß die Chance zu einem<br />
so erneuerten Jugoslawien noch besteht. Deshalb appellieren<br />
wir an alle Verantwortlichen in Jugoslawien,<br />
mit gutem Willen diese Chance zu nutzen und Jugoslawien<br />
so zu einem vollwertigen Mitglied im neuen<br />
Europa zu machen.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />
SPD — Ulrich Irmer [FDP]: Das war eine rich<br />
tig schöne Rede!)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der<br />
Abgeordnete Dr. Peter Glotz.<br />
Dr. Peter Glotz (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr<br />
verehrten Damen und Herren! Der eine oder andere<br />
mag sich fragen, warum wir als <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong><br />
über Jugoslawien debattieren. Herr Kollege Vogel hat<br />
schon auf einige Gründe hingewiesen. Die vorliegenden<br />
Entschließungen bringen ja selber zum Ausdruck,<br />
daß die Völker Jugoslawiens ihren eigenen Weg finden<br />
müssen. Wir können und wollen ihnen nicht vorschreiben,<br />
wie, in welcher Form sie miteinander leben:<br />
in einer Föderation, Konföderation oder gar mehr<br />
oder weniger unverbunden. Es steht ja wohl außer<br />
Zweifel, daß wir das Selbstbestimmungsrecht unserer<br />
Nachbarvölker akzeptieren.<br />
Aber gleichzeitig sind wir betroffen: Jugoslawien<br />
möchte der Europäischen Gemeinschaft assoziiert<br />
werden, langfristig Vollmitglied werden. Auch beziehen<br />
sich diejenigen, die in Slowenien, in Serbien oder<br />
in anderen Republiken agieren, ständig auf eine europäische<br />
Öffentlichkeit.<br />
Und vor allem müssen wir uns klarmachen: Die<br />
Konflikte in Jugoslawien sind Teil eines großes Prozesses,<br />
bei dem sich Emanzipation, das Wiederfinden<br />
nationaler Identität und auch der Wiederaufstieg eines<br />
alten Nationalismus mischen. Deutschland — ich<br />
glaube, das ist die übereinstimmende Meinung von
2560 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Peter Glotz<br />
uns allen — ist weder die Schutz- noch die Vormacht<br />
Osteuropas oder Südosteuropas. Aber wir sind wohl<br />
ein Nachbar, der sich nicht einfach fein heraushalten<br />
kann. Aus dieser Geisteshaltung heraus definieren<br />
sich die beiden Anträge, die wir heute hier vorlegen.<br />
Meine erste Feststellung betrifft die Ankündigung<br />
der Republik Slowenien, Ende Juni aus dem jugoslawischen<br />
Staatsverband auszuscheiden und ihre Selbständigkeit<br />
zu erklären. Wir haben diese Entscheidung<br />
eines Nachbarvolks zur Kenntnis zu nehmen.<br />
Ich möchte dazu aber zwei Bemerkungen machen.<br />
Erstens. Wir müssen daran interessiert sein, daß alle<br />
nationalen Entscheidungen so getroffen werden, daß<br />
nicht noch mehr Leid, Elend und vor allem wirtschaftliche<br />
Not entstehen. Die ökonomischen Folgen nationaler<br />
Entscheidungen müssen berücksichtigt und in<br />
die Überlegungen einbezogen werden. Wenn wir raten<br />
können, dann raten wir, nicht einfach nationale<br />
Entscheidungen zu treffen, die über die ökonomischen<br />
Interessen der betroffenen Bevölkerung hinweggehen.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Zweitens. Wir fordern übereinstimmend alle Betroffenen<br />
auf, von Gewaltanwendung abzusehen. Wir fügen<br />
hinzu: Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung<br />
jedes nationalen Emanzipationsprozesses ist für uns<br />
auch, ob die jeweiligen Mehrheits-Völker ihren jeweiligen<br />
Minderheiten Achtung und Respekt entgegenbringen<br />
oder ob sie das nicht tun. Das ist, wie gesagt,<br />
ein ganz wichtiges Kriterium. Wo in einem Zerfallsprozeß<br />
staatlicher Einheiten die Gelegenheit benutzt<br />
wird, Minderheiten zu drangsalieren und ihrer Rechte<br />
zu berauben, sind wir als <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> auf der<br />
Seite der Minderheit.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Zweifellos muß man die Verhältnisse in den einzelnen<br />
Republiken Jugoslawiens sehr deutlich voneinander<br />
unterscheiden. Slowenien ist die wirtschaftlich<br />
stärkste Republik Jugoslawiens. Der Anteil der Völkerschaften,<br />
die nicht zur slowenischen Titularnation<br />
gehören, beträgt nur 8 %. Das Verhältnis zu den Minderheiten<br />
ist dort befriedet, also erscheint ein Ausscheiden<br />
Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatsverband<br />
vielen Beobachtern — es scheint ja kein<br />
Zweifel zu sein, daß das dem Wunsch der Mehrheit<br />
des slowenischen Volkes entspricht — als möglich, oft<br />
sogar als akzeptabel.<br />
Wir wissen allerdings: Jeder Schritt einer Republik<br />
hat Folgen für die anderen. Kroatien hat angekündigt,<br />
einen slowenischen Schritt rasch folgen zu wollen.<br />
Heute hört man von einer ähnlichen Ankündigung<br />
aus Mazedonien. Bei Kroatien ist die Gefahr groß, daß<br />
dies rasch zu militanten Auseinandersetzungen zwischen<br />
der kroatischen Mehrheit und der serbischen<br />
Minderheit führt. Sollten sich die beiden Republiken<br />
Slowenien und Kroatien aus dem Staatsverband lösen,<br />
muß man davon ausgehen, daß viele der Völkerschaften<br />
im Süden nicht allein mit dem stärksten Volk,<br />
den Serben, in einem Staatsverband bleiben wollen<br />
und daß dies eine Fülle von Konsequenzen, nämlich<br />
eine Zerteilung des jugoslawischen Staates, zur Folge<br />
hat.<br />
Ich wiederhole ein letztes Mal: Die Deutschen werden<br />
sich nicht zum Vormund der jugoslawischen Völker<br />
aufwerfen. Aber zu folgenden Feststellungen<br />
glauben wir uns schon berechtigt: Auch wenn es langfristig<br />
ohne weiteres denkbar ist, liebe Kolleginnen<br />
und Kollegen, daß die einzelnen Völker Jugoslawiens<br />
in einem Europa der Regionen in Selbständigkeit leben<br />
und einem solchen Europa der Regionen angehören,<br />
müssen wir im gegenwärtigen Zeitpunkt doch für<br />
einen jugoslawischen Dialog eintreten.<br />
(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />
Sehr richtig!)<br />
Denn heute und in der unmittelbaren Zukunft steht<br />
eine Europäische Gemeinschaft, die den Zusammenhang<br />
des jugoslawischen Staatsverbands ersetzen<br />
könnte, nicht zur Verfügung. Wir setzen uns deshalb<br />
dafür ein, daß der Dialog in Jugoslawien fortgesetzt<br />
wird.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Wir machen gleichzeitig darauf aufmerksam: Die<br />
Europäische Gemeinschaft ist kein Netz, in das man<br />
sich nach waghalsigen Übungen am nationalen Trapez<br />
einfach fallen lassen kann.<br />
(Heiterkeit bei der SPD der CDU/CSU und<br />
der FDP — Ulrich Irmer [FDP]: Sehr schön<br />
gesagt!)<br />
Nach der Süderweiterung im Prozeß der Assoziierung<br />
Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns ist<br />
diese Gemeinschaft bei aller Prosperität erheblich belastet.<br />
Die Europäische Gemeinschaft ist nicht der<br />
Große Bruder, der zur Lösung der Probleme zur Verfügung<br />
steht, die aus nationalen Auseinandersetzungen<br />
in Osteuropa oder Südosteuropa entstehen.<br />
Meine zweite Bemerkung richtet sich auf die Lage<br />
in Kosovo -Metochia. Ich denke, dort liegt der gefährlichste,<br />
wenn auch nicht der einzige gefährliche Konfliktherd<br />
dieser Region.<br />
Nachdem eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses<br />
unter Ihrer Leitung, Herr Kollege Stercken,<br />
Gespräche mit allen Gruppen im Kosovo geführt hat,<br />
sagen wir klar: Die Dispensierung der verfassungsmäßigen<br />
Institutionen im Kosovo durch die serbische<br />
Staatsmacht ist eine Entrechtung der Albaner im Kosovo.<br />
Eine Befriedung wird erst möglich sein, wenn<br />
diese Beraubung von Rechten wieder rückgängig gemacht<br />
wird.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Uns ist bewußt, daß die albanische Mehrheit im<br />
Kosovo zwischen 1974 und 1990 gegenüber der serbischen<br />
Minderheit Fehler gemacht hat. Auch wollen<br />
wir zu dem staatsrechtlichen Konflikt, ob die Albaner<br />
eine Völkerschaft (narodnost) oder ein Volk (narod)<br />
sind, nicht Stellung nehmen.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2561<br />
Dr. Peter Glotz<br />
Aber eines sagen wir klar und ohne Umschweife:<br />
Die Entlassung von rund 55 000 albanischen Arbeitnehmern,<br />
die Entlassung von Ärzten aus Kliniken und<br />
von Lehrern aus Schulen, die Einstellung von Finanzzuweisungen<br />
an die Gemeinden, an Schulen und andere<br />
Bildungseinrichtungen, die Entfernung von albanischem<br />
Führungspersonal aus Betrieben, Universitäten,<br />
Kliniken und Medien, die Schließung von Tageszeitungen,<br />
all dies ist eine Form von Polizei- und Justizterror,<br />
der mit den Prinzipien der KSZE nicht in<br />
Einklang gebracht werden kann und den wir unter<br />
keinen Umständen akzeptieren.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Wir sagen auch dies: Menschenrechtsverletzungen<br />
— ich unterstreiche das, was der Kollege Vogel ausgeführt<br />
hat — und Verfassungskonflikte dieser Art<br />
sind ein Hindernis auf dem Weg nach Europa. Wer<br />
Mitglied der europäischen Völkergemeinschaft auch<br />
institutionell werden will, muß sich an bestimmte Prinzipien<br />
halten, die im Kosovo ganz eindeutig verletzt<br />
worden sind<br />
(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Und weiter ver<br />
letzt werden!)<br />
— und weiter verletzt werden; Sie haben recht, Herr<br />
Kollege.<br />
Man kann es auch noch klarer sagen: Die Chance,<br />
in den europäischen Institutionen mitzuwirken, hängt<br />
von der Bereitschaft ab, die Prinzipien zu akzeptieren,<br />
die im Kopenhagener Dokument der KSZE festgelegt<br />
sind.<br />
Der Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der<br />
SPD und der FDP in diesem Haus, Jugoslawien als<br />
Vollmitglied des Europarats zu akzeptieren, geht davon<br />
aus, daß der wirksame Schutz des Rechts von<br />
Minderheiten auf Wahrung ihrer ethnischen und kulturellen<br />
Identität zur Grundlage des Zusammenlebens<br />
in den einzelnen Republiken gemacht wird.<br />
Wir sagen: Aufnahme als Vollmitglied in den Europarat,<br />
wenn diese Voraussetzungen gewährleistet<br />
sind. Dann wollen wir sie hereinziehen, aber nur unter<br />
der Bedingung, daß dies wirklich geschieht. Lassen<br />
Sie uns dies gemeinsam als Parlament festhalten.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/<br />
CSU und der FDP)<br />
Gleichzeitig drängen wir, Herr Staatsminister, die<br />
Bundesregierung, einen bedeutsamen und, wie ich<br />
einräume, beispiellosen Schritt zu tun. Wir fordern - die<br />
Bundesregierung auf, auf einer Ministerratskonferenz<br />
des Europarats auf die Erörterung der jugoslawischen<br />
Probleme zu drängen, obwohl Jugoslawien<br />
noch nicht Mitglied ist.<br />
(Ulrich Irmer [FDP]: Die KSZE hat sich ge<br />
stern damit befaßt! — Dr. Olaf Feldmann<br />
[FDP]: Und sie hat eine Entschließung verab<br />
schiedet!)<br />
Denn wir sind der Auffassung: Europa kann nicht<br />
bewegungslos verharren, liebe Kollegen von der FDP,<br />
wenn in einem Nachbarland wie Jugoslawien die Gefahr<br />
von erheblichen Menschenrechtsverletzungen,<br />
von blutigen Konflikten und auch von der Einführung<br />
des Faustrechts in gewisser Weise besteht.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/<br />
CSU und der FDP)<br />
Wir dürfen uns nicht auf diplomatische Floskeln und<br />
unverbindliche Freundlichkeit gegenüber den einen<br />
oder auch den anderen beschränken. Wir dürfen auch<br />
nicht Begriffe wie Selbstbestimmungsrecht und<br />
Souveränität als bequeme Entschuldigung für Nichthandeln<br />
und Attentismus benutzen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/<br />
CSU und der FDP)<br />
Denn wir sind heute, seit 1989, in einer anderen Situation,<br />
als wir Jahrzehnte nach 1945 waren.<br />
Meine Damen und Herren, als die Panzer des Warschauer<br />
Paktes in Prag einrollten oder als der ungarische<br />
Aufstand niedergeschlagen wurde, mußte der<br />
Westen befürchten, daß es, wenn er eingreifen würde,<br />
zu einem nuklearen Krieg käme. Das heißt, es waren<br />
uns in der Tat die Hände gebunden, es war eine bipolare<br />
Welt, es gab zwei Supermächte, und jeder Konflikt,<br />
der eine der Supermächte berührte, brachte die<br />
Gefahr eines solchen nuklearen Konfliktes mit sich.<br />
Aber diese Zeit ist vorbei. Dies heißt nicht, daß nun<br />
beliebig kleine Kriege entfesselt werden dürften oder<br />
wir dazu aufriefen, aber es heißt sehr wohl, daß die<br />
moralische Verpflichtung, nicht mit den Händen im<br />
Schoß dazustehen, für uns heute sehr viel größer ist als<br />
vor 1989. Das muß auch die Außenpolitik der Bundesrepublik<br />
zur Kenntnis nehmen, und darauf müssen<br />
wir gemeinsam reagieren.<br />
Als sich die Delegation des Auswärtigen Ausschusses<br />
in Jugoslawien befand, schrieb der Chefredakteur<br />
der Zeitung „Polityka" , der gleichzeitig Vorsitzender<br />
des Auswärtigen Ausschusses des serbischen Parlamentes<br />
ist, Alexander Prllya, einen fragwürdigen Artikel,<br />
(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Mehr als fragwür<br />
dig!)<br />
in dem er die Gefahr an die Wand gemalt hat — einen<br />
sehr fragwürdigen Artikel, Herr Kollege Feldmann;<br />
ich akzeptiere Ihre Korrektur — , die Engländer und<br />
die Deutschen würden gemeinsam eine Eingreiftruppe<br />
von 70 000 Soldaten bilden, um im Kosovo oder<br />
anderswo in Jugoslawien in Konflikten zu intervenieren.<br />
Ich glaube, ich sage mit der Zustimmung des ganzen<br />
Hauses, daß das Unsinn ist. Solche Pläne und<br />
Absichten bestehen nicht.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste — Norbert Gansel [SPD]: Das ist schlim<br />
mer! Es ist Manipulation!)<br />
Ich erlaube mir, eine Zusatzbemerkung hinzuzufügen,<br />
bei der ich nicht so ganz sicher bin, daß das ganze<br />
Haus zustimmt: Es zeigt uns im übrigen auch, wie<br />
rasch in europäischen Konflikten wieder auf antideutsche<br />
Ressentiments zurückgegriffen werden kann.<br />
Vielleicht dient das als Warnung für manche, die sich<br />
einbilden, daß deutsche Truppen in absehbarer Zeit
2562 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Peter Glotz<br />
als Friedensengel und Weltpolizisten große Erfolge<br />
feiern könnten.<br />
(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Aber Herr Glotz,<br />
das geht zu weit!)<br />
— Ich habe doch gewußt, daß ich wenigstens eine<br />
Bemerkung mache, die nicht auf die volle Zustimmung<br />
des ganzen Hauses trifft.<br />
(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />
Das ist Ihr gutes Recht! — Weitere Zurufe von<br />
der CDU/CSU)<br />
Ich füge jetzt hinzu: An militärische Interventionen<br />
oder an pseudomilitärische Interventionen denkt niemand.<br />
Das ist unsere gemeinsame Auffassung.<br />
(Zuruf von CDU/CSU: Sehr richtig!)<br />
Wenn ich auf die jugoslawischen Konflikte schaue,<br />
dann möchte ich unterstreichen und mit Unterstützung<br />
zitieren, was heute der Außenminister der<br />
Tschechoslowakei in einem Interview, das in Deutschland<br />
veröffentlicht wurde, gesagt hat:<br />
Die Geschichte hat uns im Übermaß darüber belehrt,<br />
— sagt Herr Dienstbier —<br />
daß der ethnische und ideologisch fundierte Nationalstaat<br />
die Menschenrechte ebensowenig garantieren<br />
kann wie eine moderne Entwicklung.<br />
Nur die Idee der Menschenrechte und des<br />
citizenship können heute die Basis des Staates<br />
sein. Auf Jugoslawien bezogen: Es gibt doch<br />
nicht nur religiöse, kulturelle und politische Unterschiede.<br />
Es gibt auch ein starkes ökonomisches<br />
Gefälle. Daraus folgt die Notwendigkeit der Solidarität<br />
zwischen den verschiedenen Republiken.<br />
Meine Damen und Herren, ich halte diese Äußerung<br />
des tschechoslowakischen Außenministers für<br />
absolut richtig.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Europäische<br />
Gemeinschaft hat in diesen Prozessen, sowenig<br />
sie und ihre Mitgliedstaaten direkt involviert sind,<br />
eine große Verantwortung. Als Mitglied dieser Gemeinschaft<br />
sollten wir sagen: Wir sind am jugoslawischen<br />
Dialog interessiert. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen.<br />
Der Weg nach Europa kann nur<br />
erfolgreich beschritten werden, wenn die Prinzipien<br />
der KSZE eingehalten werden. Aus diesem Grund<br />
ersuchen wir die Bundesregierung, im Europarat eine<br />
Initiative zu ergreifen und dafür zu sorgen, daß das<br />
jugoslawische Thema auf die Tagesordnung gesetzt<br />
wird.<br />
Herzlichen Dank.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat das<br />
Wort der Abgeordnete Dr. Olaf Feldmann.<br />
Dr. Olaf Feldmann (FDP): Frau Präsidentin! Meine<br />
sehr verehrten Damen und Herren! Die Entwicklung<br />
in Jugoslawien macht uns als Europäern Sorge. Sie<br />
macht uns betroffen. Jugoslawien steht vor einer der<br />
schwersten Herausforderungen seiner jüngeren Geschichte.<br />
Wir haben hier im Hause in der Beurteilung<br />
der Situation eine große Übereinstimmung. Während<br />
in Europa die Zeichen der Zeit auf Einigung und Zusammenarbeit<br />
stehen, droht die jugoslawische Föderation<br />
auseinanderzubrechen. Jugoslawien hat in dieser<br />
schwierigen Situation einen moralischen und meines<br />
Erachtens auch politischen Anspruch auf unsere<br />
Hilfe und Solidarität. Diese Hilfe ist eine europäische<br />
Aufgabe.<br />
Unser Engagement für eine friedliche Lösung der<br />
Krise in Jugoslawien ist keine Einmischung. Die Vorredner<br />
haben darauf schon hingewiesen. Ich möchte<br />
das ausdrücklich auch für die FDP unterstreichen. Wir<br />
mischen uns auch nicht in die Auslegung der jugoslawischen<br />
Verfassung ein. Es hat da Irritationen gegeben.<br />
Wir können und wollen Jugoslawien nicht vorschreiben,<br />
welchen Weg es zur Lösung seiner Krise<br />
wählt. Unser wichtigstes Signal ist, daß wir Jugoslawien<br />
auf dem von seiner Bevölkerung gewählten Weg<br />
unterstützen, soweit dies ein gewaltfreier und demokratischer<br />
Weg ist und er die Selbstbestimmung und<br />
die Achtung der Menschenrechte garantiert.<br />
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU und der SPD)<br />
Meine Damen und Herren, dies ist keine Frage der<br />
Staatsform: Weder führt der zentralistische Staat automatisch<br />
zu Menschenrechtsverletzungen, noch lösen<br />
selbständige Republiken automatisch alle Probleme.<br />
Das ist wirklich keine Frage der Staatsform.<br />
Menschenrechte sind unteilbar. Die individuellen<br />
Menschenrechte sind mit dem Schutz der Minderheiten<br />
untrennbar verbunden. Ohne die Gewährung ihrer<br />
nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen<br />
Rechte kann es eine friedliche und dauerhafte Lösung<br />
der jugoslawischen Krise nicht geben.<br />
Minderheiten können in einem gemeinsamen Europa<br />
ein wichtiges Bindeglied zwischen den Staaten<br />
und Völkern sein. Wo die Minderheiten unterdrückt<br />
werden, entstehen Konflikte und erwachsen damit<br />
Gefahren für den Frieden. Der Schutz von Minderheiten<br />
ist — das ist auch schon in dem ersten Punkt der<br />
heutigen Tagesordnung zum Ausdruck gekommen —<br />
eine zentrale Aufgabe einer Friedenspolitik für Europa.<br />
Nicht nur die EG, sondern auch der Europarat und<br />
vielleicht mehr noch die KSZE sind die richtigen Gremien,<br />
um zu einer gewaltfreien und demokratischen<br />
Lösung der Krise beizutragen. Die FDP unterstützt<br />
deshalb die Forderung, in diesem europäischen Rahmen<br />
eine unparteiische Untersuchung der gegenseitigen<br />
Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen im<br />
Kosovo anzubieten, wie wir es in unserem Entschließungsantrag<br />
gemeinsam vorgeschlagen haben. Der<br />
Europarat und die KSZE sind gefordert, eine Plattform<br />
für einen Dialog zwischen den verfeindeten und meist<br />
sprachlosen Bevölkerungsgruppen zu bieten. Wir begrüßen<br />
ausdrücklich, daß sich die Außenministerkonferenz<br />
in Berlin mit der Krise in Jugoslawien befassen<br />
wird. Die demokratische Bewältigung der jugoslawi-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2563<br />
Dr. Olaf Feldmann<br />
schen Krise ist eine Bewährungsprobe für ganz Europa.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />
SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der<br />
Abgeordnete Dr. Hans Modrow.<br />
Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin!<br />
Meine Damen und Herren! Die anhaltende Zuspitzung<br />
der Lage in Jugoslawien ruft allgemein und<br />
besonders bei all seinen Freunden Beunruhigung und<br />
gewiß auch Sorge hervor. Das friedliche Zusammenleben<br />
innerhalb der jugoslawischen Förderation ist<br />
auf das ernsteste belastet. Die Gefahr einer Ausbreitung<br />
gewaltsamer Auseinandersetzungen wächst von<br />
Tag zu Tag. Jugoslawien droht aus einem anerkannten<br />
Faktor der europäischen Entspannung und des<br />
friedlichen Zusammenlebens der Staaten zu einem<br />
Herd von Spannungen zu werden, die auf den gesamten<br />
Kontinent ausstrahlen.<br />
Vor diesem Hintergrund stimmt die PDS/Linke Liste<br />
den vorliegenden Resolutionsentwürfen in ihrem Wesen<br />
zu. Dabei läßt sie sich davon leiten, daß man sich<br />
in ihnen zum Völkerrecht sowie zu den gurndlegenden<br />
Menschenrechten und zum Schutz der Minderheiten<br />
bekennt. Nicht minder wichtig ist es, daß sie<br />
auf gewaltfreie Lösung der Krise orientiert sind und<br />
all jene Kräfte in Jugoslawien bestärken, die sich für<br />
die Vereinbarung einer neuen Grundlage des Zusammenlebens<br />
der jugoslawischen Völker einsetzen.<br />
Geht man jedoch vom Völkerrecht aus, dann ist es<br />
unbestritten allein Sache der jugoslawischen Völker,<br />
über ihre staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu<br />
entscheiden. Das gilt für den Staatenbund ebenso wie<br />
für die einzelnen Republiken. Versuche, dafür ausländische<br />
Muster anzubieten, verstoßen am Ende gegen<br />
diese elementaren Rechte.<br />
Was Kosovo anbelangt, so ist dort die Lage tatsächlich<br />
besonders und äußerst kompliziert. Nationale,<br />
politische, ökonomische und soziale Probleme und<br />
Widersprüche haben sich zu einem hochexplosiven<br />
Gemisch verbunden. Diese Situation erfordert Verständnisbereitschaft<br />
aller Seiten, hohe Sensibilität<br />
und gewiß auch Augenmaß. Um so mehr sind wir<br />
gerade hier verpflichtet, jede Einseitigkeit der Betrachtung<br />
zu vermeiden und das Prinzip der Nichteinmischung<br />
zu wahren. Damit sind zugleich alle Politiker<br />
in Jugoslawien selbst zur Lösung der inneren - Probleme<br />
herausgefordert, und das auch, um Vertrauen<br />
bei den Nachbarn und in Europa insgesamt zu bewahren<br />
oder zu gewinnen.<br />
Das Schicksal der Völker Jugoslawiens im Zweiten<br />
Weltkrieg bleibt für die Bundesrepublik Deutschland<br />
stets eine besondere Herausforderung. Unmittelbar<br />
nach dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion,<br />
der sich in diesen Tagen zum fünfzigsten<br />
mal jährt, begann der jugoslawische Volksbefreiungskampf,<br />
in dem Hunderttausende von Jugoslawen<br />
ihr Leben gelassen haben. Wer sich dessen bewußt ist,<br />
wird auch sehr wohl verstehen, daß militärisches Eingreifen<br />
von außen keinesfalls geschehen darf.<br />
Angesichts der konflikt- und leidvollen Geschichte<br />
der deutsch -jugoslawischen Beziehungen sind die<br />
Bundesrepublik und ihre Regierung gefordert, mit<br />
Einfühlungsvermögen und Weitblick für ein politisches<br />
Umfeld in Europa zu wirken, das es den jugoslawischen<br />
Völkern erleichtert, die tiefe Krise gewaltfrei<br />
durch friedlichen Dialog zu überwinden und gleichberechtigt<br />
an der Gestaltung einer neuen europäischen<br />
Friedensordnung teilzunehmen.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />
Abgeordneten der SPD)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />
Abgeordnete Heinrich Lummer das Wort.<br />
Heinrich Lummer (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />
Meine Damen und Herren! Es besteht gewiß gar kein<br />
Zweifel daran, daß die Frage der Minderheiten - oder<br />
Gruppenrechte die Herausforderung unserer Tage<br />
ist. Diese Problematik war lange überlagert — Kollege<br />
Glotz hat darauf hingewiesen — , weil es einen Ost-<br />
West-Konflikt gab. Mit der Fortnahme der einheitlichen<br />
Ideologie und der machtpolitischen Potenzen<br />
bricht diese Frage mit besonderer Gewalt auf. Wir<br />
haben keine Alternative; wir müssen uns dieser Fragestellung<br />
widmen.<br />
Einer der Anträge beschäftigt sich insofern mit dem<br />
Kosovo als einem besonderen Problem. Allgemein<br />
kann man heute sehr gut darüber reden, und es gibt<br />
Papiere genug, die einem den Gedanken nahelegen:<br />
Leicht beeinander wohnen die Gedanken, doch hart<br />
im Raume stoßen sich die Sachen. — Kosovo und Jugoslawien<br />
insgesamt ist so ein hartes Problem. Man<br />
kann daher sagen: Wenn man in der Lage sein wird,<br />
die Minderheitenfrage in Jugoslawien zu lösen, dann<br />
kann man sie überall lösen. Jeder ist dort irgendwie<br />
Mehrheit und irgendwo Minderheit. In Serbien — wir<br />
haben es gehört — sind die Albaner Minderheit, aber<br />
im Kosovo sind die Albaner die Mehrheit und die Serben<br />
die Minderheit.<br />
Wir wollen, daß die Minderheitenrechte dort akzeptiert<br />
werden. Kollege Vogel hat davon gesprochen,<br />
daß das, was wir tun, ein bißchen Signal sein soll, und<br />
das meine ich dann auch. Der Antrag, der den Kosovo<br />
betrifft, ist, was die Frage der Verletzung der Menschenrechte<br />
betrifft, mit äußerster Zurückhaltung formuliert.<br />
Die Aussagen der Kollegen waren zutreffender<br />
und härter. Aber wir haben dort erlebt, daß wechselseitig<br />
Vorwürfe erhoben werden; jeder beschimpft<br />
den anderen als den Bösen und als Verletzer der<br />
Menschenrechte. Ich meine, hier muß objektiv festgestellt<br />
werden, wer was wirklich tut. Wir wissen das mit<br />
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, aber im<br />
Interesse der Wahrheitsfindung und auch im Interesse<br />
der Mäßigung soll dort eine Beobachtung stattfinden.<br />
Ich finde, es muß durch Präsenz und Beobachtung<br />
dauernd eine Selbstrechtfertigung der Serben und der<br />
dortigen Behörden erzwungen werden. Das ist der<br />
eine Appell, der in diesem Antrag enthalten ist.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
Der zweite Gedanke, der auch schon geäußert worden<br />
ist, ist der des Dialoges. Wir haben immer wieder<br />
erlebt, daß gesagt wird: Mit denen reden wir nicht,
2564 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Heinrich Lummer<br />
das sind Separatisten. — Gemeint sind die Albaner.<br />
Die Begründung dafür, daß sie ihnen die Autonomie<br />
weggenommen haben, wird von daher geliefert, denn<br />
sie hätten angeblich die Absicht gehabt, eine eigene<br />
Republik zu gründen. Auf der anderen Seite wird gesagt:<br />
Mit den Serben reden wir nicht, denn die haben<br />
uns die Autonomie genommen; das sind die Bösen.<br />
Das geht nun einmal nicht. Wenn man die Probleme<br />
dort lösen will, muß man ohne solche Vorbedingungen<br />
zusammenkommen und miteinander diskutieren.<br />
Das ist das, was wir deutlich zum Ausdruck bringen<br />
wollen. Da sollten wir wirklich unsere guten Dienste<br />
anbieten, wo immer das nur möglich ist.<br />
Ich will noch einen Gedanken des Kollegen Glotz<br />
aufgreifen. Eine Zeitlang hatte man ja den Eindruck,<br />
daß der Ost-West-Konflikt mit seinen Folgen so bequem<br />
war. Manche haben sich von daher gesehen<br />
auch nicht hinreichend deutlich zu mancher Menschenrechtsverletzung<br />
geäußert. Das hätte man mit<br />
Worten schon immer tun können. Auch das ist nicht<br />
immer geschehen. Hier ist es so gewesen. Unsere Zufriedenheit<br />
mit der Regierung und mit dem Europäischen<br />
Rat ist da nicht über die Maßen groß<br />
(Freimut Duve [SPD]: Hört! Hört!)<br />
—ja, ja, in dieser Frage jedenfalls nicht — , weil — das<br />
ist auch die Bestätigung gewesen — die jugoslawische<br />
Zentralregierung bis gestern offenbar davon ausgegangen<br />
ist, daß die Europäische Gemeinschaft<br />
nachhaltig an der Einheit des Staates festhält. Das<br />
haben sie geschrieben; das habe ich so gelesen. Das<br />
hat dann auch dazu geführt, daß man sich nicht immer<br />
um die internen Fragen gekümmert und dafür Sorge<br />
getragen hat, daß sie in richtiger Weise gelöst werden.<br />
Ich finde, es ist ein heilsamer Druck, wenn man sich<br />
für die Menschenrechte einsetzt. Jedermann weiß ja,<br />
daß wir uns deswegen einmischen dürfen. Wenn die<br />
Jugoslawen etwas von uns wollen, dann müssen sie<br />
eben auch in Kauf nehmen, dieses internationale<br />
Recht akzeptieren zu müssen; dann müssen sie eben<br />
ihre Verhältnisse entsprechend ordnen. Wir wollen<br />
über sie nicht den Stab brechen und nicht besonders<br />
böse sein, aber wir wollen mit Entschiedenheit und<br />
Nachdruck dafür eintreten, daß dieses Land die<br />
Chance erhält, Mitglied der Gemeinschaft zu werden,<br />
aber unter den genannten Voraussetzungen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Abschließend hat<br />
Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!<br />
Der vorliegende Entschließungsantrag ist Ausdruck<br />
unserer gemeinsamen Besorgnis über die Entwicklung<br />
in Jugoslawien. Es ist zugleich ein Signal an alle<br />
Kräfte der Vernunft und des Ausgleichs, ihre Anstrengungen<br />
für eine friedliche Beilegung des sich<br />
immer deutlicher abzeichnenden Konflikts zu verstärken.<br />
Ein Europa, das politisch zusammenwächst, kann<br />
— Herr Kollege Lummer, wenn Sie hier Kritik an der<br />
Bundesregierung üben, sollten Sie das auch zur<br />
Kenntnis nehmen — die Gefahr einer Staatskrise und<br />
einer wachsenden Gewaltbereitschaft in einem Mitgliedstaat<br />
auch der KSZE nicht einfach ignorieren. Zu<br />
Recht betont der Entschließungsentwurf daher — ich<br />
möchte das hier auch mit Blick auf Belgrad noch einmal<br />
unterstreichen — die Notwendigkeit einer Stabilisierung<br />
auf der Grundlage der einvernehmlich niedergelegten<br />
Grundsätze der Charta von Pa ris. Ich bin<br />
sicher, daß die Lage in Jugoslawien auch bei der heute<br />
stattfindenden KSZE-Konferenz in Berlin eine sehr<br />
wichtige Rolle spielen wird. Ich bitte Sie auch, sich mit<br />
dem, was die KSZE einvernehmlich beschließt, vertraut<br />
zu machen. Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> muß auch<br />
zur Kenntnis nehmen, was im Kreise von 35 Mitgliedstaaten<br />
der KSZE machbar ist.<br />
(Zuruf von der FDP: Wir gehen davon aus,<br />
daß sie wesentlichen Einfluß ausüben!)<br />
Herr Kollege Glotz, was den Europarat betrifft, so<br />
wird dort bereits ein Schritt des Ministerrates erwogen,<br />
der im Hinblick auf den noch nicht erfolgten Beitritt<br />
Jugoslawiens unmittelbar an die jugoslawische<br />
Regierung gerichtet sein wird und die Voraussetzungen<br />
des Beitritts Jugoslawiens im Zusammenhang mit<br />
den derzeitigen Geschehnissen noch einmal herausstellen<br />
wird. Es ist damit zu rechnen, daß zunächst<br />
diese Initiative kommt. Wir müssen prüfen, inwieweit<br />
sich der Europarat in einer Diskussion mit einem<br />
Nichtmitglied befassen wird.<br />
Die Haltung der Bundesregierung stimmt mit der<br />
unserer Partner in der Europäischen Gemeinschaft<br />
überein. Sie ist in jüngster Zeit der jugoslawischen<br />
Zentralregierung und den Republikspräsidenten mit<br />
besonderem Nachdruck vermittelt worden. Diesem<br />
Zweck diente auch die Mission von Ratspräsident<br />
Santer und Kommissionspräsident Delors Ende Mai.<br />
(Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]<br />
meldet sich zu einer Zwischenfrage)<br />
— Herr Kollege, vielleicht wird Ihre Frage durch das<br />
überflüssig, was ich jetzt gleich anschließend sage.<br />
(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Nein!)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Schäfer,<br />
gestatten Sie die Zwischenfrage des Abgeordneten<br />
Voigt?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Im Augenblick noch nicht. Ich möchte jetzt<br />
gerne meine Argumente fortsetzen dürfen. Dann —<br />
das sage ich noch einmal — stellt sich die Frage, ob die<br />
Zwischenfrage noch nötig ist.<br />
(Freimut Duve [SPD]: Niemals im Leben hat<br />
Karsten Voigt eine überflüssige Frage!)<br />
— Das ist allerdings richtig, Herr Kollege Duve.<br />
Gemeinsam mit den Partnern treten wir für den<br />
friedlichen Erhalt gesamtjugoslawischer Strukturen<br />
auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten<br />
ein. Aber, meine Damen und Herren, ich sage<br />
hier auch ganz klar: Über die Formen dieser Strukturen<br />
müssen die Nationen Jugoslawiens selbst entscheiden.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2565<br />
Staatsminister Helmut Schäfer<br />
Diese Formel muß — das will ich noch einmal unterstreichen<br />
— in allen ihren Teilen gelesen werden. Sie<br />
impliziert keineswegs eine bedingungslose Aussage<br />
zugunsten der einen oder der anderen Position im<br />
innerjugoslawischen Streit. Sie macht vielmehr deutlich,<br />
Herr Kollege Voigt, daß nur eine einvernehmliche<br />
Lösung ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt<br />
in Frage kommt — auch im Hinblick auf die innerjugoslawischen<br />
Grenzen — und daß sich keine politische<br />
Kraft oder Institution dem Dialog über eine mögliche<br />
Umgestaltung des jugoslawischen Staates entziehen<br />
darf. Darüber hinaus müssen die Rechte der<br />
jeweiligen Minderheit respektiert werden.<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatsminister<br />
Schäfer, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Wenn Sie immer noch eine Frage stellen wollen,<br />
gerne!<br />
Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Staatsminister,<br />
bei allem Respekt vor Ihrem Sprechzettel<br />
(Ulrich Irmer [FDP]: Unglaublich!)<br />
möchte ich eine ergänzende Frage hinzufügen, nachdem<br />
Sie gesagt haben, Sie träten für den Zusammenhalt<br />
Jugoslawiens ein. Wenn dies aber nicht der Wille<br />
von mehreren Republiken ist — dies ist am heutigen<br />
Tage ja die Realität — , sind Sie dann auch bereit, auf<br />
die Frage zu antworten, wie sich die Bundesregierung<br />
in dem Fall verhält, daß jugoslawische Republiken<br />
ihre Selbständigkeit wollen, also nicht in dem Staatsverband<br />
bleiben wollen? Sind dann das Selbstbestimmungsrecht,<br />
Gewaltfreiheit und Minderheitenrechte<br />
Ihre Priorität, oder würden Sie dann auch Gewaltanwendung<br />
akzeptieren, um den Zusammenhalt Jugoslawiens<br />
zu garantieren?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Herr Kollege Voigt, zunächst einmal: Sie hatten<br />
noch nie die Chance und die Möglichkeit — die ich<br />
Ihnen sehr herzlich wünsche — , Staatsminister zu<br />
werden. Dann würden Sie auch Sprechzettel ablesen<br />
müssen, weil es um sehr konkrete und wichtige Fragen<br />
geht, bei denen man nicht so einfach frei in den<br />
Raum sprechen kann.<br />
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU)<br />
Ich sage das in diesem Punkte sehr bewußt.<br />
Es hat gestern Demarchen des jugoslawischen Außenministers<br />
in Belgrad gegeben.<br />
-<br />
(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />
Na ja!)<br />
— Herr Kollege Vogel, ich glaube, wir sollten, wenn<br />
wir bei anderen Gelegenheiten Botschafter einbestellen,<br />
nicht „na ja" rufen, wenn unser Botschafter einbestellt<br />
wird. Das sollte man nicht so ganz herunterspielen.<br />
Das gleiche ist in Bonn passiert. Wir sollten in<br />
dieser Frage also sehr vorsichtig verfahren.<br />
Herr Kollege Voigt, ich darf Ihnen weiter sagen: Ich<br />
habe eben sehr deutlich gemacht, daß wir, gerade<br />
weil wir Gewaltanwendung verhindern wollen, hier<br />
in einer sehr sensiblen Weise vorgehen. Ich halte es<br />
für ganz falsch, wenn Sie jetzt sagen, wir sollten uns<br />
auf Fälle einstellen, die noch gar nicht eingetreten<br />
sind, und sollten hier schon Prioritäten nennen.<br />
(Ulrich Irmer [FDP]: Die hoffentlich nicht ein<br />
treffen!)<br />
Ich halte das für keine gute Außenpolitik.<br />
(Beifall des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD])<br />
Wir sollten die Fälle, die Sie angedeutet haben, vielmehr<br />
verhindern. Darauf kommt es an!<br />
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU — Dr. Olaf Feldmann [FDP]:<br />
Sehr gut, Herr Staatsminister!)<br />
— Danke schön. Auch ein Staatsminister bedarf gelegentlich<br />
des Beifalls. Ich bin zutiefst beeindruckt.<br />
(Ulrich Irmer [FDP]: Der Staatsminister ist<br />
immer besser, wenn er vom Sprechzettel ab<br />
weicht! Dann läuft er zu Form auf!)<br />
Meine Damen und Herren, ich darf in meiner Rede<br />
fortfahren: Beim Recht der jeweiligen Minderheiten<br />
sind das Recht auch der nichtserbischen Nationen auf<br />
autonome Gestaltung ihrer wirtschaftlichen und politischen<br />
Verhältnisse in einem Gesamtjugoslawien zu<br />
sehen, aber auch die Rechte der jeweiligen Minderheiten<br />
in den einzelnen Republiken, z. B. auch der<br />
serbischen Minderheiten in Kroatien.<br />
Ein völliger Zerfall Jugoslawiens würde dagegen<br />
— darüber müssen wir uns doch wohl klar sein —<br />
auch historische und kulturelle Bindungen zerreißen.<br />
Eine für alle Parteien befriedigende Regelung der<br />
Minderheitenproblematik würde in ihren verschiedenen<br />
Erscheinungsformen bei einem solchen totalen<br />
Zerfall erschwert.<br />
Wir glauben, daß der Kompromißvorschlag der Präsidenten<br />
von Bosnien/Herzegowina und Mazedonien<br />
den Weg für eine Fortsetzung des innerjugoslawischen<br />
Dialogs aufzeigt. In der Zwölfer-Erklärung vom<br />
8. Juni haben wir gemeinsam mit unseren Partnern<br />
die Bereitschaft der Republikspräsidenten begrüßt,<br />
auf dieser Grundlage weiterzuverhandeln. Nach wie<br />
vor verdienen die Bemühungen der jugoslawischen<br />
Zentralregierung als der letzten verbliebenen Klammer<br />
um einen politischen Konsens auch unsere Unterstützung.<br />
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum<br />
Schluß sagen: Die Bundesregierung begrüßt das in<br />
den beiden vorliegenden Entschließungen dokumentierte<br />
Interesse des <strong>Bundestag</strong>es an der Entwicklung<br />
Jugoslawiens ungeachtet der Tatsache, daß der <strong>Bundestag</strong><br />
den Akzent stärker auf die Autonomie der einzelnen<br />
Republiken gelegt hat. Ihre Entschließungen<br />
sowie die Reisen des Auswärtigen Ausschusses und<br />
einzelner Abgeordneter fügen sich in das Bemühen<br />
der Regierung, zu einer friedlichen Beilegung des<br />
Konfliktes beizutragen.<br />
Eine Entschließung ist ausschließlich dem Kosovo<br />
gewidmet. Ich darf dazu sagen, daß wir die Menschenrechtslage<br />
dort weiterhin als unbefriedigend<br />
und besorgniserregend ansehen. Was für den Konflikt<br />
um die Neuordnung Jugoslawiens gilt, gilt auch im<br />
Kosovo. Jede Lösung muß auf der Grundlage von Gewaltverzicht,<br />
Demokratie und Menschenrechten gefunden<br />
werden. Die Europäische Gemeinschaft ist be-
2566 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Staatsminister Helmut Schäfer<br />
kanntlich bereits tätig geworden, und zwar mit Stufe I<br />
des CDH-Mechanismus, der „menschlichen Dimension"<br />
also, im vergangenen Jahr. Wir haben gesagt:<br />
Die zweite Stufe muß angewendet werden, wenn sich<br />
die Lage im Kosovo nicht verändert. Es ist also nicht<br />
richtig, wenn gesagt wird, daß wir hier nichts täten.<br />
Wir sind aber dafür dankbar, daß Sie uns bei unserem<br />
Tun kräftig unterstützen.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und<br />
Herren, ich schließe die Aussprache.<br />
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst<br />
über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD<br />
und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN<br />
zur Krise in Jugoslawien auf Drucksache 12/795. Wer<br />
stimmt für diesen Antrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen?<br />
— Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.<br />
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen<br />
der CDU/CSU, SPD und FDP zur Lage in Kosovo auf<br />
Drucksache 12/797 (neu) ab. Wer stimmt für diesen<br />
Antrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Dieser<br />
Antrag ist ebenfalls einstimmig angenommen.<br />
Wir stimmen jetzt noch über den Antrag der Gruppe<br />
Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur Lage in Kosovo auf<br />
Drucksache 12/780 ab. Wer stimmt für diesen Antrag?<br />
— Die GRÜNEN sind nicht da. Wer stimmt dagegen?<br />
— Wer enthält sich? — Damit ist der Antrag der<br />
Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN bei Abwesenheit<br />
der GRÜNEN abgelehnt.<br />
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:<br />
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />
des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)<br />
zu dem Antrag der Fraktion der SPD<br />
Einrichtung eines baltischen Informationsbü<br />
ros in der Bundesrepublik Deutschland<br />
zu dem Antrag des Abgeordneten Gerd Poppe<br />
und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN<br />
Einrichtung eines baltischen Informationsbü<br />
ros in der Bundesrepublik Deutschland<br />
— Drucksachen 12/164, 12/166, 12/673 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordnete Reinhard Frhr. von Schorlemer<br />
Gert Weisskirchen (Wiesloch)<br />
-<br />
Dr. Olaf Feldmann<br />
Gerd Poppe<br />
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die<br />
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.<br />
Das Wort hat der Abgeordnete Gert Weisskirchen.<br />
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsident!<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das<br />
innere Band zwischen dem, worüber wir soeben diskutiert<br />
haben, und dem, worüber jetzt zu diskutieren<br />
sein wird, ist offenbar. Was in Jugoslawien vor sich<br />
geht, ist nicht identisch, aber von den strukturellen<br />
Zusammenhängen her durchaus vergleichbar mit der<br />
Entwicklung in der Sowjetunion, die sich in einem<br />
Zwischenstadium befindet. Es käme darauf an, zu erkennen,<br />
was die eigentliche Ursache für die Implosionen<br />
jener Strukturen in Jugoslawien und der Sowjetunion<br />
sind. Das innere Band dieser Implosionen hat<br />
damit etwas zu tun, daß sich ein falscher Internationalismus<br />
entwickelt hat, der in Wirklichkeit kein Internationalismus<br />
war. Vielmehr hat sich die Dominanz<br />
einer bestimmten Gesellschaftsschicht und Gesellschaftsstruktur,<br />
ja, manchmal sogar nur einer Nation,<br />
in solchen sich international nennenden Konglomerationen<br />
gegenüber den anderen durchzusetzen versucht.<br />
In dem Moment, wo es Freiheitsbewegungen<br />
und Freiheitsbestrebungen möglich wird, sich zu entfalten,<br />
bricht das Ganze zwangsläufig zusammen,<br />
nachdem die großen Fragen — vorhin ist das schon<br />
angesprochen worden — des aufgebauschten Ost<br />
West-Konflikts in sich zusammengebrochen sind,<br />
weil eben der Ost-West-Konflikt, soweit er auf dem<br />
Widerspruch der beiden atomaren Supermächte begründet<br />
war und Bestand hatte, in sich zusammengefallen<br />
ist.<br />
Erst ein halbes Jahrzehnt ist es her, daß Michail<br />
Gorbatschow, der große Häretiker unserer Zeit, mit<br />
unerhörtem Mut mit der Ideologie, die sich längst<br />
überlebt hatte, und mit einer Praxis, die schon in der<br />
Stunde ihrer Geburt den Keim des Unterganges in<br />
sich trug, gebrochen hat. Seither ist der real existierende<br />
Sozialismus implodiert. Seither haben die Menschen,<br />
wie Timothy Garton Ash treffend bemerkt hat,<br />
ein Jahrhundert abgewählt. Staunend waren wir<br />
meist Beobachter eines Prozesses, der diejenigen, die<br />
in den Gefängnissen einsaßen, in die Regierung<br />
schleuderte. Die Macht der Ohnmächtigen, die Gewalt<br />
einer ethischen Revolution brach sich Bahn.<br />
Manchmal frage ich mich bis zum heutigen Tag und<br />
bis zur heutigen Stunde immer noch: Warum eigentlich<br />
bleibt unsere Entsprechung im Westen Europas<br />
gegenüber dieser ethischen Revolution aus? Vielleicht<br />
deswegen, weil wir etwas Angst und Sorge haben,<br />
daß sich nicht nur die Träume, die auch eines der<br />
inneren Bande dieses gemeinsamen Europa sind, sondern<br />
möglicherweise auch die Alpträume wiederholen<br />
könnten.<br />
Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang<br />
auch sagen: Einer dieser Alpträume ist gewiß der Nationalismus,<br />
den wir eben schon in bezug auf Jugoslawien<br />
angesprochen hatten, der auch in den baltischen<br />
Republiken deutlich spürbar wird; daran gibt es<br />
keinen Zweifel.<br />
Ich meine, wir müssen noch einmal neu darüber<br />
nachdenken, was Nationalismus eigentlich bedeutet.<br />
Nationalgefühl ist, denke ich, die erste Form der Rebellion<br />
gegen den Terror und gegen den durch Terror<br />
aufgezwungenen Versuch der Zerstörung der Identität<br />
von Völkern, Kulturen und Glaubensgemeinschaften<br />
sowie des regional gewachsenen Bewußtseins der<br />
Zusammengehörigkeit.<br />
Dieses Nationalgefühl wird dann in Nationalismus<br />
hineingleiten können und wird dann regredieren,<br />
wenn der Prozeß der Befreiung von Unterdrückung<br />
ethnisch verkürzt und/oder zugleich von dem Prozeß
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2567<br />
Gert Weisskirchen (Wiesloch)<br />
der Demokratisierung sowie der gesellschaftlichen<br />
Reformen abgetrennt wird.<br />
Ich finde, daß Jiři Dienstbier in seinem Interview,<br />
das vorhin schon einmal zitiert worden ist, sehr zu<br />
Recht gesagt hat: Es kommt darauf an, die Gesellschaften<br />
der verschiedenen Länder zu stabilisieren.<br />
Wenn sie zusammenbrechen und es auf staatlicher<br />
Ebene zur Balkanisierung kommt, wird das den Westen<br />
hundertmal mehr kosten, als wenn er jetzt in eine<br />
sichere gesellschaftliche Entwicklung investiert.<br />
Das ist der zentrale Punkt. Ich finde, wir müßten von<br />
uns aus erkennen, daß gerade die Entwicklung in den<br />
baltischen Staaten etwas mit unserer eigenen Vergangenheit,<br />
mit der der Deutschen zu tun hat. Denn diese<br />
Entwicklung, die mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt<br />
von 1939 etwas zu tun hat, müßte von uns verlangen,<br />
daß wir als Deutsche, als Bundesrepublik Deutschland,<br />
einen Beitrag dazu leisten, daß diese Emanzipationsprozesse,<br />
die da stattfinden, so gelingen, daß<br />
Freiheitsbewegungen niemals mehr in nationalistische<br />
Bewegungen umkippen können. Vielmehr<br />
kommt es darauf an, die Nationenwerdung, die dort<br />
jetzt notwendig stattfindet, von Anfang an die Demokratisierungsprozesse<br />
zu binden. Wenn das nicht gelingt,<br />
dann allerdings sehe ich die große Gefahr, daß<br />
Europa vielleicht wieder in eine — Stichwort von Ji ři<br />
Dienstbier — Balkanisierung zurückfallen könnte.<br />
Das müssen wir verhindern!<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU)<br />
Wir müssen von Beginn an die Nationenwerdung, den<br />
Freiheitsprozeß und die Demokratisierung zusammenbinden.<br />
Das kann auch gelingen. In den baltischen<br />
Republiken besteht zumindest die große<br />
Chance, daß dieser Prozeß gelingt. Dazu müssen wir<br />
einen Beitrag leisten.<br />
Der gemeinsame Antrag aus dem Auswärtigen Ausschuß,<br />
den wir jetzt dem <strong>Bundestag</strong> vorlegen, ist ein<br />
ermutigendes Signal, daß wir erkannt haben, was unsere<br />
Aufgabe ist, nämlich mindestens jetzt dafür zu<br />
sorgen, daß die Interessen der baltischen Republiken,<br />
der baltischen Staaten bei uns einen Platz finden, an<br />
dem sie zur Geltung kommen können.<br />
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)<br />
Ich möchte das noch mit einer Bitte verknüpfen.<br />
Wenn wir über die Gestaltung dieses Büros noch reden<br />
werden, sollten wir uns von Beginn an folgendes<br />
klarmachen, auch gegenüber unseren Partnern im<br />
Baltikum: Diese Informationsbüros hier und nachher<br />
das Goethe-Institut auf der anderen Seite wollen eine<br />
Einladung an einen offenen und öffentlichen friedvollen<br />
Diskurs sein, der im Baltikum geführt werden<br />
muß, damit die Probleme der Nationalitäten, die es<br />
dort gibt, sich eben nicht mit den sozialen Konflikten<br />
vermischen und möglicherweise in Chauvinismus abgleiten<br />
können.<br />
Wir müssen dafür sorgen, daß wir — darüber haben<br />
wir vorhin geredet — alle Minderheiten, die Russen,<br />
die Juden, die Letten — alle, die im Baltikum beieinanderleben<br />
und die selber sagen: Wir wollen jetzt<br />
endlich das Recht auf demokratische Selbstbestimmung<br />
haben — , zusammenführen und mit ihnen die<br />
Probleme bewältigen, damit am Ende ein gemeinsames<br />
Europa geschaffen wird, in dem wir eine Heimat<br />
für alle bieten können.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />
hat der Abgeordnete Sauer.<br />
Helmut Sauer (Salzgitter) (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Aus zahlreichen<br />
Beiträgen heute morgen ist hervorgegangen,<br />
daß sich Europa mitten in einem gewaltigen Prozeß<br />
der Umstrukturierung und der Veränderungen befindet.<br />
In Ost und West werden jetzt Weichen gestellt,<br />
und Entscheidungen von großer Tragweite sind notwendig.<br />
Wer von uns hätte es für möglich gehalten, daß z. B.<br />
in der Sowjetunion aus Leningrad wieder Sankt Petersburg<br />
werden würde und daß am ersten Osterfeiertag<br />
das sowjetische Fernsehen seine Sendung mit<br />
dem alten russischen Gruß „Christus ist auferstanden"<br />
beginnen würde?<br />
Andererseits sehen wir auch — wir stehen fassungslos<br />
und voller Abscheu davor — , Ereignisse, wie sie<br />
sich in Wilna und in Riga ereignet haben. Dort wurden<br />
erneut mit brutalster Militärgewalt Menschenrechte<br />
verletzt, ja, es mußten zahlreiche Todesopfer beklagt<br />
werden.<br />
Im Baltikum fragen sich viele, wie lange die westlichen<br />
Staaten dem diplomatischen Druck der Sowjetunion<br />
noch nachgeben wollen. Sie fragen mit Recht,<br />
wann denn endlich den vielfachen Sympathiekundgebungen<br />
auch Taten folgen werden. Sie fragen weiter,<br />
wann sich die Staaten der Welt denn daran erinnern<br />
wollen, daß Lettland, Estland und Litauen freie<br />
Staaten und Mitglieder des Völkerbundes, der Völkergemeinschaft<br />
nach dem Ersten Weltkrieg, gewesen<br />
sind. Darum von dieser Stelle auch ein Dankeschön<br />
an die dänische Regierung, die bei der KSZE-<br />
Konferenz in Berlin die Balten wenigstens in ihre Reihen<br />
aufgenommen hat.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Heute ist der Deutsche <strong>Bundestag</strong> gefordert, einer<br />
gemeinsamen Bitte der drei baltischen Staaten nachzukommen,<br />
ein Informationsbüro hier bei uns einzurichten.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat<br />
Schuld auf sich geladen; denn durch den Pakt der<br />
Nationalsozialisten mit den Kommunisten, den sogenannten<br />
Hitler -Stalin -Pakt, wurde es der Sowjetunion<br />
auch durch uns ermöglicht, die baltischen Länder<br />
zu annektieren, die Menschen politisch zu verfolgen,<br />
die regionalen Strukturen zu zerstören, kulturelle<br />
Eigenständigkeiten zu vernichten, eine Überfremdung<br />
ohne Rücksicht auf bisherige Tradition durchzuführen<br />
und historische Bindungen an Europa zu zerschneiden.<br />
Ich könnte noch vieles aufführen, was meinem Kollen<br />
Scharrenbroich und mir im Frühjahr dieses Jahr in<br />
Lettland vorgetragen worden ist. Wir beide waren<br />
Wahlbeobachter im livländischen Riga und im kurländischen<br />
Mitau, das heute Jelgava heißt.
2568 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Helmut Sauer (Salzgitter)<br />
Man sucht das Gespräch mit uns Deutschen, mit<br />
allen Europäern. Ob es der Parlamentspräsident, Vertreter<br />
der Parteien, die evangelische und die katholische<br />
Kirche oder die Gewerkschaft waren, alle haben<br />
uns immer wieder diese Bitte nach verstärkten Kontakten<br />
vorgetragen. Sie erläuterten uns dabei auch die<br />
Arbeitsweise schon bestehender baltischer Informationsbüros<br />
in skandinavischen Ländern.<br />
Man bat also darum, ein solches Büro auch hier in<br />
Bonn in der Bundesrepublik Deutschland einzurichten.<br />
Dieses Büro soll der Vermittlung, der Förderung<br />
und Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen Institutionen<br />
und Organisationen, Wirtschaftsunternehmen<br />
und kulturellen Einrichtungen bei uns und den<br />
entsprechenden Stellen im Baltikum dienen. Dadurch<br />
sollen Informationen und Kontakte in beide Richtungen<br />
möglichst direkt vermittelt werden. Sie können<br />
dies den <strong>Bundestag</strong>sdrucksachen 12/164 und 12/166<br />
entnehmen.<br />
Wir haben darüber in den zuständigen Gremien<br />
lange debattiert. Denn es waren ja auch diplomatische<br />
und völkerrechtliche Fragen hierbei zu erörtern. Wir<br />
sind dabei zu einer großen Gemeinsamkeit gekommen,<br />
und zwar nicht nur hinsichtlich der Errichtung<br />
eines solchen baltischen Büros hier bei uns, sondern<br />
auch hinsichtlich der Einrichtung eines Goethe-Instituts<br />
dort in den baltischen Staaten. Diese Vorhaben<br />
entnehmen Sie bitte der <strong>Bundestag</strong>sdrucksache<br />
12/673.<br />
Wir haben uns fraktionsübergreifend für diese<br />
Schritte entschieden und bitten die Bundesregierung,<br />
Herr Schäfer, diesen Forderungen des Parlaments<br />
nachzukommen.<br />
Wir sind der Auffassung, daß im Geist der KSZE-<br />
Akte, nach den Prinzipien von Helsinki und der<br />
Charta von Paris die baltische Frage keine innere<br />
Angelegenheit der Sowjetunion ist,<br />
(Beifall bei der CDU/CSU)<br />
auch wenn sich die Sowjetunion über 50 Jahre lang<br />
permanent und häufig gewalttätig in die inneren Angelegenheiten<br />
der baltischen Staaten eingemischt<br />
hat.<br />
Die Unabhängigkeit der baltischen Staaten und<br />
ihre Zukunft sind nach wie vor und bleiben weiterhin<br />
internationale Probleme. Gerade wir Deutschen sollten<br />
mithelfen, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte,<br />
Selbstbestimmungsrecht und Gerechtigkeit auch für<br />
die Menschen in Litauen, Lettland und Estland zu<br />
erreichen.<br />
Darum bitte ich namens der CDU/CSU-Fraktion um<br />
Annahme dieser gemeinsamen Beschlußvorlage gemäß<br />
Drucksache 12/673.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />
hat die Abgeordnete Frau Dr. von Teichman.<br />
Dr. Cornelie von Teichman (FDP): Herr Präsident!<br />
Meine Damen, meine Herren! Heute treten wir ein<br />
weiteres Mal zusammen, um das Thema Baltikum zu<br />
erörtern. Aus unserer historischen Verantwortung für<br />
die baltischen Völker sprechen wir heute über eine<br />
Form der Zusammenarbeit und Mithilfe, die ihnen<br />
ermöglichen soll, sich im Ausland darzustellen und zu<br />
artikulieren. Dabei stehen wir im Spannungsfeld zwischen<br />
einer Sowjetunion, die um ihre geschichtliche<br />
Rolle und um ihre nationale Existenz ringt, und einem<br />
Teil Europas, der uns kulturell und menschlich auf<br />
besondere Weise verbunden ist.<br />
Unserer Unterstützung der baltischen Völker bei<br />
ihrem Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit<br />
liegt nicht zuletzt auch die Verantwortung zugrunde,<br />
die gerade uns Deutschen durch die geheimen Zusatzprotokolle<br />
zum Hitler-Stalin-Pakt vom August<br />
1939 auferlegt ist. Genauso wie dieser Pakt für uns<br />
eine ganz bittere Hypothek aus dunkler Geschichte<br />
ist, belastet dieses Erbe die heutige Sowjetunion, die<br />
sich um Rechtsstaatlichkeit, um Demokratisierung<br />
und um Liberalisierung bemüht. Diese Erblast müssen<br />
wir gemeinsam bewältigen. Sie verpflichtet sowohl<br />
die Sowjetunion als auch die Bundesrepublik, gemeinsam<br />
für die Folgen der Vergangenheit zu haften<br />
und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />
des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch]<br />
[SPD])<br />
Die Lösung der deutschen Frage war ohne die Sowjetunion<br />
nicht möglich. Auch die baltische Frage<br />
kann nicht gegen, sondern nur mit der Sowjetunion<br />
gelöst werden.<br />
(Zustimmung bei der FDP)<br />
In diesem Sinne sollten alle Anstrengungen unternommen<br />
werden, ernsthafte Verhandlungen zwischen<br />
gewählten Vertretern der baltischen Völker<br />
und den politischen Kräften der Zentrale in Moskau<br />
zu fördern. Ziel sollte eine Lösung sein, die eingebettet<br />
ist in eine Gesamtentwicklung eines demokratischen,<br />
eines friedlichen und eines freiheitlichen Europas.<br />
(Zustimmung bei der FDP)<br />
Manche mögen meinen, daß die Geduld der Balten<br />
überstrapaziert sei. Es hilft aber wenig, meine Damen<br />
und Herren, historischen Entwicklungen ungeduldig<br />
vorzugreifen. Brachialgewalt nützt niemandem. Wir<br />
verurteilen sowohl den Einsatz des sowjetischen Militärs<br />
im Baltikum als auch radikale Maßnahmen von<br />
baltischer Seite gegen sowjetische Institutionen.<br />
(Zustimmung bei der FDP)<br />
Grundlage für jeden Fortschritt, Grundlage für jede<br />
Annäherung ist gegenseitige Information. Auch die<br />
Sowjetunion sollte an objektiven Informationen aus<br />
dem Baltikum ein Interesse haben. Umfassende Informationen<br />
sind Teil des Veständigungsprozesses, in<br />
den alle eingebunden werden müssen. Daher halten<br />
wir die Einrichtung baltischer Informationsbüros für<br />
sinnvoll und wünschenswert. Sie fördern den politischen,<br />
den wirtschaftlichen, den kulturellen und sozialen<br />
Dialog, und daran, meine Damen und Herren,<br />
muß uns allen gelegen sein.<br />
Es muß aber nicht Aufgabe der Bundesregierung<br />
sein, derartige Informationsbüros zu finanzieren. Wir<br />
Liberale würden es begrüßen, wenn nicht nur Forde-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2569<br />
Dr. Cornelie von Teichman<br />
rungen an den Staat gestellt würden. Ermutigen wir<br />
doch auch private Initiativen!<br />
(Zustimmung bei der FDP)<br />
So sind z. B. Finanzierungsmodelle über Stiftungen<br />
denkbar. Wir alle wissen, daß das Informationsbüro in<br />
London z. B. durch das Baltic World Council finanziert<br />
wird und auch funktioniert.<br />
Die baltischen Gesellschaften haben ihren Oberlebens-<br />
und Durchsetzungswillen über Jahrzehnte bewiesen.<br />
Geben wir ihnen die moralische Unterstützung<br />
und wirken wir darauf hin, daß eine friedliche<br />
Lösung der Probleme gefunden wird!<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun erteile<br />
ich dem Abgeordneten Dr. Modrow das Wort.<br />
Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Bereits bei der Erörterung<br />
dieser Frage im Februar habe ich hier im <strong>Bundestag</strong><br />
betont, daß es für die PDS/Linke Liste keine<br />
wesentlichen Einwände gegen ein Informationsbüro<br />
gibt, wenn es durch seine Tätigkeit einen solchen<br />
Namen auch verdient. Das heißt, es sollte darauf hinwirken,<br />
die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen<br />
Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den<br />
baltischen Republiken zu vertiefen, die Kontakte zwischen<br />
den Menschen zu fördern und einen sinnvollen<br />
Informationsaustausch zu gewährleisten. Keinesfalls<br />
aber sollte es Elemente einer offiziellen Vertretung<br />
dieser Republiken in der Bundesrepublik Deutschland<br />
an- oder wahrnehmen.<br />
Es bleibt unsere feste Überzeugung, daß von außen<br />
her kein Fakt geschaffen werden sollte, der wie eine<br />
Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion<br />
wirken könnte. Jedes Zeichen dieser Art<br />
wäre für die deutsch-sowjetischen Beziehungen wie<br />
für europäische Angelegenheiten wenig dienlich. Die<br />
inneren Probleme der Sowjetunion sind in der Tat<br />
widersprüchlich und tragen auch dramatischen Charakter.<br />
Die Anstrengungen Gorbatschows bleiben<br />
weiter auf eine friedliche innere Lösung der Probleme<br />
gerichtet. Dazu wird Dialog geführt. Auf diesem Gebiet<br />
werden auch umfassende Aktivitäten entfaltet.<br />
Außenpolitik sollte möglichst in jeder Phase berechenbar<br />
und gerade jetzt für die Lösung der inneren<br />
Probleme der Sowjetunion hilfreich sein. In der Sowjetunion<br />
steht der neue Unionsvertrag zur Entscheidung<br />
an. Nach dem vorliegenden Entwurf werden<br />
auch die Unionsrepubliken Außenkontakte -<br />
verstärken.<br />
Auch wenn sich die baltischen Republiken am<br />
Unionsvertrag nicht beteiligen, ist die Gestaltung der<br />
inneren Beziehungen noch nicht gelöst. Gewiß werden<br />
sich künftig unsere Kontakte und der Austausch<br />
mit den Teilrepubliken der Sowjetunion ausweiten<br />
und verstärken. Es werden neue Formen der Zusammenarbeit<br />
entstehen. Das bringt vielfältige neue Erfordernisse<br />
für die Bundesrepublik und wohl auch für<br />
die Bundesländer mit sich.<br />
Das alles sollte den deutsch-sowjetischen Beziehungen<br />
nützlich sein, Geist und Buchstaben der abgeschlossenen<br />
Verträge entsprechen und die partner<br />
schaftlichen Beziehungen sowohl stärken als auch erweitern.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat<br />
das Wort der Abgeordnete Dr. von Stetten.<br />
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):<br />
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben<br />
das Wort „historisch" in den vergangenen achtzehn<br />
Monaten häufig gebrauchen dürfen. Nun will ich den<br />
heutigen Tag, an dem wir die Einrichtung eines baltischen<br />
Informationsbüros in der Bundesrepublik<br />
Deutschland beschließen, nicht dazu mißbrauchen.<br />
Aber es ist ein Schritt zu einem wirklich historischen<br />
Tag, dem Tag, an dem die baltischen Republiken Litauen,<br />
Lettland und Estland wirklich frei werden.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />
Es ist erfreulich, daß wir in diesem Ziel über alle<br />
Parteigrenzen hinweg einig sind. Das wurde auch<br />
bei der Gründung des deutsch-baltischen parlamentarischen<br />
Freundeskreises deutlich, als letzte Woche<br />
fast einhundert Mitglieder des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />
mit baltischen Freunden zusammentrafen. Es gibt<br />
keine vergleichbare Initiative in anderen westlichen<br />
Ländern. Ich bin stolz darauf, daß damit unsere besondere<br />
Verantwortung für diese drei Länder eindrucksvoll<br />
dokumentiert wurde. Das wurde auch in den drei<br />
baltischen Ländern lebhaft begrüßt.<br />
Wir wünschen uns deutlichere Signale von der Außenpolitik,<br />
Herr Schäfer, und hätten uns für die Länder<br />
einen offiziellen Beobachterstatus bei der heute<br />
beginnenden KSZE -Konferenz in Berlin gewünscht.<br />
Aber immerhin: sie sind dabei.<br />
Wenngleich Geschichte, Herkunft und heutige Bevölkerungszusammensetzung<br />
der drei baltischen Republiken<br />
unterschiedlich waren und sind, haben alle<br />
drei Länder ähnliche Schicksale erlitten und waren<br />
schicksalhaft Spielball zwischen Deutschland und der<br />
Sowjetunion. Die in den Jahren 1918 bis 1920 erkämpfte<br />
Freiheit verloren alle drei 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt<br />
durch Okkupation und anschließende<br />
Zwangsmitgliedschaft als Republik in der Sowjetunion.<br />
1941 wurden sie durch Deutschland besetzt,<br />
nach der Rückeroberung 1944/45 wieder durch die<br />
Sowjetunion. In allen vier Phasen haben die Länder<br />
nicht nur das Übliche eines grausamen Krieges erlebt,<br />
sondern wurden in vier Schüben ihrer Intelligenzschicht<br />
beraubt. Nachdem sie zunächst 1918 und 1921<br />
den ersten Teil der deutschen Oberschicht vertrieben,<br />
verließ der Rest der deutschen Schicht durch die Umsiedlung<br />
das Baltikum 1938/39. 1940 wurden über<br />
hunderttausend Litauer, Letten und Estländer von der<br />
Sowjetarmee nach Sibirien und anderswo verschleppt<br />
und in den Jahren 1941 bis 1944 Hunderttausende von<br />
Juden von der deutschen Besatzungsmacht deportiert.<br />
(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Und er<br />
mordet, kann man nur ergänzend hinzufü<br />
gen!)<br />
— Ich will dem nicht widersprechen, Herr Kollege<br />
Voigt.
2570 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten<br />
Den Rest der Intelligenzschicht ereilte 1945 bis 1949<br />
bei neuen Deportationswellen der Sowjetunion das<br />
gleiche Schicksal. Erst mühsam haben sich die Völker<br />
davon erholt.<br />
Die Okkupation und Einverleibung in die Sowjetunion<br />
wurde vom Westen niemals anerkannt, und so<br />
wollen sie jetzt ihre Freiheit, und sie wollen sie gleich.<br />
Wir von der Bundesrepublik Deutschland müssen sie<br />
unterstützen. Wir, die wir die Freiheit unserer Mitbürger<br />
in den fünf neuen Ländern erst seit einem Jahr<br />
wieder zurückerhalten haben, sollten Verständnis für<br />
die Ungeduld haben.<br />
Dennoch versuche ich, Strömungen entgegenzuwirken,<br />
wenn der Präsident der Sowjetunion, Gorbatschow,<br />
in unqualifizierter Weise angegriffen wird.<br />
Ich sage allen meinen Gesprächspartnern — und dies<br />
waren insbesondere auch die führenden litauischen<br />
Politiker — : Ohne Gorbatschow und seine Politik in<br />
den letzten Jahren gäbe es kein Thema Baltikum,<br />
würden wir als Parlament nicht über die Freiheit dieser<br />
Menschen diskutieren und würden wir heute nicht<br />
über ein Informationsbüro als Vorläufer von drei Botschaften<br />
entscheiden.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
Ich bin der Meinung, daß die Freiheit der drei Völker<br />
nur mit Gorbatschow — und sei es, damit er sein Gesicht<br />
nicht verliert, durch eine finnische Lösung — zu<br />
erreichen ist und nicht gegen ihn und natürlich jetzt<br />
auch mit Jelzin. Es darf keinen blutigen Januar 1991<br />
mehr geben, und die Übergriffe auf baltische Einrichtungen,<br />
wie sie noch in den letzten Wochen durch<br />
sowjetische Behörden stattfanden, müssen aufhören.<br />
Gorbatschow könnte seine historische Leistung für<br />
Frieden und Freiheit mit der Freiheit der drei baltischen<br />
Staaten krönen, und wir tragen heute mit unseren<br />
Beschlüssen ein Stückchen dazu bei.<br />
Es ist noch ein steiniger Weg, aber der <strong>Bundestag</strong><br />
hat die Verantwortung der Deutschen erkannt. Wir<br />
bitten und fordern den Kanzler und den Außenminister<br />
auf, wann immer sie Möglichkeiten haben, mit<br />
sowjetischen Gesprächspartnern diese Frage zur<br />
Sprache zu bringen, auch im Zusammenhang mit<br />
wirtschaftlichen Zukunftsplänen und dem ständigen<br />
Hinweis, daß die völkerrechtliche Situation dieser drei<br />
Länder anders ist als die der übrigen sowjetischen<br />
Republiken, weil die Einverleibung 1940 völkerrechtlich<br />
unwirksam ist.<br />
Die drei baltischen Staaten könnten als wirtschaftlicher<br />
Katalysator zwischen der Europäischen Gemeinschaft<br />
und der künftigen Sowjetunion dienen - und damit<br />
dem Endziel, dem vereinten Haus Europa, nutzen.<br />
Mit der hoffentlich baldigen Eröffnung der Informationsbüros<br />
soll auf diesem Weg ein Signal gesetzt werden.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Und nun<br />
hat das Wort der Staatsminister Dr. Helmut Schäfer.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Vielen Dank. „Doktor" ist etwas zu hoch gegriffen.<br />
Ich warte immer noch auf den Ehrendoktor. Der<br />
ist mir bisher noch nicht zuteil geworden.<br />
(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />
Das könnte Ihnen so passen, ohne jede An<br />
strengung!)<br />
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf,<br />
weil die Bundesregierung wiederholt angesprochen<br />
worden ist, noch einmal auf das zurückkommen, was<br />
ich hier am 28. Februar schon einmal gesagt habe: Der<br />
Einrichtung baltischer Informationsbüros in der Bundesrepublik<br />
steht nichts im Wege, wenn sie nach den<br />
Regeln des Privatrechtes, des Vereinsrechtes sowie<br />
des Ausländerrechtes organisiert wird, wie es z. B.<br />
auch in Polen der Fall sein wird. Das heißt allerdings<br />
auch, daß ein diplomatischer Status, fiskalische Privilegien<br />
sowie Betrauung mit quasikonsularischen Aufgaben<br />
ausgeschlossen sind. Ich muß dies hier noch<br />
einmal wiederholen.<br />
Erlauben Sie mir, dies zu erläutern: Die Bundesregierung<br />
hat, wie Sie wissen, die Annexion der baltischen<br />
Staaten niemals anerkannt. Sie hatte bei der<br />
Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion<br />
einen Vorbehalt hinsichtlich des beiderseitigen<br />
territorialen Besitzstandes ausgesprochen und<br />
ihn seither stets berücksichtigt. Dieser Vorbehalt gilt<br />
weiter. Es ist aber unbestreitbar und unbestritten, daß<br />
seit den Republikwahlen in allen drei Staaten eine<br />
qualitativ neue Lage eingetreten ist. Wir haben es<br />
— und da ist doch gar kein Zweifel — heute dort mit<br />
demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamenten<br />
zu tun, die danach streben, das Selbstbestimmungsrecht<br />
der baltischen Völker zu verwirklichen.<br />
Es ist Ihnen bekannt — und ich verstehe insofern<br />
nicht die Kritik, die einige hier geäußert haben —, daß<br />
die Bundesregierung gemeinsam mit ihren Partnern<br />
in der EG nachdrücklich auf Verhandlungen zwischen<br />
der sowjetischen Zentralregierung und den gewählten<br />
Vertretern der baltischen Länder drängt, die<br />
auf der Grundlage der Ergebnisse der baltischen Referenda<br />
die legitimen Erwartungen der baltischen<br />
Völker erfüllen müssen.<br />
Wir haben mit Genugtuung festgestellt — und das<br />
muß auch einmal deutlich gemacht werden — , daß<br />
Ende März ein Dialog in Gang gekommen ist.<br />
Der Bundeskanzler und der französische Staatspräsident<br />
haben im vergangenen Jahr ausdrücklich in<br />
ihren Schreiben nach beiden Seiten hin gedrängt, daß<br />
man zu einer Verhandlung kommt und daß der Weg<br />
des Dialogs eingeschlagen werden muß, auch im Hinblick<br />
auf die spätere Lebensfähigkeit der baltischen<br />
Staaten, d. h. auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten,<br />
aber natürlich auch im Hinblick auf die zahlreichen<br />
politischen, juristischen und wirtschaftlichen Bindungen,<br />
die es natürlich mit der Sowjetunion noch gibt.<br />
Dieser Weg ist schwierig, die Begleitumstände, die<br />
angesprochen worden sind, sind gelegentlich belastend.<br />
Ich darf an die Grenzpostenzwischenfälle erinnern;<br />
all das ist unschön, aber es bleibt festzuhalten:<br />
Die Verhandlungen sind auf dem Wege, und gerade<br />
vor wenigen Tagen, am 6./7. Juni 1991, sind zuletzt<br />
lettische und sowjetische Verhandlungspartner zusammengetroffen.<br />
Ich weiß auch aus Äußerungen des
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2571<br />
Staatsminister Helmut Schäfer<br />
polnischen Außenministers, mit dem ich vorgestern<br />
gesprochen habe, daß die Gespräche wesentlich substantieller<br />
geworden sind.<br />
Diesen Prozeß wollen wir fördern; es gibt hieran<br />
überhaupt keinen Zweifel.<br />
Was die finanzielle Unterstützung eines eventuellen<br />
baltischen Informationsbüros betrifft, so darf ich<br />
noch einmal klar sagen, daß es im Interesse der Balten<br />
liegt, daß die Bundesrepublik diese Informationsbüros<br />
nicht finanziert. Eine solche Unterstützung würde<br />
eine politische Abhängigkeit von der Bundesregierung<br />
herstellen. Ich glaube, das kann man wohl nicht<br />
bezweifeln. Es wäre auch eine Verantwortlichkeit der<br />
Bundesregierung für die Art und Weise, wie diese<br />
Informationsbüros arbeiten, gegeben. Denn wir können<br />
nicht Steuermittel für die Einrichtung ausländischer<br />
Informationsbüros verwenden und dann sagen:<br />
Was die tun, ist uns gleichgültig. So können wir nicht<br />
verfahren. Eine Finanzierung durch andere Mittel<br />
— das haben wir auch schon gesagt — ist möglich. Es<br />
gibt eine ganze Fülle von baltischen Organisationen<br />
auch bei uns, und es gibt auch Privatinitiativen, die<br />
das unterstützen werden.<br />
(Zurufe von der SPD)<br />
—Meine Damen und Herren, ich kann nur wiederholen,<br />
was die Auffassung der Bundesregierung ist, und<br />
wir stehen zu dieser Auffassung. Sie können versuchen,<br />
sie zu ändern, Sie können eine Finanzierung<br />
dieser Büros beantragen. Ich darf Ihnen noch einmal<br />
sagen: Unser Standpunkt ist hier klar.<br />
(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />
Wem soll es nutzen, daß wir das hier im Ple<br />
num des <strong>Bundestag</strong>es erörtern? — Zuruf von<br />
der CDU/CSU: Wir haben doch gar keinen<br />
Antrag gestellt! Das war doch gar nicht Ge<br />
genstand der Debatte!)<br />
—Heute bei Ihren Reden ist mehrfach nicht ganz klargeworden,<br />
was Sie sich unter den Informationsbüros<br />
vorstellen.<br />
Ich darf zum Schluß sagen: Wir haben auch die<br />
Anregung des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es aufgegriffen,<br />
um umgekehrt in den baltischen Staaten tätig zu werden<br />
und nach Möglichkeit ein Kulturinstitut, ein Goethe<br />
-Institut in einer der Hauptstädte der drei Staaten<br />
einzurichten. Das liegt uns sehr am Herzen; die Bundesregierung<br />
wird in den erforderlichen Gesprächen<br />
über die rechtlichen und politischen Grundlagen dieses<br />
Büros sehr bald eintreten. Ich hoffe, daß es dann<br />
auch bald zur Finanzierung eines solchen Goethe<br />
Instituts kommen wird.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine<br />
Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.<br />
Mit Einverständnis der Fraktion hat ein Vertreter<br />
des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN eine Rede zu Protokoll<br />
gegeben. *)<br />
*) Anlage 4<br />
-<br />
Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache<br />
12/673, eine Entschließung anzunehmen sowie<br />
die Anträge der Fraktion der SPD, sowie der Gruppe<br />
Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf den Drucksachen<br />
12/164 und 12/166 für erledigt zu erklären. Ich möchte<br />
fragen, wer der Beschlußempfehlung des Auswärtigen<br />
Ausschusses zuzustimmen gedenkt. — Enthaltungen?<br />
— Gegenstimmen! — Dann ist bei Enthaltung<br />
der Gruppe der PDS/Linke Liste diese Beschlußempfehlung<br />
des Auswärtigen Ausschusses angenommen<br />
worden.<br />
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:<br />
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten<br />
Ursula Männle, Renate Diemers, Rainer<br />
Eppelmann, weiteren Abgeordneten und<br />
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten<br />
Dr. Eva Pohl, Norbert Eimer (Fürth),<br />
Hans A. Engelhard, weiteren Abgeordneten<br />
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs<br />
eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung<br />
über die weitere Verbesserung der<br />
Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien<br />
mit Kindern (Gesetz zur Einführung von<br />
Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige<br />
in den neuen Bundesländern)<br />
— Drucksache 12/409 —<br />
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses<br />
für Familie und Senioren (13. Ausschuß)<br />
— Drucksache 12/754 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordnete Ursula Männle<br />
Frank-Michael Habermann<br />
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß)<br />
gemäß § 96 der Geschäftsordnung<br />
— Drucksache 12/755 —<br />
Berichterstatterinnen:<br />
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner<br />
Irmgard Karwatzki<br />
Dr. Sigrid Hoth<br />
(Erste Beratung 24. <strong>Sitzung</strong>)<br />
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von<br />
einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden?<br />
— Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann<br />
ich die Aussprache eröffnen. Das Wort hat zunächst<br />
die Abgeordnete Frau Pfeiffer.<br />
Angelika Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Vorfeld<br />
meiner Rede heute habe ich mir noch einmal die Redebeiträge<br />
zu diesem Thema von der 24. <strong>Sitzung</strong> des<br />
Deutschen <strong>Bundestag</strong>es angeschaut und noch einmal<br />
gründlich durchgelesen. Besonders aufgefallen ist mir<br />
die Rede des Kollegen Habermann der SPD-Fraktion.<br />
Es ist schon eigenartig, immer wieder feststellen zu<br />
müssen, daß die SPD eigentlich nichts weiter so richtig<br />
kann als alles kritisieren, und jede auch noch so kleine<br />
Aktivität der Koalition zu bremsen versucht.<br />
Ich als neue Politikerin, die ich noch nicht viel Ahnung<br />
von dem Geschäft der Politik habe, frage mich:
2572 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Angelika Pfeiffer<br />
Warum kann es keine Gemeinsamkeiten zwischen<br />
Opposition und Koalition geben, wenn es um eine<br />
gute Sache geht? Dann müßte man doch Parteigrenzen<br />
überwinden und müßte zustimmen, auch wenn es<br />
kein Antrag ist, den man selber eingebracht hat.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Gemeinsamkeit über alle Parteigrenzen hinweg für<br />
alle Frauen müßte möglich sein, und das wünsche ich<br />
mir für die nächsten dreieinhalb Jahre.<br />
Ist es nicht erfreulich, meine Damen und Herren,<br />
über eine weitere Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
der Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern<br />
berichten zu können? Ich jedenfalls freue<br />
mich von ganzem Herzen über den Gesetzentwurf zur<br />
Einführung der Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige<br />
in den neuen Bundesländern.<br />
Zugleich bietet mir der vorliegende Gesetzentwurf<br />
die begrüßenswerte Gelegenheit, Antwort auf die vielen<br />
Fragen von Hausfrauen aus meinem Wahlkreis zu<br />
geben, Antwort darauf, ob man sie vergessen hat, die<br />
Nichtberufstätigen, die bis dato laut DDR-Regelung<br />
keinen Anspruch auf Mutterunterstützung hatten.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: So war es!)<br />
Im Klartext: Wer nicht berufstätig war, der hatte keinen<br />
Anspruch auf Mutterunterstützung. Das ist nun,<br />
Gott sei Dank, bald Geschichte.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Nichterwerbstätige Mütter aus den neuen Bundesländern,<br />
deren Kinder zwischen dem 3. Oktober 1990<br />
und dem 31. Dezember 1990 geboren wurden, erhalten<br />
jetzt ab Geburt monatlich 250 DM bei einem Kind,<br />
300 DM bei zwei Kindern und 350 DM bei drei und<br />
mehr Kindern. Diese Minimalbeträge, die auch mich<br />
nicht befriedigen — das ist ganz klar, aber im Moment<br />
haben wir nur diese Minimalbeträge — , weiter zu erhöhen<br />
wird eine nicht zu vergessende Aufgabe für uns<br />
alle sein.<br />
Diese Übergangsregelung kostet den Bund 1991 —<br />
auch das sollte hier einmal erwähnt werden — ca.<br />
15 Millionen DM; im Jahr 1992 werden es 1,73 Millionen<br />
DM und 1993 noch 30 000 DM sein.<br />
Zugunsten der betroffenen Hausfrauen und Schülerinnen<br />
schlägt sich auch die damit geschaffene Möglichkeit<br />
der Vermeidung der Sozialhilfebedürftigkeit<br />
nieder. Als ehemals praktizierende Sozialarbeiterin ist<br />
mir bekannt, wie sich unsere Mitbürger in den neuen<br />
Bundesländern überwinden müssen, den Weg zum<br />
Sozialamt zu gehen.<br />
Außerdem erkennen wir endlich auch, entgegen<br />
der DDR-Verordnung, die großartige Erziehungsleistung<br />
von Hausfrauen an.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Es war schon fast anrüchig, wenn eine Frau in der<br />
damaligen DDR nicht gearbeitet hat. Meine Großmutter<br />
sagte immer: Früher war man wer, wenn eine Frau<br />
nicht gearbeitet hat. Zu DDR-Zeiten wurde gemunkelt,<br />
daß irgend etwas nicht stimmen kann, wenn eine<br />
Frau nicht arbeiten ging; ob sie das Arbeiten vielleicht<br />
nicht erfunden hat — solche Reden wurden geäußert.<br />
Ich möchte zum Schluß kommen, meine Damen und<br />
Herren. Im Interesse der betroffenen Mütter fordere<br />
ich alle auf, auch wenn uns verschiedene Regelungen<br />
nicht so angenehm sind, wie wir es gern hätten, über<br />
Parteigrenzen hinweg mitzuwirken, daß dieser gute<br />
Gesetzentwurf möglichst schnell umgesetzt wird.<br />
Ich bedanke mich.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Zustimmung des Abg. Michael Habermann<br />
[SPD])<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />
hat der Abgeordnete Habermann.<br />
Michael Habermann (SPD): Herr Präsident! Meine<br />
Damen und Herren! Liebe Frau Pfeiffer, die SPD wird<br />
diesem Gesetzentwurf zustimmen, so wie wir auch in<br />
erster Lesung zugestimmt haben. Die Kritik und die<br />
Bedenken, die Sie in meinem Redeprotokoll gefunden<br />
haben, werden wir natürlich aufrechterhalten. Es geht<br />
uns nicht um Miesmachen; mit dem, was wir vorgeschlagen<br />
und diskutiert haben, wollen wir vielmehr<br />
Verbesserungen erreichen.<br />
Wir glauben, daß mit der Absicht, die ich gerade<br />
erwähnte, auch ein Stück der Politik verwirklicht<br />
wird, die Sie sich selbst als Zielvorgabe gesteckt haben.<br />
Wenn Frau Michalk gesagt hat, daß mit diesem<br />
Gesetzentwurf eine Lücke geschlossen wird, die von<br />
den Betroffenen zu Recht als Unrecht erfahren wird,<br />
und Sie das eben noch einmal bestätigt haben, dann<br />
muß es natürlich erlaubt sein, zu fragen, wie diese<br />
Lücke geschlossen wird und ob sie tatsächlich so geschlossen<br />
wird, daß Familien in Ost und West die gleichen<br />
Lebensverhältnisse haben. Die Absicht, mit einer<br />
Angleichung der sozialen Leistungen schneller<br />
zur sozialen Einheit unseres Vaterlandes beizutragen,<br />
ist für uns ein Schritt in die richtige Richtung. Deshalb<br />
werden wir dem Gesetzentwurf trotz Bedenken zustimmen.<br />
Ich darf Ihnen noch einmal unsere Ausgangsüberlegungen<br />
in Erinnerung rufen. Wir waren zunächst mit<br />
der Frage beschäftigt, ob es nicht möglich ist, daß wir<br />
allen Familien rückwirkend ab 3. Oktober Erziehungsgeld<br />
gewähren; denn wenn eine nachträgliche<br />
Verbesserung eintritt, sollte man möglichst für alle<br />
gleiche Verhältnisse schaffen. Das, was zum 1. Januar<br />
1991 möglich ist, hätte auch in einer Korrektur nachträglich<br />
auf den 3. Oktober zurückdatiert werden<br />
können.<br />
Wir kritisierten in der ersten Lesung die Ungleichbehandlung<br />
und haben das als ein Dreiklassenrecht<br />
definiert, das jetzt zu einem Zweiklassenrecht wird.<br />
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß mich Staatssekretärin<br />
Verhülsdonk in der damaligen Debatte gefragt<br />
hat, ob mir denn nicht bewußt sei, daß sich die<br />
Einheit für alle Frauen auch darin ausdrückt, daß kein<br />
Unterschied mehr zwischen erwerbstätigen und<br />
nichterwerbstätigen Frauen gemacht wird. Sie fragte<br />
weiter, ob mir nicht bewußt sei, daß bei allen Frauen<br />
die Erwartung bestehe — so formulierte sie — , daß<br />
diese Unterstützung ab dem Tag des Beitritts erfolge.<br />
Wir haben in den Ausschußberatungen festgestellt,<br />
daß genau dieser Punkt, nämlich daß die Frauen die<br />
Erwartung haben, gleichbehandelt zu werden, durch
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2573<br />
Michael Habermann<br />
diesen Gesetzentwurf nicht erfüllt ist. Lassen Sie mich<br />
an vier Punkten verdeutlichen, weshalb dies so ist.<br />
Der erste Prüfstein für die versprochene soziale Gerechtigkeit<br />
wäre der Vergleich mit dem Erziehungsgeld,<br />
und zwar dort, wo auch die Väter diese Leistung<br />
beziehen können. Dies wird durch Ihren Gesetzentwurf<br />
nicht sichergestellt. Das ist der erste Nachteil<br />
dieses kleinen Erziehungsgelds.<br />
Der zweite Prüfstein für die versprochene soziale<br />
Gleichbehandlung wäre die Frage, ob Frauen, die teilzeitbeschäftigt<br />
sind, diese Leistung beziehen können.<br />
Auch dies trifft nicht zu. Das ist der zweite Nachteil<br />
Ihres „kleinen Erziehungsgeldes".<br />
Der dritte Prüfstein für die versprochene Gleichbehandlung<br />
wäre die Frage: Wie sieht es mit der materiellen<br />
Leistung aus? Sie haben das schon angesprochen.<br />
Wir glauben, daß es ungerecht ist, daß Frauen in<br />
Ost-Berlin, die ihr Kind zwischen dem 3. Oktober und<br />
dem 31. Dezember bekommen haben, 3 000 DM für<br />
ihre Erziehungsleistung erhalten, während in West<br />
Berlin 10 800 DM gezahlt werden.<br />
Der vierte Prüfstein im Hinblick auf die versprochene<br />
soziale Gleichbehandlung ist die Frage der Anrechenbarkeit<br />
auf die Sozialhilfe. Auch hierin drückt<br />
sich aus, ob wir tatsächlich wollen, daß die Frauen in<br />
den neuen Bundesländern mit den Frauen in den alten<br />
Bundesländern gleichgestellt werden. Auch hier haben<br />
wir festzustellen, daß dies nicht möglich ist. Ja,<br />
wir müssen sogar davon ausgehen, daß wir überhaupt<br />
nicht wissen, wieviel Frauen, die derzeit Sozialhilfe<br />
erhalten, diese Leistung jetzt gar nicht bekommen<br />
können, weil das Sozialamt sie kassiert.<br />
Wir werden in einem halben oder in einem Dreivierteljahr<br />
feststellen können, daß in diesen 4 200 Fällen,<br />
von denen hier gesprochen wird, in denen die Mütterunterstützung<br />
gewährt werden soll, diese Leistung<br />
den Frauen überhaupt nicht gewährt wird.<br />
Insofern verpufft Ihr positiver Ansatz. Es hätte der<br />
sozialen Gerechtigkeit mehr entsprochen, wenn wir<br />
diese Elemente mit in den Gesetzentwurf hätten aufnehmen<br />
können.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Ein letzter Prüfstein, der in dem Gesamtzusammenhang<br />
sicherlich erwähnenswert ist, betrifft die Frage,<br />
ob eine solche Ungleichbehandlung letztendlich nicht<br />
eine verfassungsmäßige Überprüfung provoziert, ja,<br />
dieser vielleicht sogar nicht standhält. Das heißt letztlich,<br />
die Richter in Karlsruhe werden entscheiden, daß<br />
wir bei gleicher Ausgangssituation rückwirkend die<br />
gleiche Leistung anbieten müssen.<br />
-<br />
Ich möchte mich ausdrücklich bei denjenigen Kolleginnen<br />
und Kollegen bedanken — auch aus den Reihen<br />
der FDP und der CDU/CSU — , die im Ausschuß<br />
für Frauen und Jugend genau an dieser Stelle in einem<br />
gemeinsamen Entschließungsantrag dafür gestimmt<br />
haben, daß keine Anrechnung auf die Sozialhilfe<br />
erfolgt. Ich bedaure es sehr, daß dies in unserem<br />
Ausschuß zu einer, wie ich es nennen möchte, Parlamentarierschelte<br />
geführt hat. Frau Ministerin, Ihre<br />
Staatssekretärin hat sich sehr verwundert gezeigt, als<br />
dieser Beschluß im Ausschuß verlesen wurde, und<br />
meinte: Wir wissen doch, wie so etwas geschieht; da<br />
hat irgend jemand eine Idee, da sitzen neue Abgeordnete,<br />
die den ganzen Diskussionsprozeß noch nicht<br />
mitbekommen haben, zusammen; und dann wird halt<br />
schnell einmal entschieden.<br />
Ich glaube, das Bemühen — das sage ich ausdrücklich<br />
auch für die Kolleginnen und Kollegen aus der<br />
CDU/CSU- und der FDP-Fraktion —, ein Stück mehr<br />
soziale Gerechtigkeit in diesen Gesetzentwurf zu integrieren,<br />
hätte nicht einer solchen Schelte bedurft, sondern<br />
hätte im Gegenteil unsere Unterstützung verdient.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Ich weise diese Schelte für meine Fraktion ausdrücklich<br />
zurück.<br />
(Ursula Männle [CDU/CSU]: Sie haben auch<br />
dagegengestimmt!)<br />
—Nein, wir haben nicht dagegengestimmt. Wir wollten<br />
die Erziehungsgeldlösung haben, von der Sie gesagt<br />
haben, daß sie mit Ihnen nicht zu machen sei. Wir<br />
haben uns der Stimme enthalten.<br />
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ich gehe davon<br />
aus, daß es einem sozialen Rechtsstaat bei seinem<br />
Bemühen, gleiche Lebensverhältnisse in unserer Republik<br />
zu schaffen, gut angestanden hätte, wenn er<br />
—möglichst ab dem 3. Oktober 1990 — mit einem<br />
entsprechenden Gesetz tatsächlich den Versuch gemacht<br />
hätte, dies zu erreichen.<br />
(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)<br />
Was ab 1. Januar dieses Jahres ging, hätte — unter<br />
Beibehaltung eines Bestandsschutzes für Empfänger<br />
höherer Leistungen — bei der Mütterunterstützung<br />
auch ab 3. Oktober 1990 gehen können; davon bin ich<br />
fest überzeugt.<br />
Ihr jetziger Gesetzentwurf schreibt ein Zweiklassenrecht<br />
fest — trotz der Zusage des Bemühens, die<br />
Mindestbeträge anzuheben. Auf Grund der ungeklärten<br />
Fragen, insbesondere im Bereich der Sozialhilfe,<br />
wissen wir heute noch nicht, welche Auswirkungen<br />
dieser Gesetzentwurf tatsächlich haben wird. Er provoziert,<br />
wie ich schon sagte, eine verfassungsrechtliche<br />
Überprüfung.<br />
Wir sind als SPD-Fraktion nicht zufrieden. Wir haben<br />
unsere Ziele in den Beratungen nicht erreicht. Wir<br />
stimmen dieser Lösung trotzdem zu, weil sie wenigstens<br />
eine Minimallösung ist.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />
hat die Abgeordnete Frau Dr. Pohl.<br />
Dr. Eva Pohl (FDP) : Sehr geehrter Herr Präsident!<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute<br />
von Ihnen zu verabschiedende Gesetzentwurf zur<br />
Einführung von Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige<br />
ist ein weiterer besonderer und bedeutender<br />
Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit für<br />
Frauen in den neuen Bundesländern. Denn rückwirkend<br />
zum Tag der Herstellung der deutschen Einheit<br />
erhalten nun auch Hausfrauen und Schülerinnen in<br />
der ehemaligen DDR, deren Kind in der „sozialen<br />
Schwebezeit" zwischen diesem Tag und dem 31. De-
2574 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode - <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Eva Pohl<br />
zember 1990 geboren wurde, eine Mütterunterstützung.<br />
Dies war nicht immer so. Den nichterwerbstätigen<br />
Müttern wurde diese Unterstützung versagt, hatten<br />
sie doch keinen Beitrag in Form von Arbeitsleistungen<br />
zur Stärkung des sozialistischen Regimes geleistet.<br />
Wir wollen die Erziehungsleistungen auch dieser<br />
Mütter mit dem vorliegenden Gesetzentwurf — ich<br />
denke, darin kann mir jeder hier beipflichten — honorieren.<br />
(Uwe Lühr [FDP]: Sehr richtig!)<br />
Das ist auch notwendig; denn Erziehungsgeld nach<br />
dem Erziehungsgeldgesetz gibt es in den neuen Bundesländern<br />
erst für Geburten ab dem 1. Januar<br />
1991.<br />
Die von der von Ihnen vorgelegten Regelung betroffenen<br />
Mütter erhalten jetzt ab der Geburt des Kindes<br />
monatlich 250 DM bei einem Kind, 300 DM bei zwei<br />
Kindern, 350 DM bei drei oder mehr Kindern — meine<br />
Kollegin von der CDU hat darauf schon hingewiesen<br />
—, und zwar für ein Kind bis zum Ende des ersten<br />
Lebensjahres, ab dem dritten Kind bis zum Ablauf des<br />
18. Lebensmonats, bei Zwillingen bis zum Ende des<br />
zweiten sowie bei Drillingen bis zum Ende des dritten<br />
Lebensjahres.<br />
Nicht beipflichten kann ich hier hingegen der Forderung<br />
aus den Reihen der Opposition — die das<br />
Gesetzesvorhaben grundsätzlich positiv bewertet,<br />
was mich sehr erfreut —, die Leistungen des Erziehungsgeldgesetzes<br />
darüber hinaus auch jenen Familien<br />
in den neuen Bundesländern zugänglich zu machen,<br />
die bisher ausschließlich Mütterunterstützung<br />
erhalten haben. Denn damit wird doch nur bezweckt,<br />
daß keine Anrechnung auf die Sozialhilfe erfolgt, wie<br />
Sie das soeben dargestellt haben.<br />
Für ebensowenig akzeptabel halte ich persönlich in<br />
diesem Zusammenhang das Postulat, die heute zur<br />
Abstimmung gestellte Mütterunterstützung auf eben<br />
diese Sozialhilfe nicht anzurechnen. Denn, meine Damen<br />
und Herren, zum einen beschäftigen wir uns<br />
heute mit einer Übergangsregelung, die einen Zeitraum<br />
von nur drei Monaten betrifft. Zum anderen muß<br />
auch ich als Abgeordnete aus einem der neuen Bundesländer<br />
Ihnen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,<br />
in Erinnerung rufen: Der Bundeshaushalt ist kein<br />
Dukatenesel.<br />
(Uwe Lühr [FDP]: Das ist wahr!)<br />
Und: Die Sozialhilfe unterliegt dem Grundsatz der<br />
Subsidiarität.<br />
Immerhin sind die Kosten dieses Gesetzentwurfs<br />
bereits beträchtlich. Sie wurden hier schon genannt;<br />
ich darf sie in Erinnerung rufen: 15,12 Millionen DM<br />
1991, 1,73 Millionen DM 1992 und schließlich<br />
30 000 DM 1993.<br />
Vergessen wir auch nicht, daß alle Mütter aus den<br />
neuen Bundesländern, deren Kind nach dem 31. Dezember<br />
1990 geboren wurde, Erziehungsgeld nach<br />
dem Erziehungsgeldgesetz bekommen, das kumulativ,<br />
neben einer eventuellen Sozialhilfe, geleistet<br />
wird.<br />
Ich fordere Sie daher auf, dem Entwurf eines Gesetzes<br />
zur Einführung von Mütterunterstützung für<br />
Hausfrauen und Schülerinnen in den neuen Bundesländern<br />
zuzustimmen.<br />
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Nun hat<br />
die Abgeordnete Frau Dr. Höll das Wort.<br />
Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Verehrter Herr<br />
Präsident! Verehrte Abgeordnete! Schon in der ersten<br />
Lesung dieses Gesetzentwurfs haben wir, die PDS/<br />
Linke Liste, unsere Unterstützung zum Ausdruck gebracht,<br />
weil mit dieser Nachbesserung erstens eine<br />
Lücke im Einigungsvertrag geschlossen wird und<br />
zweitens der Anspruch von ca. 4 200 nichterwerbstätigen<br />
Müttern, deren Kinder in der Zeit vom 3. Oktober<br />
1990 bis zum 31. Dezember 1990 geboren wurden,<br />
auf diese Sozialleistung des Staates realisiert<br />
wird.<br />
Daß wir diese Mütterunterstützung begrüßen, heißt<br />
jedoch nicht, daß wir die Nichterwerbstätigkeit von<br />
Frauen lobpreisen wollen. Wir hoffen vielmehr, daß<br />
auch diese Frauen nach der häuslichen Betreuung<br />
ihres Kleinstkindes zwischen Familienarbeit und Berufstätigkeit<br />
frei wählen können. Berufstätigkeit setzt<br />
voraus, daß bis dann der Rechtsanspruch auf einen<br />
Betreuungsplatz vom Staat eingelöst wird.<br />
Daß es uns gelang, in der kurzen Zeit von nicht einmal<br />
zwei Monaten in diesem Parlament Entscheidungen<br />
zugunsten von Menschen, diesmal aus dem Osten<br />
Deutschlands, zu treffen, sollten wir zum Modell für<br />
weitere anstehende Probleme dieser Art machen. Ich<br />
könnte an dieser Stelle einen schier unendlichen Katalog<br />
solcher bundesweit dringlicher sozialer Probleme<br />
auflisten, von Arbeitslosigkeit über Altersarmut,<br />
deren besondere Zuspitzung in der weiblichen<br />
Dimension und Beschränkung des Menschenrechts<br />
auf eine Wohnung durch Mietwucher bis hin zu den<br />
bekannten Defiziten in der Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen.<br />
Wir erwarten von dem Hohen Hause, daß an die<br />
Lösung dieser genannten Probleme mit derselben Zügigkeit<br />
und Tatkraft herangegangen wird.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Nun hat<br />
die Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore<br />
Rönsch, das Wort.<br />
Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie<br />
und Senioren: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!<br />
Mit der Einführung der Mütterunterstützung für<br />
die Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember<br />
1990 jetzt endlich auch für die nichterwerbstätigen<br />
Frauen schließen wir eine Lücke im Einigungsvertrag.<br />
Ich meine, daß ist zwingend erforderlich. Jetzt erhalten<br />
Schülerinnen und Hausfrauen in den neuen<br />
Bundesländern, die bisher von dieser Maßnahme<br />
nicht berücksichtigt worden sind, endlich auch Mütterunterstützung.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2575<br />
Bundesministerin Hannelore Rönsch<br />
Ich will Ihnen, Herr Habermann, gleich sagen, daß<br />
ich die Beratung im Ausschuß mit großer Aufmerksamkeit<br />
verfolgt habe. Ich wundere mich ein wenig,<br />
daß Sie von Zweiklassenrecht sprechen. Ich glaube,<br />
wir schaffen durch diese Mütterunterstützung jetzt<br />
endlich ein Zweiklassenrecht ab, das vorher bestanden<br />
hat,<br />
(Beifall bei der CDU/CSU)<br />
indem die Frau, die zu Hause geblieben ist, und die<br />
Schülerin mit der berufstätigen Frau gleichgestellt<br />
werden.<br />
Ich meine, diese Gerechtigkeit mußte endlich hergestellt<br />
werden, denn in der Vergangenheit gab es<br />
jenes Zwei-Klassen-Recht; man stellte die Frau, die zu<br />
Hause erzog, bewußt zurück. Das wollten wir ändern.<br />
In der DDR dienten die familienpolitischen Regelungen<br />
in erster Linie den Erwerbstätigen. Nichterwerbstätige<br />
Mütter wurden bewußt benachteiligt und unter<br />
Druck gesetzt. Man wollte ja erreichen, daß das Kind<br />
sehr früh in eine Kinderbetreuungseinrichtung, in<br />
eine Kinderkrippe kam, damit es in dem sozialistischen<br />
Staat entsprechend ideologisch erzogen werden<br />
konnte. Ich meine, es ist endlich an der Zeit, auch<br />
den Müttern, die zu Hause geblieben sind, und den<br />
Schülerinnen diese Mütterunterstützung zu zahlen.<br />
Daß es nach dem Einigungsvertrag an der einen<br />
oder anderen Stelle noch unterschiedliche rechtliche<br />
Regelungen gibt, erleben wir mehrfach. Es ist für alle<br />
nicht befriedigend. Es besteht jetzt aber auch keine<br />
andere Möglichkeit.<br />
Sie hatten während der Ausschußberatungen gefordert,<br />
daß diese Mütterunterstützung nicht als Einzelgesetz<br />
eingebracht, sondern zusammen mit dem Erziehungsgeldgesetz<br />
beraten und ab dem 3. Oktober in<br />
den neuen Bundesländern eingeführt werden sollte.<br />
Ich will jetzt noch einmal deutlich machen, daß dies<br />
zu großen Schwierigkeiten geführt hätte, da dies zu<br />
einer noch größeren Verwirrung in den Verwaltungen<br />
der fünf neuen Bundesländer führen würde. Wir müßten<br />
trotz der Unterstützung aus dem Ministerium<br />
— und diese gewähren wir umfangreich auch mit Informationen<br />
— das Erziehungsgeld in den neuen Ländern<br />
noch einmal neu berechnen und alles noch einmal<br />
neu aufrollen. Momentan läuft es noch nicht reibungslos.<br />
Ich hatte am vergangenen Montag auch den<br />
gesamten Ausschuß eingeladen, um deutlich zu machen,<br />
wie groß die Schwierigkeiten für Männer und<br />
Frauen auch bei der Beantragung von Erziehungsgeld<br />
sind.<br />
Wir werden in den fünf neuen Bundesländern jetzt<br />
eine Buskampagne starten und mit sieben Bussen in<br />
allen fünf Bundesländern in den Mittelstädten von<br />
30 000 bis 90 000 Einwohnern über Mütterunterstützung,<br />
über Erziehungsgeld und über Kindergeld informieren.<br />
Dort sollen die Busse jeweils in einer Mittelstadt<br />
eine Woche lang stehen und den Bürger am<br />
Bus umfangreich darüber informieren, wie die Anträge<br />
gestellt werden usw., damit dann jeder in den<br />
Genuß der Unterstützung kommen kann. Ich meine,<br />
es gibt zur Zeit keine andere Möglichkeit, wenn wir<br />
ganz realistisch sind. Ich bin froh, daß wir jetzt auch<br />
für die Nichterwerbstätigen endlich eine Regelung<br />
gefunden haben.<br />
Ich würde mich freuen, wenn die Kolleginnen und<br />
Kollegen gerade aus den fünf neuen Bundesländern<br />
auch in ihren Wahlkreisen dazu beitragen würden,<br />
damit diese gemeinsamen Regelungen, die wir gefunden<br />
haben, jetzt auch in der Bevölkerung bekannt<br />
werden. Ich bitte Sie, auf Erziehungsgeld und auf Kindergeld<br />
aufmerksam zu machen und darauf hinzuweisen,<br />
daß man einen Antrag stellen muß. Die Kolleginnen<br />
und Kollegen aus den fünf neuen Bundesländern<br />
bitte ich, den Mitbürgern bei der Antragstellung behilflich<br />
zu sein; denn sie haben immer noch große<br />
Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Es hätte nur zur<br />
weiteren Verwirrung beigetragen, wenn wir jetzt alle<br />
Altfälle noch einmal aufgerollt hätten.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit<br />
sind wir am Ende der Aussprache. Wir kommen zur<br />
Einzelberatung und Abstimmung.<br />
Der Ausschuß für Familie und Senioren empfiehlt<br />
auf Drucksache 12/754, den Gesetzentwurf unverändert<br />
anzunehmen. Ich rufe die Art. 1 und 2 sowie Einleitung<br />
und Überschrift auf. Ich bitte diejenigen, die<br />
den Vorschriften zuzustimmen wünschen, um das<br />
Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? —<br />
Dann darf ich feststellen, daß die aufgerufenen Vorschriften<br />
angenommen sind.<br />
Wir treten nunmehr in die<br />
dritte Beratung<br />
ein und kommen damit zur Schlußabstimmung. Ich<br />
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf der<br />
Drucksache 12/409 und der Beschlußempfehlung auf<br />
Drucksache 12/754 zuzustimmen wünschen, sich zu<br />
erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —<br />
Dann darf ich feststellen, daß das Gesetz einstimmig<br />
angenommen worden ist.<br />
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf:<br />
Zweite und dritte Beratung des .von der Fraktion<br />
der SPD eingebrachten Entwurfs eines . . .<br />
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes<br />
(Artikel 146 GG)<br />
— Drucksache 12/656 —<br />
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses<br />
(6. Ausschuß)<br />
— Drucksache 12/794 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />
Norbert Geis<br />
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion<br />
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />
über das Verfahren zur Durchführung<br />
des Volksentscheides nach Artikel 146 Abs. 2<br />
des Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2)<br />
— Drucksache 12/657 —<br />
a) Beschlußempfehlung und Bericht des<br />
Rechtsausschusses (6. Ausschuß)<br />
— Drucksache 12/794 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />
Norbert Geis
2576 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg<br />
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß)<br />
gemäß § 96 der Geschäftsordnung<br />
— Drucksache 12/801 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordnete Michael von Schmude<br />
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)<br />
Hinrich Kuessner<br />
(Erste Beratung 29. <strong>Sitzung</strong>)<br />
Interfraktionell ist vereinbart worden, von der Frist<br />
für den Beginn der Beratung abzuweichen. Ist das<br />
Haus damit einverstanden? — Widerspruch erhebt<br />
sich nicht. Dann darf ich das zunächst einmal als beschlossen<br />
feststellen.<br />
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit<br />
von einer Stunde. — Auch dagegen erhebt sich kein<br />
Widerspruch. Dann habe ich dies ebenfalls als beschlossen<br />
festzustellen.<br />
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß über<br />
die Änderung des Grundgesetzes namentlich abgestimmt<br />
werden soll. Die Abstimmung soll nach der <strong>Sitzung</strong>sunterbrechung,<br />
also gegen 18 Uhr, stattfinden.<br />
Wie bekannt, wird die <strong>Sitzung</strong> um 16.30 Uhr unterbrochen,<br />
weil verschiedene Fraktionssitzungen stattfinden<br />
sollen.<br />
Nach diesen Informationen eröffne ich die Aussprache<br />
und erteile zunächst einmal der Abgeordneten<br />
Frau Däubler-Gmelin das Wort.<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter<br />
und dritter Lesung eine Grundgesetzänderung<br />
und ein Verfahrensgesetz. Damit soll der Deutsche<br />
<strong>Bundestag</strong> die Möglichkeit schaffen, die Entscheidung<br />
über Parlaments- und Regierungssitz nicht im<br />
<strong>Bundestag</strong> und Bundesrat alleine zu treffen, sondern<br />
diese Frage einer Volksabstimmung vorzulegen, also<br />
den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land die<br />
Letztentscheidung über diese Frage vorzubehalten.<br />
Wir Sozialdemokraten haben diese Vorschläge eingebracht<br />
und halten sie aus drei Gründen für vernünftig.<br />
Erstens halten wir sie für vernünftig, weil die Menschen<br />
in unserem Lande selber über die Frage abstimmen<br />
wollen, von welcher Stadt aus sie regiert zu werden<br />
wünschen.<br />
(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Es hat selten eine Frage gegeben, die mit so viel Engagement<br />
in jeder Familie diskutiert wurde wie die<br />
Frage, ob nun das geeinte Deutschland weiter aus<br />
Bonn oder zukünftig aus Berlin regiert werden sollte.<br />
Das zeigt uns mittlerweile jede Umfrage von Forschungsinstituten.<br />
Mehr als 80 % der Menschen in<br />
unserem Land sagen, daß sie selber entscheiden wollen.<br />
Das zeigen uns auch die vielen Briefe, die wir doch<br />
alle bekommen. Die Briefe, die ich bekomme, zeigen<br />
noch ein weiteres: Sie enthalten eine ganze Menge<br />
wohlabgewogener, sehr interessanter Stellungnahmen<br />
— übrigens völlig unabhängig davon, ob sich die<br />
Verfasserinnen und Verfasser für Berlin oder für Bonn<br />
entscheiden möchten. Aber daß sie nicht entscheiden<br />
können, ärgert sie. Gerade weil sie es nicht können,<br />
gibt es mittlerweile eine Menge von Ersatz- und Alibiaktionen.<br />
Zeitungen rufen zu Meinungsäußerungen<br />
auf. Rundfunkanstalten melden täglich, es könne bei<br />
ihnen in dieser Sache angerufen werden. Die Rundfunkinstitution<br />
TED wird genutzt; Unterschriftenaktionen<br />
werden mit großer Begeisterung und großem<br />
Engagement angenommen.<br />
Für uns hier im <strong>Bundestag</strong> stellt sich die Frage:<br />
Müssen wir es wirklich bei solchen Ersatzaktionen<br />
belassen, obwohl wir doch alle wissen, daß sie wegen<br />
der häufig einseitigen Fragestellung und einer völlig<br />
unüberprüfbaren, bisweilen auch manipulativen Verfahrensausgestaltung<br />
ein jämmerliches Zerrbild von<br />
Bürgerbeteiligung darstellen?<br />
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />
Wir sagen: Wir sollten es nicht dabei belassen. Wir<br />
sollten uns — auch Sie meine Damen und Herren von<br />
den Parteien, die die Regierung tragen — dazu durchringen,<br />
nach der Entscheidung von <strong>Bundestag</strong> und<br />
Bundesrat und damit der Stellungnahme in der Sache,<br />
die dann Empfehlungscharakter bekommt, eine<br />
Volksabstimmung zu ermöglichen, die Entscheidungsmöglichkeit<br />
bei den Bürgerinnen und Bürgern<br />
zu eröffnen, und zwar in einem einwandfreien und<br />
vorher festliegenden Verfahren, das Manipulationen<br />
und Einseitigkeit ausschließt.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Wir haben keinen Zweifel — das ist unser zweiter<br />
Grund —, daß die Bürgerinnen und Bürger in unserem<br />
Land auch fähig sind, über diese Frage selbst zu<br />
entscheiden — allerdings als Abschluß eines ebenso<br />
offenen wie fairen Diskussionsprozesses, in der unter<br />
Einbeziehung der Stellungnahmen aus der Politik und<br />
unter Einbeziehung einer verantwortlichen Berichterstattung<br />
durch die Medien Meinungen vorgetragen,<br />
Standpunkte geklärt und Argumente ausgetauscht<br />
und bewertet werden können. Das muß für die Vorund<br />
Nachteile jedes Vorschlags und jeder Empfehlung,<br />
auch für die Berücksichtigung der möglichen<br />
Kostenfolgen gelten.<br />
Ich will wiederholen: Daß die Bürgerinnen und Bürger<br />
heute noch nicht selbst entscheiden dürfen, nicht<br />
einmal in dieser Frage, ärgert viele. Das verstärkt die<br />
Vorwürfe, normale Bürger seien sowieso hilflos gegenüber<br />
dem, was Politiker entscheiden. Es vertieft<br />
das Gefühl, die ganzen wichtigen Fragen der deutschen<br />
Einheit und die Überwindung der Teilung in<br />
Deutschland werde an den Bürgerinnen und Bürgern<br />
in unserem Land vorbei, ja, über ihre Köpfe hinweg<br />
entschieden.<br />
Die Entscheidung für Bonn oder Berlin oder auch für<br />
eine Konsenslösung ist doch für viele Menschen in<br />
unserem Land viel mehr als eine Entscheidung über<br />
eine Stadt. Das ist doch geradezu Symbol für die<br />
Frage, wie es nach der staatlichen Einheit jetzt mit der<br />
Überwindung der Teilung in Deutschland weitergehen<br />
soll.<br />
Die Entscheidung für Bonn oder Berlin — ich will<br />
das nochmals betonen — wird nicht einmal überwiegend<br />
mit lokalen, mit kommunalen oder mit regionalen<br />
Argumenten begründet, sondern es geht auch, ja,
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2577<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />
vordringlich um Fragen nach der Ausgestaltung, nach<br />
dem Selbstverständnis und nach der Beschaffenheit,<br />
ja, nach der Politik dieses geeinten Deutschland.<br />
Diese Fragen bewegen die Menschen, nicht allein<br />
die Abgeordneten im Deutschen <strong>Bundestag</strong> oder die<br />
Ministerpräsidenten im Bundesrat. Wir haben morgen<br />
— der Bundesrat Anfang Juli — Gelegenheit, dazu<br />
Argumente auszutauschen und unsere Sachentscheidung<br />
vorzunehmen.<br />
Wir, meine Damen und Herren, sagen, es ist falsch,<br />
daß Sie von der Regierungskoalition den Menschen in<br />
unserem Land die Gelegenheit dazu nicht zugestehen<br />
wollen. Es ist falsch, es ist ein verhängnisvoller Fehler.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/<br />
Linke Liste)<br />
Wir sagen: Es ist gut, wenn über diese Fragen an<br />
Hand der Entscheidung über den Regierungssitz diskutiert<br />
wird. Es muß offen und breit diskutiert werden.<br />
Die Ängste, die Fragen und die unterschiedlichen<br />
Meinungen, auch die Konflikte im Zusammenhang<br />
mit der Überwindung der Teilung Deutschlands müssen<br />
endlich auf den Tisch, nicht nur auf den Tisch des<br />
<strong>Bundestag</strong>es, nein, sie müssen in einem geordneten<br />
Diskussionsprozeß auch in die Öffentlichkeit. Die Entscheidung<br />
über den Regierungssitz, die Entscheidung<br />
über den Parlamentssitz gibt dazu Gelegenheit. Der<br />
Diskussionsprozeß ist notwendig und hilfreich.<br />
Wer die Letztentscheidung in dieser Frage den<br />
Menschen in unserem Land zugesteht, der befriedet<br />
zugleich, der schafft auch in Sachen „Wie geht es in<br />
unserem Land weiter?" bessere Voraussetzungen dafür,<br />
gemeinsam ein solides Fundament für die Zukunft<br />
aufzubau en.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Eigentlich, meine Damen und Herren, müßten Ihre<br />
Erfahrungen der letzten Monate — ich meine jetzt die<br />
Kolleginnen und Kollegen von den spärlich vertretenen<br />
Regierungsparteien —<br />
(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! — Ing rid<br />
Matthäus-Maier [SPD]: Spärlich ist gut!)<br />
— es hat etwas mit dem Thema zu tun — unsere Argumentation<br />
unterstützen: recht geben. Sie büßen doch<br />
zur Zeit am eigenen Leib, daß Ihre bisherige Politik<br />
des Verschweigens von Problemen bei der -Überwin-<br />
dung der Teilung in Deutschland, daß Ihre Beschwichtigungshaltung<br />
und vor allem Ihre Auffassung<br />
„Lieb Wähler, du magst ruhig sein, wir richten's<br />
schon in Bonn im Rhein" genauso verstanden wird,<br />
wie Sie sie gemeint haben, nämlich als interessenverstrickte,<br />
deshalb doppelt vorwerfbare Haltung eines<br />
Vormunds gegenüber seinem Mündel, nicht aber die<br />
doch selbstverständliche Haltung demokratischer<br />
Politiker im Umgang mit mündigen Staatsbürgerinnen<br />
und Staatsbürgern,<br />
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
von denen Sie in Ihren Reden doch genauso häufig<br />
reden wie wir, nur meinen Sie es offensichtlich nicht<br />
ernst.<br />
(Zuruf von der SPD: Lernen tut weh!)<br />
Ich finde, Sie sollten mit Ihrer Haltung Schluß machen,<br />
und Sie sollten mit uns die Möglichkeit zu Diskussionsprozessen<br />
und Volksentscheid eröffnen. Der<br />
Zeitpunkt für den Volksentscheid sollte im Herbst liegen.<br />
Das gibt einerseits genügend Zeit für Vorbereitung<br />
und Diskussion und liegt als Termin, also zeitlich<br />
gesehen, zudem viel näher als mancher Ihrer sogenannten<br />
Konsensvorschläge, die wir in den letzten<br />
Tagen aus purer Ratlosigkeit aus Ihren Reihen gehört<br />
haben, die in Wirklichkeit auf Vertagungsvorschläge<br />
hinauslaufen.<br />
(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! — Ingrid<br />
Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Das kön<br />
nen Sie so nicht sehen! Das ist falsch!)<br />
Daß wir mit dieser Entscheidung für eine Volksabstimmung,<br />
verehrte Frau Kollegin, einen ersten wirksamen<br />
Schritt zu mehr direkter Mitbestimmung der<br />
Bürgerinnen und Bürger auch auf Bundesebene unternehmen<br />
wollten — das ist unser drittes Argument<br />
—, sollten Sie gleichfalls mit uns begrüßen.<br />
Die Forderung nach einer Volksabstimmung über<br />
die Verfassung des geeinten Deutschland in Anschluß<br />
an einen Prozeß der Beratung im Parlament, der Weiterentwicklung<br />
unseres Grundgesetzes zur gesamtdeutschen<br />
Verfassung und nach einem breiten und<br />
öffentlichen Diskussionsprozeß ist doch vernünftig,<br />
und zwar gerade deshalb, weil wir damit dokumentieren:<br />
Hier geht es um etwas Besonderes, und das Parlament<br />
und die Politikerinnen und Politiker nehmen<br />
die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ernst.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Übrigens: Daß wir die Abstimmung jetzt auch als<br />
Einstieg für Volksinitiative, Volksbegehren und<br />
Volksentscheid, die wir im Zuge der Weiterentwicklung<br />
unseres Grundgesetzes zur gesamtdeutschen<br />
Verfassung sowieso wollen, daß wir dies als Parallele<br />
schon jetzt mit andiskutieren, das halten wir nur für<br />
vorteilhaft. Schließlich könnten wir die beim Volksentscheid<br />
über die Frage des Regierungs- und Parlamentssitzes<br />
gewonnenen Erfahrungen in der dann folgenden<br />
Diskussion nützlich verwerten.<br />
Meine Damen und Herren, so weit, so gut. Unsere<br />
Vorschläge sind gut durchdacht, sie sind unbestritten<br />
verfassungsrechtlich zulässig, und sie sind auch<br />
rechtspolitisch sinnvoll. Trotzdem — damit komme<br />
ich eigentlich zum Kern unseres politischen Vorwurfs<br />
— haben Sie, die Union und die FDP, zu diesen<br />
Vorschlägen von vornherein unüberhörbar nein gesagt,<br />
und zwar deshalb, weil es Ihre Parteizentralen<br />
und das Kanzleramt so bestimmt haben.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/<br />
CSU]: Ach du lieber Himmel! — Norbert Geis<br />
[CDU/CSU]: Ihr habt ja nie den Versuch ge<br />
macht, ein Gespräch zu führen!)<br />
Es war völlig klar, dort wurde ganz schnell anders<br />
entschieden. Mitbestimmung, Mitbeteiligung der<br />
Bürgerinnen und Bürger in ihrer Frage wollen Sie
2578 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />
nicht. Sogar der Justizminister, der doch mit guten<br />
Argumenten für eine offene Diskussion — wenigstens<br />
dafür — unserer Vorschläge geworben hat, weil sie<br />
sinnvoll, weil sie zulässig sind, wurde zurückgepfiffen.<br />
Auch Frau Adam-Schwaetzer bekam Klassenkeile,<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt übertreiben<br />
Sie aber!)<br />
obwohl sie sich — das anerkennen wir — in Zwischenschritten<br />
an das Problem lediglich herangetastet<br />
hat.<br />
Meine Damen und Herren, Sie haben von Anfang<br />
an nein gesagt, und genau das ist der Punkt, den wir<br />
Ihnen politisch vorwerfen, den wir ablehnen, und dies<br />
keineswegs nur, verehrter Herr Kollege Gerster, weil<br />
wir unsere Argumente für besser und unsere Forderung<br />
für richtig halten, sondern deshalb, weil Sie mit<br />
Ihrem Nein von Anfang an jede ernsthafte Auseinandersetzung<br />
blockiert haben. Damit wurden nicht nur<br />
sinnvolle Möglichkeiten und auch Zeit vertan, sondern<br />
Sie haben, finde ich, damit auch der demokratischen<br />
Auseinandersetzung hier in unserem Parlament<br />
einen ganz schlechten Dienst erwiesen.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Ich will das auch begründen:<br />
Daß Vorschläge nach Offenlegung unterschiedlicher<br />
Interessen und unterschiedlicher Standpunkte<br />
abgelehnt werden, daß die Mehrheit nein sagt, nachdem<br />
sie Gründe erwogen und ihre Gründe für besser<br />
erachtet hat, daß Forderungen nach einer Diskussion<br />
durch Mehrheitsentscheidungen zurückgewiesen<br />
werden, ist normal. Das ist in einer Demokratie nicht<br />
nur akzeptabel, sondern das gehört zum Wesen einer<br />
Demokratie. Zum Wesen einer Demokratie — Herr<br />
Gerster — das sollten Sie sich auch noch anhören —<br />
(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich<br />
habe keinen Zwischenruf gemacht! Was wol<br />
len Sie denn mit mir?)<br />
gehört aber auch, eine Auseinandersetzung nicht<br />
durch ein Nein zu blockieren — eben das tun Sie —,<br />
sondern sich für neue Argumente zu öffnen, zuzuhören<br />
und selbst zu argumentieren, kurz: die Auseinandersetzung<br />
zu führen. Das haben Sie nicht zugelassen.<br />
Das Anhörungsverfahren im Rechtsausschuß war<br />
deshalb — Sie werden mir zustimmen, Herr Kollege<br />
Geis — reichlich sinnlos. Dort wurden - nur Gründe<br />
gesucht, um Ihr Nein untermauern zu können. Das ist<br />
schade.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben die<br />
Wissenschaftler gesagt!)<br />
— Ach, keine Rede davon. Das haben lediglich die von<br />
Ihnen benannten Gutachter gesagt, die aber zu rechtlichen<br />
und verfassungsrechtlichen Fragen natürlich<br />
überhaupt nicht Stellung genommen haben, sondern<br />
die lediglich Vorurteile reproduziert haben.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagen Sie!)<br />
Sie, verehrter Herr Kollege Geis, haben es übrigens<br />
bei jemandem, der Ihnen in der Sache nicht zustimmte,<br />
als erster im Rechtsausschuß moniert.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das war auch be<br />
rechtigt, Frau Kollegin!)<br />
Die Bürgerinnen und Bürger merken ganz genau,<br />
was da gespielt wird. Eine derartige Haltung trägt zur<br />
Politikverdrossenheit bei und fördert auch nicht die<br />
Glaubwürdigkeit unserer Art, uns im Parlament auseinanderzusetzen.<br />
Sie trägt auch nicht dazu bei — lassen<br />
Sie mich das mit allem Nachdruck sagen —, die<br />
Zweifler zu übertönen, die Ihnen von den Regierungsparteien<br />
heute schon vorwerfen, Sie hätten überhaupt<br />
nicht vor, den Auftrag aus Art. 5 des Einigungsvertrages<br />
zu erfüllen, nämlich unser Grundgesetz zur gesamtdeutschen<br />
Verfassung mit der nötigen Offenheit,<br />
mit der nötigen Gesprächsbereitschaft und auch mit<br />
der nötigen Ernsthaftigkeit weiterzuentwickeln.<br />
Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht<br />
zulassen.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Deswegen spreche ich das hier so deutlich aus.<br />
Ich will nur am Rande erwähnen, daß die Argumente,<br />
die in den letzten Tagen gegen unsere Vorschläge,<br />
sowohl gegen den einer Grundgesetzänderung<br />
als auch gegen den einer Verfahrensregelung,<br />
vorgebracht wurden, wegen ihrer Leichtgewichtigkeit<br />
und ihres Alibicharakters außerordentlich leicht<br />
zu entkräften sind, z. B. das hartnäckig ausgestreute<br />
Gerücht, die Letztentscheidung der Bürgerinnen und<br />
Bürger solle dem <strong>Bundestag</strong> und dem Bundesrat die<br />
Möglichkeit geben, sich in der Sache zu drücken, sich<br />
in ein Schlupfloch zu verziehen und selbst nicht Stellung<br />
nehmen zu müssen. Keine Rede davon,<br />
(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!)<br />
alles unwahr! Die Stellungnahmen von <strong>Bundestag</strong><br />
und Bundesrat sind Voraussetzungen für den Diskussions-<br />
und Entscheidungsprozeß, den wir anstreben.<br />
Da wurde sogar von Vertragsverletzungen wegen<br />
der Protokollnotiz zu Art. 2 geschwätzt. Ich bin noch<br />
heute dem Kollegen de Maizière sehr dankbar dafür,<br />
daß er sich, als Zeuge im Ausschuß aufgerufen, nicht<br />
dafür hergegeben hat, zu bestätigen, hier sei eine Entscheidung<br />
unter ausdrücklichem Ausschluß der Bevölkerung<br />
vorgenommen worden. Davon war damals<br />
ja auch keine Rede.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat er so<br />
nicht gesagt!)<br />
— Ja eben. Ich bin ihm ja auch sehr dankbar, daß er<br />
das ausdrücklich nicht bestätigt hat. —<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat es aber<br />
auch nicht so gesagt, wie Sie es gesagt ha<br />
ben!)<br />
Da wurde vom Volksentscheid als Prämie für Demagogen<br />
geredet.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben nicht<br />
zugehört!)<br />
— Doch, doch, Ihnen immer.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: So wie Sie es sa<br />
gen, hat er es nicht gesagt!)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2579<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />
—Ja eben. Ich sagte ja gerade: Ich bin ihm sehr dankbar,<br />
daß er es nicht bestätigt hat.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat es nicht so<br />
gesagt, wie Sie es gesagt haben!)<br />
— Dann müssen Sie vielleicht etwas anderes sagen.<br />
Seine Äußerungen waren außerordentlich eindeutig.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
Geis, Sie haben die Gelegenheit, das anschließend<br />
klarzustellen. Dann kann der Dialog unterbleiben.<br />
(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So<br />
viel Redezeit hat er gar nicht, um das alles<br />
klarzustellen!)<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Er hat auch die<br />
Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Auch das<br />
ist möglich.<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident,<br />
auch das weiß er; deswegen nimmt er die Möglichkeit<br />
ja nicht wahr,<br />
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)<br />
ich könnte ihm ja antworten.<br />
Da wurde von Volksentscheid als „Prämie für Demagogen"<br />
geredet. Da wurde die „Instabilität" der<br />
Staaten unterstellt, die so etwas wie einen Volksentscheid<br />
haben. Das wurde als Menetekel an die Wand<br />
gemalt. Da wurde gar behauptet, Volksbegehren,<br />
Volksinitiative und Volksentscheid seien — man<br />
höre — Kennzeichen totalitärer oder sozialistischer<br />
Staaten.<br />
Meine Damen und Herren, das sage ich Ihnen jetzt<br />
ganz im Ernst: Wenn das wahr wäre, dann könnten<br />
einem die Österreicher, also unsere Nachbarn im Süden,<br />
wirklich leid tun. Dann wäre die Schweiz nicht<br />
etwa eine Insel der Stabilität, sondern schon längst<br />
zerrüttet, in Auflösung beg riffen. Italien — ausgerechnet<br />
Italien! — wäre dann so etwas wie ein totalitärer<br />
Staat. Lachhaft, kann man nur sagen.<br />
Dann müßten auch alle unsere Bundesländer, die<br />
Instrumente der direkten Demokratie in ihrer Verfassung<br />
niedergelegt haben, als instabil und inhomogen<br />
mit unserem Grundgesetz angesehen werden, das<br />
den Volksentscheid ja bisher nicht kennt, aber gleichwohl<br />
auf keinen Fall Homogenität mit instabilen oder<br />
mit totalitären Gemeinwesen zuläßt. Auch das -<br />
ist doch<br />
rung!)<br />
eine abstruse Konstruktion. Sie wird um so abstruser,<br />
als ja Länderverfassungen gemeint sind, die keineswegs<br />
nur vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet<br />
wurden, sondern natürlich auch solche, die in<br />
den 70er Jahren, wie die baden-württembergische,<br />
oder in den letzten Jahren, wie die schleswig-holsteinische,<br />
übrigens immer unter Zustimmung von CDU<br />
— CSU gibt es dort nicht — und Freien Demokraten,<br />
verabschiedet wurden.<br />
Meine Damen und Herren, Sie sollten aufhören, so<br />
einen Unfug zu behaupten. Sie sollten sich dazu<br />
durchringen, mit uns den Volksentscheid zu ermöglichen.<br />
Die Abstimmung über den Parlaments- und Regierungssitz<br />
gibt da einen außerordentlich guten Anlaß.<br />
(Zuruf von der SPD: Man kann sich auch ein<br />
Beispiel an Bayern nehmen!)<br />
Übrigens ist auch das Befriedungsargument falsch,<br />
also die Behauptung, der Volksentscheid in der Frage<br />
Bonn oder Berlin würde blutende Wunden aufreißen<br />
und hindern, daß sie wieder heilen, die Befriedungsfunktion<br />
würde also ausbleiben.<br />
(Zuruf von der SPD: Ein Schmarrn ist das!)<br />
Wie falsch! Wir wissen doch ganz genau, daß in Österreich<br />
in einer Situation, in der die Bevölkerung durch<br />
die Atom-Frage wirklich zutiefst gespalten war, nach<br />
einem Volksentscheid nicht nur innerer Friede gefördert<br />
wurde,<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau das Ge<br />
genteil ist richtig, Frau Kollegin!)<br />
sondern daß zugleich die Grundlage für eine vernünftige,<br />
auf Konsens beruhende Politik in der Energiefrage<br />
geschaffen wurde. Wer das bestreitet, sollte sich<br />
das im einzelnen wirklich endlich einmal anschauen,<br />
Herr Kollege Geis.<br />
Seien Sie doch nicht so ängstlich: Solche Behauptungen,<br />
solche wirklich falschen und leicht widerlegbaren<br />
Meinungen zeigen doch nur, wieviel Angst und<br />
wieviel Mißtrauen gegenüber den Staatsbürgern<br />
noch vorhanden ist.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Sie sollten mit solchen Schlagworten und solchen<br />
Blockadeworten aufhören, und Sie sollten mit uns<br />
anfangen, auch diese Ängste zu thematisieren, damit<br />
wir sie gemeinsam ausräumen können. Das würde<br />
uns weiterführen und brächte — das meine ich sehr<br />
ernst — die Möglichkeit, auch über Sorgen zu reden,<br />
die im Hinblick auf unsere Geschichte geäußert werden.<br />
Es muß doch einfach möglich sein, auch in diesem<br />
Parlament offen darüber zu reden, daß die Weimarer<br />
Republik eben nicht an zuviel Mitbestimmung<br />
durch die Bürgerinnen und Bürger zugrunde gegangen<br />
ist, sondern deshalb, weil es insgesamt zu wenig<br />
Demokraten gab, die sich für sie eingesetzt haben, in<br />
der Wirtschaft, in der Beamtenschaft, in der Verwaltung<br />
und, Gott sei es geklagt, eben auch im Reichstag.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE — Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist<br />
ein bösartiger Vorwurf gegen die Bevölke<br />
Hitler kam eben nicht durch Wahlen an die Macht.<br />
Er hat nicht ein einziges Volksbegehren gewonnen.<br />
Das Ermächtigungsgesetz, Herr Kollege Geis, das ihm<br />
den Freibrief für seine verbrecherische Politik von<br />
Verfassungsbruch, Unterdrückung, Rassenwahn und<br />
Krieg gab, ist nicht durch das Volk, sondern durch die<br />
Mehrheit im Reichstag verabschiedet worden, weil<br />
damals viele, aus welchen Gründen auch immer, nicht<br />
nein sagen wollten.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/<br />
Linke Liste)
2580 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />
Das eignet sich als Beispiel gegen mehr direkte Demokratie<br />
in unserem Lande also nicht.<br />
(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie<br />
schulmeistern Carlo Schmid! Den sollten Sie<br />
mal lesen!)<br />
— Nein, ich schulmeistere Carlo Schmid nicht,<br />
(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der<br />
dreht sich im Grab herum, wenn er Sie<br />
hört!)<br />
aber ich habe gerade etwas zu Theodor Heuss gesagt,<br />
Herr Kollege Gerster. Wenn Sie sich nur einmal ernsthaft<br />
mit diesen Fragen befassen wollten, dann könnten<br />
wir einmal ernsthaft in die Diskussion eintreten.<br />
Aber Sie sollten sich vorher informieren.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Information<br />
macht ja einfache Antworten unmöglich!)<br />
Ich finde bedauerlich, daß diese Diskussion von Ihnen<br />
bisher versperrt wird. Ich teile, ich unterstütze die<br />
Haltung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts,<br />
Professor Herzog, der immer wieder zu Recht<br />
mahnt, wir Parlamentarier sollten schnell das Signal<br />
für mehr Mitbestimmung der Menschen, der Bürgerinnen<br />
und Bürger, auch auf Bundesebene, geben,<br />
damit wir uns dann den sehr viel schwierigeren Einzelfragen<br />
zuwenden können, wie das gehen soll, wo<br />
wir die Grenzen ziehen, wie also unser parlamentarisch-repräsentatives<br />
System sinnvoll ergänzt werden<br />
kann; denn das ist es ja, was wir ja wollen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)<br />
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, auch jetzt<br />
noch, sozusagen in letzter Sekunde, Ihre Haltung zu<br />
überprüfen, die ja falsch ist, und sie zu ändern. Stimmen<br />
Sie unseren Vorschlägen zu und überwinden Sie<br />
Ihr Mißtrauen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern!<br />
Widerlegen Sie damit vor allen Dingen den Vorwurf,<br />
der immer stärker zu hören ist, den Vorwurf, die<br />
Arroganz der Mächtigen hindere Sie am Dazulernen.<br />
(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]:<br />
Nein, der Populismus Ihrer Art schreckt sie<br />
ab, Frau Kollegin! — Widerspruch bei der<br />
SPD)<br />
— Meine Damen und Herren, wir werden, damit auch<br />
Herr Gerster irgendwann einmal lernt, daß er sich mit<br />
diesen Fragen ernsthaft auseinandersetzen muß, eine<br />
namentliche Abstimmung zu dieser Frage beantragen.<br />
Danke schön.<br />
(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall<br />
beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei - Abge<br />
ordneten der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun erteile<br />
ich dem Abgeordneten Geis das Wort.<br />
Norbert Geis (CDU/CSU) : Sehr geehrter Herr Präsident!<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir<br />
haben keine Angst vor der Entscheidung des Volkes<br />
und brauchen auch keine Angst davor zu haben.<br />
(Zuruf von der SPD: Natürlich haben Sie<br />
das!)<br />
Wir, die Koalitionsparteien, sind bei den letzten<br />
Wahlen mit einer eindeutigen Mehrheit wiedergewählt<br />
worden.<br />
(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie haben Sie das<br />
denn gemacht?)<br />
Wir brauchen keine Angst zu haben, uns dem Wähler<br />
zu stellen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Ich möchte einmal wissen, Frau Däubler-Gmelin<br />
was, wenn wir morgen hier im Parlament und in der<br />
nächsten Woche im Bundesrat eine Entscheidung für<br />
oder gegen Berlin mit allen Variationen treffen, dann<br />
eigentlich der Volksentscheid noch soll. Ist dies nicht<br />
ein Präjudiz? Sie müßten konsequenterweise eigentlich<br />
sagen: Wir müssen die Entscheidung, die für morgen<br />
und für die nächste Woche vorgesehen ist, absetzen<br />
und müssen erst das Volk entscheiden lassen.<br />
(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch völlig<br />
falsch! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sie<br />
haben es nicht beg riffen!)<br />
Denn sonst könnte das auf eine Bevormundung des<br />
Volkes hinauslaufen.<br />
In Wirklichkeit will die SPD mit diesem Antrag aus<br />
ihrer Hopplahopp-Entscheidung des letzten Parteitages,<br />
die ja knapp genug ausgefallen ist, ausbrechen.<br />
Sie will aus diesem Dilemma heraus. Aus dieser kläglichen,<br />
unvorbereiteten<br />
(Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)<br />
und nicht lang und ausgiebig genug geführten Diskussion<br />
heraus will sie jetzt den Versuch unternehmen,<br />
über das Volk zur Entscheidung zu kommen.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
Geis, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Er möchte mich eine Sekunde<br />
reden lassen.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das ist in<br />
Ordnung.<br />
Norbert Geis (CDU/CSU) : Ich bitte Sie, mich mit<br />
meinen Ausführungen erst einmal beginnen zu lassen.<br />
Herr Meyer, Sie sind ein sehr lieber Kollege. Ich<br />
bitte Sie, lassen Sie mich erst einmal kurz reden. Sie<br />
wissen ja noch gar nicht, was ich im einzelnen sagen<br />
will.<br />
(Widerspruch bei der SPD)<br />
Sie wollen aus der kläglichen Entscheidung Ihres<br />
Parteitages herausfinden. Aber Sie appellieren nicht<br />
etwa an eine verantwortungsvolle Entscheidung im<br />
Parlament oder im Bundesrat. So wie Sie Ihre eigene<br />
Partei und Ihren eigenen Parteitag verstehen, kommen<br />
nach dem Parteitag nicht etwa die Institutionen,<br />
die dafür vorgesehen sind; nach dem Parteitag hat<br />
gefälligst das Volk selbst zu kommen. Der Souverän<br />
selbst hat zu entscheiden; denn alles andere ist Ihnen<br />
viel zuwenig. Das ist der eigentliche Grund, weshalb<br />
Sie jetzt von uns verlangen, wir sollten dieses Spiel-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2581<br />
Norbert Geis<br />
chen, das Sie betreiben, mitspielen. Dazu sind wir<br />
nicht bereit.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Detlev von Larcher [SPD]: Können Sie nicht<br />
zuhören oder wollen Sie nicht?)<br />
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, Frau<br />
Däubler-Gmelin, weshalb Sie den Volksentscheid<br />
wollen. Sie sagen es ja laut genug, und deshalb ist es<br />
gar nicht verkehrt, das hier zu wiederholen. Sie sagen<br />
nämlich, daß Sie mit diesem Volksentscheid den Einstieg<br />
in eine Verfassungsdebatte finden wollen, an<br />
deren Ende eine grundlegende Veränderung unseres<br />
Grundgesetzes stehen soll. Der Volksentscheid in der<br />
Frage des Parlaments- und Regierungssitzes soll dafür<br />
nur den Einstieg bilden.<br />
Der Einstieg wird aber auch — das haben wir heute<br />
erlebt — von dem entsprechenden Theaterdonner begleitet.<br />
Sie sprechen von der Arroganz der Mächtigen<br />
und meinen uns hier im <strong>Bundestag</strong> und im Bundesrat.<br />
(Dr. Peter Struck [SPD]: Völlig zu Recht!)<br />
Das parlamentarische, repräsentative System, verehrte<br />
Frau Däubler-Gmelin, das in den 60er Jahren<br />
während der Studentenrevolte und in den 70er Jahren<br />
während der Terroranschläge nie umstritten gewesen<br />
ist und das sich in den letzten 40 Jahren für unser<br />
Land hervorragend bewährt hat, wird plötzlich von<br />
Ihnen angegriffen. Es wird miesgemacht. Sie denunzieren<br />
es. Sie stellen es hin als die Arroganz der Mächtigen.<br />
(Widerspruch bei der SPD)<br />
Sie wollen uns, die Vertreter dieses Regierungssystems,<br />
uns Abgeordnete als Mächtige draußen beim<br />
Volk denunzieren, um aus Ihrer kläglichen Situation<br />
auf diese Weise herauszukommen. Ich halte dies für<br />
einen sehr unangemessenen und außerordentlich<br />
miesen Stil, den Sie hier versuchen.<br />
Bei der Anhörung im Rechtsausschuß, sehr verehrte<br />
Frau Däubler-Gmelin, haben sich die Wissenschaftler<br />
— es waren ja nicht ganz unbekannte; es waren bedeutende<br />
Verfassungsrechtler unseres Volkes — aus<br />
gutem Grund eindeutig gegen diesen Volksentscheid<br />
ausgesprochen.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
Geis, sind Sie bereit, Herrn Lambinus eine<br />
Zwischenfrage zuzugestehen?<br />
-<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Sofort werde ich ihm die<br />
Frage zugestehen, einen Augenblick. — Nur der von<br />
Ihnen, Frau Däubler-Gmelin, herbeizitierte Verfassungsrechtler<br />
und vormalige Verfassungrichter — Sie<br />
wissen genau, wen ich meine — hat sich zu der Äußerung<br />
vom Absolutismus unseres parlamentarischen<br />
Regierungssystems verstiegen. Wer so leichtfertig die<br />
Grundlagen unseres Zusammenlebens — das ist das<br />
parlamentarische Regierungssystem all die vierzig<br />
Jahre hindurch gewesen — in Frage stellt, der muß<br />
sich wirklich fragen lassen, ob er mit seinen polemi<br />
schen Äußerungen nicht ganz andere Ziele verfolgt.<br />
— Bitte sehr.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie zitie<br />
ren schon wieder falsch! Das tun Sie wider<br />
besseres Wissen!)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun kommen<br />
wir zu den Zwischenfragen. Bitte sehr, Herr Abgeordneter<br />
Meyer.<br />
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Kollege Geis,<br />
stimmen Sie mir zu, daß es zwischen der Sachentscheidung<br />
für Bonn oder Berlin und der hier zu erörternden<br />
Frage eines Volksentscheides einen ganz engen<br />
verfassungspolitischen oder, wie einer der Sachverständigen<br />
in der von Ihnen eben erwähnten Anhörung<br />
gesagt hat, verfassungsmoralischen Zusammenhang<br />
gibt, nämlich folgenden, daß diejenigen unter<br />
uns, die für Bonn votieren wollen, doch gleich entgegengehalten<br />
bekommen, daß es über Jahrzehnte hinweg<br />
Versprechungen in Richtung Berlin, dort werde<br />
man nach der Wiedervereinigung den Regierungsund<br />
Parlamentssitz haben, gegeben hat, und ist nicht<br />
der einzige Weg, von diesen Versprechungen loszukommen,<br />
der, daß man den Adressaten dieser Versprechungen,<br />
das Staatsvolk, befragt, ob man jetzt<br />
nicht bessere Gründe für eine andere Entscheidung<br />
sieht? Müßten Sie als jemand — das vermute ich jetzt<br />
einmal; entschuldigen Sie, wenn ich das so unterstelle<br />
— , der für Bonn votieren könnte, jetzt nicht sagen:<br />
Dieses geht verfassungsmoralisch einwandfrei<br />
nur mit einem Volksentscheid?<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Entschuldigen<br />
Sie bitte, Herr Abgeordneter Geis, bevor Sie<br />
darauf antworten, möchte ich folgendes sagen: Herr<br />
Professor Meyer, darf ich Sie darum bitten, gelegentlich<br />
einmal in die Geschäftsordnung zu gucken;<br />
(Heiterkeit)<br />
denn dort ist vermerkt, daß die Zwischenfragen kurz<br />
und präzise sein sollten. Wir wären Ihnen außerordentlich<br />
dankbar, wenn Sie sich in Zukunft danach<br />
richten würden.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Präzise fand<br />
ich es ja!)<br />
Herr Abgeordneter Geis, nun haben Sie das Wort.<br />
Norbert Geis (CDU/CSU) : Ich glaube nicht, daß für<br />
die Beantwortung der Frage, ob wir uns für Bonn oder<br />
für Berlin entscheiden, eine moralische Rechtfertigung<br />
durch das Volk in Form eines Volksentscheides<br />
notwendig ist. Soviel Verantwortungsbewußtsein<br />
müssen wir hier im Parlament haben. Ich wehre mich<br />
also gegen die Unterstellung, wir bräuchten jetzt gewissermaßen<br />
eine Absegnung des Volkes selber für<br />
unsere Entscheidung. Wir sind in dieses Parlament<br />
gewählt worden — das ist ja die Grundüberlegung<br />
des parlamentarischen, repräsentativen Systems —,<br />
damit wir, unserem Gewissen verantwortlich, Entscheidungen<br />
für das Volk treffen. Ich sehe also diesen<br />
Zusammenhang, den Sie genannt haben, Herr Kollege<br />
Meyer, nicht.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2582 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Abgeordnete<br />
Lambinus — geschäftskundig, wie er ist —<br />
wird jetzt eine Zwischenfrage stellen.<br />
(Heiterkeit)<br />
Uwe Lambinus (SPD): Herr Kollege Geis, wollen Sie<br />
ernsthaft behaupten, daß das in Bayern gegebene Institut<br />
des Volksbegehrens und Volksentscheides dort<br />
den Parlamentarismus in Frage stellt, und können Sie<br />
bestätigen, daß selbstverständlich im Rahmen des<br />
Volksbegehrens und Volksentscheides in Bayern der<br />
Landtag vorher in vielen Fällen seine Meinung zu der<br />
zur Beantwortung anstehenden Frage sagt?<br />
(Dr. Peter Stuck [SPD]: Jetzt sind Sie aber<br />
sprachlos!)<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Ich möchte Ihnen zu dem<br />
Volksentscheid vom 17. Februar in Bayern folgendes<br />
sagen: Er hat keine Befriedung in der Bevölkerung<br />
herbeigeführt. Im übrigen bin ich der Auffassung, daß<br />
die Bevölkerung in Bayern am 17. Februar aufgerufen<br />
war, über einen Fragenkomplex zu entscheiden, den<br />
zu beurteilen sie auf Grund der Tatsache, daß ein Riesenpaket<br />
von Papieren vorgelegt worden ist, in dem<br />
ein ganzer Gesetzentwurf stand, nicht in der Lage<br />
war.<br />
(Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher<br />
[SPD]: Das Volk ist dumm, nur die Abgeord<br />
neten sind klug!)<br />
Das genau ist ja die Bestätigung des parlamentarischen<br />
Regierungssystems.<br />
(Zuruf von der SPD)<br />
— Vielleicht ist es möglich, daß ich meine Ausführungen<br />
einmal ohne Zwischenrufe zu Ende bringen kann;<br />
Sie haben mich ja gefragt.<br />
Wir, die Abgeordneten, haben die Möglichkeit und<br />
auch eher die Zeit, uns den Sachverstand anzueignen,<br />
der notwendig ist, um in einer so komplizierten Frage<br />
der Müllentsorgung, wie es am 17. Februar in Bayern<br />
der Fall gewesen ist, entscheiden zu können. Deswegen<br />
ist es im Grunde genommen sehr, sehr fragwürdig,<br />
ob man — wie in Bayern geschehen — das Volk<br />
auf diese Weise zur Entscheidung anrufen soll.<br />
(Abg. Herbert Werner [Ulm] [CDU/CSU],<br />
Abg. Gudrun Weyel [SPD] und Abg.<br />
Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]<br />
melden sich zu einer Zwischenfrage)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
Geis, ich möchte einmal auf die Geschäftslage<br />
aufmerksam machen. Wir haben jetzt - noch drei<br />
Wünsche an Sie nach Zwischenfragen vorliegen. Weitere<br />
werde ich auch nicht zulassen, unabhängig davon,<br />
wie Sie sich entscheiden.<br />
(Zurufe von der SPD)<br />
— Das ist mein gutes Recht. Ich mache darauf aufmerksam,<br />
daß die Debatte nach den jetzigen Berechnungen<br />
zwischen 0.00 und 0.30 Uhr enden wird. Eine<br />
Verlängerung — bisher habe ich die Zeiten ja nicht<br />
angerechnet — wäre, glaube ich, für das ganze Haus<br />
unzumutbar.<br />
Meine herzliche Bitte ist also, noch einmal kurz auf<br />
den Abgeordneten Lambinus einzugehen und, wenn<br />
Sie wollen, die Zwischenfragen zuzulassen. Wir fassen<br />
sie dann zusammen und machen anschließend im<br />
normalen Debattenverlauf weiter. Denn sonst bekommen<br />
Sie für die Antworten mehr Zeit, als Ihnen insgesamt<br />
als Redezeit zur Verfügung steht. Auch das ist<br />
dann nicht im Sinne der Geschäftsordnung.<br />
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident, ich entscheide<br />
mich ganz in Ihrem Sinne. Ich möchte die weiteren<br />
Zwischenfragen nicht mehr zulassen.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Okay,<br />
danke schön. Dann, bitte sehr, fahren Sie fort, Herr<br />
Abgeordneter.<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Ich möchte in meinen<br />
Ausführungen fortfahren.<br />
Unser Grundgesetz hat gerade in der Wiedervereinigung<br />
seine bisher größte Bestätigung erhalten. Als<br />
die Deutschen in der vormaligen DDR endlich die<br />
demokratische Selbstbestimmung erlangt hatten, haben<br />
sie sich nicht nur für die deutsche Einheit, sondern<br />
auch für die Grundordnung entschieden, nach der wir<br />
über 40 Jahre lang gelebt haben, die uns in unserer<br />
Geschichte nie dagewesene Freiheiten beschert hat<br />
und die uns einen nie für möglich gehaltenen Wohlstand<br />
erwirkt hat.<br />
Wer deshalb jetzt nach dem angeblich wahren Willen<br />
des Volkes fragt, der mißachtet die Tatsache, daß<br />
sich die Menschen im östlichen Teil unseres Vaterlandes<br />
wie auch im westlichen Teil unseres Vaterlandes<br />
längst unter dem gemeinsamen Dach unseres Grundgesetzes<br />
zusammengefunden haben. Nur scheinen<br />
manche aus der SPD, die so sehr nach dem Volk rufen,<br />
noch gar nicht gemerkt zu haben, daß sich das Volk<br />
längst für unser Grundgesetz entschieden hat.<br />
(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch nicht die<br />
Frage!)<br />
— Das ist schon die Frage, weil Sie nämlich erklärtermaßen<br />
über den Volksentscheid den Einstieg in eine<br />
Gesamtrevision unseres Grundgesetzes finden wollen.<br />
(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch<br />
Quatsch!)<br />
Wir werden uns von Anfang an — dies sei gesagt —<br />
mit aller Macht gegen ein solches Vorgehen wenden.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Nichts darf verän<br />
dert werden!)<br />
Der Parlamentarische Rat hat, als er das Grundgesetz<br />
verfaßt hat, an die Tradition der Weimarer Republik<br />
anknüpfen können. Aber er hat zum Glück auch<br />
den Versuch unternommen, die Fehler der Weimarer<br />
Republik nicht zu übernehmen. Er hat sich deshalb<br />
gegen Volksbegehren und gegen Volksentscheid, die<br />
ja damals vorgesehen waren und auch weidlich genutzt<br />
worden waren, entschieden. Denn bis zum Jahre<br />
1926 war es für die Linken und nach dem Jahre 1926<br />
war es für die Rechten ein Fest — ein Fest für die<br />
Demagogen — die Mittel des Volksbegehrens und<br />
des Volksentscheides dazu zu benutzen, die Demokratie<br />
selbst anzugreifen.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2583<br />
Norbert Geis<br />
Sie haben gesagt, andere Länder hätten bessere<br />
Erfahrungen damit gemacht. Das ist nicht der Fall,<br />
Frau Däubler-Gmelin. Es gibt in der ganzen westlichen<br />
Welt kein Land, das gute Erfahrungen mit Volksbegehren<br />
und Volksentscheiden gemacht hätte.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />
schlicht falsch!)<br />
Denken Sie einmal daran, daß sich der von Ihnen<br />
hochgeschätzte, aus Ihren Reihen kommende Gerhard<br />
Leibholz, Verfassungsrichter und Verfassungsrechtler,<br />
ausdrücklich gegen den Volksentscheid entschieden<br />
hat. Theodor Heuss hat sich ebenfalls ausdrücklich<br />
gegen den Volksentscheid entschieden,<br />
und zwar aus ganz bestimmten und aus ganz richtigen<br />
Gründen.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Was Sie<br />
behaupten, entbehrt jeder sachlichen<br />
Grundlage!)<br />
Gegen den Antrag der SPD bestehen aber nicht nur<br />
verfassungspolitische, sondern auch handfeste verfassungsrechtliche<br />
Bedenken.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />
überhaupt nicht wahr!)<br />
Sicher ist der Volksentscheid, fände er Eingang in<br />
die Verfassung, für sich genommen — da stimme ich<br />
mit Ihnen überein — noch nicht verfassungswidrig.<br />
Aber dadurch, daß er beim Art. 146 angesiedelt werden<br />
soll, entstehen, wie ich meine, wichtige verfassungsrechtliche<br />
Bedenken. Immerhin müssen Sie bedenken,<br />
daß der Art. 146 ja dafür vorgesehen ist, dem<br />
Volk die Verfassung insgesamt zur Entscheidung vorzulegen.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Das wollen Sie ja<br />
auch nicht!)<br />
Dann hat er sich erledigt.<br />
Wenn Sie aber jetzt den Versuch unternehmen, im<br />
Art. 146 weitere Volksentscheide vorzusehen und<br />
jetzt den Volksentscheid über den Regierungssitz als<br />
Einstieg in andere Volksentscheide zu nehmen<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ganz ge<br />
nau!)<br />
—genau, Sie sagen es richtig; genau das wollen Sie —,<br />
dann perpetuieren Sie den Art. 146. Das ist ganz ausgesprochen<br />
gegen den Willen des damaligen Verfassungsgesetzgebers.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Lesen Sie<br />
sich den Art. 146 einmal durch! — Weitere<br />
Zurufe von der SPD)<br />
-<br />
—Hören Sie doch einmal zu; vielleicht können Sie mir<br />
dann zustimmen.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mein<br />
Gott, Sie müssen es mal lesen!)<br />
Außerdem bestehen erhebliche Bedenken gegen<br />
den Art. 146 selbst.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Absurd!)<br />
Denn immerhin muß man berücksichtigen, daß durch<br />
den Art. 146 die Möglichkeit gegeben ist, unsere Ver<br />
fassung insgesamt auszuhebeln. Denn der Volksent<br />
scheid könnte ja beispielsweise bei niedriger Beteiligung<br />
anders ausgehen, als wir es uns vorstellen.<br />
Wenn uns aber der Verfassungsgeber, wenn uns<br />
das Volk selbst eine Verfassung gegeben und vorgesehen<br />
hat, daß diese Verfassung nur unter bestimmten<br />
Voraussetzungen ausgehebelt werden kann, dann<br />
müssen diese Voraussetzungen aber auch eingehalten<br />
werden. Wir sind aber in der deutschen Einigung<br />
den Weg über Art. 23 des Grundgesetzes gegangen.<br />
Dann war die Möglichkeit des alten Art. 146 des<br />
Grundgesetzes gegeben. Der Weg über diesen alten<br />
Art. 146 des Grundgesetzes, der eine neue Verfassung<br />
im Falle der Wiedervereinigung ermöglicht hat,<br />
wurde aber nicht begangen.<br />
(Zuruf von der SPD: Weil Sie nicht woll<br />
ten!)<br />
Eine weitere Möglichkeit aber, unsere Verfassung<br />
auszuhebeln, hat der Verfassungsgeber, das Volk, der<br />
Parlamentarische Rat, nie vorgesehen.<br />
(Zustimmung bei der CDU/CSU)<br />
Deshalb ist sehr wohl die Frage — sie darf nicht so<br />
einfach vom Tisch gewischt werden — , ob Art. 146<br />
des Grundgesetzes in seiner neuen Fassung, nach der<br />
wir erneut eine Möglichkeit vorsehen, die Verfassung<br />
insgesamt auszuhebeln, verfassungswidrig sein kann.<br />
(Uwe Lambinus [SPD]: Was heißt denn „ver<br />
fassungswidrig"? Billige Demagogie: „aus<br />
hebeln" ! )<br />
Diese Möglichkeit ist ohne weiteres gegeben.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Dummes<br />
Zeug!)<br />
Das sollten Sie bedenken. Auch deshalb haben wir<br />
gegen Ihren Antrag erhebliche Bedenken.<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie müssen<br />
darüber hinaus aber auch bedenken — Sie haben<br />
das abgetan; Herr de Maizière hat nicht so geantwortet,<br />
wie Sie es gesagt haben, Frau Däubler-Gmelin — :<br />
Natürlich kann diese Entscheidung durch das Volk<br />
unter Umständen gegen den Einigungsvertrag verstoßen,<br />
weil dort vorgesehen ist, daß die gesetzgebenden<br />
Körperschaften, also Parlament und Bundesrat,<br />
die Entscheidung treffen sollen, wo Parlaments- und<br />
Regierungssitz sein soll; nicht das Volk soll die Entscheidung<br />
treffen, sondern Bundesrat und <strong>Bundestag</strong>.<br />
(Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/<br />
GRÜNE]: „Nicht das Volk", das war deut<br />
lich!)<br />
So sieht es der Einigungsvertrag vor. Ich weiß nicht,<br />
ob der Einigungsvertrag auch mit Hilfe einer verfassungsändernden,<br />
qualifizierten parlamentarischen<br />
Mehrheit abgeändert werden kann.<br />
(Zurufe von der SPD)<br />
— Das ist sehr wohl die Frage. Das kann nicht so ohne<br />
weiteres vom Tisch gefegt werden.<br />
Frau Däubler-Gmelin, es ist auch nicht richtig,<br />
wenn Sie sagen, durch eine solche Entscheidung, die<br />
vom Volk zu treffen sei, könnten keine Gräben aufgerissen<br />
werden. Wenn sich das Volk wirklich beispielsweise<br />
für Bonn entscheiden sollte, wären dann nicht
2584 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Norbert Geis<br />
leicht Emotionen in den fünf neuen Bundesländern<br />
möglich, Emotionen, die dahin gehen, zu sagen: Im<br />
Grunde genommen haben sich die Westler gegen uns<br />
entschieden; weil sie sich nicht für Berlin entschieden<br />
haben, haben sie sich gegen uns entschieden? — Das<br />
sind Gräben, die aufgerissen werden können. —<br />
(Detlef von Larcher [SPD]: Und wenn der<br />
<strong>Bundestag</strong> entscheidet?)<br />
Vielleicht haben sie sich, so könnte man in den neuen<br />
Bundesländern denken, auch gegen die Wiedervereinigung<br />
entschieden. — All dies böte breiten Raum<br />
für alle mögliche Demagogie, für alle mögliche Verhetzung.<br />
Das sollten Sie mit bedenken.<br />
Ich meine, wenn aber die Entscheidung im Parlament<br />
selbst getroffen wird, dann kann eine solche Entscheidung<br />
eher nachvollzogen werden, weil ihre Rationalität<br />
eher einsichtig ist. Das Volk selbst kann ja<br />
seine Entscheidung nicht begründen, Herr Ullmann.<br />
(Peter Struck [SPD]: Das ist eine unglaub<br />
liche Rede, die Sie hier halten! Suchen wir<br />
uns ein anderes Volk!)<br />
Der Begründungszwang liegt bei den Abgeordneten,<br />
die sich für die eine oder für die andere Richtung entscheiden.<br />
Dieser Begründungszwang führt natürlich<br />
dazu, daß eine solche Entscheidung einsichtiger ist<br />
und deshalb eher verständlich ist und deshalb auch<br />
eher nachvollzogen werden kann und deshalb viel,<br />
viel mehr, als Sie annehmen, zur Befriedung beiträgt.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
Geis, darf ich Sie darauf aufmerksam machen,<br />
daß das Mehr an Redezeit, das Sie jetzt in Anspruch<br />
nehmen, auf Kosten des Kollegen Gerster geht.<br />
Ich will das nur in Ihre Erinnerung zurückrufen.<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Ich komme zum Schlußsatz.<br />
— Wir lehnen den Antrag der SPD ab. Wir sind<br />
der Auffassung, daß dieser Antrag von Anfang an<br />
überhaupt nicht ernst gemeint gewesen ist.<br />
(Lachen bei der SPD — Detlef von Larcher<br />
[SPD]: Das ist ja wohl das Letzte! — Weiterer<br />
Zuruf von der SPD: Das ist ja wirklich uner<br />
hört! — Weitere Zurufe von der SPD)<br />
— Er war nicht ernst gemeint. Bevor Sie ihn in die Welt<br />
gesetzt haben, hätten Sie ja erst einmal Kontakt aufnehmen<br />
können. Es ist ja so, daß man verfassungsändernde<br />
Mehrheiten braucht. Man braucht Zweitdrittelmehrheiten.<br />
Immer dann, wenn der Versuch unternommen<br />
wird, im Parlament die Verfassung - zu ändern,<br />
werden schon im Vorfeld Gespräche geführt.<br />
Das haben Sie aber gar nicht gemacht. Sie wollten es<br />
ja auch gar nicht. Sie wollten nur Volksnähe demonstrieren.<br />
In Wirklichkeit geht es Ihnen gar nicht um<br />
das Volk;<br />
(Detlef von Larcher [SPD]: Das ist eine Un<br />
verschämtheit! — Weitere Zurufe von der<br />
SPD)<br />
es geht Ihnen nur darum, aus Ihrem Dilemma herauszukommen,<br />
in das Sie sich hineinmanövriert haben.<br />
Das ist der Grund, und dafür soll nun das Parlament<br />
herhalten. Da machen wir nicht mit.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer<br />
Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau<br />
Däubler-Gmelin das Wort.<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident!<br />
Verehrter Kollege Geis, ich habe mich nicht deswegen<br />
gemeldet, weil Sie gerade in einer unüberbietbar<br />
überzeugenden Form all das bestätigt haben, was ich<br />
vorhin an Vorwürfen in Ihre Richtung losgeworden<br />
bin.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Ich habe mich auch nicht deswegen gemeldet, weil Ihr<br />
Argument mit dem Mangel an Ernsthaftigkeit nun<br />
mehr als widerlegt ist: Sie werden sehen, wie ernst wir<br />
es mit dem Gesetzentwurf meinen, spätestens dann,<br />
wenn auch die Länder im Bundesrat ihn am Freitag<br />
diskutieren und wenn wir unsere Forderung nach<br />
Volksbegehren, Volksinitiative und Volksentscheid<br />
im Zuge der Weiterentwicklung des Grundgesetzes<br />
zur gesamtdeutschen Verfassung ganz selbstverständlich<br />
wieder stellen. Das alles wissen Sie auch. Ich<br />
habe mich gemeldet, weil ich den Art. 146 gegen Sie<br />
in Schutz nehmen muß.<br />
Sie haben so getan und dabei Worte gebraucht, als<br />
habe dieses Haus mit einer Zweidrittelmehrheit, als<br />
habe die Volkskammer nach der Wende, das erste<br />
demokratisch gewählte Parlament in der DDR, mit<br />
Zweidrittelmehrheit die Möglichkeit geschaffen, die<br />
Verfassung „auszuhebeln" . Bedenken Sie bitte Ihre<br />
Worte. Das sind Worte, die nicht nur gegen die Bürgerinnen<br />
und Bürger gerichtet sind, die eine Weiterentwicklung<br />
des Grundgesetzes wollen,<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist Demago<br />
gie!)<br />
das sind auch antiparlamentarische Worte, die ein<br />
Abgeordneter eigentlich nicht benutzen dürfte. Lieber<br />
verehrter Kollege Geis, das sind auch demagogische<br />
Sprüche, gegen die Sie sich glaubwürdig nicht<br />
mehr verwahren können, wenn Sie sie selbst verwenden.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Richtig ist, daß im Art. 146 mit Verfassungsrang die<br />
demokratische Selbstverständlichkeit festgehalten<br />
wurde, nach der sehr schnell erfolgten staatlichen Einigung<br />
Deutschland, durch sorgfältige Nacharbeit —<br />
auf die wurde immer wieder hingewiesen, und deren<br />
Notwendigkeit stand eigentlich immer außer Zweifel<br />
— unser Grundgesetz in eine gesamtdeutsche Verfassung<br />
umzuwandeln und dazu auch die Abstimmung<br />
von Bürgerinnen und Bürgern des geeinten<br />
Deutschland vorzusehen.<br />
(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die<br />
schmeißt alles durcheinander!)<br />
Wer diesen Vorgang als „Aushebeln" bezeichnet,<br />
meine Damen und Herren, sollte solche Worte<br />
schnellstens zurücknehmen.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der SPD)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2585<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer<br />
Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Geis<br />
das Wort. Ich kündige gleich an: Weitere werde ich an<br />
dieser Stelle nicht zulassen.<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Däubler-Gmelin,<br />
ich gehe davon aus, daß Sie den Art. 146 immer noch<br />
nicht richtig durchgelesen haben.<br />
(Lachen bei der SPD)<br />
Wenn Sie ihn richtig durchgelesen hätten, würden Sie<br />
mit mir darin übereinstimmen, daß das Volk in Art 146<br />
natürlich aufgerufen ist, über die Verfassung insgesamt<br />
zu entscheiden. Sonst hätte er ja auch gar keinen<br />
Sinn. Wenn das Volk aufgerufen ist, über die Verfassung<br />
insgesamt zu entscheiden, muß eine Entscheidung<br />
gegen die Verfassung möglich sein. Sonst wäre<br />
dieser Aufruf nur eine reine Farce.<br />
Ich habe lediglich weithin bekannte verfassungsrechtliche<br />
Bedenken vorgetragen, Frau Däubler<br />
Gmelin. Sie haben vorhin im Eifer des Gefechtes offenbar<br />
nicht richtig zugehört. Die Bedenken bestehen<br />
darin, daß der Verfassungsgeber, der Parlamentarische<br />
Rat, die Möglichkeit der Selbstaufhebung der<br />
Verfassung nicht vorgesehen hat. Eine solche Möglichkeit<br />
muß aber der Verfassungsgeber selbst und<br />
nicht der Verfassungsgesetzgeber vorsehen, weil der<br />
Verfassungsgeber selbst die Verfassung gibt und er<br />
die Möglichkeit einräumen muß, ob über die Verfassung<br />
insgesamt entschieden wird, d. h. ob sie aufgehoben<br />
oder angenommen wird. Das ist Aufgabe des<br />
Verfassungsgebers. Es ist sehr wohl die Frage, ob sich<br />
nicht der Verfassungsgesetzgeber — ich bitte Sie, diesen<br />
Ausführungen zu folgen — ein Recht angemaßt<br />
hat, das nur dem Verfassungsgeber zusteht.<br />
Das sind verfassungsrechtliche Bedenken, die ich<br />
angemeldet habe und die es zu erwägen gilt. Ich bitte<br />
sehr darum, daß Sie über diese Frage einmal in aller<br />
Ruhe nachdenken.<br />
Danke schön.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat<br />
das Wort der Abgeordnete Dr. Ullmann.<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />
Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rechtsausschuß<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es hat empfohlen,<br />
den Gesetzentwurf der SPD, der von der Gruppe<br />
Bündnis 90/GRÜNE unterstützt wird, abzulehnen. Er<br />
hat das mit der Mehrheit der Koalitionsstimmen getan.<br />
Ich gehe davon aus, daß die Koalitionsmehrheit<br />
ihn auch hier ablehnen will. Darum werde ich -<br />
meine<br />
kostbare Zeit nicht verschwenden, tauben Ohren zu<br />
predigen. Aber, meine Damen und Herren von der<br />
Koalition, ich habe die Aufgabe, Sie auf die Konsequenzen<br />
aufmerksam zu machen, die diese Ablehnung<br />
nach sich zieht.<br />
Die Anhörung im Rechtsausschuß hat bewiesen:<br />
Dieser Gesetzesvorschlag ist verfassungsgemäß. Sie<br />
lehnen also eine verfassungsgemäße Möglichkeit demokratischer<br />
Willensbildung ab. Begründen Sie das!<br />
Was ich hier gehört habe, war keine Begründung. Ich<br />
denke, Sie belasten damit die Debatte, die im ganzen<br />
Volk bereits geführt wird.<br />
Es ist doch nicht so, daß nur wir hier darüber reden<br />
— wir reden ja am allerwenigsten — , im ganzen<br />
Lande wird darüber geredet, beim Evangelischen Kirchentag<br />
wird darüber geredet. Ich bin befremdet,<br />
Herr Geis, daß Sie es fertigbringen, in diesem Hause<br />
eine hervorragende Persönlichkeit des Kirchentages<br />
wie Bundesrichter a. D. Simon zu verleumden, daß er<br />
antiparlamentarische, und das heißt doch: antidemokratische<br />
Ziele verfolge.<br />
(Beifall bei der SPD — Norbert Geis [CDU/<br />
CSU]: Diese Verleumdung habe ich nicht ge<br />
macht!)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Dr.<br />
Ullmann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />
Dr. Mahlo zu beantworten?<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Bitte<br />
sehr.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr,<br />
Herr Dr. Mahlo.<br />
Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Kollege Ullmann,<br />
entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche.<br />
Darf ich Ihnen die Frage stellen: Würden Sie auch<br />
dafür sein, Fragen der Ausländerpolitik und des Asylrechts<br />
unter einen Volksentscheid zu stellen, und falls<br />
Sie da Bedenken hätten, wie auch ich sie hätte: Wie<br />
will man unterscheiden, für welche Fragen man das<br />
Volk für geeignet hält und für welche nicht?<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Semper idem!)<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Es ist<br />
Sache der Verfassungsorgane, solche Fragen in einer<br />
Weise zu formulieren, daß sie beantwortet werden<br />
können. Aber die Verfassungsorgane wie das Parlament<br />
haben auch Fragen anzunehmen, die das Volk<br />
stellt. Ich bin immer wieder befremdet, daß mit solchen<br />
Suggestivfragen unterstellt wird, das Volk verfolge<br />
immer böse Absichten, wenn es sich zu Wort<br />
melde.<br />
(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der<br />
CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun eine<br />
Zwischenfrage — wenn Sie sie beantworten wollen,<br />
Herr Dr. Ullmann — von Herrn Abgeordneten Geis.<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ja,<br />
bitte.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg:<br />
schön, Herr Abgeordneter.<br />
Bitte<br />
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Ullmann, würden<br />
Sie bitte zur Kenntnis nehmen,<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Schon<br />
wieder so arrogant!)<br />
daß ich den von der SPD benannten Wissenschaftler<br />
und ehemaligen Verfassungsrichter zitiert habe,<br />
(Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/<br />
GRÜNE]: Bundesrichter a. D. Simon!)
2586 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Norbert Geis<br />
der geredet hat vom Absolutismus des repräsentativen<br />
parlamentarischen Systems.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben<br />
ihn vorher falsch zitiert!)<br />
— Das ist genau das, was der vormalige Bundesrichter<br />
gesagt hat. Genau das habe ich zitiert.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Herr Geis,<br />
das trifft doch nicht zu!)<br />
Ich habe ihn damit nicht verleumdet. Stimmen Sie da<br />
mit mir überein?<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Sie<br />
haben ihn verleumdet mit Ihrer Interpretation;<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
denn Herr Simon hat den Absolutismus angegriffen,<br />
aber nicht die repräsentative Demokratie.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat den Abso<br />
lutismus des repräsentativen parlamentari<br />
schen Systems genannt!)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dann<br />
möchte ich den Dialog beenden, Herr Abgeordneter,<br />
und Sie können in Ihrer Rede fortfahren.<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ich<br />
komme zu meinem zweiten Punkt: Die Anhörung hat<br />
ergeben, daß der Appell an die verfassunggebende<br />
Gewalt, das Volk, den Souverän, in der Form, wie der<br />
SPD-Gesetzentwurf ihn vorsah, keine Präjudizierung<br />
enthält, meine Damen und Herren von der Koalition,<br />
wie man in der Verfassung das Verhältnis von Parlament<br />
und Plebiszit sieht. Trotzdem wird von Ihnen<br />
und einem Teil der deutschen Rechtsgelehrsamkeit<br />
immer nur darüber geredet, ob Plebiszit, Bürger- und<br />
Bürgerinnenbeteiligung, wünschbar sei. Die Frage ist<br />
aber, ob es notwendig ist und ob es hilft zur Lösung<br />
der Probleme, die wir vor uns haben. — Es ist nötig zur<br />
Lösung der Probleme der deutschen Vereinigung, und<br />
es ist nicht die Frage, ob bestimmte konservative Juristen<br />
das für wünschbar halten oder nicht.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
Ullmann, ich muß Sie noch einmal unterbrechen,<br />
weil eine weitere Bitte wegen einer Zwischenfrage<br />
vorliegt.<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ja.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
Krey.<br />
Franz Heinrich Krey (CDU/CSU): Herr -<br />
Kollege, Sie<br />
übersehen sicher mit mir nicht den zeitlichen Zusammenhang<br />
einer Sachfrage der deutschen Politik, nämlich<br />
ob Bonn oder Berlin Regierungssitz sein soll, mit<br />
dem Thema, das wir heute behandeln? Wir haben im<br />
Einigungsvertrag den Ort der Entscheidung festgemacht.<br />
Der Ort ist das Parlament und nicht das Volk.<br />
Das ist doch mit großer Mehrheit von uns allen so entschieden<br />
worden. Glauben Sie nicht, daß es auch viele<br />
gute Gründe für die Vermutung gibt, daß das Volk von<br />
uns erwartet, daß wir diese Frage hier in Wahrnehmung<br />
unserer Pflichten entscheiden und nicht vertrösten<br />
auf eine Veränderung in unserer Verfassung,<br />
über die ich im übrigen gerne mit Ihnen weiter diskutieren<br />
möchte?<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Detlev von Larcher [SPD]: Sehen Sie sich<br />
doch die Befragungen an!)<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Das<br />
Volk hat gewiß diese Hoffnung, aber ich nehme an, es<br />
wird mittlerweile Zweifel haben, ob wir dazu in der<br />
Lage sind.<br />
Was den Einigungsvertrag anbelangt, so verlangt<br />
der, das Parlament solle darüber befinden.<br />
(Johannes Gerster [CDU/CSU]: Eben, aber in<br />
der Sache befinden!)<br />
Wir sind ja gerade dabei. Ich versuche, Ihnen klarzumachen,<br />
daß Sie unsere Möglichkeiten, die uns hier<br />
von der Verfassung gegeben sind, einengen wollen.<br />
Dagegen geht meine Rede.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau<br />
Däubler-Gmelin möchte auch noch einmal das Wort.<br />
Aber ich möchte Sie herzlich bitten, keine weiteren<br />
Zwischenfragen mehr zu stellen. Sonst kommen wir<br />
heute wirklich in Zeitprobleme. Bitte, Frau Däubler-<br />
Gmelin.<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Danke schön, Kollege<br />
Ullmann.<br />
Ich habe mich zu einer Zwischenfrage gemeldet,<br />
weil ich es furchtbar gern hätte, daß Sie als ein Vertreter<br />
der Menschen in den neuen Ländern den Kollegen<br />
einfach noch einmal sagen, ob Sie es überhaupt<br />
für möglich gehalten hätten, daß eine solche Frage,<br />
die in der Protokollnotiz angesprochen wurde, gegen<br />
die Bevölkerung, gegen die Bürgerinnen und Bürger<br />
interpretiert und ausgelegt werden darf. Das ist meine<br />
Bitte.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sagen Sie doch<br />
nicht, daß das gegen die Bevölkerung ist!)<br />
— Die CDU sagt das offensichtlich anders.<br />
Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Die<br />
Frage ist natürlich zu verneinen, und zwar aus folgendem<br />
Grund, Herr Geis: Natürlich haben wir uns unter<br />
das Dach des Grundgesetzes gestellt. Ich habe, denke<br />
ich, sehr viel dazu beigetragen, daß das geschehen ist,<br />
aber eines Grundgesetzes, in dem auch der Art. 146<br />
steht, den Sie merkwürdigerweise für verfassungswidrig<br />
halten.<br />
Ich wundere mich, wenn ich Sie und auch die von<br />
Ihnen benannten Rechtsgelehrten höre, was Sie dem<br />
Volk unterstellen: Es ist aufgeregt, es ist zur Feindseligkeit<br />
geneigt,<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat doch kei<br />
ner gesagt!)<br />
es hat die schlechte Absicht, wahrscheinlich die Todesstrafe<br />
wieder einzuführen.<br />
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat keiner<br />
gesagt!)<br />
Welche Meinung haben Sie eigentlich von dem Volk,<br />
von dem laut unserer Verfassung die Staatsgewalt
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2587<br />
Dr. Wolfgang Ullmann<br />
ausgehen soll und nicht irgendwelche unvernünftigen<br />
Emotionen?<br />
Meine letzte Anmerkung: Sie tragen, meine Damen<br />
und Herren der Koalition, die Verantwortung dafür,<br />
daß wir die Chance, die Diskussion über Parlamentsund<br />
Regierungssitz in den Zusammenhang mit der<br />
Verfassungsreform zu stellen, zerstören. Ich mache<br />
Sie darauf aufmerksam: Sie haben im Einigungsprozeß<br />
schon sehr viele Chancen vertan. Wollen Sie noch<br />
eine vertane Chance auf Ihre Verantwortung nehmen?<br />
Ich rate Ihnen davon ab.<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun erteile<br />
ich dem Abgeordneten Dr. Heuer das Wort.<br />
Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Der <strong>Bundestag</strong> steht<br />
heute vor einer großen Stunde. Erstmals in seiner Geschichte<br />
steht ein verfassungsänderndes Gesetz, zum<br />
Volksentscheid zur Abstimmung. Das zwingt uns zu<br />
einer Demokratiedebatte.<br />
Ich höre schon jetzt wieder die Zurufe „ausgerechnet<br />
Sie!" Dazu eine Bemerkung: Die Partei- und<br />
Staatsführung der DDR vertrat eine Doktrin, wonach<br />
die Kenntnis der Gesetze der Geschichte es der Partei<br />
erlaube, die Interessen des Volkes zu vertreten, ohne<br />
das Volk selbst fragen zu müssen. Ich habe mich mit<br />
dieser Doktrin mehrfach auseinandergesetzt, 1974 in<br />
einem Buch, „Gesellschaftliche Gesetze und politische<br />
Organisation" , 1989 in einem Buch „Marxismus<br />
und Demokratie". Meine Meinung war damals und<br />
heute: Ohne Mitwirkung des Volkes können seine<br />
Interessen und Wünsche nicht ermittelt werden. Daraus<br />
leite ich das persönliche Recht ab, mich heute<br />
gegen diejenigen zu wenden, die die Mitwirkung des<br />
Volkes auf die Wahlen beschränken wollen.<br />
In der Anhörung des Rechtsausschusses zur Vorbereitung<br />
der heutigen Tagung erklärte mein verehrter<br />
Kollege, Herr Professor Lerche, zu der Position der<br />
repräsentativen Demokratie als eigentlicher Demokratie:<br />
Aus dieser Verantwortung sollte es keinen<br />
Fluchtweg geben, erst recht nicht in optischer<br />
Verbrämung. Zuflucht beim Volk suchen heißt<br />
flüchten.<br />
Ich verstehe nicht, wie ein Demokrat von Flucht sprechen<br />
kann, wenn eine wichtige und bedeutsame<br />
Frage dem Volk zur direkten Entscheidung vorgelegt<br />
wird.<br />
-<br />
Herr Geis hat hier gesagt: Wir, d. h. die Abgeordneten,<br />
haben die Möglichkeit und Zeit, uns den Sachverstand<br />
aneignen zu können, offenbar im Gegensatz<br />
zum Volk. Mich erinnert das an eine Formulierung aus<br />
den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, wo gesagt<br />
wurde, es zieme den Untertanen nicht, an die Handlung<br />
der Obrigkeit das Maß ihres beschränkten Verstandes<br />
anzulegen.<br />
Wohltuend gegenüber dem war die Erklärung von<br />
Rainer Barzel vom 24. April 1958, daß niemand von<br />
der CDU/CSU behauptet, daß es undemokratisch sei,<br />
eine Ausweitung des plebiszitären Charakters unse<br />
res Grundgesetzes zu fördern. Unser Volk ist Souverän,<br />
nicht Orakel und nicht Hampelmann, erklärte er<br />
damals.<br />
Die SPD hat jetzt den Entwurf einer Grundgesetzänderung<br />
eingebracht, die festlegt, daß der Sitz von<br />
Parlament und Regierung durch Volksentscheid festgelegt<br />
wird, sowie ein entsprechendes Gesetz. An der<br />
Zulässigkeit einer solchen Grundgesetzänderung besteht<br />
kein Zweifel. Bestritten wird dagegen ihre<br />
Zweckmäßigkeit.<br />
Als Argument dagegen wird immer wieder die Rolle<br />
von Volksbegehren und Volksentscheid in der Weimarer<br />
Republik gebraucht; hierzu hat schon die Abgeordnete<br />
Däubler-Gmelin überzeugend argumentiert.<br />
Die Weimarer Republik ist nicht an den acht<br />
Volksbegehren — mit zwei Volksentscheiden — zugrunde<br />
gegangen, sondern an ganz anderen, weitgehend<br />
jenseits des Verfassungsrechts liegenden Fragen<br />
wie dem Streben nach Revision des Versailler<br />
Vertrages, der Nutzung der Arbeitslosigkeit durch reaktionäre<br />
Kräfte, der Spaltung der Arbeiterbewegung,<br />
auch der Weigerung der KPD, diese Republik<br />
gegen den Faschismus zu verteidigen.<br />
Ich möchte noch auf einige ernsthafte Bedenken<br />
bezug nehmen: Es wird die Frage gestellt, ob es sich<br />
hier wirklich um eine derart wichtige Frage handelt.<br />
Tatsächlich ist bei vielen, meines Erachtens wichtigeren<br />
Fragen dieser Weg nicht gegangen worden. Ich<br />
erinnere an den Kampf gegen Aufrüstung in den 50er<br />
Jahren, an die Auseinandersetzungen um die Notstandsverfassung<br />
Ende der 60er Jahre und an die Herstellung<br />
der Einheit Deutschlands; die Bestätigung<br />
einer neuen Verfassung durch Volksentscheid steht<br />
noch zur Debatte.<br />
Bedenken gibt es auch gegen die Einleitung eines<br />
Volksentscheids von oben. Der Sachverständige Professor<br />
Preuß erklärte in der Anhörung, daß es als problematisch<br />
anzusehen sei, staatlichen Organen das<br />
Recht zur Initiative eines Volksentscheids einzuräumen.<br />
Es bestehe die Gefahr einer autoritären Manipulation<br />
zu Zwecken der plebiszitären Akklamation, womit<br />
der demokratische Charakter plesbizitärer Beteiligung<br />
verlorenginge.<br />
Tatsächlich muß sich die SPD fragen lassen, warum<br />
sie plötzlich ein solches Grundsatzproblem aufwirft,<br />
es dann aber nur für einen Fall beantwortet, das demokratietheoretische<br />
Grundproblem jedoch nicht<br />
gesetzgeberisch in Ang riff nimmt.<br />
Schließlich kann der dritte Einwand erhoben werden,<br />
daß der Volksentscheid einen mündigen Bürger<br />
voraussetzt, daß hier Fehlentscheidungen vorkommen<br />
können. Tatsächlich kann auch das Instrument<br />
der Volksgesetzgebung, wie es in Arbeiten des Gaismarer<br />
Kreises heißt, nur so gut sein wie seine Einbettung<br />
in andere Formen der Bürgerbeteiligung: Anhörungsrechte,<br />
Mitwirkungsrechte in Bet rieben, Schulen,<br />
Kommunen wie die Entwicklung der Zivilgesellschaft<br />
und der Öffentlichkeit überhaupt.<br />
Es wird schließlich der Einwand erhoben, daß es<br />
sich um einen unsystematischen Einstieg handele. Ich<br />
meine aber, daß alle Anfänge zunächst unsystematisch<br />
sind. Die Systematik wird erst später von der<br />
Wissenschaft hergestellt; die Politik muß beginnen.
2588 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Uwe-Jens Heuer<br />
Trotz der dargelegten Bedenken hinsichtich der<br />
Konsequenz des Vorgehens sind wir für diesen Einstieg<br />
in eine Periode der Verbindung von repräsentativer<br />
und unmittelbarer Demokratie.<br />
Meine Damen und Herren, 1918 führten Trotzki,<br />
Lenin und Kautsky eine Demokratiedebatte. In dieser<br />
Diskussion erklärte Karl Kautsky, daß, bevor das Volk<br />
die Macht ergreifen könne, es erst lernen müsse. Bevor<br />
man ein Pferd besteige, müsse man erst, wie er, in<br />
eine Reitschule gegangen sein. Trotzki antwortete<br />
ihm, daß man Reiten nur in dieser Tätigkeit selbst lernen<br />
könne.<br />
Meine 17 Damen und Herren von der CDU/CSU<br />
und der FDP, haben Sie den Mut, das Volk auf das<br />
Pferd zu setzen!<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat<br />
der Abgeordnete van Essen das Wort.<br />
Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Wir bestreiten es überhaupt nicht:<br />
Es können gewichtige Gründe für eine stärkere Mitbestimmung<br />
des Volkes bei politischen Entscheidungen<br />
ins Feld geführt werden. Die friedliche Revolution<br />
in der ehemaligen DDR hat ein hohes Maß an Besonnenheit<br />
und Vernunft der Bevölkerung gezeigt.<br />
Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Zeit reif für die Einführung<br />
eines Volksentscheides?<br />
Trotzdem hat die Mehrzahl der Sachverständigen,<br />
die der Rechtsausschuß in der vergangenen Woche<br />
gehört hat, massive, insbesondere verfassungspolitische<br />
Bedenken gegen den Entwurf der SPD vorgebracht<br />
und damit deutlich die ablehnende Haltung<br />
der FDP gestützt.<br />
Frau Däubler, wir haben diese Frage übrigens sehr<br />
sorgfältig und ausgiebig in der Fraktion diskutiert und<br />
unsere Position mit nur einer Gegenstimme und einer<br />
Enthaltung beschlossen.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />
van Essen, der Abgeordnete Schmude<br />
möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.<br />
Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident, im Hinblick<br />
auf Ihre Ausführungen zur Zeit möchte ich keine Zwischenfragen<br />
gestatten. Außerdem glaube ich, daß<br />
man auch mit Zwischenfragen aus einem Zwergpony<br />
keinen rassigen Araber machen kann.<br />
(Beifall bei der FDP — Detlev von - Larcher<br />
[SPD]: Meinen Sie sich selbst oder die Sa<br />
che?)<br />
Von den Sachverständigen ist zu Recht insbesondere<br />
darauf hingewiesen worden, daß nach dem<br />
Grundgesetz mit der parlamentarischen Macht<br />
gleichzeitig die Verantwortung übertragen wird, für<br />
andere zu entscheiden. Aus dieser Verantwortung<br />
darf es keinen Fluchtweg geben, besonders dann<br />
nicht, wenn dieser so offenkundig eine Verlegenheitslösung<br />
ist wie hier.<br />
Die SPD verbrämt dies in ihrer Begründung damit,<br />
daß die Frage des Regierungssitzes die Bürgerinnen<br />
und Bürger in außerordentlichem Maße bewegt. Bei<br />
der Bandbreite dessen, was bei unseren Wählern zu<br />
starken Emotionen führt, wirft diese alleinige und<br />
gleichzeitig dünne Begründung für eine so schwerwiegende<br />
Maßnahme wie eine Verfassungsergänzung<br />
die Frage auf, welchen Stellenwert die SPD dem<br />
unabängigen Parlament noch beimißt.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Sollen wir nur noch bei den das Volk nicht interessierenden<br />
Fragen der Entscheidungsträger sein? Gerade<br />
als neugewählter Abgeordneter lasse ich mir auch bei<br />
unangenehmen und schwierigen Fragen die Verantwortung<br />
nicht aus der Hand nehmen.<br />
(Zustimmung bei der FDP)<br />
Es kann und darf nicht nach Belieben auf das Volk<br />
zurückgegriffen werden.<br />
Eine zweite Überlegung macht die Fragwürdigkeit<br />
des vorliegenden Entwurfs noch deutlicher. Die<br />
grundlegende Entscheidung über den Beitritt der<br />
Länder der DDR zur Bundesrepublik, aber auch die<br />
Bestimmung Berlins zur Hauptstadt sind ohne Rückgriffe<br />
auf das Volk entschieden worden. Es bedeutet<br />
doch gerade keine Anerkennung des Volkes als<br />
Souverän, wenn es nun in einer demgegenüber nachrangigen<br />
Frage aus bloßer Entscheidungsschwäche<br />
der dazu eigentlich Berufenen gefragt wird.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
So verfassungspolitisch wünschenswert die Diskussion<br />
über eine stärkere Einbeziehung des Bürgers in<br />
politische Entscheidungen sein mag, wobei ich persönlich<br />
aus meiner Zurückhaltung in dieser Frage keinen<br />
Hehl mache, so schädlich ist ein Hauruckverfahren,<br />
wie es hier nun versucht wird. Gerade die sehr<br />
unterschiedlichen Erfahrungen in einigen Bundesländern<br />
und auch im Ausland zwingen zu sorgfältigen<br />
Überlegungen, wo und unter welchen Bedingungen<br />
stärkere pelbiszitäre Elemente erwünscht sein können.<br />
Dabei ist ein Punkt weitgehend unstrittig: Plebiszite<br />
helfen nicht bei der Entscheidung besonders<br />
komplexer Sachverhalte; sie behindern gerade in<br />
diesem Bereich notwendige und sachdienliche Kompromisse.<br />
Der SPD-Entwurf verschleiert dies nur, indem er<br />
ausschließlich die Frage der Lokalität des Parlamentsund<br />
Regierungssitzes zur Entscheidung stellt. Wichtige<br />
andere entscheidungsbedürftige Bereiche wie die<br />
Zeitachse bei einer Verlagerung nach Berlin und deren<br />
Kosten bleiben völlig offen. Ein Ende der Diskussion<br />
und eine konsensfördernde Wirkung des Volksentscheids<br />
sind damit gerade nicht zu erwarten.<br />
Völlig ungeklärt ist auch die Frage, in welcher Mindestbeteiligung<br />
von Stimmberechtigten das Plebiszit<br />
eine Wirkung entfalten soll. Die Frage ist auch deshalb<br />
sehr aktuell, weil bei der Bürgerschaftswahl in<br />
Hamburg die Gruppe der Nichtwähler bereits die<br />
stärkste Partei war.<br />
(Uwe Lambinus [SPD]: Warum wohl?)<br />
Gerade nach den Erfahrungen in Weimar sind auch<br />
hier sorgfältige Überlegungen vonnöten.<br />
Das Stichwort Kosten ist von mir in anderem Zusammenhang<br />
bereits genannt worden. Dabei drängt sich
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2589<br />
Jörg van Essen<br />
die Frage auch bei einem Volksentscheid selbst auf.<br />
Im Entwurf der SPD heißt es, diese seien noch näher<br />
zu bestimmen. Wer bezahlt eigentlich den zu erwartenden<br />
aufwendigen und langwierigen Wahlkampf,<br />
wer die Volksabstimmung selbst? Sicher werden sich<br />
finanzkräftige Interessengruppen auf beiden Seiten<br />
finden. Der größte Teil wird aber aus öffentlichen Kassen,<br />
etwa der beteiligten Städte, kommen und damit<br />
vom Steuerzahler zu tragen sein. Ich denke, wir haben<br />
bei der Situation, in der wir uns im Augenblick in diesem<br />
Land befinden, sicherlich viele Gründe, Geld besser<br />
einzusetzen als hier.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Der Auftrag aus der Protokollerklärung zum Einigungsvertrag<br />
ist eindeutig. Danach bleibt die Entscheidung<br />
über den Parlaments- und Regierungssitz<br />
den gesetzgebenden Körperschaften, also <strong>Bundestag</strong><br />
und Bundesrat, vorbehalten. Trotz unübersehbarer<br />
Kosten und der vielen aufgezeigten Nachteile will die<br />
SPD aus ihrer parlamentarischen Verantwortung fliehen.<br />
(Lachen bei der SPD)<br />
Mit uns, der FDP, ist das nicht zu machen.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />
hat der Abgeordnete Gerster.<br />
Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir<br />
diskutieren heute im Vorfeld der großen Debatte morgen<br />
im wesentlichen Verfahrensfragen. Das ist so etwas<br />
wie eine Generalprobe. Ich hoffe, daß das alte<br />
Prinzip gilt, daß einer schlechten Generalprobe eine<br />
gute Aufführung folgt.<br />
Ich finde, Frau Kollegin Däubler-Gmelin — und Sie<br />
als erste Rednerin sind für die Schärfe verantwortlich,<br />
die hier in die Debatte hineingekommen ist —,<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Danke für<br />
die Blumen, Herr Kollege! — Weitere Zurufe<br />
von der SPD)<br />
wir sollten diese Grundsatzfragen mit etwas mehr Gelassenheit<br />
und damit auch Ernst diskutieren. Es hat<br />
mir nicht gefallen, wie Sie das hier gemacht haben.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mir gefällt<br />
auch nicht, was Sie machen! Sie schreien<br />
immer bloß dazwischen, auch jetzt sind Sie<br />
schon wieder dabei!) -<br />
— Nein, ich schreie überhaupt nicht, ich sage das in<br />
aller Ruhe. Was nützt es, pausenlos zu sagen, Sie hätten<br />
recht und die anderen unrecht.<br />
Ich will zu zwei Punkten etwas sagen: erstens zur<br />
Grundfrage, zu den Volksentscheiden, und zweitens<br />
zu dem konkreten, aktuellen Anlaß.<br />
Die repräsentative Demokratie verbindet politische<br />
Führung mit demokratischer Verantwortung. Mit anderen<br />
Worten: Es gibt grundsätzliche Erwägungen,<br />
die gegen Volksentscheide sprechen. Das ist keine<br />
aktuelle und modische Feststellung. Diese Feststellung<br />
begleitet unser Grundgesetz von der ersten<br />
Stunde des Entstehens über den Parlamentarischen<br />
Rat bis heute. Es waren doch die Väter des Grundgesetzes,<br />
die aus verantwortungsvollen, grundsätzlichen<br />
Erwägungen und aus einem klaren Ja zur Demokratie<br />
Volksentscheide — mit Ausnahme der Länderneugliederung<br />
— abgelehnt haben.<br />
Ich will das in drei Punkten noch einmal kurz nennen:<br />
Gerade bei Angelegenheiten, die der <strong>Bundestag</strong><br />
zu entscheiden hat, liegen den Entscheidungen oft<br />
sehr schwierige und differenzierte Abwägungsprozesse<br />
zugrunde. Die Fragen, die man per Volksentscheid<br />
zur Entscheidung stellen kann, müssen vernünftigerweise<br />
überschaubar und für den Bürger be<br />
urteilbar sein.<br />
(Uwe Lambinus [SPD]: Sehr wahr!)<br />
Und wenn hier Fragen an die Entscheidungsmöglichkeit<br />
des Bürgers gestellt werden, dann doch nicht deshalb,<br />
weil man dem Bürger nicht etwa zutrauen<br />
würde, er werde die einzelnen Fragen nicht verstehen<br />
können, sondern deshalb, weil es Realität ist, daß wir<br />
Politiker uns bedeutend mehr mit politischen Tagesfragen<br />
auseinandersetzen als der Normalbürger, der<br />
— aus welchen Gründen auch immer — vielleicht ein<br />
bißchen öfter an den Fußball, den Sport überhaupt, an<br />
musische Themen, vielleicht auch an Literatur denkt,<br />
als Politiker das tun, die sich den ganzen Tag mit politischen<br />
Sachfragen auseinandersetzen.<br />
(Franz Heinrich Krey [CDU/CSU]: Leider ist<br />
das so!)<br />
Sie können sicher sein — das ist kein schlechtes Zeugnis<br />
für die Bevölkerung — , daß es immer viele Bürger<br />
geben wird, die eine gewisse Grundinformation über<br />
Politik wollen, die aber — aus welchen Gründen auch<br />
immer — nicht in sehr komplizierte Einzelfragen einsteigen<br />
wollen, sondern — im Gegenteil — diese Fragen<br />
gerade beim Parlament abgeben und das Parlament<br />
für sich entscheiden lassen wollen.<br />
Weil das so ist, kann man Politik eben nicht nach<br />
dem einfachen Ja/Nein-Schema gestalten, das Volksentscheiden<br />
naturgemäß zugrunde liegt, sondern es<br />
müssen ganz komplizierte Abwägungsprozesse erfolgen.<br />
Das wollte der Kollege Geis hier vortragen, als er<br />
sagte, daß er Zweifel habe, daß man die Palette der<br />
politischen Fragen Volksentscheiden unterlegen<br />
kann.<br />
Ein zweiter Punkt: Außerhalb überschaubarer Verhältnisse<br />
begründen plebiszitäre Komponenten die<br />
Gefahr unangemessener Emotionalisierung. Der Demagogie<br />
würden Tür und Tor geöffnet; die Folgen<br />
wären Unberechenbarkeit und Unsicherheit. Das<br />
heißt: Es ist völlig unerträglich, wenn man den selbsternannten<br />
Demagogen, die an der Ecke stehen, die<br />
nicht einmal durch Nichtwahl bestraft werden können,<br />
sondern die verschwunden sind, wenn die Entscheidung<br />
gefallen ist, die Emotionalisierung überläßt.<br />
Dann wird weniger Sachlichkeit, weniger Verläßlichkeit<br />
herzustellen sein. Und das würde letzten<br />
Endes auch der Demokratie schaden.<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Würden<br />
Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Heuer<br />
beantworten, Herr Abgeordneter Gerster?
2590 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode - <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Dem Kollegen<br />
von der PDS gestatte ich keine Zwischenfrage.<br />
Mein lieber Herr Heuer, Sie sind ja fast doppeltes<br />
Ehrenmitglied der SED, seit 1948 Mitglied dieser Partei.<br />
Daß Sie sich zum Fürsprecher von mehr Demokratie<br />
machen, heißt den Bock zum Gärtner machen. Darf<br />
ich daran erinnern, daß es gerade zwei Jahre her ist,<br />
daß Sie ein System unterstützt haben, das freie<br />
Wahlen gar nicht zugelassen und unfreie Wahlen sogar<br />
noch manipuliert hat, nämlich die Kommunalwahl<br />
1989.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Sie antworten auf<br />
eine nicht zugelassene Zwischenfrage!)<br />
Wenn Sie sich hier hinstellen und für Demokratie reden,<br />
sollte sich die SPD sehr genau überlegen, in welcher<br />
Gesellschaft sie sich mit ihrem Ansinnen bewegt.<br />
Ich rate Ihnen, hier lieber den Mund zu halten. Sie<br />
sind kein Fürsprecher für mehr Demokratie.<br />
(Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]<br />
begibt sich zum amtierenden Präsidenten)<br />
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Es ist das<br />
Recht des Abgeordneten, Herr Dr. Heuer, eine Zwischenfrage<br />
nicht zuzulassen.<br />
Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Dritte Bemerkung,<br />
meine Damen, meine Herren: Träte eine<br />
Entscheidung durch den Volkssouverän als Möglichkeit<br />
der politischen Sachentscheidung parallel neben<br />
die parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen, so<br />
würden wir die Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft<br />
des Parlaments zwangsläufig<br />
beschädigen. Nicht zuletzt wäre es für die gewählte<br />
parlamentarische Mehrheit dann kaum noch möglich,<br />
eine in sich logisch zusammenhängende Gesamtpolitik<br />
zu verfolgen.<br />
Es ist doch die Wahrheit — hierzu hat Frau Däubler<br />
Gmelin in ihrer Intervention meines Erachtens die<br />
Entwicklung der Weimarer Republik zumindest, um<br />
es vorsichtig auszudrücken, nicht zutreffend dargestellt<br />
— , daß gerade die Erfahrungen mit Volksentscheiden,<br />
mit Volksbegehren, die in der Weimarer<br />
Republik so negativ waren, die Verfassungsväter,<br />
auch die von der SPD, veranlaßt haben, Volksbegehren<br />
und Volksentscheide auf die Länderneugliederung<br />
zu beschränken und ansonsten auszuschließen.<br />
Das ist die historische Wahrheit. Ein Nachlesen etwa<br />
der Motive unseres Grundgesetzes macht sie deutlich.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />
-<br />
falsch!)<br />
( V o r s i t z : Vizepräsident Hans Klein)<br />
Deswegen gibt es, sagen wir von der CDU/CSU,<br />
gewichtige Gründe, aus denen wir gegen Volksbegehren<br />
und Volksentscheide über den Verfassungsrahmen<br />
hinaus eintreten.<br />
Es dekuvriert das Vorgehen der SPD, daß es ihr,<br />
wenn sie jetzt dieses Thema erörtert, letzten Endes<br />
weniger um die Frage Bonn oder Berlin geht, sondern<br />
nur um einen Einstieg in Volksentscheide allgemein<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Auch ei<br />
nen Einstieg! Nicht nur einen Einstieg!)<br />
soweit sie so argumentiert, wie es hier geschehen<br />
ist.<br />
Ich halte den Vorschlag der SPD nicht nur für kurios,<br />
sondern auch für wenig glaubwürdig, Frau Däubler-Gmelin.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Natürlich! Wie<br />
können Sie auch etwas anderes sagen?)<br />
— Ich werde Ihnen das gleich begründen — . Frau<br />
Däubler-Gmelin hat vorgetragen, der <strong>Bundestag</strong> und<br />
der Bundesrat sollten in dieser Woche entscheiden,<br />
und dann solle ein Volksentscheid kommen.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Richtig!)<br />
Aber nach der Verfassung ist diese Entscheidung bindend.<br />
Sie wollen, daß diese Entscheidung zunächst<br />
nach der Verfassung bindend getroffen wird. Doch<br />
dann soll sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr<br />
bindend sein, und das Volk soll letzten Endes entscheiden.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist Gerster<br />
Logik! — Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]:<br />
Er dreht sich im Kreis! Er hat nichts verstan<br />
den!)<br />
Es kann doch nicht wahr sein, daß Sie dies mit der<br />
Verfassung machen wollen. Das ist doch nicht richtig.<br />
Es ist auch nicht glaubwürdig, Frau Kollegin, was<br />
Sie betreiben.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Das kann er nicht<br />
verstehen!)<br />
Ich muß Sie daran erinnern, daß es bei dem epochalen<br />
Ereignis der Vereingiung Deutschlands — als es darum<br />
ging, ob wir den Bürgern der neuen Bundesländer<br />
sofort die Möglichkeit der unmittelbaren Wahl<br />
und Mitentscheidung geben, was ein gesamtdeutsches<br />
Parlament angeht — just die SPD war, die eine<br />
Grundgesetzänderung, um vorgezogene Wahlen herbeiführen<br />
zu können, ablehnte.<br />
Das heißt, wenn Sie jetzt einen Volksentscheid wegen<br />
der Entscheidung zwischen Bonn und Berlin wollen,<br />
dann ist das in zweifacher Weise im Widerspruch<br />
zu ihrem bisherigen Verhalten.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Nein!)<br />
Es ist widersprüchlich, weil Sie im vorigen Jahr dem<br />
Einigungsvertrag zugestimmt haben, in dem festgelegt<br />
ist, daß das gesamtdeutsche Parlament die Entscheidung<br />
über den Sitz der Regierung und des Parlaments<br />
zu treffen hat. Es ist zudem unglaubwürdig,<br />
weil Sie im vorigen Jahr den Bürgern der neuen Bundesländer<br />
einschließlich Opposition<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Sie müssen ge<br />
rade von Glaubwürdigkeit reden!)<br />
die Möglichkeit genommen haben, mit dem Beitritt<br />
sofort ein gesamtdeutsches Parlament gemeinsam mit<br />
uns zu wählen. Hier haben Sie eine Grundgesetzergänzung<br />
abgelehnt.<br />
Mit anderen Worten: Wenn Sie heute oder vor<br />
14 Tagen nach Ihrem Parteitag plötzlich das Grundgesetz<br />
ändern wollen,<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Nicht plötzlich!)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2591<br />
Johannes Gerster (Mainz)<br />
um einen Volksentscheid über den Regierungssitz<br />
herbeizuführen, müssen Sie sich entgegenhalten lassen,<br />
daß Sie bei viel wichtigeren Entscheidungen<br />
nicht bereit waren, das Grundgesetz zu ändern, um<br />
einen Volksentscheid herbeizuführen,<br />
(Widerspruch bei der SPD)<br />
und müssen Sie sich entgegenhalten lassen, daß es<br />
letzten Endes<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist an<br />
den Haaren herbeigezogen!)<br />
bei Ihnen um die Frage geht: Wie kann ich mich der<br />
morgigen Entscheidung des Parlamentes für oder gegen<br />
Bonn entziehen?<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />
falsch! — Detlev von Larcher [SPD]: Sie wis<br />
sen, daß das Quatsch ist!)<br />
Das nennen wir die Flucht aus der Verantwortung.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —<br />
Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben<br />
doch die Schwierigkeit in der Sache, nicht<br />
wir! Die CDU ist doch in dieser Frage zutiefst<br />
zerstritten, nicht wir!)<br />
Wenn Sie einen Volksentscheid über diese Frage<br />
wirklich immer gewollt haben, hätten Sie früher kommen<br />
müssen. Wenn Sie glauben, die Bürger zu begeistern,<br />
indem Sie jetzt, nachdem alle Argumente für<br />
und wider in endlosen <strong>Sitzung</strong>en und Besprechungen<br />
ausgetauscht sind, fünf vor zwölf aus der Entscheidung<br />
des Parlaments, dem Sie selber das zugewiesen<br />
haben, aussteigen,<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie wollen<br />
doch vertagen!)<br />
dann sage ich Ihnen einfach: Sie täuschen sich. Die<br />
Bürger wollen eine Entscheidung.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Die Bür<br />
ger wollen selber entscheiden!)<br />
Die Bürger wollen, daß die Politiker ihre Tätigkeit in<br />
diesem ersten gesamtdeutschen Parlament nicht jahrelang<br />
dieser Frage zuwenden,<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Sie wissen ja, was<br />
die Bürger wollen!)<br />
sondern daß sie erheblich wichtigere Fragen lösen,<br />
die — das sei zugegeben — in den letzten Wochen im<br />
Parlament wegen der Entscheidung zwischen Bonn<br />
und Berlin zu kurz gekommen sind.<br />
Mit anderen Worten: Wir sind gut beraten, wenn wir<br />
das, was sich regional zum Teil emotionalisiert, -<br />
was<br />
natürlich Kreise über die regionalen Interessen hinaus<br />
schlägt, möglichst zügig entscheiden. Wir sollten sehen,<br />
daß dies eine wichtige Entscheidung ist, daß aber<br />
bedeutend wichtigere Entscheidungen durch dieses<br />
Parlament vorzubereiten, durchzuführen, zu diskutieren<br />
und letzten Endes auch endgültig zu treffen<br />
sind.<br />
Wir lehnen deshalb dieses Begehren ab. Ich sage<br />
noch einmal: Die Grundentscheidung über Volksentscheide<br />
hat nichts mit der Frage zu tun, was man den<br />
Bürgern letzten Endes zutraut, sondern hat damit zu<br />
tun, welcher Art von Demokratie man die größere Sta<br />
bilität und die bessere Wirkungskraft sowie die bessere<br />
Dienstleistung für den Bürger zutraut. Dazu war<br />
die Meinung der verfassungsgebenden Versammlung<br />
bei der Beratung unseres Grundgesetzes, daß die repräsentative<br />
Form der Demokratie der bessere Weg<br />
ist — ich unterstreiche diese Meinung —; sie hat sich<br />
auch mehr als 40 Jahre bewährt. Gerade die Bürger in<br />
den neuen Bundesländern haben natürlich auch demonstriert,<br />
um zu dieser Verfassung zu kommen, die<br />
für sie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit<br />
garantiert hat.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Das bestreitet<br />
keiner! — Norbert Geis [CDU/CSU]: Sehr<br />
richtig!)<br />
Der zweite Punkt ist: Wir sind der Meinung, daß wir<br />
uns der Verantwortung nicht entziehen sollten, so wie<br />
wir in Vertretung des Volkes und für das Volk gewählt<br />
worden sind, und zügig entscheiden sollten, damit<br />
endlich Planungen stattfinden können.<br />
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Lar<br />
cher [SPD]: Sie weigern sich, dazuzuler<br />
nen!)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile zu einer Erklärung<br />
nach § 30 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten<br />
Heuer das Wort.<br />
(Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Das habe ich<br />
kommen sehen!)<br />
Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Herr Gerster hat<br />
erklärt, er sei nicht bereit, mir zu antworten, weil ich es<br />
sei, weil ich aus der SED komme, und weil die SED die<br />
Kommunalwahlen gefälscht habe und weil ich seit<br />
1948 in der SED gewesen sei.<br />
Mit meiner Geschichte könnte Herr Gerster sich<br />
befassen. Er könnte die beiden Bücher lesen, die ich<br />
hier genannt habe. Dann wäre ich gern bereit, mich<br />
mit ihm darüber, über mein und sein Demokratieverständnis<br />
zu unterhalten. Dabei könnten interessante<br />
Ergebnisse herauskommen.<br />
Er hat mir weiterhin gesagt, ich sollte in diesem<br />
Kreise nicht das Wort ergreifen. Ich bin in Sachsen für<br />
den <strong>Bundestag</strong> gewählt worden, um hier die Interessen<br />
meiner Wähler zu vertreten.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo waren Sie<br />
denn beim Volksentscheid am 17. Juni<br />
1953?)<br />
Ich kann mir nicht von Ihnen den Mund verbieten lassen.<br />
Ich glaube, daß das nicht möglich ist. Ich muß das<br />
tun; ich bin dafür gewählt worden, und ich nehme<br />
dieses Recht für mich in Anspruch.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gemlin [SPD]: Sie haben<br />
völlig recht!)<br />
Noch eine Bemerkung: Vor einer Woche ist hier von<br />
einem Abgeordneten der CDU erklärt worden, man<br />
solle hier miteinander hart in der Form, aber vernünftig<br />
in der Sache umgehen; auf lateinisch: fortiter in re,<br />
suaviter in modo.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Das kann Herr<br />
Gerster nicht!)
2592 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Uwe-Jens Heuer<br />
Dann wurde ergänzt, das gelte aber nicht für die PDS.<br />
Ich meine, daß das keine Form des Umgangs miteinander<br />
ist. Ich meine, daß sich politische Kultur dann<br />
zeigt, wenn man Sieger ist, und daß ein Sieger seine<br />
politische Kultur beweisen sollte. Ich meine, daß die<br />
CDU/CSU da einiges zu lernen hat.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />
Abgeordneten der SPD)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Herren,<br />
ich gebe jetzt das Wort für eine Kurzintervention<br />
dem Abgeordneten Gerster. Ich weise allerdings darauf<br />
hin, daß Herr Dr. Heuer noch einmal die Möglichkeit<br />
hat, darauf zu antworten. So sieht es unsere Geschäftsordnung<br />
vor. Ich möchte nur sagen: Wie immer<br />
es verläuft — damit wollen wir es dann aber bewenden<br />
lassen, sonst wird es eine Dialogveranstaltung.<br />
Herr Kollege Gerster, Sie haben das Wort.<br />
Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Präsident,<br />
Herr Heuer hat behauptet, ich hätte mich geweigert,<br />
ihm eine Antwort zu geben. Das ist unzutreffend.<br />
Ich habe mich geweigert, ihm innerhalb meiner Rede<br />
eine Zwischenfrage zu gestatten.<br />
Zweiter Punkt. Er hat praktisch behauptet, ich<br />
wollte ihm das Wort verbieten. Das ist ebenfalls unzutreffend.<br />
Ich habe lediglich ausgeführt, daß Sie, Herr<br />
Heuer, einer der schlechtesten Fürsprecher dieses<br />
Hauses in Sachen Demokratie sind, der Sie über<br />
40 Jahre für ein undemokratisches System, das Menschen<br />
und Menschenrechte mit Füßen getreten hat,<br />
Verantwortung tragen.<br />
Ich bedanke mich.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Lar<br />
cher [SPD]: Was ist mit euren Blockflöten?)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort nach § 31 unserer<br />
Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Lüder.<br />
Wolfgang Lüder (FDP): Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Nachdem in der Debatte einerseits<br />
zum Teil generell Argumente über die Frage der<br />
Wünschbarkeit von Volksentscheiden und andererseits<br />
die konkrete Frage Volksentscheid über die<br />
Frage Berlin oder Bonn miteinander vermengt worden<br />
sind, erkläre ich, daß mein Nein zu den Anträgen der<br />
SPD in der heutigen namentlichen Abstimmung ausschließlich<br />
damit begründet ist, daß ich gegen ein vorgezogenes,<br />
punktuelles, den Parlamentsbeschluß umgehendes<br />
Gesetzesverfahren bin, daß ich mir aber die<br />
Abstimmung zu Volksentscheiden und - insbesondere<br />
zu Volksbegehren im Rahmen der Verfassungsreform,<br />
die wir in dieser Legislaturperiode noch vorhaben,<br />
offenhalte.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aussprache.<br />
Wie bereits vor der Aussprache mitgeteilt, soll die<br />
Abstimmung nach der <strong>Sitzung</strong>sunterbrechung, die<br />
sich an die Fragestunde und an die Aktuelle Stunde<br />
anschließen wird, um 18 Uhr stattfinden. Sind Sie damit<br />
einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch.<br />
Dann können wir so verfahren.<br />
Ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7<br />
auf:<br />
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses<br />
nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />
(Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Förderung<br />
von Investitionen und Schaffung von<br />
Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung<br />
steuerrechtlicher und anderer Vorschriften<br />
(Steueränderungsgesetz 1991<br />
— StÄndG 1991)<br />
—Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459, 12/562,<br />
12/698, 12/768 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordneter Dr. Peter Struck<br />
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses<br />
nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />
(Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über<br />
Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen<br />
Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen<br />
in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages<br />
genannten Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz<br />
1991 — HBeglG 1991)<br />
—Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461, 12/581,<br />
12/697, 12/769 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordneter Dr. Peter Struck<br />
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?<br />
— Herr Kollege Struck.<br />
Dr. Peter Struck (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />
Der Vermittlungsausschuß hat über die in Rede stehenden<br />
Gesetze 15 bis 16 Stunden getagt. Ich verspreche<br />
Ihnen aber, daß meine Redezeit etwas kürzer<br />
sein wird als die Tagungsdauer.<br />
Ich möchte zunächst den Mitgliedern der Verhandlungsdelegation<br />
auf seiten der Regierungskoalition<br />
und der von der CDU regierten Länder meinen Dank<br />
über das Ergebnis dieser Verhandlungen aussprechen,<br />
die heute dem <strong>Bundestag</strong> und morgen dem Bundesrat<br />
zur Entscheidung vorliegen werden. Ganz persönlich<br />
möchte ich mich bei Ihnen, Herr Kollege<br />
Blens, Herr Staatssekretär Grünewald und auch Herr<br />
Kollege Gattermann, für die sehr faire Art und Weise<br />
der Zusammenarbeit bedanken.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Ich glaube, dieses Kompliment können Sie sicherlich<br />
auch uns machen, weil wir alle von dem Bestreben<br />
geleitet waren, in dieser komplizierten Materie doch<br />
zu einer Einigung zu kommen.<br />
(Hans H. Gattermann [FDP]: Wird ausdrück<br />
lich bestätigt!)<br />
Ich habe den Auftrag, dem <strong>Bundestag</strong> über die Beschlußempfehlung<br />
des Vermittlungsausschusses kurz<br />
Bericht zu erstatten. Ich möchte mich jetzt nicht über<br />
einzelne Vorschriften mit Ihnen auslassen, sondern<br />
möchte nur die wesentlichen Punkte nennen: Ich<br />
stelle für den Vermittlungsausschuß fest, daß der Vermittlungsausschuß<br />
Änderungsvorschläge gemacht<br />
hat zum Haushaltsbegleitgesetz und zum Steuerän-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2593<br />
Dr. Peter Struck<br />
derungsgesetz. Der Vermittlungsausschuß hat keine<br />
Vorschläge, die heute etwa zur Abstimmung anstehen,<br />
zum sogenannten Solidaritätsgesetz gemacht.<br />
Das ist nicht unsere Angelegenheit, sondern das wird<br />
möglicherweise morgen im Bundesrat noch einmal<br />
angesprochen werden.<br />
Für uns im Vermittlungsausschuß war wichtig, daß<br />
wir uns alle von dem Bestreben leiten ließen, die notwendigen<br />
finanziellen Voraussetzungen für den Aufbau<br />
in den neuen deutschen Ländern ab 1. Juli dieses<br />
Jahres zu schaffen. Dies bedeutete auch, daß alle bemüht<br />
waren, zu einem Konsens zu kommen. Dieser<br />
Konsens bezieht sich sowohl auf das Thema Gewerbekapital-<br />
und Vermögensteuer, bei dem festgestellt<br />
worden ist, daß grundsätzlich beide Gesetze eine volle<br />
Anwendung finden, die Steuer wegen der bestehenden<br />
Verwaltungsschwierigkeiten in den neuen Ländern<br />
jedoch für zwei Jahre nicht erhoben und auch<br />
nicht nacherhoben wird.<br />
Wir haben dann auch das Anrufungsbegehren des<br />
Bundesrates, was eine bessere Finanzierung im Rahmen<br />
des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes<br />
angeht, aufgegriffen. Der Vermittlungsausschuß hat<br />
auch die Vermittlungsbegehren zum Zinsanpassungsgesetz<br />
und zur steuerlichen Behandlung von<br />
Handelsschiffen aufgegriffen.<br />
Von besonderer Bedeutung war auch, daß wir uns<br />
im Vermittlungsausschuß auf eine Änderung bei der<br />
Investitionszulage im Fördergebiet einigen konnten,<br />
die für einen Zeitraum von einem weiteren halben<br />
Jahr bessere Bedingungen für Investitionen in den<br />
neuen deutschen Ländern festschreibt.<br />
Im übrigen sind die Anrufungsbegehren erledigt.<br />
Der Vermittlungsausschuß hat sich auch mit einer<br />
Reihe von Fragen im Zusammenhang mit dem Bund-<br />
Länder-Finanzausgleich befaßt, die nicht unmittelbar<br />
Gegenstand des Anrufungsbegehrens waren und zu<br />
den Gesetzespaketen gehören. Er hat in diesem Zusammenhang<br />
auch das Thema, welche Möglichkeiten<br />
es gibt, für vom Truppenabbau besonders betroffene<br />
Länder eventuell zusätzliche Hilfen über ein Sonderprogramm<br />
zu leisten, in, wie ich finde, angemessener<br />
Weise aufgegriffen.<br />
Ich empfehle daher als Berichterstatter dem Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>, diesem Ergebnis des Vermittlungsausschusses,<br />
das einstimmig so beschlossen worden<br />
ist, zuzustimmen.<br />
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Wir kommen jetzt zur<br />
Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß<br />
§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,<br />
daß über die Änderungen im Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />
jeweils gemeinsam abzustimmen ist.<br />
Wir stimmen zunächst über die Beschlußempfehlung<br />
des Vermittlungsausschusses auf Drucksache<br />
12/768, Steueränderungsgesetz 1991, ab. Ich bitte diejenigen,<br />
die der Beschlußempfehlung zuzustimmen<br />
wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! —<br />
Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung des<br />
Vermittlungsausschusses ist angenommen.<br />
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des<br />
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/769,<br />
Haushaltsbegleitgesetz 1991, ab. Wer stimmt für diese<br />
Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen?<br />
— Auch diese Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses<br />
ist angenommen.<br />
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:<br />
Beratungen ohne Aussprache<br />
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des<br />
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs<br />
eines Gesetzes zu der Dritten Änderung<br />
des Übereinkommens über den Internationalen<br />
Währungsfonds<br />
— Drucksache 12/336 —<br />
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses<br />
(7. Ausschuß)<br />
— Drucksache 12/791 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek<br />
Gunnar Uldall<br />
(Erste Beratung 21. <strong>Sitzung</strong>)<br />
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />
des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß)<br />
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />
Mitteilung über eine Eisenbahnpolitik der Gemeinschaft:<br />
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur<br />
Entwicklung der Eisenbahnunternehmen in<br />
der Gemeinschaft<br />
Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates<br />
zur Änderung der Verordnung (EWG)<br />
Nr. 1191/69 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten<br />
bei mit dem Begriff des öffentlichen<br />
Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf<br />
dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs<br />
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates<br />
über die Schaffung eines Hochgeschwindigkeitsnetzes<br />
für Eisenbahnen<br />
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur<br />
Änderung der Richtlinie 75/130/EWG über die<br />
Festlegung gemeinsamer Regeln für bestimmte<br />
Beförderungen im kombinierten Güterverkehr<br />
zwischen Mitgliedstaaten<br />
— Drucksachen 12/210 Nr. 162, 12/701 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordneter Dr. Dietmar Matterne<br />
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />
des Ausschusses für Forschung, Technologie<br />
und Technikfolgenabschätzung (20. Ausschuß)<br />
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates<br />
über ein spezifisches Programm für Forschung<br />
und technologische Entwicklung im Bereich
2594 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
der nuklearen Sicherheit bei der Kernspaltung<br />
(1990 bis 1994)<br />
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur<br />
Annahme eines spezifischen Programms für<br />
Forschung und technologische Entwicklung<br />
auf dem Gebiet der kontrollierten Kernfusion<br />
(1990 bis 1994)<br />
Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur<br />
Billigung der Änderung der Satzung des gemeinsamen<br />
Unternehmens Joint European Torus<br />
(JET), Joint Undertaking<br />
— Drucksachen 12/210 Nr. 176, 12/152 Nr. 61,<br />
12/702 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordnete Christian Lenzer<br />
Wolf-Michael Catenhusen<br />
Jürgen Timm<br />
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />
des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)<br />
zu der Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Fünfzehnte Verordnung zur Änderung<br />
der Außenwirtschaftsverordnung<br />
— Drucksachen 12/333, 12/760 —<br />
Berichterstatterin:<br />
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk<br />
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />
des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)<br />
zu der Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Vierundsiebzigste Verordnung<br />
zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL<br />
zur Außenwirtschaftsverordnung —<br />
— Drucksachen 12/334, 12/761 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordneter Peter Kittelmann<br />
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />
des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)<br />
zu der Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Fünfundsiebzigste Verordnung<br />
zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL<br />
zur Außenwirtschaftsverordnung —<br />
— Drucksachen 12/482, 12/762 —<br />
Berichterstatter:<br />
Abgeordneter Peter Kittelmann<br />
g) Verordnung der Bundesregierung<br />
Aufhebbare Vierzehnte Verordnung zur Änderung<br />
der Außenwirtschaftsverordnung<br />
— Drucksache 12/268 —<br />
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses<br />
(2. Ausschuß)<br />
Sammelübersicht 18 zu Petitionen<br />
— Drucksache 12/684 —<br />
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses<br />
(2. Ausschuß)<br />
Sammelübersicht 20 zu Petitionen<br />
— Drucksache 12/747 —<br />
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses<br />
(2. Ausschuß)<br />
Sammelübersicht 21 zu Petitionen<br />
— Drucksache 12/748 —<br />
Tagesordnungspunkt 6 a: Wir kommen zur Abstimmung<br />
über den von der Bundesregierung eingebrachten<br />
Entwurf eines Gesetzes zu der Dritten Änderung<br />
des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds.<br />
Der Finanzausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf<br />
unverändert anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf<br />
— Drucksachen 12/336 und 12/791 — mit<br />
seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift, zuzustimmen<br />
wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. —<br />
Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf<br />
ist angenommen.<br />
Tagesordnungspunkt 6b: Beratung der Beschlußempfehlung<br />
und des Berichts des Ausschusses für<br />
Verkehr auf Drucksache 12/701 zu mehreren verkehrspolitischen<br />
EG-Vorhaben. Der Ausschuß für<br />
Verkehr empfiehlt die Annahme einer Entschließung.<br />
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer<br />
stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung<br />
ist angenommen.<br />
Tagesordnungspunkt 6 c: Beschlußempfehlung des<br />
Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung<br />
auf Drucksache 12/702 zu<br />
mehreren forschungspolitischen EG-Vorhaben. Ich<br />
bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung zuzustimmen<br />
wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe!<br />
— Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung<br />
ist angenommen.<br />
Tagesordnungspunkt 6 d bis f: Beratung von Beschlußempfehlungen<br />
des Ausschusses für Wirtschaft<br />
auf den Drucksachen 12/760, 12/761 und 12/762. Es<br />
handelt sich um Verordnungen zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />
und der Ausfuhrliste. Wer<br />
stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer<br />
stimmt dagegen? — Wer enthält sich seiner Stimme?<br />
— Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.<br />
Tagesordnungspunkt 6 g. Ich könnte jetzt dem Vorsitzenden<br />
des Ausschusses für Wirtschaft, unserem<br />
Kollegen Friedhelm Ost, das Wort erteilen. Er hat<br />
seine Erklärung aber bereits schriftlich hier hinterlegt.<br />
Der Vorsitzende des Ausschusses, Friedhelm Ost, erklärt,<br />
daß der Ausschuß für Wirtschaft dem Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong> empfiehlt, von seinem Aufhebungsrecht<br />
keinen Gebrauch zu machen. Diese Erklärung erfolgt<br />
im Einvernehmen mit den Obleuten der im Ausschuß<br />
vertretenen Fraktionen.<br />
Sie haben diese Empfehlung gehört. Darf ich unterstellen,<br />
daß Sie ihr folgen? — Es erhebt sich kein<br />
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 6h bis j,<br />
das heißt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen<br />
des Petitionsausschusses zu den Sammelübersichten<br />
18, 20 und 21. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen?<br />
— Gegenprobe? — Enthaltungen? —<br />
Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2595<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:<br />
Fragestunde<br />
— Drucksache 12/766 —<br />
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des<br />
Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung<br />
der Fragen ist Herr Staatsminister Helmut Schäfer erschienen.<br />
Wir kommen zuerst zu den Dringlichen Fragen,<br />
Drucksache 12/799.<br />
Ich rufe die Dringliche Frage 1 des Abgeordneten<br />
Dr. Klaus Kübler auf:<br />
Treffen Meldungen zu, daß die Regierung von Kuwait Iraker,<br />
die in Kuwait leben, in den Irak zwangsdeportiert, und sind der<br />
Bundesregierung weitere Zwangsdeportationen bekannt?<br />
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Herr Kollege! Kuwaitische Sicherheitskräfte haben<br />
in der vergangenen Woche in einer Abschiebeaktion<br />
130 Personen, größtenteils irakischer Nationalität,<br />
aus Kuwait in den südlichen Irak verbracht. Viele<br />
von ihnen wurden gegen ihren Willen aus Kuwait<br />
abgeschoben.<br />
Nachdem das Internationale Rote Kreuz und die<br />
westlichen Botschafter einschließlich des deutschen<br />
Botschafters scharfen Protest bei der kuwaitischen Regierung<br />
eingelegt hatten, ist es zu keinen weiteren<br />
Abschiebungen mehr gekommen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage Kollege<br />
Dr. Kübler.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD) : Nach Zeitungsmeldungen<br />
haben UN-Beobachter diesen Vorgang verfolgt. Teilt<br />
die Bundesregierung die Auffassung, daß die UN-<br />
Beobachter hätten einschreiten und den Versuch unternehmen<br />
müssen — natürlich ohne Gewaltanwendung<br />
— , die Zwangsdeportationen nicht unter den<br />
Augen der UNO — ich will das bewußt so politisch<br />
formulieren — stattfinden zu lassen?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich<br />
kann diese Frage aus der Sicht der Bundesregierung<br />
nicht beantworten, weil ich der Meinung bin, daß wir<br />
hier schlecht berurteilen können, in welchem Zusammenhang<br />
UN-Beobachter hätten eingreifen können<br />
oder nicht.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine zweite Zusatzfrage,<br />
Kollege Dr. Kübler.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD): Sind der Bundesregierung<br />
vor diesem Vorfall Zwangsdeportationen bekannt gewesen,<br />
und, falls ja, hat sie dagegen interveniert?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann mich bei<br />
Ihrer Frage nur auf die Zwangsdeportationen beziehen,<br />
die uns bekannt geworden sind. Wir haben, wie<br />
ich Ihnen bereits gesagt habe, sofort reagiert. Ich kann<br />
mich aber nicht auf Vermutungen über andere Deportationen<br />
einlassen. Wir wußten von anderen Menschenrechtsverletzungen,<br />
über die ich bei der Beantwortung<br />
Ihrer zweiten Anfrage gleich berichten<br />
kann.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Frau<br />
Kollegin Ganseforth.<br />
Monika Ganseforth (SPD): Herr Staatsminister, die<br />
Iraker sind abgeschoben worden. Haben eigentlich<br />
die Palästinenser die Möglichkeit auszureisen?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, hier<br />
geht es um Abschiebungen, die durch Maßnahmen<br />
der kuwaitischen Regierung zwangsweise erfolgt<br />
sind. Ihre Frage bezieht sich jetzt auf die Möglichkeit<br />
der Ausreise von Palästinensern. Das ist meiner Ansicht<br />
nach zwar kein identischer Sachzusammenhang,<br />
aber Palästinenser können, soviel mir bekannt ist, aus<br />
Kuwait ausreisen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Keine weiteren Zusatzfragen.<br />
— Dann rufe ich die Dringliche Frage 2 des<br />
Kollegen Dr. Kübler auf:<br />
Wird die Bundesregierung, die zur Befreiung Kuwaits weit<br />
über 17 Milliarden DM zur Verfügung gestellt hat, die massiven<br />
und massenhaften Menschenrechtsverletzungen der kuwaitischen<br />
Regierung (willkürliche Inhaftierungen von Tausenden<br />
von Palästinensern, Ermordung von Hunderten von Palästinensern<br />
seit Februar dieses Jahres, Folterungen, Zwangsdeportationen<br />
von Irakern, Ausreiseverbote für ausreisewillige Jordanier,<br />
Sudanesen, Jemeniten, Unrechtsurteile) vor der UNO und mit<br />
den USA zur Sprache bringen mit dem Ziel, daß seitens der<br />
UNO, aber auch der USA, Maßnahmen ergriffen werden, die die<br />
kuwaitische Regierung veranlassen, diese Menschenrechtsverletzungen<br />
sofort einzustellen?<br />
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Kollege Kübler, bereits<br />
am 28. April 1991 bei dem informellen Treffen<br />
der EG-Außenminister in Mondorf les Bains in Luxemburg<br />
hat Bundesminister Genscher die Lage der<br />
Menschenrechte in Kuwait zum Gegenstand der Erörterung<br />
im Kreise seiner europäischen Kollegen gemacht.<br />
Die Initiative mündete in eine gemeinsame<br />
Demarche, bei der die Zwölf der kuwaitischen Regierung<br />
ihre Besorgnis über die Lage der Menschenrechte<br />
in Kuwait deutlich machten.<br />
(Unruhe bei der FDP)<br />
— Herr Präsident, wenn auch die FDP-Fraktion diesen<br />
Ausführungen folgen könnte, wäre ich als FDP-Angehöriger<br />
ganz dankbar. Das ist ein Menschenrechtsproblem,<br />
das doch eine wichtige Rolle spielt.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatsminister, ich<br />
greife diesen Hinweis auf. Meine Damen und Herren<br />
von der FDP, in der ersten Reihe findet bei Ihnen in<br />
der Tat eine Konferenz statt. Wenn Sie diese vielleicht<br />
verlegen oder unterbrechen könnten, damit der<br />
Staatsminister durchdringt.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich selbst habe anläßlich<br />
der <strong>Sitzung</strong> der Außenminister des Golfkooperationsrates<br />
und der Europäischen Gemeinschaft am<br />
11. Mai in Luxemburg unseren Standpunkt zu den<br />
Menschenrechtsverletzungen in Kuwait deutlich gemacht.<br />
Auf Weisung von Bundesminister Genscher wurde<br />
außerdem der kuwaitische Botschafter erstmals am<br />
30. April 1991 und dann wieder nach den Berichten<br />
über die Verhängung von Todesstrafen in Kuwait am<br />
17. Juni, also vorgestern, ins Auswärtige Amt einbestellt.<br />
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes trug
2596 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Staatsminister Helmut Schäfer<br />
ihm dabei die schweren Bedenken der Bundesregierung<br />
über die anhaltenden Verfolgungen, insbesondere<br />
von Palästinensern, und die ausgesprochenen<br />
Todesurteile vor.<br />
Die Bundesregierung erwartet, daß diese Todesurteile<br />
nicht vollzogen und daß keine weiteren ausgesprochen<br />
werden. Der kuwaitischen Regierung ist<br />
klargemacht worden, daß wir hierin eine Verletzung<br />
elementarer Menschenrechte sehen. Kuwait ist in einer<br />
internationalen Aktion befreit worden, um dem<br />
Lande wieder zu seinen vollen Rechten zu verhelfen.<br />
Es kann deshalb nicht hingenommen werden, daß<br />
dort jetzt Menschenrechte in dieser Form verletzt werden.<br />
Auch unser Botschafter in Kuwait hat mehrmals bei<br />
der kuwaitischen Regierung interveniert, um ihr die<br />
zunehmende Besorgnis der deutschen Regierung und<br />
Öffentlichkeit über Menschenrechtsverletzungen in<br />
Kuwait vorzutragen. Zuletzt hat Botschafter Mulack<br />
am 17. Juni im Anschluß an die Berichte über die Verhängung<br />
weiterer Todesurteile und die Abschiebung<br />
von Irakern in den südlichen Irak gegenüber Kronprinz<br />
und Premierminister Scheich Saad al Sabah die<br />
Betroffenheit der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht.<br />
Bei allem Verständnis für die Leiden des<br />
kuwaitischen Volkes unter der irakischen Besetzung<br />
können wir diese Maßnahmen nicht hinnehmen.<br />
Schließlich hat das Auswärtige Amt am 18. Juni,<br />
also gestern, unsere Ständige Vertretung bei den Vereinten<br />
Nationen in New York angewiesen, den Vereinten<br />
Nationen uns vorliegende neue und zuverlässige<br />
Informationen über anhaltende Menschenrechtsverletzungen<br />
in Kuwait zu unterbreiten. In gleicher<br />
Weise erhielt die deutsche Botschaft in Washington<br />
Weisung, die US-Regierung zu unterrichten.<br />
Darüber hinaus legte die Bundesregierung am<br />
18. Juni den zwölf EG-Partnern in Kuwait gewonnene<br />
zuverlässige Informationen über aktuelle Menschenrechtsverletzungen<br />
vor.<br />
Die Bundesregierung — lassen Sie mich das in diesem<br />
Zusammenhang sagen — legt großen Wert darauf,<br />
daß sich die internationale Staatengemeinschaft,<br />
deren gemeinsames Handeln ausschlaggebend für<br />
die erfolgreiche Abwehr des irakischen Überfalls auf<br />
Kuwait war, mit der gleichen Geschlossenheit für die<br />
Einhaltung der Menschenrechte in Kuwait einsetzt.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kollege<br />
Kübler.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD): Wenn ich dies sagen darf:<br />
Ich bin für den letzten Satz sehr dankbar.<br />
Sind Ihnen Zahlen über Todesurteile, über vollstreckte<br />
Todesurteile und über Inhaftierte bekannt?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen<br />
jetzt keine genauen Zahlen angeben, bin aber gerne<br />
bereit, nachprüfen zu lassen, was uns an Zahlen bekannt<br />
ist.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ihre zweite Zusatzfrage.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD) : Meine zweite Frage geht<br />
dahin: Wird sich die Bundesregierung bemühen<br />
— gegebenenfalls gemeinsam mit anderen Ländern<br />
— , zu ermöglichen, daß amnesty international<br />
dorthin fahren und sich vor Ort informieren kann?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich halte es für gut,<br />
wenn amnesty international im Zusammenhang mit<br />
den von mir eben bereits ausgeführten Maßnahmen<br />
diese Möglichkeit bekommt. Amnesty international<br />
ist die Organisation, die weltweit die Möglichkeit hat,<br />
vor Ort neutral zu prüfen und Vorwürfe zu untersuchen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage des Kollegen<br />
Bindig.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Angesichts von Informationen<br />
über nicht rechtsstaatlich zustande gekommene Urteile<br />
möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, wie<br />
die Sondergerichte in Kuwait zusammengesetzt sind,<br />
die jetzt die Urteile fällen, und ob es nach Auffassung<br />
der Bundesregierung in Kuwait überhaupt eine<br />
rechtsstaatliche Strafgerichtsbarkeit gibt.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, uns<br />
ist von kuwaitischer Seite immer wieder versichert<br />
worden, daß nach der Beendigung des Überfalls des<br />
Irak und nach der Wiederherstellung der Autonomie<br />
Kuwaits Reformen erfolgen sollten. Ich selbst habe<br />
während des Golfkrieges eine Delegation von Oppositionellen<br />
aus Kuwait empfangen, die ihrer Hoffnung<br />
Ausdruck gegeben haben, daß dort nach Beendigung<br />
des Krieges die Demokratie hergestellt werden<br />
könnte. Wir haben diese Hoffnung weiterhin und sind<br />
der Meinung, daß die Regierung in Kuwait ihren Versprechungen<br />
zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit<br />
und Demokratie jetzt Taten folgen lassen sollte.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfrage der<br />
Kollegin Ganseforth.<br />
Monika Ganseforth (SPD): Herr Staatsminister, Sie<br />
haben gesagt, daß Sie mit den anderen Regierungen<br />
über die Botschafter Kontakt aufgenommen haben. Ist<br />
schon bekannt, ob andere Regierungen interveniert<br />
oder ob internationale Maßnahmen, Gespräche oder<br />
Proteste stattgefunden haben?<br />
Helmut Schäfer, Staatminister: Da ein Teil unserer<br />
Maßnahmen erst in dieser Woche erfolgen konnte,<br />
gehe ich davon aus, daß weitere internationale Bemühungen<br />
einsetzen werden. Wir haben auch die Vereinten<br />
Nationen eingeschaltet und sind in Gesprächen<br />
mit unseren Nachbarstaaten. Ich glaube, daß<br />
dort die Entwicklung in Kuwait genauso kritisch gesehen<br />
wird wie bei uns. Ich erinnere mich, daß bei dem<br />
Treffen mit den Außenministern der Golf-Kooperationsstaaten,<br />
bei dem der kuwaitische Außenminister<br />
anwesend war, auch von Kollegen aus der Europäischen<br />
Gemeinschaft entsprechende Fragen gestellt<br />
worden sind. Davon kann man also ausgehen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Dazu keine weiteren Zusatzfragen.<br />
Dann, Herr Staatsminister, darf ich mich<br />
bei Ihnen bedanken.<br />
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2597<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische<br />
Staatssekretär Bernd Schmidbauer erschienen.<br />
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Karl Stockhausen<br />
auf:<br />
Ist die Bundesregierung bereit, den durch die Verwendung<br />
von „Kieselrot" aus den ehemaligen Hermann-Göring-Werken<br />
in Marsberg (Nordrhein-Westfalen) beim Bau von Freizeitanlagen<br />
betroffenen Kommunen finanziell zu helfen?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort.<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Herr Kollege Stockhausen, auf Ihre Frage<br />
darf ich wie folgt antworten: Die Beseitigung von Bodenkontaminationen<br />
aus der Kriegszeit ist, soweit es<br />
sich nicht um bundeseigene Grundstücke handelt,<br />
eine Aufgabe, die nach Art. 30 und 104 a des Grundgesetzes<br />
als ordnungsbehördliche Aufgabe den Bundesländern<br />
obliegt. Ob und gegebenenfalls in welchem<br />
Umfang der Bund verpflichtet ist, den Ländern<br />
die Aufwendungen für Kriegsfolgelasten zu erstatten,<br />
richtet sich nach einer auf die fünfziger Jahre zurückgehenden<br />
Staatspraxis, die bei der Neufassung des<br />
Art. 120 des Grundgesetzes in den Jahren 1965 und<br />
1969 als fortgeltende Kostenverteilungsregelung zugrunde<br />
gelegt worden ist.<br />
Nach § 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes<br />
sind sämtliche Ansprüche gegen das Deutsche Reich<br />
und die anderen dort genannten Rechtsträger erloschen,<br />
soweit sie nicht durch besondere Bestimmungen<br />
aufrechterhalten wurden.<br />
Nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 des von mir erwähnten Allgemeinen<br />
Kriegsfolgengesetzes in Verbindung mit<br />
§ 1004 BGB hat der Bund den Ländern die Kosten für<br />
die Beseitigung solcher Gefahren zu erstatten, die von<br />
Sachen ausgehen, die Eigentum des Deutschen Reiches<br />
oder eines anderen in § 1 AKG genannten<br />
Rechtsträgers waren. Auf Grund dieser Staatspraxis<br />
ersetzt der Bund den Ländern z. B. die Kosten für die<br />
Beseitigung ehemals reichseigener Kampfmittel auf<br />
nicht bundeseigenen Liegenschaften.<br />
Nicht erstattungsfähig — das zielt auf Ihre Frage<br />
ab — sind die Beseitigungskosten für Sachen im Eigentum<br />
anderer natürlicher oder juristischer Personen.<br />
Dies gilt auch für chemische Stoffe, deren Eigentümer<br />
Unternehmen waren, an denen das Deutsche<br />
Reich beteiligt war, z. B. die Hermann-Göring-<br />
Werke.<br />
Maßgebend für eine Kostenerstattungspflicht nach<br />
§ 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG ist, daß das Deutsche Reich<br />
selbst Eigentum an den in Betracht kommenden chemischen<br />
Stoffen gehabt hat. Ansprüche gegen das<br />
Deutsche Reich können auch nicht im Wege der<br />
Durchgriffshaftung begründet werden.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage.<br />
Karl Stockhausen (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,<br />
das war natürlich ein Überrollen mit vielen Paragraphen.<br />
Dem kann man im Moment gar nicht folgen.<br />
Klar ist doch, daß die Hermann-Göring-Werke<br />
Reichseigentum waren, daß die Betroffenen nach<br />
1945 Abfall aus dem Kupferbergwerk in dem Glauben<br />
benutzt haben, sehr billig Sportplätze, Laufflächen<br />
oder andere Einrichtungen mit diesem Kieselrot aufzuschütten.<br />
Heute stellt sich heraus, daß sie dioxinbelastet<br />
sind und daß enorme Aufwendungen, und zwar<br />
von den Kommunen, aber auch von Vereinen, notwendig<br />
sind, das Kieselrot zu beseitigen. Gibt es, abgesehen<br />
von Paragraphen, keinen Ermessensspielraum,<br />
daß der Bund ohne gesetzliche Verpflichtung<br />
bemüht ist, den Kommunen zu helfen?<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Stockhausen, ich habe Ihnen die Rechtspraxis<br />
hier dargestellt, sehr theoretisch und für Sie auch zum<br />
Nachvollziehen. Ich darf Ihnen aber gleichzeitig sagen,<br />
daß wir vor wenigen Tagen gemeinsame Handlungsempfehlungen<br />
für diese belasteten Flächen zusammen<br />
mit den Ländern erstellt haben und daß es<br />
darüber hinaus weitere Besprechungen gemeinsam<br />
mit den Ländern gibt, um nach Lösungen in diesem<br />
Bereich zu suchen. Aber im Augenblick ist die Rechtspraxis<br />
so, daß der Bund keine finanziellen Hilfestellungen<br />
geben kann.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfrage.<br />
Karl Stockhausen (CDU/CSU): Kann ich aus der<br />
letzten Formulierung entnehmen, daß in Fortführung<br />
der begonnenen Gespräche eventuell doch noch Hilfe<br />
vom Bund zu erwarten ist?<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Das kann<br />
ich Ihnen so nicht beantworten. Aber Sie können davon<br />
ausgehen, daß wir bereit sind, im Zusammenhang<br />
mit der Sanierung dieser Flächen — dies wird eine<br />
große Aufgabe für die Länder darstellen — jeden Einzelfall<br />
entsprechend zu prüfen.<br />
(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Schönen<br />
Dank!)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.<br />
Marion Caspers-Merk (SPD): Herr Staatssekretär,<br />
Sie haben in der gemeinsamen <strong>Sitzung</strong> des Sportausschusses<br />
und des Umweltausschusses damals ausgeführt,<br />
daß es möglich sei, eventuell über die Abfallabgabe<br />
zu einer Bundesfinanzierung zu kommen. Halten<br />
Sie diese Aussage aufrecht?<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin,<br />
ich bin Ihnen für die Frage sehr dankbar. Wir<br />
haben bei dieser Ausschußsitzung eine Möglichkeit<br />
aufgezeigt, wie Bund und Länder gemeinsam in dieser<br />
Frage zu neuen Finanzierungsmechanismen kommen<br />
können — Sie haben dort auch gehört, daß eines<br />
der anwesenden Länder, Nordrhein-Westfalen, dies<br />
bereits aufgegriffen hat — , mit denen wir in der Lage<br />
wären, über einen gemeinsamen finanziellen Beitrag<br />
durch eine solche Abfallabgabe solche Dinge als Altlasten,<br />
um den Begriff zu verwenden, zu finanzieren.<br />
Diese Aussage steht.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ich rufe die Frage 2 des<br />
Kollegen Stockhausen auf:<br />
Ist die Bundesregierung bereit, bei den ihr direkt oder indirekt<br />
zugeordneten Dienststellen (Deutsche Bundespost, Deutsche<br />
Bundesbahn, Zoll, Bundeswehr, Bundesgrenzschutz usw.) Hydrauliköl<br />
auf biologischer Basis (beispielsweise Rapsöl) einzusetzen,<br />
um die Belastung der Umwelt zu vermindern?
2598 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Stockhausen, die Substitution von Schmierstoffen<br />
und Ölen auf Mineralölbasis durch biologisch<br />
schnell abbaubare Öle auf Pflanzenbasis, z. B. Rapsöl,<br />
ist ein wichtiger Beitrag zum Boden- und Gewässerschutz<br />
und trägt darüber hinaus zur Verminderung<br />
klimarelevanter Spurengasemissionen bei. Dieser<br />
Substitutionsprozeß wird von uns mit Hilfe des Umweltzeichens<br />
gefördert.<br />
Für Kettenschmierstoffe für Motorsägen und für<br />
Schmieröle, Schmierfette und Trennmittel auf pflanzlicher<br />
Basis hat die „Jury Umweltzeichen" bereits entsprechende<br />
Umweltzeichen vergeben.<br />
Für den Bereich der Hydrauliköle wird zur Zeit der<br />
Entwurf einer Vergabegrundlage für ein Umweltzeichen<br />
erarbeitet. Die technischen Anforderungen an<br />
Hydrauliköle sind jedoch komplexer als die an die von<br />
mir eben erwähnten Einsatzmittel.<br />
Es ist davon auszugehen, daß die Vergabegrundlagen<br />
für ein Umweltzeichen für biologisch schnell abbaubare<br />
Hydraulikflüssigkeiten bis Ende 1991 vorliegen.<br />
Die Vergabe eines Umweltzeichens ist dann für<br />
Anfang 1992 zu erwarten.<br />
Wir sind dann grundsätzlich bereit, den Beschaffungsstellen<br />
von Bund, Ländern und Gemeinden sowie<br />
der privaten Wirtschaft den Einsatz pflanzlicher<br />
Hydrauliköle zu empfehlen. Voraussetzung ist allerdings,<br />
daß die entsprechenden Pflanzenöle den technischen<br />
Anforderungen entsprechen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Stockhausen.<br />
Karl Stockhausen (CDU/CSU): Vielen Dank für die<br />
Beantwortung beider Anfragen. Ich habe noch eine<br />
Zusatzfrage. Es ging mir darum, ob der Bund bereit ist,<br />
wenn diese Anforderungen, wie Sie sagten, entsprechend<br />
sind, die Hydrauliköle in seinen Zuständigkeitsbereichen<br />
einzusetzen, also nicht nur zu prüfen,<br />
sondern auch dafür zu sorgen, daß sie dort eingesetzt<br />
werden, wo der Bund zuständig ist.<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Wir sind<br />
bereit, Herr Kollege Stockhausen, direkt oder indirekt<br />
zugeordneten Dienststellen solche Hinweise zu geben<br />
und das 01 dann einzusetzen.<br />
(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Schönen<br />
Dank; das ist gut!)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu - weitere Zusatzfragen?<br />
— Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer<br />
Staatssekretär, dann bedanke ich mich für die<br />
Beantwortung der beiden Fragen.<br />
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />
für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung<br />
steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Horst<br />
Günther zur Verfügung.<br />
Ich rufe die Frage 4 der Abgeordneten Angela<br />
Stachowa auf:<br />
Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung zum Umgang<br />
mit der freischaffenden künstlerischen Intelligenz der ehemaligen<br />
DDR in bezug auf eine sozial-gerechte Rentenregelung, die<br />
auch die in der Vergangenheit gezahlten Beiträge — einschließ<br />
lich der Freiwilligen Rentenversicherung (FZR) — berücksichtigt,<br />
und wie gedenkt sie diese berechtigte Forderung in das<br />
Renten-Überleitungsgesetz einfließen zu lassen?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort.<br />
Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Arbeit und Sozialordnung: Danke schön,<br />
Herr Präsident!<br />
Frau Kollegin Stachowa, die Überführung der Ansprüche<br />
und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen<br />
regelt der Entwurf eines Gesetzes<br />
zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften<br />
aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen<br />
des Beitrittsgebiets nach dem Art. 3 des Entwurfs<br />
eines Renten-Überleitungsgesetzes. Dort ist dies über<br />
mehrere Seiten mit Anlagen, die ich hier nicht alle<br />
vortragen kann, ausführlich dargelegt. Das können<br />
Sie bitte nachvollziehen.<br />
Zu Ihrer konkreten Frage will ich weiter ausführen:<br />
In den Geltungsbereich dieses Gesetzes sollen auch<br />
die Zusatzversorgungssysteme der freiberuflich tätigen<br />
Mitglieder des Schriftstellerverbandes sowie des<br />
Verbandes bildender Künstler einbezogen werden.<br />
— Danach hatten Sie im wesentlichen gefragt.<br />
Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen<br />
stellen nicht auf die Beitragszahlung ab. Die Rentenberechnung<br />
soll vielmehr nach den Regelungen des<br />
Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches auf der<br />
Grundlage des im Erwerbsleben erzielten Einkommens<br />
erfolgen. Die aus dieser Berechnung ermittelte<br />
Rente löst die bisherigen Leistungen aus der Rentenversicherung<br />
und dem Zusatzversorgungssystem<br />
bzw. die Leistung aus dem Sonderversorgungssystem<br />
ab. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Beitragszahlung<br />
des von Ihnen genannten Personenkreises<br />
zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung, also FZR,<br />
unberücksichtigt bleibt. Der Gesetzentwurf ermöglicht<br />
es über eine entsprechende Verordnungsermächtigung,<br />
für diese Personen Leistungen in gleicher<br />
Höhe zu erbringen, als wenn sie ausschließlich in<br />
der Sozialpflichtversicherung und der FZR versichert<br />
gewesen wären. Die von diesen Personen geleisteten<br />
Beiträge bewirken also, daß ihre Entgelte und Einkommen<br />
bis zur Beitragsbemessungsgrenze des<br />
Sechsten Sozialgesetzbuches, d. h. grundsätzlich bis<br />
zum 1,8fachen des Durchschnittsentgelts, berücksichtigt<br />
werden können, während ohne solche Beitragsleistungen<br />
nur eine Berücksichtigung bis zur wesentlich<br />
niedrigeren Beitragsbemessungsgrenze in der Sozialversicherungspflicht<br />
der ehemaligen DDR — nämlich<br />
bis 600 Mark — möglich wäre.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Stachowa,<br />
Sie haben zwei Zusatzfragen.<br />
Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Ich danke.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Gibt es Zusatzfragen von<br />
seiten der übrigen Mitglieder des Hauses? — Das ist<br />
nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär,<br />
verbindlichen Dank.<br />
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />
für Verkehr auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2599<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl erschienen.<br />
(Dr. Hermann Scheer [SPD]: Er kann es auch<br />
besser als der Minister!)<br />
Für die Fragen 5 und 6 des Kollegen Tappe ist um<br />
schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten<br />
werden als Anlagen abgedruckt.<br />
Ich rufe die Frage 7 der Frau Abgeordneten Ulrike<br />
Mehl auf:<br />
Sieht die Bundesregierung in dem von der Wasser- und Schifffahrtsdirektion,<br />
dem Land Niedersachsen, der Bezirksregierung<br />
Weser-Ems, dem Landkreis Emsland und der Stadt Papenburg<br />
erarbeiteten Kompromiß zum Ausbau der Ems unter Einbeziehung<br />
einer Umweltverträglichkeitsprüfung für tragfähig, und<br />
sind bzw. werden dafür Bundesmittel zur Verfügung gestellt?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Verkehr: Frau Kollegin Mehl, die Bundesregierung<br />
sieht jede einvernehmliche Lösung zur Anpassung<br />
der unteren Ems als tragfähig an, um dem<br />
Werftenstandort Papenburg im Emsland eine langfristige<br />
Perspektive zu geben. Nach der gesetzlichen<br />
Lage entscheidet die Planfeststellungsbehörde unter<br />
Einbeziehung der Umweltverträglichkeitsprüfung<br />
über diese Maßnahme. Im Bundeshaushalt 1991 sind<br />
Mittel für diese Maßnahme enthalten.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Mehl, eine<br />
Zusatzfrage.<br />
Ulrike Mehl (SPD): Ist dieses Einverständnis allen an<br />
dem Verfahren Beteiligten bekannt? Denn das war ja<br />
mal eine Zeitlang umstritten. Dies steht auch in der<br />
Frage.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das Einvernehmen<br />
wird sich herausstellen, wenn der Planfeststellungsbeschluß<br />
erlassen ist und von niemandem<br />
angefochten wurde.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Dann rufe ich die Frage 8<br />
der Kollegin Ulrike Mehl auf:<br />
Hält der Bundesminister für Verkehr, Dr. Günther Krause, es<br />
für den richtigen Stil, auf mein Schreiben an ihn erst nach acht<br />
Wochen, bei mehrmaliger Nachfrage, zu reagieren, und lehnt<br />
Bundesminister Dr. Günther Krause die Annahme der Unterschriftenliste<br />
zur Erhaltung des Wasserstraßenmaschinenamtes<br />
Rendsburg ab?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte<br />
schön.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin<br />
Mehl, Bundesminister Krause hat die Beantwortung<br />
Ihres Schreibens an mich übertragen. Ich bedaure,<br />
daß Ihr Schreiben erst nach sechs Wochen beantwortet<br />
wurde.<br />
(Zuruf von der SPD: Nach acht Wochen! —<br />
Manfred Opel [SPD]: Das ist aber typisch!)<br />
Im Hinblick auf die Frage nach der Annahme der<br />
Unterschriftenliste möchte ich Ihnen anbieten, daß<br />
wir im Anschluß an dieses Zwiegespräch einen Termin<br />
vereinbaren, bei dem wir uns auch über die Problematik<br />
des Betriebes in Rendsburg unterhalten<br />
können.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage.<br />
Ulrike Mehl (SPD): Sie sagten gerade, daß Sie es<br />
bedauern, daß es so lange gedauert habe. Ich habe ja<br />
auch ganz geduldig sechs Wochen gewartet, aber<br />
dann war meine Geduld am Ende, und wir haben<br />
sodann sehr intensiv nachgefragt. Wie lange dauert es<br />
denn schätzungsweise, wenn man nicht intensiv<br />
nachfragt? Ab wann darf uns in bezug auf Ihr Haus der<br />
Geduldsfaden reißen?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wir bemühen<br />
uns, die Schreiben in einer Frist zwischen zwei und<br />
vier Wochen zu beantworten.<br />
(Zurufe von der SPD)<br />
— Ja, es gibt kompliziertere Sachverhalte; da muß<br />
man bei anderen Behörden nachfragen. Dann kann es<br />
schon einmal länger dauern.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage,<br />
mit der Sie möglicherweise einen Zwischenbescheid<br />
einfordern wollen.<br />
Ulrike Mehl (SPD): Kann ich davon ausgehen, daß es<br />
das nächste Mal — in diesem Fall brauchten Sie ja<br />
nicht so viel bei anderen nachfragen — schneller<br />
geht?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich werde<br />
mich sehr darum bemühen, Ihrem Wunsch gerecht zu<br />
werden.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage des Kollegen<br />
Koppelin.<br />
Jürgen Koppelin (FDP): Herr Staatssekretär, sind<br />
Sie bereit, der Kollegin zu bestätigen, daß auch Abgeordnete<br />
der Koalition acht Wochen auf eine Beantwortung<br />
warten?<br />
(Lachen bei der SPD — Dr. Hermann Scheer<br />
[SPD]: Das macht es doch noch schlimmer!)<br />
Ich darf an mein Schreiben an Sie zum Thema Elektrifizierung<br />
der Bahn in Schleswig-Holstein erinnern.<br />
Sind Sie bereit, in Ihrem Hause dafür zu sorgen, daß<br />
Abgeordnete zukünftig schneller eine Antwort erhalten,<br />
und sind Sie weiter bereit, der Kollegin Mehl zu<br />
bestätigen, daß ich, nachdem ich ebenfalls in Ihrem<br />
Hause mehrfach Klage darüber geführt habe, bereits<br />
am nächsten Tag eine Antwort bekam?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es kann<br />
durchaus passieren, daß Schreiben in einer unangemessen<br />
langen Frist nicht beantwortet werden. Ich<br />
bitte, uns dies nachzusehen. Unser Bemühen ist sehr<br />
stark darauf ausgerichtet, dies nicht mehr vorkommen<br />
zu lassen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer<br />
Staatssekretär, es geht jetzt offenbar um ein sehr populäres<br />
Thema.<br />
(Heiterkeit)<br />
Der Kollege Bindig hat die nächste Zusatzfrage.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Wäre es dem Verkehrsministerium<br />
vielleicht lieber, wenn wir in Zukunft alle Sachverhalte<br />
in Form von Fragen in die Fragestunde ein-
2600 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Rudolf Bindig<br />
bringen und nicht in Form von Briefen an Sie herantragen,<br />
weil man dann automatisch innerhalb von fünf<br />
oder sechs Tagen hier im Plenum eine Antwort bekommen<br />
muß?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das bleibt<br />
vollkommen Ihnen überlassen, Herr Kollege.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Scheer,<br />
bitte.<br />
Dr. Hermann Scheer (SPD): Herr Staatssekretär, ist<br />
es vielleicht denkbar, daß der Bundesminister für Verkehr<br />
überfordert ist?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Mit Sicherheit<br />
nicht.<br />
(Lachen bei der SPD — Jochen Feilcke<br />
[CDU/CSU]: Undenkbar!)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />
dazu? — Das ist nicht der Fall.<br />
Dann rufe ich jetzt Frage 9 der Kollegin Ingrid Walz<br />
auf:<br />
Wie beurteilt die Bundesregierung die Verfassungsmäßigkeit<br />
von Nahverkehrsabgaben als Mittel der Verkehrslenkung in<br />
Ballungsgebieten als „Haltermodell", als „Einwohnermodell"<br />
und den damit verbundenen Einkünften für das Land?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin<br />
Walz, angesichts der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes,<br />
nach der der öffentliche Personennahverkehr<br />
in den Zuständigkeitsbereich der Länder gehört,<br />
hat die Bundesregierung keinen Anlaß gesehen, die<br />
Frage der Verfassungsmäßigkeit der Erhebung von<br />
Nahverkehrsabgaben zu prüfen.<br />
Innerhalb der für die Beantwortung mündlicher<br />
parlamentarischer Anfragen vorgeschriebenen Zeit<br />
ist eine rechtlich abgesicherte Prüfung der damit verbundenen<br />
Fragen sicherlich auch nicht zu leisten.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Walz, Zusatzfrage.<br />
Ingrid Walz (FDP): Vielleicht kann der Herr Staatssekretär<br />
jetzt auch die zweite von mir eingebrachte<br />
Frage beantworten.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Sie wollen, daß beide<br />
Fragen im Zusammenhang beantwortet werden?<br />
(Ingrid Walz [FDP]: Richtig!)<br />
— Dann rufe ich Frage 10 der Abgeordneten Ing rid<br />
Walz auf:<br />
Wann ist eine Nahverkehrsabgabe — gleichgültig in welcher<br />
Form — als Lenkungsabgabe zulässig, wenn keine öffentlichen<br />
Nahverkehrssysteme als Alternativen vorhanden sind oder z. B.<br />
von Behinderten nicht benutzt werden können?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte Sie,<br />
freundlicherweise auf dieses Begehren einzugehen.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Mit Vergnügen.<br />
— Frau Kollegin, die baden-württembergische<br />
Landesregierung hat zu den sehr komplexen Fragen<br />
der Zulässigkeit bzw. der Voraussetzungen für eine<br />
Nahverkehrsabgabe ein Rechtgutachten bei dem<br />
Münchener Rechtswissenschaftler Klaus Vogel in<br />
Auftrag gegeben. Die Bundesregierung geht davon<br />
aus, daß die baden-württembergische Landesregierung<br />
das Ergebnis der Prüfung Interessierten zugänglich<br />
machen wird.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Sie haben<br />
jetzt das Recht, vier Zusatzfragen zu stellen, aber Sie<br />
haben nicht die Pflicht, sie alle vier zu stellen.<br />
Ingrid Walz (FDP): Ich werde versuchen, davon<br />
nicht Gebrauch zu machen. — Teilen Sie die Ansicht<br />
sehr vieler, die sich sachkundig mit der Frage beschäftigen,<br />
daß die Länder und die Kommunen bei der<br />
Finanzierung von ökologisch nötigen Nahverkehrssystemen<br />
überfordert sind?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Der Vermittlungsausschuß<br />
hat, wie Kollege Struck vorhin dargelegt<br />
hat, eine wesentliche finanzielle Verbesserung<br />
durch den Bundeshaushalt für Länder und Kommunen<br />
beschlossen. Die Bundesregierung begrüßt dieses<br />
Ergebnis sehr.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Die nächste.<br />
Ingrid Walz (FDP): Herr Staatssekretär, ich bin leider<br />
nicht im Besitz dieser Erkenntnisse. Vielleicht<br />
könnten Sie hier erklären, inwieweit die Kommunen<br />
und die Länder beim nötigen Ausbau ihrer Nahverkehrssysteme<br />
davon profitieren.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Mittel für<br />
das GVFG, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz,<br />
sind von einem derzeitigen Plafond, der bei<br />
3,28 Milliarden DM liegt, für das Jahr 1992 um 1,5 und<br />
für das Jahr 1993 um 3 Milliarden DM aufgestockt.<br />
Das bedeutet eine erhebliche Verbesserung der Situation<br />
für den öffentlichen Personennahverkehr im Bereich<br />
der Kommunen und der Länder.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Nummer 3.<br />
Ingrid Walz (FDP) : Ich muß trotzdem nachfragen.<br />
Falls je eine Nahverkehrsabgabe, sei es in Form eines<br />
Haltermodells oder in Form eines Einwohnermodells,<br />
eingeführt werden soll: Sind damit Einkünfte für die<br />
Länder verbunden, und ist eine solche Abgabe verfassungsgemäß?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Genau diese<br />
Frage sollte der Verfassungsrechtler Klaus Vogel untersuchen.<br />
Mir ist das Ergebnis dieser Untersuchung<br />
nur über Pressemitteilungen bekannt. Bekannt ist<br />
aber, daß Mittel, die durch eine Abgabe eingenommen<br />
werden, zweckgebunden auszugeben sind.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Nummer 4.<br />
Ingrid Walz (FDP): Ich verzichte darauf.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Bindig hat<br />
die nächste Zusatzfrage.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, da Sie in<br />
Ihrer Antwort so bestimmt gesagt haben, daß der<br />
ÖPNV in die Zuständigkeit der Länder gehört, möchte
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2601<br />
Rudolf Bindig<br />
ich Sie fragen, ob das einhellig geklärt ist oder ob es<br />
dazu nicht andere Auffassungen gibt, insbesondere<br />
beim Schienenpersonennahverkehr, aber auch allgemein<br />
beim ÖPNV, nämlich in der Form, daß sich die<br />
anderen politischen Ebenen teilweise dagegen verwahren,<br />
den ÖPNV vom Bund voll als Verpflichtung<br />
zugesprochen zu bekommen.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Hierzu gibt es<br />
eine Aussage der Bundesregierung. In dem ÖPNV-<br />
Bericht, in dem auch etwas über die Zuständigkeiten<br />
festgelegt ist, heißt es:<br />
Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die<br />
Erfüllung der öffentlichen Aufgabe auf dem Gebiet<br />
des ÖPNV ist grundsätzlich Sache der Länder.<br />
Das ist die Bestätigung meiner Aussage. Dann kommt<br />
die Einschränkung:<br />
Der Bund hat nach Art. 73 Abs. 6 GG die ausschließliche<br />
Gesetzgebungszuständigkeit für die<br />
Bundeseisenbahnen<br />
— danach hatten Sie gefragt —<br />
und nach Art. 74 Abs. 22 und 23 GG die konkurrierende<br />
Gesetzgebungszuständigkeit für den<br />
Straßenverkehr und die Schienenbahnen, die<br />
nicht Bundeseisenbahnen sind.<br />
In der Tat bestätige ich, was Sie gefragt haben: Für die<br />
Bundeseisenbahnen ist der Bund zuständig.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Die nächste Zusatzfrage<br />
stellt Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel.<br />
Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Staatssekretär, im<br />
„Handelsblatt" vom 6. Juni wird der Bundesminister<br />
Krause mit der Aussage zitiert:<br />
Es wäre jetzt auch im Hinblick auf die Lage der<br />
Städte und Gemeinden in den alten Bundesländern<br />
an der Zeit, über die Aufhebung der Plaf ondierung<br />
nachzudenken.<br />
Können Sie diese Aussage bestätigen? Ist das, nachdem<br />
wir den Haushalt 1991 beschlossen haben, in<br />
dem die Forderung der SPD-Fraktion abgelehnt<br />
wurde, jetzt der Anlaß, daß neu darüber nachgedacht<br />
wird und wir schon für den Haushalt 1992 von dieser<br />
Aussage ausgehen können?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wir haben<br />
über diese Aussage nicht nur nachgedacht, sondern<br />
wir haben im Vermittlungsausschuß bereits gemeinsam<br />
gehandelt und eine deutliche Verbesserung erzielt,<br />
was eine Beendigung der Plafondierung bedeutet.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Sie haben noch einen<br />
Schuß frei, Frau Kollegin Walz. Sie können noch eine<br />
Zusatzfrage stellen.<br />
Ingrid Walz (FDP) : Ich möchte den Herrn Staatssekretär<br />
doch noch fragen, ob die Plafondierung zum<br />
Ausbau des Nahverkehrs in den verschiedenen Ballungsgebieten<br />
der Bundedsrepublik ausreicht oder ob<br />
nicht eine Erhöhung der Mineralölsteuer, zweckgebunden<br />
ausgegeben, für den Ausbau des Nahverkehrs<br />
nötig wäre.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es läuft auf<br />
dasselbe Ergebnis hinaus, Frau Kollegin, ob man eine<br />
Zweckbindung der Mineralölsteuer in einer bestimmten<br />
Höhe festsetzt oder einen absoluten Betrag für<br />
denselben Zweck in den Haushalt einstellt. Der Vermittlungsausschuß<br />
bzw. Bundesregierung und Bundesrat<br />
haben sich für den zweiten Weg entschieden.<br />
Ich sehe darin keine Schlechterstellung gegenüber<br />
einer Zweckbindung der Mineralölsteuer.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Schily, bitte.<br />
Otto Schily (SPD): Herr Staatssekretär Gröbl, wir<br />
sind uns wahrscheinlich doch einig darin, daß gerade<br />
in Ballungsgebieten die Verbesserung des ÖPNV eine<br />
vorrangige Aufgabe ist und daß das häufig an mangelnder<br />
Finanzmasse scheitert. Aus Ihren heutigen<br />
Antworten kann ich nicht so ganz klar erkennen, was<br />
Ihr Konzept ist, die finanzielle Situation des öffentlichen<br />
Personennahverkehrs in Ballungsgebieten zu<br />
verbessern. Ich möchte das vielleicht noch mit einem<br />
besonderen Hinweis auf den Ballungsraum München<br />
und Umgebung verknüpfen, aus dem man z. B. hört,<br />
daß rollendes Material entweder nicht verbessert wird<br />
oder sogar abgezogen werden soll und ähnliches.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Zum ersten<br />
Teil der Frage: Herr Kollege Schily, wir sind uns weiß<br />
Gott nicht allzuoft einig, aber in dieser Frage schon.<br />
Zum zweiten Teil: Unser Konzept ist ganz einfach,<br />
deutlich mehr Geld für Länder und Kommunen für<br />
diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Wir sind deshalb<br />
dankbar, daß dieses Ergebnis im Vermittlungsausschuß<br />
erreicht wurde. Diese Verbesserung betrifft<br />
natürlich den Ballungsraum München wie auch die<br />
anderen Ballungsräume, und auch auf die Fläche wird<br />
es positive Auswirkungen haben.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage<br />
des Abgeordneten Lowack.<br />
Ortwin Lowack (fraktionslos): Nachdem die München-Connection<br />
zum Zuge gekommen ist, Herr Parlamentarischer<br />
Staatssekretär, möchte ich die Frage<br />
stellen, ob Sie bestätigen können, daß der Anteil der<br />
Investitionsmittel aus der Mineralölsteuer für Ballungszentren<br />
bei ungefähr 94 % liegt und daß der<br />
ländliche Raum dazu beiträgt, daß auf diese Art und<br />
Weise vor allen Dingen der Personennahverkehr in<br />
den Ballungszentren entscheidend verbessert wird?<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Diese Zahl<br />
kann ich nicht bestätigen. Dagegen ist richtig, daß wir<br />
beim ÖPNV nicht nur die Ballungszentren, sondern<br />
auch den ländlichen Raum im Auge behalten müssen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Gibt es zu dieser letzten<br />
Frage noch eine weitere Zusatzfrage? — Das ist nicht<br />
der Fall. Herzlichen Dank, Herr Parlamentarischer<br />
Staatssekretär.<br />
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers<br />
für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.<br />
Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische<br />
Staatssekretär Jürgen Echternach erschienen.
2602 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Dr. Christine<br />
Lucyga sollen schriftlich beantwortet werden. Die<br />
Antworten werden als Anlagen abgedruckt.<br />
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Schily<br />
auf :<br />
Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Gesamtkosten der<br />
durchgeführten und noch durchzuführenden Maßnahmen zur<br />
Asbestsanierung in öffentlichen und privaten Gebäuden der<br />
Bundesrepublik Deutschland?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort.<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär bei der<br />
Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und<br />
Städtebau: Herr Kollege Schily, die Bundesregierung<br />
sieht sich nicht in der Lage, die Höhe der Gesamtkosten<br />
der durchgeführten und noch durchzuführenden<br />
Maßnahmen zur Asbestsanierung in öffentlichen und<br />
privaten Gebäuden zu schätzen. Die dazu notwendigen<br />
umfangreichen und schwierigen Erhebungen<br />
und Untersuchungen liegen weder beim Bund noch<br />
bei den für das Bauen zuständigen Bundesländern<br />
vor. Erhebungen einzelner Hochbauverwaltungen<br />
wie z. B. der Deutschen Bundespost oder Einzelangaben<br />
zu den Kosten bisher durchgeführter oder veranschlagter<br />
Sanierungsmaßnahmen im Zuständigkeitsbereich<br />
des Bundesbauministeriums haben für die<br />
Gesamtsituation der öffentlichen Gebäude keine Aussagekraft,<br />
die ja zum überwiegenden Teil Kommunaloder<br />
Landesbauten sind. Für den privaten Bereich<br />
sind derartige Erfassungen ohnehin nicht möglich,<br />
weil dafür eine Begehung und Untersuchung mindestens<br />
aller bis 1978 errichteten Privatgebäude notwendig<br />
wäre.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, Zusatzfrage.<br />
Otto Schily (SPD): Herr Staatssekretär, meinen Sie<br />
nicht, daß es notwendig wäre, solche Zahlen zu erarbeiten,<br />
und sehen Sie Möglichkeiten, solche Zahlen in<br />
Zukunft zu eruieren? Denn ich könnte mir vorstellen,<br />
daß auch Sie die Auffassung teilen, daß ja in sehr breitem<br />
Umfang solche Sanierungsmaßnahmen notwendig<br />
geworden sind und mit Sicherheit auch schon sehr<br />
kostenaufwendig waren und daß die Politik in der<br />
Zukunft doch darauf gerichtet sein sollte, solchen Reparaturbedarf<br />
zu vermeiden? Wenn man das im Kopf<br />
hat, sollte man sich vielleicht auch Erkenntnisse darüber<br />
verschaffen, welche Größenordnungen zur Debatte<br />
stehen.<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Schily, wir sind uns einig, daß die Politik alles tun<br />
muß, um solche Bauschäden und Gesundheitsschäden,<br />
wie sie aufgetreten sind, zu vermeiden. Aus diesem<br />
Grunde ist schon seit 13 Jahren die Verwendung<br />
des hier besonders relevanten Spritzasbestes untersagt.<br />
In der Zwischenzeit sind weitere Verordnungen<br />
erlassen worden, die letzte Verordnung erst vor wenigen<br />
Wochen von der Bundesregierung, durch die<br />
auch jeder Handel mit asbesthaltigen Produkten untersagt<br />
wird, so daß über den Verordnungsweg sichergestellt<br />
ist, daß Bauschäden und Gesundheitsschäden<br />
im Zusammenhang mit Asbest nicht mehr auftreten<br />
können.<br />
Nichtsdestoweniger bleibt die Frage der Sanierung,<br />
die schon seit vielen Jahren Bund und Länder gemeinsam<br />
beschäftigt. Wir haben schon vor fünf Jahren von<br />
seiten des Bundes gemeinsam mit der ARGE Bau, der<br />
Vereingiung der Länderbauminister, eine Sch rift über<br />
die Sanierung der Asbestschäden in den öffentlichen<br />
Bauten herausgegeben. Die Sanierung ist bereits in<br />
vollem Gange. Eine Kostenschätzung stößt aber auf<br />
die Schwierigkeiten, die ich eben dargelegt habe.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine zweite Zusatzfrage,<br />
Herr Kollege Schily.<br />
Otto Schily, (SPD): Herr Staatssekretär, welche<br />
Konsequenzen ziehen Sie denn aus dem Vorgang<br />
überhaupt, wenn Sie nun schon kein Zahlenmaterial<br />
haben und ein bißchen im Nebel stochern und wir uns<br />
darüber einig sind, daß es ein Schaden großen Ausmaßes<br />
ist, wie immer man ihn definiert, für die Frage,<br />
welche Baustoffe man zulassen soll, welche Kennzeichnungspflichten<br />
eingeführt werden sollen usw.?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Schily, es gibt Institute, die Baustoffe auf ihre<br />
Verwendbarkeit und ihre gesundheitliche Unschädlichkeit<br />
prüfen. Die Schäden, die im Zusammenhang<br />
mit Asbest aufgetreten sind, sind allerdings nicht vorhergesehen<br />
worden. Als sie auftraten, ist sehr bald<br />
— im Jahre 1978 — eine Verwendung des Spritzasbestes<br />
untersagt worden.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Herr<br />
Kollege Professor Diederich.<br />
Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Herr Parlamentarischer<br />
Staatssekretär, wenn es, was einzusehen ist,<br />
schon schwierig ist, einen Gesamtüberblick zu haben:<br />
Haben Sie denn wenigstens einen Überblick über<br />
Anzahl bzw. Anteil der asbestverseuchten Gebäude<br />
und über die notwendigen Kosten der Sanierung der<br />
bundeseigenen Gebäude, einschließlich der Gebäude,<br />
die von Bundesorganen usw. gebraucht werden?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Es gibt in<br />
Einzelbereichen Untersuchungen, z. B. im Bereich der<br />
Post. Es gibt keine Gesamtuntersuchung für alle Bauten,<br />
die im Eigentum des Bundes stehen. Jedenfalls<br />
kenne ich solche Zahlen im Moment nicht.<br />
(Dr. Peter Struck [SPD]: Solche Auskünfte<br />
kann man sich auch sparen! Das ist ja die<br />
absolute Inkompetenz!)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Dann rufe ich die<br />
Frage 14 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf:<br />
Inwieweit werden im Rahmen der Stadt- und Dorfsanierung<br />
und beim städtebaulichen Denkmalschutz im Rahmen des Gemeinschaftswerkes<br />
„Aufschwung Ost" in den einzelnen neuen<br />
Bundesländern die Sanierung bzw. Renovierung von Gastronomiebetrieben<br />
berücksichtigt?<br />
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Koppelin, die Durchführung von Baumaßnahmen<br />
im Rahmen von städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen<br />
ist regelmäßig Angelegenheit der privaten<br />
Eigentümer. Nach § 177 des Bundesbaugesetzes
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2603<br />
Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach<br />
hat der Eigentümer von baulichen Anlagen die Kosten<br />
für die Modernisierung oder Instandsetzung grundsätzlich<br />
selbst zu tragen, auch wenn sie von der Gemeinde<br />
wegen vorliegender städtebaulicher Mißstände<br />
angeordnet worden ist.<br />
Allerdings kann die Gemeinde Zuschüsse für sogenannte<br />
unrentierliche Leistungen aus dem Städtebauförderungsprogramm<br />
gewähren.<br />
Diese Regeln gelten auch für das Sonderprogramm<br />
zum städtebaulichen Denkmalschutz im Rahmen des<br />
Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. So kann die<br />
Gemeinde auch für Gebäude, in denen sich gastronomische<br />
Einrichtungen befinden, Zuwendungen aus<br />
Städtebauförderungsmitteln bewilligen, wenn es sich,<br />
z. B. bei denkmalgeschützten Gebäuden, um bauliche<br />
Teilleistungen handelt, die aus städtebaulichen oder<br />
denkmalpflegerischen Gründen erforderlich sind, die<br />
jedoch dem Eigentümer wegen Unrentierlichkeit<br />
sonst nicht zugemutet werden könnten.<br />
Der vom Eigentümer zu tragende Kostenanteil wird<br />
dabei nach der Durchführung der Modernisierungsoder<br />
Instandsetzungsmaßnahmen unter Berücksichtigung<br />
der Erträge ermittelt, die für die modernisierte<br />
oder instandgesetzte bauliche Anlage bei ordentlicher<br />
Bewirtschaftung nachhaltig erzielt werden können.<br />
Im Einzelfall kann zwischen Gemeinde und Eigentümer<br />
eine Pauschale für die Kostenerstattung vereinbart<br />
werden.<br />
Wie bei allen städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen<br />
gilt auch hier, daß der Bund auf die Auswahl der<br />
zu fördernden Einzelmaßnahmen keinen Einfluß hat.<br />
Diese Auswahl ist allein Sache der Länder.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Koppelin,<br />
Zusatzfrage.<br />
Jürgen Koppelin (FDP) : Herr Staatssekretär, können<br />
Sie uns sagen, wieviel Mittel für die neuen Bundesländer<br />
für die Städtesanierung zur Verfügung gestellt<br />
werden? Können Sie uns auch sagen, ob diese<br />
Mittel von den Ländern abgerufen werden?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Koppelin, wir geben den neuen Bundesländern<br />
über vier verschiedene Wege Mittel für die Stadterneuerung:<br />
einmal direkt in der allgemeinen Form der<br />
Stadterneuerungsmittel, wie wir sie auch im Westen<br />
kennen, mit einem Volumen von 300 Millionen DM,<br />
dann für den städtebaulichen Denkmalschutz in einer<br />
Höhe von 180 Millionen DM, dann für städtebauliche<br />
Planungsleistungen in Höhe von 50 Millionen DM<br />
und schließlich Mittel für Modellvorhaben der Stadterneuerung<br />
in einer Größenordnung von 100 Millionen<br />
DM per anno.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />
Jürgen Koppelin (FDP): Herr Staatssekretär, können<br />
Sie uns sagen, wann Ihr Haus bereit ist zu überprüfen,<br />
ob diese Mittel ausreichend sind?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir haben<br />
von seiten der Regierungen der Beitrittsländer gehört,<br />
daß die Finanzausstattung ausreichend sei.<br />
Die Frage, inwieweit diese Mittel abfließen, läßt<br />
sich natürlich erst im Laufe des Jahres beantworten.<br />
Für den Fall, daß sie nicht abfließen sollten, ist durch<br />
einen entsprechenden Haushaltsvermerk, den der<br />
<strong>Bundestag</strong> beschlossen hat, vorgesehen, daß sie dann<br />
auch in den westlichen Bundesländern eingesetzt<br />
werden können.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Nächste Zusatzfrage,<br />
Kollege Dr. Olderog.<br />
Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,<br />
ist es richtig, daß aus diesem Programm bisher praktisch<br />
keine Mittel abgeflossen sind, und teilen Sie die<br />
in den neuen Ländern vielfach geäußerten Bedenken,<br />
daß wegen der Kompliziertheit und der Unübersichtlichkeit<br />
dieser Programme damit gerechnet werden<br />
muß, daß der weitaus größte Teil dieser Mittel 1991<br />
überhaupt nicht in Anspruch genommen werden<br />
wird?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Olderog, wir haben schon vor dem Haushaltsbeschluß<br />
mit den Regierungen der neuen Länder die<br />
notwendigen Verwaltungsvereinbarungen ausgehandelt<br />
und haben sie den Regierungen der neuen<br />
Länder zugesandt. Sie sind inzwischen samt und sonders<br />
von den Länderregierungen beschlossen und unterzeichnet<br />
worden; die letzten sind Ende Mai in Kraft<br />
getreten, so daß die Verwaltungsvereinbarungen stehen.<br />
Was nicht überall steht, sind die Förderrichtlinien,<br />
nach denen die Länder diese Mittel im. Einzelfall vergeben.<br />
Viele Länderregierungen haben diese Förderrichtlinien<br />
zu den vier verschiedenen Programmen,<br />
von denen ich gesprochen habe, bereits erstellt und<br />
auf dieser Basis auch schon Bewilligungen ausgesprochen.<br />
Erfahrungsgemäß — das zeigt die Städtebauförderung<br />
im Westen — fließen die Mittel nicht schon im<br />
gleichen Jahr ab, in dem sie bewilligt werden. Sie fließen<br />
vielmehr in der Regel über einen längeren Zeitraum<br />
hinweg. Entscheidend ist aber, daß die Mittel<br />
noch in diesem Jahr bewilligt werden.<br />
Ich wage jetzt keine Prognose, inwieweit dies tatsächlich<br />
in den nächsten Monaten gelingt. Für den<br />
Fall, daß dies bis zum Spätherbst nicht gelingen sollte,<br />
verfallen die Mittel nicht automatisch — davon habe<br />
ich eben gesprochen —; es ist vielmehr durch den entsprechenden<br />
Haushaltsvermerk, den der <strong>Bundestag</strong><br />
beschlossen hat, vorgesehen, daß sie dann in den<br />
westlichen Bundesländern eingesetzt werden können.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Feldmann,<br />
Sie haben die nächste Zusatzfrage.<br />
Dr. Olaf Feldmann (FDP) : Herr Staatssekretär, können<br />
Sie meiner Feststellung zustimmen, daß die Betriebe<br />
des Hotel- und Gaststättengewerbes oft das<br />
Image einer Stadt wesentlich prägen, ja meist Aushängeschild<br />
eines Ortes sind, und können Sie meiner<br />
Schlußfolgerung folgen, daß sie deswegen auch eine<br />
besondere Förderung verdienen?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ich würde<br />
dem uneingeschränkt zustimmen. Die Frage ist natür-
2604 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach<br />
lich nur, welche Fördertöpfe dafür in Frage kommen.<br />
Bei der städtebaulichen Sanierung geht es in erster<br />
Linie um städtebauliche Mißstände, deren Beseitigung<br />
normalerweise vom p rivaten Eigentümer zu finanzieren<br />
ist, jedenfalls soweit die dafür notwendigen<br />
Kapital- oder Bewirtschaftungskosten aus dem Objekt<br />
heraus finanziert werden können. Nur dann, wenn es<br />
sich um städtebauliche Mißstände handelt, bei denen<br />
die Gemeinde ein entsprechendes Modernisierungsgebot<br />
erläßt und eine nachhaltige Erwirtschaftung aus<br />
dem Objekt heraus nicht möglich ist, kommt eine Finanzierung<br />
aus den Mitteln für die städtebauliche<br />
Sanierung in Frage.<br />
Aber es gibt durchaus die Möglichkeit, dafür gegebenenfalls<br />
andere Förderhilfen in Anspruch zu nehmen.<br />
Ich denke hier insbesondere an Finanzhilfen, die<br />
der Wirtschaftsminister im Rahmen der Mittelstandsund<br />
Existenzgründungshilfen gewährt.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Herr<br />
Abgeordneter Schmalz.<br />
Ulrich Schmalz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />
könnten Sie sich vorstellen, daß ein besserer Mittelabfluß<br />
zu erreichen wäre, wenn man bei den Komplementärmitteln<br />
eine geringere Eigenbeteiligung vorsähe?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir haben<br />
1990, als wir andere Programme aufgelegt haben, einen<br />
niedrigeren Komplementäranteil der Gemeinden<br />
vorgesehen. Bei den Programmen für das Jahr 1991<br />
legen wir dieselben Komplementäranteile für die Länder<br />
und Gemeinden im Beitrittsgebiet zugrunde, wie<br />
sie den Programmen hier im Westen zugrunde liegen.<br />
Wir glauben, daß wir mit den Beschlüssen, die Ende<br />
Februar zwischen dem Bund und den Regierungschefs<br />
der Länder vereinbart wurden, insgesamt für<br />
eine ausreichende Finanzausstattung im Beitrittsgebiet<br />
Sorge getragen haben, so daß auch die Länder<br />
und Gemeinden in der Lage sind, die entsprechenden<br />
Komplementärmittel aufzubringen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Herr<br />
Abgeordneter Brähmig.<br />
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist<br />
die Situation in den alten Bundesländern und in den<br />
neuen Bundesländern vergleichbar? Können Sie sich<br />
vorstellen, daß die Situation nicht vergleichbar ist?<br />
Das ist eigentlich das Problem, das wir haben.<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Vergleichbar<br />
unter dem Gesichtspunkt der ausreichenden - Ausstattung<br />
der Länder und Gemeinden mit eigenen<br />
Komplementärmitteln — das müßte ja die Frage sein,<br />
denn die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsverteilung<br />
für Fragen der Stadterneuerung ist im Beitrittsgebiet<br />
genau dieselbe wie im Westen. Primär ist die<br />
Stadterneuerung keine Aufgabe des Bundes, sondern<br />
eine Aufgabe, die in örtlicher Verantwortung zu erledigen<br />
ist, bei der der Bund jetzt im Beitrittsgebiet<br />
Finanzhilfen in dem gleichen Verhältnis gewährt, wie<br />
er sie auch den westlichen Bundesländern gibt.<br />
Entscheidend kann nur die Frage sein: Sind die<br />
neuen Länder in der Lage, die entsprechenden Kom<br />
plementärmittel aufzubringen? Wir sind der Auffassung,<br />
daß mit den Beschlüssen, die wir Ende Februar<br />
gefaßt haben, diese Voraussetzungen auch im Beitrittsgebiet<br />
gegeben sind.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile jetzt dem Kollegen<br />
Türk das Wort zu einer Zusatzfrage.<br />
Jürgen Türk (FDP): Herr Staatssekretär, können Sie<br />
sich vorstellen, daß die Mittel für das Jahr 1991, die in<br />
Ostdeutschland wegen der Verwaltungsschwierigkeiten<br />
nicht in Anspruch genommen werden können<br />
— das könnte ja sein —, aber dringend gebraucht<br />
werden, auf das Jahr 1992 überschrieben werden?<br />
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Der Haushaltsbeschluß<br />
des Parlaments sieht etwas anderes vor,<br />
Herr Kollege. Aber man kann sich vielerlei vorstellen,<br />
wenn das Parlament dies so beschließen will.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Gibt es zur Frage 14 des<br />
Kollegen Jürgen Koppelin weitere Zusatzfragen? —<br />
Dies ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich, Herr<br />
Parlamentarischer Staatssekretär.<br />
Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung<br />
und Technologie braucht nicht aufgerufen zu<br />
werden, da die Fragen 15 und 16 der Abgeordneten<br />
Ursula Burchardt und die Fragen 17 und 18 der Abgeordneten<br />
Edelgard Bulmahn auf Wunsch der Fragestellerinnen<br />
schriftlich beantwortet werden. Die Antworten<br />
werden als Anlagen abgedruckt.<br />
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Zur<br />
Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische<br />
Staatssekretär Hans-Peter Repnik zur Verfügung.<br />
Die Frage 19 des Abgeordneten Diet rich Austermann<br />
soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort<br />
wird als Anlage abgedruckt.<br />
Ich rufe die Frage 20 des Kollegen Jürgen Augustinowitz<br />
auf:<br />
Welche Begriffsbestimmungen, Zusammenhänge bzw. Kriterien<br />
meint die Bundesregierung, wenn sie im Zusammenhang<br />
mit der Vergabe von Entwicklungshilfeleistungen von „ungerechtfertigt<br />
hohen Rüstungsausgaben" spricht?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort.<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Herr<br />
Präsident, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich wegen<br />
der in der Frage angesprochenen Komplexität der<br />
Problematik etwas umfangreicher antworten muß.<br />
Übermäßige Rüstungsausgaben tragen zu den<br />
Haushaltsdefiziten einzelner Entwicklungsländer<br />
bei. Sie verringern den Spielraum für eine sich selbst<br />
tragende, eigenständige Entwicklung und verschlechtern<br />
somit auch die Rahmenbedingungen für<br />
die Entwicklungszusammenarbeit. Eigenanstrengungen<br />
und entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen<br />
sind somit ein entscheidendes Vergabekriterium<br />
unserer Entwicklungszusammenarbeit.<br />
Die Bundesregierung entwickelt mit wissenschaftlicher<br />
Unterstützung derzeit ein Verfahren zur Bewertung<br />
des Rüstungsumfangs eines Entwicklungslan-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2605<br />
Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />
des. Dazu dienen quantitative Kriterien, z. B. der Anteil<br />
der Militärausgaben an den staatlichen Ausgaben<br />
insgesamt und das Verhältnis von Militärausgaben<br />
zur Summe der Ausgaben für Gesundheit und Bildung.<br />
Dabei geht es um das relative Gewicht der Militärausgaben<br />
im Vergleich zum Entwicklungsstand des<br />
Landes und um das proportionale Gewicht im Vergleich<br />
zu anderen Ländern einer Region. Die quantitativen<br />
Daten können dann in eine qualitative Prüfung<br />
eingebracht werden. Hier spielt der Militarisierungsgrad<br />
eines Landes vor dem Hintergrund seiner<br />
Sicherheitsinteressen eine wichtige Rolle. Ein weiteres<br />
Kriterium ist die Bereitschaft des Landes, sich an<br />
internationalen Vereinbarungen über Rüstungskontrolle<br />
und insbesondere über den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen<br />
zu beteiligen.<br />
Die Bundesregierung sieht es zwar nicht als ihre<br />
Aufgabe an, für die Entwicklungsländer eine Politik<br />
der Rüstungsbegrenzung zu definieren — sie bleibt<br />
souveräne Entscheidung der einzelnen Staaten —,<br />
dennoch hält die Bundesregierung es für geboten, bei<br />
ihrer Entscheidung über Art und Umfang der Entwicklungszusammenarbeit<br />
mit den jeweiligen Staaten<br />
Rüstungsausgaben als ein Element zu berücksichtigen.<br />
Darüber hinaus hat der Zusammenhang zwischen<br />
Rüstung und Entwicklung in den Politikdialog zwischen<br />
Geber- und Nehmerländern sowohl auf bilateraler<br />
als auch auf multilateraler Ebene bereits Eingang<br />
gefunden. Dabei wächst auch in den Partnerländern,<br />
in den Entwicklungsländern zunehmend die<br />
Einsicht, daß durch Einsparungen auf dem Gebiet der<br />
Rüstung Mittel für den Entwicklungsprozeß freigemacht<br />
werden müssen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, eine<br />
Zusatzfrage.<br />
Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />
vielen Dank für die ausführliche Beantwortung<br />
der Frage. Aber ein Punkt ist für mich offengeblieben:<br />
Wann, zu welchem Zeitpunkt ist mit der Vorlage dieser<br />
Kriterien zu rechnen?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich habe<br />
darauf hingewiesen, daß wir diese Kriterien unter Zuhilfenahme<br />
wissenschaftlichen Rates erarbeiten. Die<br />
ersten Ansätze, die wir schon erarbeitet haben, finden<br />
bereits Anwendung bei der Erarbeitung der Rahmenplanung,<br />
die wir derzeit vornehmen. Wir sind also<br />
bereits dabei, einen Teil dessen, was wir erarbeitet<br />
haben, umzusetzen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />
Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Könnten Sie<br />
sich vorstellen, daß wir im Ausschuß für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit derzeit bei der Beratung des<br />
Haushalts 1992 eine Liste Ihres Hauses bekommen,<br />
aus der hervorgeht, bei welchen Ländern es auf<br />
Grund übermäßig hoher Rüstungsausgaben zu einer<br />
Kürzung gekommen ist?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Wir werden<br />
uns auf alle Fälle bemühen, auch diese Frage im<br />
Rahmen der Haushaltsberatungen transparent zu machen.<br />
Ich bin zu gegebener Zeit, wenn die Beratungen<br />
anstehen, selbstverständlich bereit, im Ausschuß für<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit Rede und Antwort zu<br />
stehen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage des Kollegen<br />
Bindig.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Ich begrüße zunächst, daß Sie<br />
den Versuch unternehmen, das Kriterium „übermäßige<br />
Rüstungsausgaben" zu operationalisieren, nachdem<br />
von der Bundesregierung jahrelang die Auffassung<br />
vertreten worden ist, das sei nicht möglich. Sie<br />
haben soeben gesagt, das solle bei der Entwicklungshilfe<br />
nach Art und Umfang berücksichtigt werden. In<br />
welche Richtung denken Sie, wenn Sie von Berücksichtigung<br />
sprechen? Denken Sie in Richtung auf eine<br />
Kürzung von Entwicklungszusammenarbeit mit diesen<br />
Ländern, oder denken Sie in der Richtung, die<br />
Zusammenarbeit nur noch auf bestimmte Projekte<br />
auszurichten?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Bindig, Sie kennen als erfahrener Entwicklungspolitiker<br />
ja den breiten Ansatz der Instrumente, die<br />
uns zur Verfügung stehen.<br />
Das erste — und da sind wir schon mitten in der<br />
ersten Phase der Implementierung dieser Gedanken<br />
— ist der Politikdialog. Es ist zuerst einmal wichtig,<br />
daß wir alle unsere Partner im Süden für dieses<br />
Thema sensibilisieren. Sie wissen selbst, daß entsprechende<br />
Erkenntnisse bei vielen unserer Partner noch<br />
längst nicht Allgemeingut sind. Daher ist der Politikdialog<br />
der erste Einstieg. Sie müssen wissen, daß wir<br />
dieses Kriterium bei der Erarbeitung unserer Länderkonzepte<br />
und — als Ausfluß dessen — bei der Zusage<br />
bestimmter Mittel verstärkt heranziehen werden. Ich<br />
glaube, wir müssen unseren Partnern die Chance geben,<br />
sich darauf einzustellen.<br />
In weiteren Schritten wird eine Verweigerung im<br />
Rahmen dieses Dialogs Konsequenzen haben. Dies<br />
kann ein Einschränken der Entwicklungszusammenarbeit<br />
sein; dies kann eine Umwidmung der Mittel<br />
sein; dies kann bedeuten, daß man stärker versucht,<br />
über Nicht-Regierungsorganisationen die Probleme<br />
vor Ort zu lösen. Das Instrumentarium ist vielfältig.<br />
Wir werden keine Facette auslassen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Nächste Zusatzfrage,<br />
Herr Kollege Grünbeck.<br />
Josef Grünbeck (FDP) : Herr Staatssekretär, ist der<br />
Handlungsspielraum der Bundesregierung bei der<br />
Reduzierung von Rüstungspotential in Entwicklungsländern<br />
nicht durch unsere bestehenden Kooperationsverträge<br />
eingeengt, und müßte man nicht ein Ziel<br />
der Bundesregierung darin sehen, daß bei künftigen<br />
Kooperationsverträgen auf die Entwicklungsländer<br />
besondere Rücksicht genommen wird, damit kooperative<br />
Rüstungsproduktionen für Entwicklungsländer<br />
reduziert werden?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Grünbeck, wir müssen hier differenzieren. Gegenstand<br />
der bisherigen Fragen war die Rüstungsent-
2606 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />
wicklung in unseren Partnerländern unabhängig davon,<br />
woher diese Rüstungsgüter kommen, ob aus der<br />
Bundesrepublik Deutschland oder woher auch immer.<br />
Die Bundesregierung hat hier in der Vergangenheit<br />
immer eine ganz klare und restriktive Haltung eingenommen.<br />
Wir werden auch in Zukunft darauf achten,<br />
daß beim Rüstungsexport, der ja nicht zuletzt auf<br />
Grund der Beschlußlage des Deutschen <strong>Bundestag</strong>s<br />
durch eine entsprechende Initiative der Bundesregierung<br />
eine noch größere Einengung erfahren soll, Partnerländer<br />
im Süden nicht bevorzugte Kunden für Rüstungsgüter<br />
aus der Bundesrepublik Deutschland<br />
oder in Kooperation mit anderen Ländern sein werden.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Nächste Zusatzfrage,<br />
Herr Kollege Erler.<br />
Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, sehen Sie<br />
vor, daß bei der Feststellung ungerechtfertigt hoher<br />
Rüstungsausgaben bei bedachten Ländern auch unsere<br />
Zuwendungen im Rahmen von Ausstattungsund<br />
Aufwendungshilfe und Polizeihilfe berücksichtigt<br />
werden?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Dies ist<br />
eine andere Frage, für die der Bundesminister für<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit ja nicht zuständig ist.<br />
Wir müssen allerdings sehen: Wenn wir die Souveränität<br />
dieser Staaten und die Bereitschaft unserer Partnerländer,<br />
Demokratie gegen Feinde von innen wie<br />
gegen Feinde von außen auch wehrhaft zu verteidigen,<br />
ernst nehmen wollen, bedarf es eines bestimmten<br />
polizeilichen oder militärischen Potentials. Dies kann<br />
auch in Zukunft nach sorgfältiger Prüfung im Einzelfall<br />
bedeuten, daß wir vor diesem demokratischen<br />
Hintergrund bereit und in der Lage sind, Ausstattungshilfe<br />
zu leisten.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Walz, Sie<br />
haben die nächste Zusatzfrage.<br />
Ingrid Walz (FDP) : Herr Staatssekretär, wie werden<br />
wir es mit den Entwicklungsländern halten, die selbst<br />
Waffen herstellen und exportieren?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Dies ist<br />
eine Frage, die uns zunehmend besorgt. Es ist nicht<br />
nur so, daß ebensolche Waffenexporte aus den Industrienationen<br />
kommen, sondern zunehmend Schwellenländer<br />
hier als Exporteure auftreten. Diese Fragestellung<br />
ist Gegenstand auch unseres Prüfungsverfahrens.<br />
Wir haben also im Rahmen der jetzt schon für uns<br />
-<br />
intern erarbeiteten Prüfungskriterien auch diese<br />
Frage aufgeworfen: Gibt es Rüstungsproduktionen in<br />
diesen Ländern, und tragen diese Länder durch Rüstungsexporte<br />
mit dazu bei, daß andere Entwicklungsländer<br />
eine zu hohe Rüstung haben? Das ist ein<br />
Teil der Prüfung.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />
dazu? — Das ist nicht der Fall.<br />
Dann rufe ich die Frage 21 des Abgeordneten Augustinowitz<br />
auf:<br />
Wann und mit wem fanden in der Zeit von Juni 1989 bis heute<br />
entwicklungspolitische Regierungskonsultationen bzw. sonstige<br />
Gespräche mit chinesischen Verantwortlichen in<br />
Deutschland bzw. in China selbst statt?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort zur Beantwortung.<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident,<br />
seit Juni 1989 gab es auf politischer Ebene des<br />
Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit insgesamt<br />
fünf Besuche bzw. chinesische Delegationen<br />
in der Bundesrepublik Deutschland. In der gleichen<br />
Zeit reiste Staatssekretär Lengl dreimal nach China.<br />
Wichtigste Gesprächspartner bei dem Aufenthalt<br />
von Staatssekretär Lengl im Juli 1990 waren der Ministerpräsident,<br />
der für die Planungs- und die Erziehungskommission<br />
zuständigen Staatsräte und die Minister<br />
für Außenwirtschaft, für Arbeit, für zivile Angelegenheiten<br />
und Forst sowie der Gouverneur der Provinz<br />
Fujian und der Oberbürgermeister der Stadt<br />
Shanghai.<br />
Die zweite Reise im Dezember 1990 erfolgte aus<br />
Anlaß der ersten deutsch-chinesischen Regierungsverhandlungen<br />
nach dem <strong>Bundestag</strong>sbeschluß vom<br />
30. Oktober 1990. Staatssekretär Lengl führte bei dieser<br />
Gelegenheit auch Gespräche mit einem der chinesischen<br />
Vizepremiers, Tian Juyen, dem für die Erziehungskommission<br />
zuständigen Staatsrat, dem Oberbürgermeister<br />
von Peking und dem Landwirtschaftsminister.<br />
Über seine dritte Reise aus Anlaß der Konsultationen<br />
im vergangenen Monat hat Staatssekretär Lengl<br />
dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
ausführlich berichtet. Sie selbst, Herr Kollege Augustinowitz,<br />
waren zugegen.<br />
(Rudolf Bindig [SPD]: Er hat dort die Un<br />
wahrheit gesagt!)<br />
Wichtigste Gesprächspartner waren der Ministerpräsident,<br />
Vizepremier Zhu, der für die Erziehungskommission<br />
zuständige Staatsrat sowie die Minister für<br />
Arbeit, Handel und Gesundheit und der neue Oberbürgermeister<br />
von Shanghai.<br />
Staatssekretär Lengl hatte über diese Gespräche<br />
mit Regierungsvertretern hinaus auch Kontakte mit<br />
Professoren und Studenten der chinesischen Außenhandelsuniversität,<br />
über die er ebenfalls im Ausschuß<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit erschöpfend berichtet<br />
hat.<br />
Bei den genannten fünf Delegationen aus China<br />
handelte es sich um zwei Besuche des Vizeministers<br />
des chinesischen Außenhandelsministeriums im Dezember<br />
1989 und im Dezember 1990, bei denen es um<br />
die Gestaltung der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit<br />
auf der Basis der <strong>Bundestag</strong>sbeschlüsse<br />
vom Juni 1989 bzw. vom Oktober 1990 ging.<br />
Im Juni 1990 besuchte der neue Präsident der in<br />
China für Fortbildungsmaßnahmen zuständigen Organisation,<br />
Herr Ye, das BMZ und die im Fortbildungsbereich<br />
tätigen deutschen Organisationen.<br />
Im Oktober 1990 war eine Delegation der chinesischen<br />
Erziehungskommission in Deutschland zur Erörterung<br />
der Zusammenarbeit im Bereich der berufli-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2607<br />
Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />
chen Bildung, einem Schwerpunktbereich der<br />
deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit.<br />
Bei der fünften Delegation handelte es sich um den<br />
Besuch des neuen Vizepremiers und früheren Oberbürgermeisters<br />
von Shanghai, Herrn Zhu, der im BMZ<br />
Grundlinien der künftigen Zusammenarbeit besprach<br />
und u. a. einer Einladung des Hamburger Senats<br />
Folge leistete.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Augustinowitz<br />
zu einer Zusatzfrage.<br />
Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />
ist es eigentlich üblich, daß auf der Ebene von<br />
Regierungskonsultationen in diesem Stadium ein<br />
Staatssekretär diese Gespräche führt?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Die Konsultationen<br />
werden grundsätzlich nicht auf Staatssekretärsebene<br />
geführt. Herr Kollege Lengl hat auch<br />
nicht selbst die Konsultationen geleitet, sondern er hat<br />
parallel zu den laufenden Konsultationen über die<br />
Entwicklungszusammenarbeit entwicklungspolitische<br />
Fragestellungen mit politischen Gesprächspartnern<br />
in der Volksrepublik China erörtert.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />
Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />
entsprechen alle in diesen eben von Ihnen<br />
genannten Gesprächen behandelten Projekte auch<br />
dem Beschluß des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es vom<br />
30. Oktober 1990?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Nach unserer<br />
Einschätzung, soweit diese Gespräche zu ganz<br />
konkreten Ergebnissen geführt haben, ja. Hierüber<br />
wurde auch jeweils der zuständige Fachausschuß sowohl<br />
in der letzten Legislaturperiode als auch in der<br />
jetzigen Legislaturperiode unterrichtet.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Darf ich — nur aus Gründen<br />
der inneren Vorbereitung — die Reihenfolge der<br />
nächsten Fragesteller nennen: Dies sind die Kollegen<br />
Schily, Soell, Erler und Bindig.<br />
Bitte sehr.<br />
Otto Schily (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie<br />
uns Auskunft darüber geben, wie oft Herr Staatssekretär<br />
Lengl bei seinen zahlreichen Besuchen von<br />
Funktionären aus dem chinesischen Bereich zwangsweise<br />
umarmt worden ist?<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Öffentlich oder<br />
nichtöffentlich?)<br />
-<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Nein.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Nächste Frage, Herr Kollege<br />
Soell.<br />
Dr. Hartmut Soell (SPD): Herr Staatssekretär, können<br />
Sie uns Auskunft darüber geben, wie oft, wie<br />
intensiv und mit welchem Ergebnis Staatssekretär<br />
Lengl darauf gedrungen hat, daß die wegen der Demokratiebewegung<br />
1989 durch zahlreiche Prozesse<br />
Verurteilten durch eine Amnestie freigelassen werden?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Soell, Staatssekretär Lengl hat bei den von mir<br />
jetzt aufgeführten drei Besuchen in den vergangenen<br />
zwei Jahren, die nach den Ereignissen auf dem Platz<br />
des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 stattgefunden<br />
haben, jeweils als einen Bestandteil seiner Gespräche<br />
mit der politischen Führung in Peking Menschenrechtsfragen<br />
gehabt, und er hat nachweislich<br />
auch des Botschaftsberichts von seiner letzten Reise,<br />
über die ja in den letzten Wochen auch in der Öffentlichkeit<br />
diskutiert wurde, gerade dem Bereich der<br />
Menschenrechtsverletzungen einen großen Stellenwert<br />
eingeräumt.<br />
(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Mit welchem Er<br />
gebnis? Das war noch die Frage!)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Nächste Frage, Herr Kollege<br />
Erler.<br />
(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Und das Ergeb<br />
nis?)<br />
Gernot Erler (SPD) : Herr Staatssekretär, angesichts<br />
der eindrucksvollen Liste von Konsultationen und Besuchen<br />
auf Staatssekretärsebene frage ich Sie: In welches<br />
Land sind denn seit Juni 1989 häufiger solche<br />
Delegationen des BMZ auf Staatssekretärsebene gefahren?<br />
Oder muß man aus der Liste schließen, daß die<br />
Volksrepublik China der erste Adressat bundesrepublikanischer<br />
Entwicklungshilfe ist?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich habe<br />
jetzt nicht die Unterlagen über die gesamte Reisetätigkeit<br />
der Leitung des BMZ bei mir,<br />
(Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Umfang<br />
reich! Wird schriftlich nachgereicht!)<br />
so daß ich jetzt keine erschöpfende Antwort geben<br />
kann. Es kann aber natürlich nicht bestritten werden,<br />
daß es gerade auch im Hinblick auf die Beschlüsse des<br />
Deutschen <strong>Bundestag</strong>es und auf Grund einer ganzen<br />
Reihe von vereinbarten Maßnahmen, die es ja zum<br />
Teil abzubrechen oder später umzuwidmen galt,<br />
einen erhöhten Bedarf an Gesprächen mit der chinesischen<br />
Führung gegeben hat.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bindig.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Angesichts der Tatsache, daß<br />
der Staatssekretär in diesem abgefragten Zeitraum<br />
dreimal in China gewesen ist, möchte auch ich fragen,<br />
ob er in anderen Ländern ähnlich oft gewesen ist oder<br />
ob es sich bei China um ein sogenanntes LLC, ein<br />
Lengl Loved Country, handelt?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich muß<br />
mich auf die Antwort zurückziehen, die ich dem Herrn<br />
Kollegen Erler gegeben habe. Ich habe jetzt nicht die<br />
Liste der Länder, die Herr Lengl im Vergleichszeitraum<br />
bereist hat. Aber ich möchte Ihrer Neugier insoweit<br />
entgegenkommen, als ich vermute, daß er im<br />
Vergleichszeitraum nicht häufiger in anderen Ländern<br />
war.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu weitere Fragen?<br />
— Wenn das nicht der Fall ist, könnte ich dem
2608 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
Kollegen Bindig ein P rivatissimum darüber anbieten,<br />
wie die Abkürzung LLDC in Wahrheit lautet.<br />
(Rudolf Bindig [SPD]: Ich weiß das!)<br />
Aber das machen wir besser nach der <strong>Sitzung</strong>.<br />
Nun rufe ich Frage 22 des Kollegen Bindig auf:<br />
Hat die Bundesregierung vor Beginn der Regierungsverhandlungen<br />
mit Marokko, die vom 3. Juni bis 5. Juni 1991 in Bonn<br />
stattgefunden haben, die Ermittlungsergebnisse von amnesty<br />
international über die Lage der Menschenrechte in Marokko<br />
eingeholt und zum Gegenstand der Erörterungen im Zusammenhang<br />
mit der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit dieses<br />
Landes gemacht, und, wenn ja, zu welchen konkreten Ergebnissen<br />
im Hinblick auf eine verbesserte Respektierung der<br />
Menschenrechte haben die Regierungsverhandlungen geführt?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />
das Wort.<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Im Vorfeld<br />
der Regierungsverhandlungen mit Marokko vom<br />
3. bis 5. Juni 1991 haben auf Grund der dem BMZ u. a.<br />
von amnesty international vorliegenden Erkenntnisse<br />
zur Menschenrechtslage sowohl Gespräche mit dem<br />
Generalsekretär von amnesty international als auch<br />
mit dem marokkanischen Botschafter in Bonn zur<br />
Frage der Menschenrechte in Marokko stattgefunden.<br />
Während der Regierungsverhandlungen selbst hat<br />
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Geiger mit<br />
dem marokkanischen Delegationsleiter ein ausführliches<br />
Gespräch zur Lage der Menschenrechte in Marokko<br />
geführt und dabei darauf hingewiesen, daß wir<br />
der Arbeit der in Marokko existierenden Menschenrechtsorganisationen<br />
und insbesondere des Konsultativrats<br />
für Menschenrechte große Bedeutung beimessen,<br />
die Entwicklung der Arbeiten insbesondere des<br />
Konsultativrats sorgfältig beobachten und an einer<br />
effektiven und unbeeinträchtigten Aktivität äußerst<br />
interessiert sind.<br />
Die marokkanische Seite hat sich gegenüber unseren<br />
Anliegen sensibel gezeigt. Ich gehe dabei davon<br />
aus, daß unsere Anliegen in Marokko den zuständigen<br />
Regierungsstellen übermittelt worden sind. Wir<br />
werden die weitere Entwicklung sorgfältig verfolgen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bindig.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, ist Ihnen<br />
bekannt, ob bei diesem Gespräch über die Menschenrechte<br />
auch das Schicksal der zahlreichen verschwundenen<br />
Sahrauis angesprochen worden ist?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Bindig, wir haben noch keine offizielle, förmliche<br />
Berichterstattung über die auch uns aus Zeitungsmeldungen<br />
bekanntgewordenen Fragestellungen. Entsprechende<br />
Initiativen wurden eingeleitet. Die marokkanische<br />
Botschaft befaßt sich mit den Menschenrechtsfragen,<br />
und wir warten auf einen entsprechenden<br />
Bericht.<br />
In diesem Gespräch selbst hat dieses Thema wohl<br />
keine Rolle gespielt.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, wenn Sie<br />
ein solches Gespräch führen und die Bundesregierung<br />
dort die Menschenrechtsproblematik anspricht,<br />
werden dann auch konkrete Einzelfälle besprochen,<br />
oder wird die Menschenrechtssituation allgemein erörtert?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Sowohl als<br />
auch. Dort, wo uns gravierende Fälle bekannt sind,<br />
nehmen wir Einfluß, indem wir diese Fälle ansprechen.<br />
Sie selbst wissen aus Ihrer Erfahrung, daß es im<br />
Einzelfall auch einmal kontraproduktiv sein kann,<br />
einen bestimmten Namen einzuführen. Wir stellen<br />
uns hier also auf den Einzelfall ein.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />
aus dem Kollegenkreis? — Das ist nicht der Fall.<br />
Ich rufe Frage 23, ebenfalls vom Kollegen Bindig<br />
gestellt, auf:<br />
Hat die Bundesregierung vor Beginn der Regierungsverhandlungen<br />
mit der Türkei, die vom 11. bis 13. Juni in Bonn stattgefunden<br />
haben, die Ergebnisse von amnesty international über<br />
die Lage der Menschenrechte in der Türkei eingeholt und zum<br />
Gegenstand der Erörterungen im Zusammenhang mit der entwicklungspolitischen<br />
Zusammenarbeit dieses Landes gemacht,<br />
und, wenn ja, zu welchen konkreten Ergebnissen im Hinblick<br />
auf eine verbesserte Respektierung der Menschenrechte haben<br />
die Regierungsverhandlungen geführt?<br />
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um<br />
Beantwortung.<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Bindig, die Bundesregierung ist ständig bemüht,<br />
unabhängig von der laufenden Unterrichtung u. a.<br />
durch amnesty international ein eigenes Bild über die<br />
Lage der Menschenrechte in der Türkei zu gewinnen.<br />
Das große Interesse, das die Bundesregierung der<br />
Respektierung der Menschenrechte beimißt, wurde<br />
sowohl bei den Verhandlungen über die entwicklungspolitische<br />
Zusammenarbeit als auch beim Besuch<br />
des türkischen Delegationsleiters von meiner<br />
Kollegin Michaela Geiger im Bundesministerium für<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie anläßlich der<br />
Unterzeichnung eines Abkommens über finanzielle<br />
Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt am 13. Juni<br />
1991 verdeutlicht. Die türkische Seite erklärte sich<br />
dabei im Einklang mit den von uns vorgetragenen<br />
Vorstellungen.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, kann ich<br />
aus Ihrer Antwort schließen, daß also von amnesty<br />
international für diese Regierungsverhandlungen<br />
keine konkreten Informationen extra eingeholt worden<br />
sind, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,<br />
daß die Frage darauf beruht, daß der entwicklungspolitische<br />
Sprecher Ihrer Partei hier im <strong>Bundestag</strong> bei<br />
einer Menschenrechtsdebatte begrüßt hat, daß die<br />
Bundesregierung die Absicht erklärt hat, bei allen<br />
Regierungsverhandlungen in Zukunft vorab Informationen<br />
von amnesty international einzuholen?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Das zuständige<br />
Referat hat auch hier auf dem Schriftweg die<br />
aktuellen Informationen von amnesty international<br />
mit einbezogen und berücksichtigt. Im Gegensatz<br />
zum vorher genannten Fall hat aber kein eigenständi-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2609<br />
Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />
ges Gespräch mit dem Generalsekretär von amnesty<br />
international stattgefunden.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />
Rudolf Bindig (SPD): Ist bei den Gesprächen, die<br />
dann geführt worden sind, auch die menschenrechtliche<br />
Situation der Kurden behandelt worden?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Jawohl,<br />
das Thema hat eine bedeutende Rolle gespielt.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />
dazu? — Kollege Professor Dr. Hauchler.<br />
Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Herr Staatssekretär,<br />
die Bundesregierung hat die Menschenrechtsfrage zu<br />
einem der wichtigsten Kriterien der deutschen Entwicklungspolitik<br />
gemacht, vor allem in den letzten<br />
Monaten. Wie erklärt es sich vor diesem Hintergrund,<br />
daß die entwicklungspolitischen Zusagen für die Türkei<br />
erhöht werden sollen oder schon erhöht worden<br />
sind, obwohl sich die Menschenrechtslage in der Türkei<br />
nicht verbessert hat?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />
Dr. Hauchler, ich habe mich gerade noch einmal<br />
vergewissert, wie groß die Zahl der Flüchtlinge war,<br />
die auf Grund der Ereignisse im Irak und der Menschenrechtsverletzungen<br />
dort in der Türkei Zuflucht<br />
gesucht haben: immerhin über eine halbe Million. Wir<br />
haben natürlich auch dieser Situation Rechnung getragen<br />
und haben in diesem Zusammenhang unsere<br />
Mittel im Hinblick auf die Situation der kurdischen<br />
Flüchtlinge erhöht. Darüber hinaus haben wir keine<br />
Erhöhung der Mittel vorgenommen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Frau Kollegin<br />
Fischer.<br />
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Staatssekretär,<br />
Sie haben gesagt, daß die Probleme der Kurden<br />
eine Rolle gespielt haben. Im Osten der Türkei<br />
sind die Menschenrechte zum Teil aufgehoben. Was<br />
tut die Bundesregierung, damit sich diese Situation<br />
dort ändert?<br />
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Wir greifen<br />
diese Themen im Rahmen unserer Gespräche, sowohl<br />
der Gespräche des Auswärtigen Amtes als auch<br />
der Gespräche des Bundesministers für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit, auf allen Ebenen auf, und besprechen<br />
sie mit unseren Partnern, um für eine Verbesserung<br />
der Situation einzutreten. Ich möchte allerdings<br />
— nicht entschuldigend, aber immerhin erklärend<br />
— hinzufügen: Wenn binnen kurzem, innerhalb<br />
von wenigen Wochen, eine halbe Million Flüchtlinge<br />
die Grenze in einem unwegsamen Gebiet überschreiten,<br />
dann kommt es auch auf Grund der besonderen<br />
Notsituation gelegentlich zu nicht geplanten, aber<br />
doch objektiv gegebenen Menschenrechtsverletzungen.<br />
Ich glaube, das muß gesehen werden.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />
dazu? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer<br />
Staatssekretär, dann darf ich mich bei Ihnen für die<br />
Beantwortung der Fragen bedanken.<br />
Nachdem wir zu Beginn der Fragestunde bei den<br />
Dringlichen Fragen schon den Geschäftsbereich des<br />
Bundesministers des Auswärtigen aufgerufen hatten,<br />
rufe ich diesen Geschäftsbereich jetzt erneut auf. Herr<br />
Staatsminister Helmut Schäfer steht uns wiederum<br />
zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.<br />
Die Frage 24 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer<br />
soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird<br />
als Anlage abgedruckt.<br />
Ich rufe Frage 25 des Abgeordneten Ortwin Lowack<br />
auf:<br />
Wie gedenkt die Bundesregierung auf das Strategiepapier des<br />
Zentralkomitees der KPdSU (vgl. FAZ vom 7. Juni 1991), welches<br />
von Präsident Gorbatschow gebilligt wurde und in dem<br />
eine politische und psychologische Beeinflussung der ehemaligen<br />
Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes festgelegt ist, zu<br />
reagieren?<br />
Sie haben das Wort, Herr Staatsminister.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Herr Kollege, die Bundesregierung wird ihre bisherige<br />
erfolgreiche Politik gegenüber der Sowjetunion<br />
und den Staaten Mittel- und Osteuropas konsequent<br />
fortsetzen, die nämlich auf die Herstellung eines<br />
neuen Vertrauensverhältnisses zwischen allen<br />
Staaten Europas abzielt.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kollege<br />
Lowack.<br />
Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister,<br />
ist Ihnen klar, daß Sie mit dieser Antwort in keiner<br />
Weise auf meine konkrete Frage eingegangen sind,<br />
weil sich diese Frage auf eine Strategiepapier des<br />
Zentralkomitees der KPdSU bezogen hat und ich<br />
gerne wissen wollte, welche Haltung die Bundesregierung<br />
dazu einnimmt und ob sie nicht der Auffassung<br />
sein müßte, daß hier eine klare Entgegnung von<br />
deutscher Seite ein wichtiger Beitrag sein könnte, um<br />
die früheren Warschauer-Pakt-Länder außerhalb der<br />
Sowjetunion auf ihrem Weg zum freiheitlichen Europa<br />
zu ermutigen?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die<br />
Tatsache, daß dieses sogenannte Strategiepapier auf<br />
verschlungenen Wegen an die Öffentlichkeit gelangt<br />
ist, sollte Sie vielleicht zum Nachdenken darüber anregen,<br />
wer Interesse daran gehabt hat, dieses sehr<br />
umstrittene Papier der Öffentlichkeit bekanntzumachen.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage.<br />
Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister,<br />
ich räume gerne ein, daß das ein sehr umstrittenes<br />
Papier ist. Aber ist nicht die Bundesregierung mit mir<br />
der Auffassung, daß Michail Gorbatschow immer<br />
noch Generalsekretär der KPdSU ist und daß er insoweit<br />
über den Inhalt des Papiers eigentlich hätte informiert<br />
sein müssen?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege,<br />
schon die Tatsache, daß Sie andeuten, daß es sich bei<br />
den Verfassern dieses Papiers und bei Herrn Gorbatschow<br />
um unterschiedliche Personen handelt, legt
2610 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Staatsminister Helmut Schäfer<br />
den Verdacht nahe, daß wir das Papier nicht ganz so<br />
ernst nehmen müssen, wie Sie es tun.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu weitere Zusatzfragen?<br />
— Bitte, Herr Kollege Erler.<br />
Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie<br />
bestätigen, daß die bisherigen Bündnispartner der Sowjetunion<br />
im Warschauer Pakt in der Praxis der sowjetischen<br />
Politik nicht unter einen politischen oder<br />
psychologischen Druck gesetzt werden, was ihre jetzigen<br />
Entscheidungen und ihre jetzige Sicherheitspolitik<br />
angeht?<br />
(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich<br />
kann sogar bestätigen, daß sich Vertreter der von Ihnen<br />
genannten Staaten mit Sicherheit einem solchen<br />
Druck nicht mehr unterziehen würden, sondern sich<br />
in ihren Gesprächen mit der Sowjetunion als souveräne<br />
Partner bewähren.<br />
(Gernot Erler [SPD]: Danke!)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Keine weiteren Zusatzfragen.<br />
Dann rufe ich Frage 26 des Abgeordneten Dr. Hermann<br />
Scheer auf:<br />
Für welchen Zeitpunkt erwartet die Bundesregierung den<br />
Beginn von amerikanisch-sowjetischen SNF (Short Nuclear Forces)-Verhandlungen?<br />
Bitte sehr, Herr Staatsminister.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Soweit ich sehe,<br />
hätte ich noch eine zusätzliche Frage — — Entschuldigung,<br />
nein, das war ein Irrtum. Sie haben recht, Herr<br />
Präsident, wie immer.<br />
(Dr. Peter Struck [SPD]: Das entscheidet der<br />
Präsident, Herr Minister, damit das einmal<br />
klar ist!)<br />
— Ich habe schon klargestellt, daß der Präsident, wie<br />
immer, recht hat. Sie haben das offensichtlich auch<br />
gehört. Das war ein Mißverständnis.<br />
Herr Kollege Scheer, die Bundesregierung setzt sich<br />
dafür ein, bis zum NATO-Gipfel am 7.18. November<br />
1991 eine gemeinsame SNF-Verhandlungsposition<br />
des Bündnisses auszuarbeiten und zum frühestmöglichen<br />
Zeitpunkt danach Verhandlungen zwischen den<br />
USA und der Sowjetunion aufzunehmen.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage, Herr<br />
Dr. Scheer.<br />
-<br />
Dr. Hermann Scheer (SPD): Herr Staatsminister, da<br />
die Bundesrepublik Deutschland ja kein marginaler<br />
Staat ist und sicherlich eigene Vorstellungen hat: Wie<br />
sehen denn die Vorstellungen für eine Verhandlungsposition,<br />
mit denen man ins Bündnis geht, aus?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, soviel<br />
ich weiß, sind Sie Mitglied des Unterausschusses<br />
für Abrüstung.<br />
(Walter Kolbow [SPD]: Vorsitzender!)<br />
— Entschuldigung, Vorsitzender. Ich bitte, mir auch<br />
das nachzusehen.<br />
Ich glaube daher, daß die Erörterung dieser Vorstellungen<br />
nicht in der Kürze einer Fragestunde geschehen<br />
kann. Die Vorstellungen sind bekannt. Der Unterausschuß<br />
behandelt sie hoffentlich; das müßte auf seiner<br />
Tagesordnung stehen.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zusatzfrage.<br />
Dr. Hermann Scheer (SPD): Da ich das trotz meiner<br />
Funktion als Vorsitzender des Unterausschusses nicht<br />
feststellen konnte, frage ich, ob die Bundesregierung<br />
bereits eine Position hat, die wir dann vielleicht nachfragen<br />
könnten?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Bundesregierung<br />
ist bei dem Ziel, das ich Ihnen genannt habe,<br />
nämlich bis zum NATO-Gipfel zu erreichen, daß es<br />
eine gemeinsame Verhandlungsposition des Bündnisses<br />
gibt, natürlich bemüht, solche Positionen auch ihren<br />
Partnern gegenüber darzustellen. Ich kann nur<br />
sagen: Das Ganze befindet sich in der Mache. Wir<br />
können Ihnen abschließende Vorstellungen der Bundesregierung<br />
jetzt sicher noch nicht mitteilen, weil<br />
das mit unseren Partnern bis zu dem besagten Gipfel<br />
abgesprochen werden muß.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zusatzfrage<br />
des Abgeordneten Otto Schily.<br />
Otto Schily (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben<br />
den Ausdruck „frühestmöglicher Zeitpunkt" verwendet.<br />
Könnten Sie etwas genauer erläutern, nach welchen<br />
Konditionen ein solcher Begriff zu verstehen<br />
ist?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Für uns wäre dieser<br />
Zeitpunkt so früh wie möglich, was aber nicht unbedingt<br />
alle unserer Partner ähnlich sehen. Wir wollen<br />
erreichen,<br />
(Otto Schily [SPD]: Frühestmöglicher heißt<br />
also so früh wie möglich!)<br />
das mit dem Bündnis so früh wie möglich zu schaffen.<br />
Ich darf es wiederholen: Es ist das Interesse der Bundesrepublik,<br />
solche Verhandlungen so früh wie möglich<br />
zustande zu bringen und insofern auch eine Gemeinsamkeit<br />
der Verhandlungspositionen der Partner<br />
in der NATO zu erarbeiten, so daß wir davon ausgehen<br />
können, daß die Verhandlungsposition des Bünd<br />
nisses bis zum NATO-Gipfel steht. Danach können<br />
die Verhandlungen schnell begonnen werden.<br />
Der Hinweis „frühestmöglich" heißt: Wir müssen<br />
uns auch mit unseren Partnern verständigen. Bei dem<br />
Termin sind wir auch von dem Verlauf der Vorberatungen<br />
bzw. der Erarbeitung dieses Konzeptes abhängig.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage<br />
der Frau Abgeordneten Katrin Fuchs.<br />
Katrin Fuchs (Verl) (SPD): Herr Staatsminister, es ist<br />
soeben schon meinem Kollegen gesagt worden, daß<br />
die Bundesrepublik eine relativ starke Position in diesem<br />
Konzert hat. Ist es dann eigentlich zu verstehen,<br />
daß die Bundesrepublik immer darauf wartet, welche<br />
Positionen das Bündnis hat, bevor sie zu eigenen Posi-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2611<br />
Katrin Fuchs (Verl)<br />
tionen gelangt? Bestünde nicht auch die Möglichkeit,<br />
daß die Bundesrepublik ihr Gewicht nutzt und selbst<br />
dafür streitet, daß der frühestmögliche Zeitpunkt terminiert<br />
wird, und daß Sie uns wirklich konkret antworten?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Genau diese Annahme<br />
entspricht der Tatsache.<br />
(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Aber das ist ja<br />
nun schon lange her!)<br />
Aber wenn Sie in dem ersten Teil Ihrer Frage sozusagen<br />
auf den gewachsenen Einfluß der Bundesregierung<br />
abheben, Frau Kollegin, und sagen, wir müßten<br />
auf Grund des gewachsenen Einflusses jetzt eine<br />
deutlichere Sprache sprechen, dann muß ich feststellen,<br />
daß das neue Töne aus der SPD-Fraktion sind.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />
Damen und Herren, wir können noch zwei Fragen<br />
zur Beantwortung zulassen.<br />
Ich rufe die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten<br />
Manfred Opel auf:<br />
Welche eigenen Zeitvorstellungen vertritt die Bundesregierung<br />
in den Gremien des Bündnisses bezüglich des Beginns<br />
amerikanisch-sowjetischer SNF-Verhandlungen?<br />
Treffen Berichte zu, wonach die amerikanische Regierung in<br />
Erwägung zieht, auf amerikanisch-sowjetische SNF-Verhandlungen<br />
zu verzichten?<br />
Bitte sehr, Herr Staatsminister.<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Fragen 27 und<br />
28 des Kollegen Opel beantworte ich wie folgt: Herr<br />
Kollege, die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß<br />
bis zum NATO-Gipfel — dies ist praktisch die Wiederholung<br />
der Antwort auf die vorhergehende Frage —<br />
eine gemeinsame Position erreicht wird. Ich verweise<br />
in diesem Zusammenhang darauf, daß die amerikanische<br />
Regierung den in der Londoner Erklärung vom<br />
6. Juli enthaltenen Bündnisbeschluß zur Aufnahme<br />
neuer Verhandlungen über die Reduzierung nuklearer<br />
Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite zwischen<br />
den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion<br />
maßgeblich mitgetragen hat. Diese Bündnisposition<br />
wurde auch im Kommuniqué der NATO-Außenminister<br />
vom 7. Juni dieses Jahres noch einmal ausdrücklich<br />
bestätigt.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Abgeordneter<br />
Opel, eine Zusatzfrage.<br />
Manfred Opel (SPD): Herr Staatsminister, kann ich<br />
aus Ihrer vorhin gegebenen Antwort schließen, daß<br />
der Beitrag, den Sie im Bündnis zu leisten gedenken,<br />
ein eigenes Konzept der Bundesregierung einschließt,<br />
das sie im Moment noch nicht zu veröffentlichen gedenkt?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, man<br />
muß hier zwischen unserer Bemühung bei den Vorbereitungen<br />
zu diesen für uns sehr wichtigen Verhandlungen<br />
und dem tatsächlichen Ergebnis unterscheiden.<br />
Die Verhandlungen werden ja bilateraler Art<br />
sein. Sie erfolgen zwischen den Vereinigten Staaten<br />
und der Sowjetunion, nicht zwischen uns und der Sowjetunion.<br />
Wir werden alles dafür tun, daß es eine<br />
gemeinsame Verhandlungsposition geben wird. Daß<br />
wir dazu Vorstellungen haben, ist klar. Daß wir aber<br />
im Vorfeld dieser Bemühungen zu einer gemeinsamen<br />
Position kommen wollen und unsere Vorstellungen,<br />
nicht jetzt apodiktisch in den Raum stellen wollen,<br />
sondern sie mit den Partnern diplomatisch absprechen,<br />
dafür bitte ich um Verständnis.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Noch eine Zusatzfrage<br />
des Abgeordneten Opel? — Bitte sehr.<br />
Manfred Opel (SPD): Herr Staatsminister, es gab in<br />
der Vergangenheit durchaus Diskrepanzen in der Definition<br />
dessen, was SNF bedeutet. Können Sie mir<br />
sagen, ob die Bundesregierung unterdessen zu einer<br />
einvernehmlichen Interpretation mit den Amerikanern<br />
bzw. den NATO-Partnern und den Sowjets gefunden<br />
hat und wie diese aussieht?<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, es hat<br />
sich bei den noch bestehenden Differenzen innerhalb<br />
des Bündnisses vor allem um die noch zu klärende<br />
Frage des geographischen Anwendungsgebietes des<br />
SNF-Abkommens gehandelt. Wir haben immer die<br />
Meinung vertreten, und sind auch mit der Mehrheit<br />
der Verbündeten der Auffassung, daß das Anwendungsgebiet<br />
auch den europäischen Teil der Sowjetunion<br />
einschließen sollte. Damit würde auch das sowjetische<br />
SNF-Potential in den angestrebten Abbau<br />
mit einbezogen und nicht nur eine Rückverlegung auf<br />
sowjetisches Gebiet festgeschrieben. Das war unsere<br />
Position. Ich glaube, daß sich hier die Positionen angenähert<br />
haben.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatsminister,<br />
vielen Dank.<br />
Ich kann keine weiteren Zusatzfragen zulassen. Wir<br />
haben die Fragestunde schon um zwei Minuten überzogen.<br />
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den<br />
Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:<br />
Aussprache zum Stationierungskonzept der<br />
Streitkräfte<br />
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die<br />
Aussprache mit Fünf-Minuten-Beiträgen wie in einer<br />
Aktuellen Stunde erfolgen. — Ich höre und sehe keinen<br />
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege<br />
Albrecht Müller.<br />
Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD): Herr Präsident!<br />
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer jahrelang<br />
Abrüstung fordert, der sollte nicht kopfstehen, wenn<br />
sie endlich möglich ist<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)<br />
und wenn dies auch Folgen für Menschen und Regionen<br />
haben kann. Wir Sozialdemokraten haben Abrüstung<br />
immer gewollt. Wir begreifen auch den Truppenabbau<br />
zuallererst als eine Chance, nicht als eine<br />
Last.<br />
Allerdings, gerade weil die Arbeit für die Betroffenen<br />
im Konkreten schwierig ist, verlangen wir die<br />
volle Aufmerksamkeit der Verantwortlichen. Das ver-
2612 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Albrecht Müller (Pleisweiler)<br />
missen wir bei Herrn Stoltenberg und der Bundesregierung<br />
insgesamt.<br />
(Walter Kolbow [SPD]: Sehr richtig!)<br />
Wir haben die heutige Debatte zum Stationierungskonzept<br />
der Streitkräfte beantragt, weil die Gefahr<br />
besteht, daß durch Stümperei, Nachlässigkeit und<br />
Konzeptionslosigkeit die Chance vertan wird, die Abrüstung<br />
auch in den Herzen der betroffenen Menschen<br />
zu verankern. Abrüstung ist eine große Chance.<br />
Was haben Sie daraus gemacht?<br />
Die Bundesregierung hat zunächst einmal viel Zeit<br />
vertan. Schon Mitte der 80er Jahre war klar, daß man<br />
sich auf Abrüstung vorbereiten kann. Ich habe im Mai<br />
1989 die Bundesregierung nach einem Sonderprogramm<br />
zur Konversion gefragt und habe die klassische<br />
Antwort einer verschlafenen Bundesregierung<br />
bekommen. Man hat mich nämlich wissen lassen, es<br />
bestehe kein Anlaß, insbesondere nicht zu einer regionalpolitischen<br />
Flankierung. Das war im Mai 1989;<br />
das muß man sich einmal vorstellen!<br />
(Walter Kolbow [SPD]: Hört! Hört!)<br />
Das war es dann, und da ist es kein Wunder, daß die<br />
Bundesregierung bei dieser Frage bis heute nicht an<br />
der Spitze der Bewegung, sondern am Rockschoß der<br />
Geschichte hängt.<br />
(Walter Kolbow [SPD]: Leider wahr!)<br />
Sie haben nicht rechtzeitig informiert. Sie haben die<br />
Planungsarbeit am Ressortkonzept wie eine geheime<br />
Kommandosache behandelt. Sie haben dem Verteidigungsausschuß<br />
Information und Kooperation versprochen<br />
und die Information dann über die Presse<br />
lanciert. Sie haben einseitig die Koalitionsparteien informiert<br />
und mit ihnen das Konzept besprochen,<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das<br />
stimmt doch gar nicht! Sie sind doch gar nicht<br />
dabeigewesen!)<br />
aber zugleich versäumt, es mit Ländern und Gemeinden<br />
abzustimmen.<br />
(Zuruf von der SPD: So ist es!)<br />
Sie haben die betroffenen Gemeinden mit Ihrer Forderung<br />
nach Verkauf von Grundstücken zum Verkehrswert<br />
— allenfalls minus 15 % — hingehalten<br />
und Unruhe geschaffen. Sie schreiben mit Ihrem Konzept<br />
überwiegend veraltete Strukturen fort. Ex-General<br />
Schmückle nannte dieses Reduzierungskonzept<br />
eine schlampige Arbeit und eine Zumutung für Kommunen<br />
und Truppe.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Sie haben in einigen besonders strukturschwachen<br />
Räumen die Reduzierung der Bundeswehr ohne<br />
Rücksicht auf die angekündigte Reduzierung alliierter<br />
Truppen oben draufgepackt.<br />
Bei allen diesen Ungereimtheiten und Versäumnissen<br />
zeigt sich: Hier ist eine Bundesregierung am<br />
Werk, die weder handwerklich noch konzeptionell in<br />
der Lage ist, schwierige Fragen unserer Zeit rechtzeitig<br />
und gut zu lösen.<br />
Wir fordern Sie erstens auf, endlich parallel zur Abrüstungsplanung<br />
ein Konversionssonderprogramm<br />
vorzulegen, das den wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung,<br />
Truppenreduzierung und Standortauflösung<br />
Rechnung trägt.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Wir fordern Sie zweitens auf, die dafür notwendigen<br />
Verhandlungen mit den Ländern und den betroffenen<br />
Gemeinden zu führen und am 30. September 1991<br />
abzuschließen.<br />
Wir fordern Sie drittens auf, Sozialpläne zu entwikkeln<br />
und ein schlüssiges Konzept zur Überwindung<br />
der Auswirkungen auf die Zivilbeschäftigten vorzulegen,<br />
ein Konzept, das auch wirklich weiterträgt.<br />
Wir verlangen viertens von der Bundesregierung,<br />
daß sie endlich Schluß macht mit der absonderlichen<br />
Vorstellung, die Strukturerneuerung in den strukturschwachen<br />
Regionen sei vom Markt allein zu leisten.<br />
Da bedarf es wirklich einer massiven besonderen Anstrengung<br />
und auch besonderer Rahmenbedingungen.<br />
Fünftens. Wir fordern die Bundesregierung auf,<br />
endlich eine großzügige Regelung über die Abgabe<br />
von Grundstücken an die Gemeinden vorzulegen.<br />
(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Das ist alles<br />
im Fluß!)<br />
Wir fordern, die Grundstücke altlastenfrei und verbilligt<br />
abzugeben, mit einem Rabatt von bis zu 80 %, in<br />
besonderen Fällen kostenlos.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU:<br />
110 %!)<br />
Wir verlangen zugleich auch Klarheit und Durchsichtigkeit<br />
dieser Regelungen.<br />
Sechstens. Wir fordern eine bessere Abstimmung<br />
des Bundeswehrkonzeptes mit der Planung der Alliierten.<br />
Siebtens. Wir fordern die Bundesregierung auf,<br />
endlich bei der Beschaffung, insbesondere bei Großprojekten,<br />
rigoros zu streichen. Die dort bisher verschwendeten<br />
Mittel werden dringend gebraucht.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Achtens. Wir unterstützen Sie bei allem, was sozialen<br />
Sinn für die betroffenen Menschen und Weitsicht<br />
erkennen läßt. Dahin bewegen müssen Sie sich allerdings<br />
schon selbst.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />
Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner<br />
das Wort erteile, noch ein kurzer Hinweis zur Fragestunde:<br />
Es ist eine Unklarheit aufgetreten, was<br />
denn mit den heute nicht beantworteten Fragen geschieht.<br />
Sie alle werden natürlich schriftlich beantwortet,<br />
weil wir in dieser Woche keine Fragestunde
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2613<br />
Vizepräsident Helmuth Becker<br />
mehr haben *). Es bedarf also nicht einer besonderen<br />
Beantragung.<br />
Als nächste Rednerin hat nun Frau Kollegin Claire<br />
Marienfeld das Wort.<br />
Claire Marienfeld (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frieden<br />
schaffen mit weniger Waffen! — Jetzt sind wir soweit,<br />
und nun ist es nicht recht.<br />
(Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]:<br />
Wem denn? — Widerspruch bei der SPD)<br />
Die von uns allen politisch gewollte und vertraglich<br />
vereinbarte Reduzierung unserer Truppen bis Ende<br />
1994 mit der Überwindung der deutschen Teilung und<br />
veränderten Sicherheitsbedingungen in Europa darf<br />
jetzt nicht unter regionalpolitischen Gesichtspunkten<br />
zerredet werden.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP<br />
— Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/<br />
GRÜNE]: Das sagen Sie mal Ihren Kollegen!<br />
— Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Aber<br />
tun müssen Sie was!)<br />
Die Verringerung unserer Streitkräfte bei gleichzeitiger<br />
Vergrößerung unseres Ter ritoriums bedingt eine<br />
Neuaufteilung und zwangsweise Verlagerung bzw.<br />
Auflösung von Einheiten und Verbänden der Bundeswehr.<br />
370 000 Soldaten können eben nur auf eine<br />
bestimmte Anzahl von Standorten sinnvoll verteilt<br />
werden.<br />
(Zurufe von der SPD: Richtig! — Das ist doch<br />
logisch!)<br />
„Abrüstung ja, aber nicht bei mir" ist kein brauchbares<br />
Planungsprinzip.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Erstes Kriterium für die Reduzierung ist die Sicherstellung<br />
der militärischen Aufgabenerfüllung.<br />
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt war die Maßgabe,<br />
Ballungsräume zu entlasten und in strukturschwächeren<br />
Gebieten auch aus wirtschaftlichen<br />
Gründen geringere Reduzierungen vorzunehmen.<br />
(Manfred Opel [SPD]: Sie sollten sich mal<br />
einen besseren Redenschreiber zulegen!)<br />
— Herr Kollege Opel, im Gegensatz zu Ihnen schreibe<br />
ich meine Reden selbst.<br />
Meine Damen und Herren, ein weiteres Kriterium<br />
war die Akzeptanz der Bundeswehr in der Bevölkerung<br />
und bei den politisch Verantwortlichen -<br />
in den<br />
Städten und Gemeinden. Aber gerade da machen wir<br />
die Erfahrung, die alles auf den Kopf stellt: Ratsbeschlüsse<br />
in SPD-regierten Rathäusern, die noch vor<br />
einigen Monaten Gültigkeit hatten und die Forderungen<br />
nach Abzug zum Inhalt beinhalteten, werden<br />
*) Die Fragen 41 des Abgeordneten Rolf Schwanitz, 58, 59 des<br />
Abgeordneten Gerhard Schulz (Leipzig), 60, 61 Elisabeth<br />
Grochtmann, 62, 63 des Abgeordneten Krziskewitz, 64, 65 des<br />
Abgeordneten Gunnar Uldall, 79 und 80 des Abgeordneten<br />
Peter Conradi wurden zurückgezogen.<br />
Die schriftlich erteilten Antworten auf die übrigen Fragen<br />
werden in einem Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.<br />
heute revidiert. Plötzlich entdeckt man seine Liebe zur<br />
Bundeswehr.<br />
(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Nen<br />
nen Sie doch mal ein paar Beispiele, damit<br />
wir dem nachgehen können!)<br />
Das Positive an dieser gesamten Diskussion ist für<br />
mich allerdings die Tatsache, daß damit in den betroffenen<br />
Städten und Gemeinden eine Überprüfung des<br />
eigenen Verhaltens gegenüber unseren Soldaten<br />
stattgefunden hat,<br />
(Beifall des Abg. Dr. Egon Jüttner [CDU/<br />
CSU])<br />
und daß, wenn man den Reaktionen glauben darf,<br />
Anzeichen von Bewußtseinswandel auch bei der SPD<br />
erkennbar sind. Ich hoffe, daß das so weitergeht.<br />
(Zuruf von der SPD: Machen Sie sich keine<br />
Hoffnungen!)<br />
Ich verkenne nicht, daß die vor Ort entstehenden<br />
Reduzierungen, Verlegungen und Auflösungen große<br />
strukturelle und wirtschaftliche Probleme mit sich<br />
bringen. Doch die SPD sollte sich mit massiver Kritik<br />
am Stoltenberg-Plan zurückhalten.<br />
(Dr. Peter Struck [SPD]: Stoltenberg-Plan,<br />
was ist das denn?)<br />
Die Bürger haben nicht vergessen, daß der sozialdemokratische<br />
Kanlzerkandidat Oskar Lafontaine eine<br />
Verringerung der Truppenstärke der Bundeswehr auf<br />
200 000 Soldaten durchsetzen wollte.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
— Hören Sie bitte weiter!<br />
Ganz abgesehen von der Frage, ob die Armee ihren<br />
Auftrag dann noch erfüllen könnte, hätte dies unweigerlich<br />
ganze Regionen ins wirtschaftliche Chaos geführt.<br />
(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Mit Ih<br />
rer Regierung schon!)<br />
Es ist unglaubwürdig, wenn Sozialdemokraten<br />
jetzt, abgesehen von besonderen regionalen Überlegungen,<br />
generell um jeden Soldaten kämpfen.<br />
Wir sind nun gefordert, und wir werden auch sozial<br />
verträgliche Lösungen finden,<br />
(Manfred Opel [SPD]: Was denn zum Bei<br />
spiel? — Zuruf von der SPD: Das glauben Sie<br />
doch selbst nicht! — Albrecht Müller [Pleis<br />
- weiler] [SPD]: Sie haben ja bisher geschla<br />
fen!)<br />
vor allem für unsere Soldaten und insbesondere im<br />
Hinblick auf die Zivilbeschäftigten.<br />
Noch eines darf bei dieser Diskussion nicht unter<br />
den Tisch fallen: die Möglichkeiten der Städte und<br />
Gemeinden zur Umgestaltung des militärisch genutzten<br />
Geländes.<br />
(Zurufe von der SPD: Machen Sie doch Vor<br />
schläge! — Alles verschlafen in Rheinland<br />
Pfalz!)<br />
— Bitte, Herr Kollege.
2614 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Claire Marienfeld<br />
Es ist doch eine herrliche Vorstellung, wo vorher<br />
Kasernen waren, Schulen, Altenwohnungen und Altenheime<br />
zu finden. Das ist eine wunderschöne Vorstellung.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Darauf wollen wir uns in den nächsten Wochen konzentrieren.<br />
(Zuruf von der SPD: Das wird auch Zeit! —<br />
Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wieviel<br />
Rabatt gibt es?)<br />
Wenn wir und vor allem Sie von der SPD dies begreifen,<br />
hat dieser historische Vorgang, nämlich der<br />
Vollzug eines Riesenschrittes in Richtung Frieden in<br />
Europa, den Stellenwert, der ihm gebührt.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, nächste Rednerin ist die Frau Abgeordnete<br />
Jutta Braband.<br />
Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Ich möchte hier ausdrücklich<br />
darauf hinweisen, daß ich der Meinung bin, daß<br />
der Mißbrauch des Wortes „Frieden schaffen ohne<br />
Waffen" in diesem Zusammenhang ein starkes Stück<br />
ist.<br />
(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Mit<br />
weniger Waffen!)<br />
Es wäre ja wirklich zu schön, denke ich, wenn er denn<br />
recht hätte, der Herr Wellershoff, und die Deutschen<br />
wären tatsächlich ein machtvergessenes und friedensverwöhntes<br />
Volk. Er hat aber nicht recht, jedenfalls<br />
nicht soweit es das Führungspersonal dieses Volkes<br />
angeht, denn sonst müßten wir uns heute nicht über<br />
ein Stationierungskonzept aus dem Hause Stoltenberg<br />
unterhalten. Die Bundeswehr wäre überhaupt<br />
kein Thema, denn es würde sie nicht mehr oder —<br />
schlechtestenfalls — nur rudimentär geben.<br />
Die Absicht der NATO, schnelle Eingreiftruppen zu<br />
installieren, und der Nichtverzicht auf den Ersteinsatz<br />
von Atomwaffen zeigen deutlich, daß es keineswegs<br />
etwa um einen Willen zu echter Abrüstung geht.<br />
Darum sind alle Gefechte um mögliche Truppenreduzierungen,<br />
Standortschließungen lediglich Scheingefechte,<br />
solange das eigentliche Konzept, mögliche internationale<br />
Konflikte auch mit militärischen Mitteln<br />
lösen zu wollen, nicht geändert wird. Offensichtlich<br />
wird, wie die Debatte der letzten Wochen zeigt, eine<br />
deutsche Beteiligung hieran nachdrücklich angestrebt.<br />
Stoltenbergs Ressortkonzept ist darum eben nicht<br />
mehr und nicht weniger als die Synthese aus der —<br />
machen wir uns nichts vor — vertraglich notwendig<br />
gewordenen Reduzierung des Personalbestandes, der<br />
strategisch notwendigen Anpassung an die Geländegewinne<br />
im Osten und den — allerdings nicht notwendigen,<br />
aber heiß ersehnten — Umstrukturierungsmaßnahmen<br />
zur Erhöhung der Schlagkraft und<br />
weltweiten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr.<br />
Daß dabei die Interessen der von Standortauflösung<br />
oder -reduzierung — in diesem Fall muß ich sogar<br />
sagen — betroffenen Städten und Gemeinden unter<br />
den Tisch fallen, daß sie nicht im Vorfeld konsultiert,<br />
sondern vor vollendete Tatsachen gestellt werden,<br />
daß es keine wirklichen Konversionskonzepte und<br />
-regelungen gibt, daß diese nicht einmal angestrebt<br />
werden, daß vielmehr in bekannter Manier gnadenloser<br />
Kahlschlag bet rieben wird, ist ebenso verwerflich<br />
wie kennzeichnend für die Politik dieser Regierung.<br />
Dort, wo sozial und ökologisch verträgliche Konversionskonzepte<br />
angesagt wären, allerdings, so<br />
meine ich, weit über das jetzt anstehende Maß hinaus,<br />
geht die Bundesregierung einen ähnlichen Weg, wie<br />
sie ihn schon bei der Auflösung und Eingliederung der<br />
Nationalen Volksarmee gegangen ist: Abwicklung<br />
einzig und allein auf dem Rücken der Menschen, die<br />
selbst sehen müssen, wie sie zurechtkommen.<br />
Dabei ist es natürlich nicht so, daß es keine sinnvollen,<br />
den Bedürfnissen der Menschen verpflichteten<br />
Konversionskonzepte gäbe oder diese nicht zu entwickeln<br />
wären. Sie liegen vor. Auch einzelne Städte<br />
und Gemeinden haben sich dahin gehend ihre Gedanken<br />
gemacht und sich engagiert. Solche Konzepte<br />
sind aber ebensowenig gewollt wie etwa die Möglichkeit<br />
für jede Bürgerin und jeden Bürger dieses Landes,<br />
über den Einsatz seiner Einkommensteuer für<br />
Militärausgaben selbst zu entscheiden.<br />
Der Grund für diese Verfahrensweise liegt weniger<br />
in der Unfähigkeit oder in besonderer Böswilligkeit<br />
des Herrn Stoltenberg, vielmehr schlicht an der Tatsache,<br />
daß Konversion eben nicht sein Anliegen ist, daß<br />
diese Regierung jeder — und sei es auch eine noch so<br />
kümmerliche — Form von Abrüstung, jeder Form von<br />
Truppenreduzierung, der Reduzierung der Zahl der<br />
Zivilbeschäftigten und der Standortreduzierung nur<br />
höchst widerwillig durch von außen gesetzten Zwang<br />
nachkommt. Folglich kann diese Regierung überhaupt<br />
kein Interesse an echter Konversion entwikkeln.<br />
Ihr das vorzuwerfen, hieße, ihr bessere Absichten<br />
zu unterstellen, als sie eigentlich hat. Insofern hat<br />
der Herr Wellershoff nur das gesagt, was Herr Stoltenberg<br />
vielleicht ändern will.<br />
Im übrigen möchte ich noch ein Wort zu den Damen<br />
und Herren der SPD sagen. Ihre ohne Frage berechtigte<br />
und angemessene Empörung über das Stoltenbergsche<br />
Ressortkonzept und seine absehbaren Folgen<br />
hätten wir uns schon weit früher gewünscht, nämlich<br />
als es um die nicht weniger unsoziale Abwicklung<br />
diverser Institutionen der Ex-DDR ging. Dagegen<br />
werden die Folgen des Ressortkonzepts tatsächlich<br />
nur ein Hauch im Wind sein, ohne daß ich sie damit<br />
verharmlosen will. Ich stelle dabei gewiß auch in<br />
Rechnung, daß Sie es als besondere Gemeinheit des<br />
Herrn Stoltenberg verstehen müssen,<br />
(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]:<br />
Was heißt hier „Gemeinheit"? Das ist doch<br />
dummes Zeug, was Sie da reden!)<br />
wenn relativ mehr von der SPD als anders regierte<br />
Städte und Gemeinden betroffen sind.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist<br />
der Abgeordnete Jürgen Koppelin.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2615<br />
Jürgen Koppelin (FDP): Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Die Reduzierung unserer Streitkräfte<br />
bis zum Dezember 1994 auf 370 000 Soldaten ist<br />
von uns allen begrüßt worden. Diese internationale<br />
Verpflichtung hat u. a. dazu beigetragen, daß wir<br />
Deutschen unsere Einheit wiedererlangt haben.<br />
Es ist, so meine ich, dem Bundesminister der Verteidigung<br />
und seinem Haus dafür Anerkennung auszusprechen,<br />
daß es gelungen ist, innerhalb von wenigen<br />
Monaten ein Konzept vorzulegen, um das Ziel der<br />
Reduzierung zu erreichen.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Selten hat wohl der Entwurf eines Konzeptes den<br />
Deutschen <strong>Bundestag</strong> und seine Abgeordneten, aber<br />
auch die Landtage, die Landesregierungen und die<br />
Kommunen so beschäftigt und so bewegt wie jetzt die<br />
Vorlage zur Truppenreduzierung.<br />
Wer die Diskussion der letzten Wochen verfolgt und<br />
sich daran beteiligt hat, der kann sich allerdings des<br />
Eindrucks nicht erwehren, daß vielerorts nach dem<br />
Motto argumentiert wird: Truppenreduzierung ja,<br />
aber bitte nicht in meiner Kommune oder in meinem<br />
Wahlkreis.<br />
(Zurufe von der SPD)<br />
— Es ist so. Man verfolgt ja die Diskussion.<br />
(Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD])<br />
— Herr Opel, seien Sie doch nicht immer so vorlaut!<br />
(Walter Kolbow [SPD]: Wir sind hier im Par<br />
lament und nicht in der Schule!)<br />
— Wir kennen uns ja. Er kann nicht anders. — Ich<br />
hoffe, das geht nicht von meiner Zeit ab, Herr Präsident.<br />
Es zeigt sich heute, daß viele die Bundeswehr immer<br />
nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen<br />
haben. Ich bitte herzlich darum, die Diskussion<br />
um die Reduzierung etwas emotionsfreier zu führen,<br />
auch wenn man selber — das will ich gerne zugeben,<br />
Kollege Opel — von diesen Emotionen nicht ganz frei<br />
ist.<br />
(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Er schürt sie zu<br />
mindest!)<br />
Aber eines muß doch gesagt werden — das sage ich<br />
nach der Aufregung in den Beiträgen eben zur linken<br />
Seite — : Ich finde es schon sehr interessant, wer sich<br />
plötzlich für die Bundeswehr einsetzt. Am besten arbeitet<br />
man ja mit Beispielen. Ich will gern eines aus<br />
Schleswig-Holstein nennen, Herr Kollege Opel: die<br />
Stadt Itzehoe. Zur 750-Jahr-Feier wird die - Bundeswehr<br />
ausgeladen, eine bestehende Patenschaft mit<br />
einem Boot der Ma rine wird aufgekündigt, und man<br />
weigert sich sogar, Geld von Soldaten anzunehmen,<br />
das diese für humanitäre Zwecke gesammelt haben.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wer hat<br />
denn da die Mehrheit?)<br />
— Ich verrate jetzt kein Geheimnis, Kollege Nolting,<br />
wenn ich bekanntgebe, daß in Itzehoe seit Jahren die<br />
SPD regiert und dort die Mehrheit hat. Nun plötzlich<br />
wird vorgeschlagen, daß dieser Standort Itzehoe erhalten<br />
bleiben soll. Man entdeckt sein Herz für die<br />
Bundeswehr.<br />
Ich will noch ein anderes Beispiel bringen. In Kiel<br />
soll ein Ausschuß zur Truppenreduzierung durch die<br />
Stadt gebildet werden. Man kommt nicht zu Potte,<br />
weil die Sozialdemokraten fordern, daß in diesem<br />
Ausschuß selbstverständlich auch die Kirchen und die<br />
Friedensgruppen beteiligt werden müssen. Ich will<br />
das nicht kommentieren, um mir nicht bei meiner ersten<br />
Rede einen Ordnungsruf einzuhandeln.<br />
(Dieter Heistermann [SPD]: Den können Sie<br />
aber schnell bekommen, wenn Sie so weiter<br />
reden!)<br />
Ich kann den Bundesminister der Verteidigung nur<br />
darin unterstützen, daß solche Standorte bei der Truppenreduzierung<br />
zuerst berücksichtigt werden. Da, wo<br />
die Bundeswehr in der Vergangenheit immer gern<br />
gesehen war, sollte man, wenn es geht, eine Reduzierung<br />
vermeiden. Das ist übrigens keine Abstrafung, so<br />
meine ich, sondern eine logische Konsequenz.<br />
Zum vorliegenden Konzept des Verteidigungsministeriums<br />
scheint es mir nötig, einige Anmerkungen zu<br />
machen.<br />
Für eine Entscheidung über die Standorte ist es<br />
wichtig und notwendig, zu wissen, wie viele Zivilmitarbeiter<br />
betroffen sind. Diese Zahlen haben wir heute<br />
im Ausschuß nachgeliefert bekommen. Ich meine, sie<br />
waren dringend notwendig.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Wenn ein Kleinstandort wie Tönning in Nordfriesland<br />
drei Soldaten ausweist, so mag man für die Streichung<br />
sein. Das mag einem leichtfallen. Man sieht das<br />
jedoch in einem anderen Licht, wenn man erfährt, daß<br />
an diesem Kleinstandort ca. 40 Zivilmitarbeiter beschäftigt<br />
sind.<br />
Die im Konzept genannten Ist-Zahlen vom 22. Mai<br />
scheinen nicht immer den tatsächlichen Zahlen zu<br />
entsprechen. Ich halte eine Überprüfung der Ist-Zahlen<br />
für notwendig.<br />
In den Ballungszentren ist nach meinem Eindruck<br />
nicht in dem Umfang reduziert worden, wie es wünschenswert<br />
gewesen wäre. Dafür sehen die Pläne leider<br />
eine starke Reduzierung in einigen strukturschwachen<br />
Gebieten vor. Ich will als Beispiel den<br />
Kreis Nordfriesland mit den Standorten Husum und<br />
vor allem Leck ansprechen, Kollege Opel. Ich halte es<br />
nicht für vertretbar, daß sich die Bundeswehr aus solchen<br />
Kreisen zurückzieht, in denen in der Vergangenheit<br />
andere Entwicklungen versäumt werden mußten,<br />
(Beifall des Abg. Manfred Opel [SPD])<br />
weil die Bundeswehr da war. Ich denke z. B. an den<br />
Fremdenverkehr. Er fand nicht statt, weil es die Bundeswehr<br />
gab.<br />
Wir müssen uns bei der Diskussion über die Truppenreduzierung<br />
stärker darüber Gedanken machen,<br />
welche Aufgaben unsere Teilstreitkräfte zukünftig im<br />
Rahmen der internationalen Aufgaben haben werden.<br />
Ich spreche hier besonders die Marine an und meine,<br />
daß die bisherigen Planungen zur Reduzierung der<br />
Marine bis zum Jahr 2005 nicht mehr den Gegebenheiten<br />
entsprechen.<br />
(Beifall des Abg. Manfred Opel [SPD])
2616 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Jürgen Koppelin<br />
Unter diesem Gesichtspunkt, denke ich, muß man sich<br />
noch einmal über die Marinestandorte unterhalten.<br />
Ich denke hier in Schleswig-Holstein z. B. an Kappeln<br />
und Neustadt.<br />
Dank möchte ich den Angehörigen der Bundeswehr<br />
bei dieser Gelegenheit sagen. Ich habe bei meinen<br />
Besuchen bei der Truppe in diesen Tagen bei den Soldaten<br />
großes Verständnis für die Reduzierung gefunden.<br />
Das ist, wenn man selber betroffen ist, nicht immer<br />
selbstverständlich.<br />
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU)<br />
Wenig Verständnis habe ich allerdings dafür gefunden<br />
— das muß ich schon sagen, Herr Minister — , daß<br />
es vor der offiziellen Bekanntgabe der Reduzierungspläne<br />
eine merkwürdige Informationspolitik aus dem<br />
Ministerium heraus gegeben hat.<br />
(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies<br />
loch] [SPD])<br />
Das hatte nichts mit Fürsorgepflicht zu tun. Bei der<br />
Gelegenheit möchte ich auch sagen: Es wäre gut,<br />
wenn auch im Ministerium reduziert würde.<br />
Zum Schluß folgendes: Die Bundesregierung und<br />
die Landesregierung werden in den nächsten Monaten<br />
gemeinsam nach Lösungen suchen müssen, um<br />
den Kommunen zu helfen, die von der Reduzierung<br />
der Bundeswehr besonders betroffen sind. Das wird<br />
nicht einfach sein, besonders dann, wenn eine Landesregierung<br />
wie z. B. die von Schleswig-Holstein<br />
sich seit Jahren geweigert hat, überhaupt Wirtschaftsoder<br />
Verkehrspolitik zu betreiben. Die Bundesregierung<br />
wird das nicht ausgleichen können, was eine solche<br />
Landesregierung in der Vergangenheit versäumt<br />
hat.<br />
Vielen Dank für Ihre Geduld.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Koppelin,<br />
Sie haben die Redezeit natürlich überschritten.<br />
Aber ich weiß, wie es ist, wenn man hier das erste Mal<br />
das alles genau einteilen muß.<br />
Nun hat als nächste Frau Kollegin Vera Wollenberger<br />
das Wort.<br />
Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Herr Minister Stoltenberg,<br />
Sie haben am 24. Mai 1991 vor der Bundespressekonferenz<br />
überaus vollmundig erklärt, daß Sie<br />
— ich zitiere — „nachhaltige und breite Unterstützung<br />
der politischen und gesellschaftlichen - Kräfte unseres<br />
Landes brauchen, wenn die Neugestaltung der<br />
Bundeswehr in einer sinnvollen und menschlich vertretbaren<br />
Weise gelingen soll" . Das sind schöne<br />
Worte, aber leider in die Irre führende Worte; denn die<br />
Reduzierung vollzieht sich ohne vorherige Rücksprache<br />
mit den eigentlich Betroffenen. Das heißt, so undemokratisch<br />
die Aufrüstungsbeschlüsse waren, so<br />
undemokratisch ist die Art und Weise der an sich positiven<br />
Abrüstungsschritte.<br />
Wer von den betroffenen Landesregierungen, geschweige<br />
denn den Kreis- und Kommunalbehörden<br />
hatte in irgendeiner Phase die Möglichkeit, das von<br />
Herrn Stoltenberg präsentierte Werk zu unterstützen?<br />
Sie kannten es schlicht nicht, sie waren in keiner<br />
Phase in den Entstehungsprozeß einbezogen.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie müs<br />
sen mal an den <strong>Sitzung</strong>en teilnehmen!)<br />
— Die Kommunen können nicht an <strong>Sitzung</strong>en des<br />
Verteidigungsausschusses teilnehmen, tut mir leid,<br />
Herr Nolting.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nein,<br />
Sie!)<br />
— Ich hatte eben von den Kommunen und Ländern<br />
gesprochen. Hören Sie doch bitte richtig zu!<br />
(Zuruf von der SPD: Nicht verwirren las<br />
sen!)<br />
Dabei gab und gibt es genug willige und mit- und<br />
vorausdenkende Menschen; das wissen besonders<br />
meine Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß, in<br />
dem ständig Unterlagen eingehen, deren Berücksichtigung<br />
es gestattet hätte, den bevorstehenden Umgestaltungsprozeß<br />
der Bundeswehr wirklich sinnvoll zu<br />
vollziehen. Wissen Sie, Herr Minister Stoltenberg, irgendwie<br />
erinnert mich die jetzige Grundsituation in<br />
fataler Weise an die Situation, in der wir unlängst in<br />
der ehemaligen DDR im Zusammenhang mit der Auflösung<br />
der NVA und allen damit verbundenen Problemen<br />
waren. Damals, also vor einem Jahr, haben<br />
wir im Zeitraffer das durchlebt, was man aus Sicht von<br />
Bündnis 90/GRÜNE den alteingesessenen Bundesbürgern<br />
ersparen sollte, nämlich Konfusion statt Konversion.<br />
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei<br />
der SPD)<br />
Mit Rücksicht auf die betroffenen Menschen sollte<br />
sich diese katastrophale Situation nicht wiederholen.<br />
Meine Damen und Herren, auf einem Forum der<br />
Zeitschrift „Wehrtechnik" äußerte ein Brigadegeneral<br />
unlängst trefflich — Zitat — :<br />
Nach gängiger Definition ist Planung der gedankliche<br />
Vorgang, bei dem versucht wird, mit<br />
einer endlichen Menge an Ressourcen ein genau<br />
bestimmtes Ziel auf dem kosteneffektivsten Weg<br />
zu erreichen.<br />
Wie steht es nun mit Ihrem Ziel, Herr Stoltenberg?<br />
Dazu heißt es im Ressortkonzept, die Neuordnung der<br />
Stationierung könne sich nicht ausschließlich an den<br />
Belangen des zivilen Umfelds der Streitkräfte orientieren;<br />
Ziel müsse es sein, von der Belegung her lebensfähige<br />
Standorte zu erreichen, damit die ständigen<br />
Aufgaben im Frieden aufwandswirksam wahrgenommen<br />
werden können.<br />
Aber, Herr Minister, das Gesamtstationierungskonzept<br />
ist eindeutig nach vorrangig militärischen Kriterien<br />
erarbeitet worden, die sich nach wie vor nach<br />
Ihrem alten Feindbild ausrichten. Wie anders ist sonst<br />
die insgesamt hohe flächendeckende Stationierungsdichte<br />
zu erklären und das besonders augenfällig im<br />
Land Mecklenburg-Vorpommern, also unmittelbar an<br />
der Grenze zum polnischen Nachbarland? Wie anders,<br />
Herr Minister, ist die Planung der Luftwaffe zu<br />
verstehen, alle derzeitigen Standorte von höheren
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2617<br />
Vera Wollenberger<br />
Kommandobehörden und Divisionsstäben für die Stationierung<br />
zukünftiger Kommandostäbe zu erhalten?<br />
Eine Entscheidung, die sicher von unserem Nachbarn<br />
sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen wird.<br />
Was nun den Weg zu Ihrem, mit Verlaub, zweifelhaften<br />
Ziel betrifft, Herr Stoltenberg, so ist er mit<br />
Sicherheit alles andere als kosteneffektiv; denn das<br />
hätte er nur sein können, wären die Kommunen rechtzeitig<br />
in die Planung einbezogen worden, wäre vorher<br />
wirklich umfassend über Konversion in all ihrer Komplexität<br />
nachgedacht worden.<br />
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei<br />
der SPD)<br />
Bezogen auf das Territorium der fünf neuen Bundesländer<br />
heißt das, daß kein Bundesland für sich<br />
allein die Probleme bewältigen kann, die mit der Auflösung<br />
der NVA bzw. ihrer reduzierten Überführung<br />
in die Bundeswehr und dem Abzug der Westgruppe<br />
der sowjetischen Streitkräfte verbunden sind. Kein<br />
Bundesland kann allein und ausschließlich aus eigener<br />
Kraft verhindern, daß die Belegschaft ehemaliger<br />
Rüstungsbetriebe arbeitslos wird, wenn die Bundesregierung<br />
nicht bereit ist, in der Rechtsnachfolge des<br />
Bundes zur untergangenen DDR für die Folgen zentralstaatlichen<br />
Handelns einzustehen.<br />
Aus der Sicht der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE stehen<br />
vor allem zwei Probleme im Vordergrund. Zum<br />
einen geht es um die Landumnutzung für zivile<br />
Zwecke. Wir fordern, daß die Liegenschaften aus der<br />
militärischen Nutzung altlastenfrei entlassen werden.<br />
Dazu muß der Bund finanzielle Mittel für die Sanierung<br />
und zivile Erschließung bisher militärisch genutzter<br />
Liegenschaften bereitstellen. Einen zweiten<br />
Schwerpunkt sehen wir in der Schaffung und Sicherung<br />
von Arbeitsplätzen, also in der personellen Konversion.<br />
Da meine Redezeit schon abgelaufen ist, möchte ich<br />
nur noch schnell etwas zu dem Konzept der Zivilbeschäftigten<br />
sagen. Dieses Konzept wurde bezeichnenderweise<br />
erst heute vormittag im Verteidigungsausschuß<br />
verteilt und konnte deshalb nicht ausführlich<br />
beraten werden. Wir sind aber der Meinung, daß das<br />
Gesamtressortkonzept erst verabschiedet werden<br />
sollte, wenn über dieses Zivilpersonalkonzept ausführlich<br />
und abschließend beraten werden konnte.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei<br />
Abgeordneten der SPD)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile nunmehr<br />
dem Herrn Staatssekretär Klaus Beckmann - das<br />
Wort.<br />
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr<br />
verehrten Damen! Meine Herren! Ich denke, wir sind<br />
uns alle einig, daß die Abrüstung uneingeschränkt zu<br />
begrüßen ist. Neben den damit verbundenen Chancen<br />
für die Sicherung des Friedens in Europa werden<br />
die Abrüstungsmaßnahmen mittel- bis langfristig<br />
auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen. Auf der<br />
anderen Seite — das ist jetzt in der Debatte deutlich<br />
geworden — ist auch jedem klar, daß diese Entwick<br />
lung ebenso negative Auswirkungen haben kann. Das<br />
wird ganz konkret sichtbar, wenn Truppen aus strukturschwachen<br />
Regionen abziehen.<br />
Der Bundesverteidigungsminister hat bei der<br />
Standortplanung einen Kriterienkatalog zugrunde<br />
gelegt, der u. a. auch regional-wirtschaftliche<br />
Aspekte einschließt. Das heißt, bei der Planung<br />
wurde, soweit dies möglich war, der Schließung von<br />
Standorten in Ballungsgebieten Vorrang vor der<br />
Schließung von Standorten in strukturschwachen Regionen<br />
gegeben. Daß dieser Grundsatz allerdings<br />
nicht immer gelten konnte, zeigt das vom Bundesverteidigungsministerium<br />
vorgelegte Ressortkonzept.<br />
Herr Kollege Koppelin hat eben darauf hingewiesen.<br />
Daraus ergibt sich nun die Schlußfolgerung, daß in<br />
den betroffenen strukturschwachen Regionen, für die<br />
die Einrichtungen der Bundeswehr ein wichtiger Arbeitgeber<br />
und auch Wirtschaftsfaktor sind, erheblicher<br />
Anpassungsbedarf eintreten wird. Gleiches gilt<br />
natürlich auch für die Regionen, die von einem Truppenabzug<br />
ausländischer Streitkräfte betroffen sind.<br />
Diese Regionen werden nicht in der Lage sein, allein<br />
aus eigener Kraft diese Folgen abzufangen. Es entsteht<br />
also Handlungsbedarf.<br />
Meine Damen und Herren, die seit Februar 1990<br />
eingerichtete interministerielle Arbeitsgruppe unter<br />
Federführung des Bundeswirtschaftsministers hat die<br />
Felder und Politikbereiche festgelegt, die für die erforderliche<br />
notwendige Flankierung in Betracht kommen.<br />
Lassen Sie sie mich wegen der Kürze der Zeit nur<br />
stichwortartig nennen:<br />
Erstens. Beschleunigung des Freigabeverfahrens<br />
für ehemalig militärisch genutzten Geländes.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Zweitens. Erhöhung der Preisabschläge beim Verkauf<br />
bundeseigener Liegenschaften.<br />
Drittens regionalpolitische Flankierung.<br />
Der Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe<br />
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur"<br />
hat bereits im Januar dieses Jahres einen Grundsatzbeschluß<br />
für ein regionales Sonderprogramm für die<br />
Regionen getroffen, die erheblich vom Truppenabbau<br />
betroffen werden und die daher mit ähnlichen Problemen<br />
konfrontiert sind, wie sie früher an Stahlstandorten<br />
oder Küstenstandorten mit Werften anzutreffen<br />
waren.<br />
Viertens werden städtebauliche Maßnahmen oder<br />
Infrastrukturmaßnahmen greifen müssen. Dies sind<br />
einige Bereiche, die Möglichkeiten für eine Flankierung<br />
bieten und die geeignet sind, die Standortbestimmungen<br />
in den Regionen zu verbessern.<br />
Wenn ich mich nun hier auf die regionalen Flankierungsaspekte<br />
konzentriert habe, so bedeutet das nicht<br />
— das will ich unterstreichen — , daß nicht auch über<br />
soziale Maßnahmen nachgedacht wird. Es ist aber so,<br />
daß zivile Arbeitnehmer bei den Streitkräften im Falle<br />
einer Entlassung nicht in ein Vakuum fallen, sondern<br />
durch tarifvertragliche Regelungen oder durch die Instrumente<br />
des Arbeitsförderungsgesetzes weitgehend
2618 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann<br />
abgesichert sind; allerdings wird über zusätzliche<br />
Verbesserungen nachgedacht.<br />
Der hier, insbesondere auch von dem Kollegen Müller<br />
(Pleisweiler), geäußerten Kritik, die Bundesregierung<br />
hätte noch keine Entscheidungen getroffen, muß<br />
folgendes entgegengehalten werden:<br />
Erstens, verehrter Herr Kollege Müller, hätte ich<br />
anstatt dieser Kritik einmal Dank für die Friedenspolitik<br />
dieser Bundesregierung erwartet, die ja diese Abrüstung<br />
erst ermöglicht hat.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —<br />
Lachen bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Zweitens. Das endgültige Standortkonzept der<br />
Bundeswehr wird ja erst im August festgelegt.<br />
Drittens. Das Ressortkonzept zum Abbau der zivilen<br />
Arbeitsplätze bei der Bundeswehr liegt seit heute<br />
vor.<br />
Viertens. Die Abzugspläne der Alliierten Streitkräfte<br />
sind nur bruchstückhaft bekannt.<br />
Das heißt, die wirklich konkreten Entscheidungsgrundlagen<br />
fehlen noch weitgehend.<br />
Gleichwohl, Herr Präsident, meine Damen und Herren,<br />
wird der Bundeswirtschaftsminister im Rahmen<br />
seiner Zuständigkeiten alle Möglichkeiten zur Flankierung<br />
des Umstrukturierungsprozesses prüfen und<br />
sinnvolle Maßnahmen, insbesondere im Rahmen der<br />
Instrumentarien der Gemeinschaftsaufgabe, unterstützen.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, unser nächster Redner ist der Kollege Gerhard<br />
Neumann.<br />
Gerhard Neumann (Gotha) (SPD): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Der Bundesminister der<br />
Verteidigung führte anläßlich der Übernahme der Befehls-<br />
und Kommandogewalt über die Streitkräfte im<br />
beigetretenen Teil Deutschlands am 3. Oktober 1990<br />
aus: Die Bundeswehr und die deutsche Verteidigungspolitik<br />
stehen vor ihrer größten Herausforderung<br />
seit 1955, und zwar sowohl in menschlicher als<br />
auch in organisatorischer Hinsicht.<br />
Betrachtet man heute das am 24. Mai dieses Jahres<br />
vorgelegte Ressortkonzept für die Stationierung der<br />
Streitkräfte und die daraus resultierenden komplexen<br />
-<br />
Probleme der Kommunen, so wird schnell deutlich,<br />
daß die größte Herausforderung seit 1955 in organisatorischer<br />
Hinsicht in keiner Weise gemeistert wird.<br />
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Auf die menschlichen Probleme der Integration der<br />
NVA in die Bundeswehr wollen wir heute hier gar<br />
nicht erst eingehen. In welcher Situation befinden sich<br />
also die bisher militärisch genutzten Liegenschaften<br />
auf dem Gebiet der fünf neuen Länder? —<br />
Von den rund 3 320 NVA-Liegenschaften wurden<br />
vom BMVg bisher 1 230 zur weiteren Nutzung freigegeben.<br />
1 320 wurden als Wohnungen oder als Forstgelände<br />
unmittelbar an das BMF weitergeleitet. Rund<br />
770 Liegenschaften werden weiterhin militärisch genutzt.<br />
Die Liegenschaften der Sowjetarmee werden erst<br />
bis zum Jahre 1994 vollständig in Bundeseigentum<br />
übergegangen sein.<br />
Ein Übungsplatzkonzept, in das auch die Liegenschaften<br />
einbezogen werden, konnte trotz Stationierungsentscheidung<br />
bisher nicht vorgelegt werden.<br />
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Ferner ist dem Stationierungskonzept nicht zu entnehmen,<br />
welche Liegenschaften für die zivile Nutzung<br />
in Zukunft noch freigegeben werden sollen.<br />
Die Konfusion wird sogar noch größer, wenn es um<br />
den Erwerb der Liegenschaften aus NVA -Besitz geht.<br />
Sofern diese nämlich nicht für Bundesaufgaben benötigt<br />
werden, kann sie im Prinzip jeder Interessent erwerben,<br />
der bereit ist, nach haushaltsrechtlichen Bestimmungen<br />
den vollen Wert als Kaufpreis zu bezahlen.<br />
Dieser Verfahrensweg gilt auch für die finanziell<br />
angeschlagenen Kommunen der neuen Länder, die<br />
lediglich für die Flächen, die für Naherholungszwecke<br />
ausgewiesen sind, eine Art Vorkaufsrecht<br />
eingeräumt bekommen haben.<br />
(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Un<br />
glaublich ist das!)<br />
Eine Subventionierung von Grundstücksveräußerungen<br />
für Naherholungszwecke ist nicht möglich.<br />
(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Da sa<br />
niert sich der Finanzminister!)<br />
Wie aber sollen unter diesen Umständen ein zügiger<br />
Aufbau und die Herstellung der kommunalen Arbeitsfähigkeit<br />
gewährleistet werden?<br />
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />
Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />
Bundesministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer hat<br />
sich am 10. Mai dieses Jahres nachdrücklich dafür<br />
ausgesprochen, die zur Diskussion stehenden Liegenschaften<br />
möglichst schnell den Gemeinden zu übereignen.<br />
Ich zitiere: „In vielen Fällen könnten diese<br />
Liegenschaften kurzfristig der Wohnnutzung oder der<br />
gewerblichen Nutzung zugeführt werden."<br />
Warum war das BMVg oder zumindest das BMF als<br />
Vermögensverwalter bisher nicht in der Lage, ein entsprechendes<br />
Konzept vorzulegen?<br />
Auf meine Anfrage beim Verteidigungsministerium<br />
wurde mir lediglich mitgeteilt, daß die Kommunen<br />
bundeseigene Grundstücke für Verwaltungszwecke<br />
verbilligt kaufen bzw. nutzen können, wenn sie nicht<br />
selber über geeignete Grundstücke verfügen. Ich zitiere:<br />
„Den Gemeinden soll in diesen Fällen grundsätzlich<br />
ein Preisabschlag von 50 % vom Verkehrswert<br />
bzw. Nutzungsentgelt eingeräumt werden. "<br />
Ich frage Sie: Heißt dies im Klartext, daß die Gemeinden<br />
zunächst den Nachweis erbringen müssen,<br />
daß sie eine Liegenschaft tatsächlich für Verwaltungszwecke<br />
benötigen, bevor sie als Käufer in Betracht<br />
gezogen werden? Wer wird wann den Verkehrswert
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2619<br />
Gerhard Neumann (Gotha)<br />
der umweltverseuchten und oft in desolatem Zustand<br />
befindlichen Liegenschaften festlegen, die vielfach<br />
schon als Bauerwartungsland behandelt werden?<br />
Der von der Bundesregierung eingeschlagene Verfahrensweg<br />
ist unzureichend, was den Preis der Liegenschaften<br />
betrifft, unangemessen und deshalb<br />
nicht akzeptabel.<br />
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />
Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />
In das Preiskalkül müssen zumindest die Sanierungskosten<br />
der Liegenschaften einbezogen werden.<br />
Zu fordern ist die gesamte Übernahme der Kosten für<br />
die Altlastenbeseitigung durch den Bund.<br />
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />
Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />
Neue wehrtechnische Entwicklungen werden im<br />
Haushalt 1991 mit mehr als 3 Milliarden DM veranschlagt.<br />
Hinzu kommen 800 000 Millionen DM für das<br />
mehr als fragliche Waffensystem Jäger 90.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Neumann,<br />
ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.<br />
Gerhard Neumann (Gotha) (SPD): Mit Blick auf die<br />
sicherheitspolitische Lage in Europa sollte es jedem<br />
eingängig sein, daß diese Summe zur Sanierung der<br />
Altlasten auf NVA-Liegenschaften erheblich sinnvoller<br />
eingesetzt werden könnten. Als persönlich betroffener<br />
Abgeordneter aus den neuen Ländern kann ich<br />
Ihnen zudem versichern: Die Bevölkerung der ehemaligen<br />
DDR — und nicht nur sie — wüßte eine solche<br />
Umverteilung im Haushalt als den Beweis für einen<br />
verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern zu<br />
schätzen.<br />
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />
Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Ich muß Ihnen das<br />
Wort entziehen, Herr Kollege Neumann. Noch einen<br />
Schlußsatz bitte.<br />
(Zuruf von CDU/CSU: Der kriegt doch Senio<br />
renzuschlag, Herr Präsident!)<br />
Gerhard Neumann (Gotha) (SPD): Ich wollte nur<br />
noch darauf hinweisen, daß mit hochspezialisierten<br />
Analyse- und Meßlabors und umwelterfahrenen<br />
Wehrgeologen und vor allem mit dem Spürpanzer<br />
„Fuchs" ohne Schwierigkeiten die Beseitigung der<br />
ökologischen Schäden auf ehemaligem Militärgelände<br />
in den fünf neuen Ländern erfolgen könnte.<br />
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. -Vera<br />
Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Nun muß ich aber<br />
wirklich sagen: Es ist Schluß, Herr Kollege Neumann!<br />
Wir können das nicht machen.<br />
Ich will noch einmal auf unsere Regeln aufmerksam<br />
machen. Wenn wir allgemeine Debatten haben, kann<br />
es vorkommen, daß die Redezeit einmal etwas überzogen<br />
wird. Aber wir müssen bei unseren Regeln bleiben:<br />
Dies sind Fünfminutenreden; es darf nicht länger<br />
geredet werden. Ich muß wirklich, so unangenehm<br />
das auch ist, bei fünf Minuten abläuten.<br />
Nun hat als nächster das Wort unser Kollege Karl<br />
Stockhausen.<br />
Karl Stockhausen (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Außer Kritik und Vorwürfen<br />
habe ich von der SPD in den zwei Beiträgen nichts<br />
Konkretes gehört.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Meine Damen und Herren, ich möchte deutlich die<br />
Frage stellen: Welches Zeitverständnis haben Sie eigentlich?<br />
Wenn die SPD-regierten Länder vier Monate<br />
brauchen, um eine Stellungnahme zu der Planung<br />
abzugeben, dann muß man doch einmal fragen,<br />
welche Zeit es beansprucht, bis ein Verteidigungsminister,<br />
bis die Hardthöhe in der Lage ist, eine solche<br />
Herausforderung, wie sie die Entspannungspolitik im<br />
Gefolge hat, nämlich die Abrüstung, zu bewältigen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Zurufe von der SPD)<br />
Meine Damen und Herren, wir sind Gerhard Stoltenberg,<br />
unserem Verteidigungsminister, ausdrücklich<br />
dankbar — und wenn einmal einige undichte<br />
Stellen im Ministerium vorhanden sind, ist dafür nicht<br />
der Minister verantwortlich.<br />
(Zurufe von der SPD: Nein?! — Weitere Zu<br />
rufe von der SPD)<br />
— ach, passen Sie doch einmal auf; das mit Guillaume<br />
war noch viel schlimmer —,<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen und Zu<br />
rufe von der SPD)<br />
daß er den Erfolg unserer Politik, nämlich Frieden zu<br />
schaffen mit weniger Waffen, in dieser konkreten<br />
Form vorgelegt hat. Frieden schaffen mit weniger<br />
Waffen heißt natürlich auch: Frieden schaffen mit weniger<br />
Soldaten.<br />
Daß dies möglich wurde — auch daran muß man<br />
sich erinnern — , verdanken wir vor allen Dingen den<br />
Alliierten, insbesondere den USA, zu denen Sie immer<br />
ein distanziertes Verhältnis hatten.<br />
(Lachen und Widerspruch bei der SPD)<br />
Ich erwähne aber auch ausdrücklich Herrn Gorbatschow,<br />
der erkannt hat, daß man den Freiheitswillen<br />
von Völkern auf Dauer nicht mit militärischer Macht<br />
unterdrücken kann. Darum gilt unser Dank Gorbatschow,<br />
(Zuruf von der SPD: Seien Sie vorsichtig!)<br />
daß er den mutigen Schritt gewagt hat, die Völker des<br />
Warschauer Pakts ihren Weg selbst bestimmen zu lassen.<br />
Meine Damen und Herren, ich sage noch etwas,<br />
was Sie auch nicht gern hören: Es war ganz entscheidend,<br />
daß diese Bundesregierung und die sie tragenden<br />
Parteien durch den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses<br />
deutlich gemacht haben,<br />
(Klaus Lennartz [SPD]: Aha! Weitere Zurufe<br />
von der SPD)<br />
daß diese Bundesrepublik zu ihren Verpflichtungen<br />
im Rahmen der NATO steht. Meine Damen und Her-
2620 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Karl Stockhausen<br />
ren von der SPD, Sie haben Ihren ehemaligen Kanzler<br />
Schmidt im Regen stehengelassen.<br />
(Lachen bei der SPD — Albrecht Müller<br />
[Pleisweiler] [SPD]: Das war der falsche Zet<br />
telkasten — Gegenruf von der CDU/CSU:<br />
Der Tiefflieger Müller! — Weitere Zurufe von<br />
der SPD)<br />
Sie haben damals im alten Plenarsaal kein gutes Bild<br />
abgegeben, als Helmut Schmidt mit einer Handvoll<br />
Getreuen zu dem gestanden hat, was richtig war.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Ihre Prognosen „Beginn der Eiszeit" oder „Verstärkung<br />
des kalten Krieges" haben sich nicht realisiert,<br />
sondern unsere Überzeugung, daß eine wirksame Abrüstungspolitik<br />
nur auf unserem Weg erreicht werden<br />
kann, war richtig.<br />
Meine Damen und Herren, auch das sage ich heute<br />
hier: Voraussetzung war auch die Bereitschaft von<br />
Millionen junger deutscher Bürger, die ihrer Wehrpflicht<br />
nachgekommen sind und damit ihren Beitrag<br />
zur Verteidigung und zum Friedensdienst geleistet<br />
haben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Ich möchte der Bundesregierung und unserem Bundeskanzler<br />
Dr. Helmut Kohl ausdrücklich Dank aussprechen.<br />
Sie waren an diesem Erfolg durch ihren<br />
konsequenten Weg maßgeblich beteiligt und können<br />
ihn daher für sich in Anspruch nehmen, nicht dagegen<br />
Sie von der SPD.<br />
Meine Damen und Herren, ich wiederhole es: Wenn<br />
Sie für diesen Erfolg der Bundesregierung schon nicht<br />
Dank sagen können, dann hätte es Ihnen heute tatsächlich<br />
gut angestanden — die Chance dazu haben<br />
Sie gehabt —, wenigstens Ihren Respekt vor diesem<br />
einmaligen Erfolg zum Ausdruck zu bringen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der<br />
CDU/CSU: Selbst den haben Sie versagt!<br />
Das zeugt von wenig Größe!)<br />
Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten<br />
ist eine Vorleistung der Bundesrepublik. Legt<br />
man den Anfangsbestand Bundeswehr/NVA von<br />
620 000 Mann zugrunde, bedeutet das eine Reduzierung<br />
um 250 000 Soldaten. Dies bringt vor allen Dingen<br />
bei uns in den alten Bundesländern, in den Regionen,<br />
wo Standorte aufgegeben oder verringert werden,<br />
Probleme mit sich.<br />
(Zuruf von der SPD: Aha!)<br />
Die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter und die Wirtschaftskraft<br />
der Truppe sind für die Standorte - zu einem<br />
wichtigen Faktor geworden. Es geht um das<br />
Schicksal von Menschen, die um ihren Arbeitsplatz<br />
bangen, um Kommunen, die eine Beeinträchtigung<br />
ihrer Struktur in Kauf nehmen müssen. Hier wird die<br />
Bundesregierung — das ist gerade betont worden —<br />
ihrer Verpflichtung nachkommen, den betroffenen<br />
Menschen zu helfen. — Das rote Licht leuchtet schon<br />
auf; ich will nur noch zwei Sätze sagen.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Nein, eigentlich<br />
nicht, Herr Kollege Karl Stockhausen. So alte Routiniers<br />
müssen wissen, daß fünf Minuten jetzt um<br />
sind.<br />
(Heiterkeit)<br />
Karl Stockhausen (CDU/CSU): Gut, letzter Satz.<br />
Meine Damen und Herren von der SPD. Sie spekulieren<br />
bei den Bürgern auf die Gnade des Vergessens,<br />
(Lachen bei der SPD)<br />
die Ihnen in der Vergangenheit schon sehr oft zuteil<br />
wurde.<br />
(Lachen und Zurufe von der SPD)<br />
Wir werden es aber nicht zulassen, daß dies in Vergessenheit<br />
gerät.<br />
Schönen Dank.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Dieter Heistermann [SPD]: Den Satz hätten<br />
Sie sich sparen können! — Detlev von Larcher<br />
[SPD]: Wir danken Ihnen für die kon<br />
krete Vorgabe, die Sie gemacht haben!)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Liebe Kolleginnen,<br />
liebe Kollegen, der nächste Redner ist der Abgeordnete<br />
Günther Nolting.<br />
Günther Friedrich Nolting (FDP) : Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr wird auf<br />
370 000 Mann reduziert. Diese Reduzierung ist von<br />
uns politisch gewollt. Sie ist auch das Ergebnis einer<br />
erfolgreichen Außen- und Sicherheitspolitik. Herr<br />
Kollege Stockhausen, Sie werden Verständnis dafür<br />
haben, daß ich als FDP-Vertreter dies besonders erwähne.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Es besteht jetzt aber auch die Chance einer Umstrukturierung<br />
der Bundeswehr bis 1994. Ich erinnere<br />
nur an die Erhöhung der Führerdichte, die Verbesserung<br />
der Ausbildung und die Steigerung der Attraktivität.<br />
(Dieter Heistermann [SPD]: Und die Verlän<br />
gerung des Wehrdienstes!)<br />
Minister Stoltenberg hat ein insgesamt ausgewogenes<br />
Konzept vorgelegt. Herr Minister, ich danke Ihnen<br />
und Ihren Mitarbeitern im Ministerium hierfür ausdrücklich.<br />
Ich danke auch dafür, daß Sie uns heute die<br />
Vorlage für den zivilen Bereich übergeben haben,<br />
(Dieter Heistermann [SPD]: Das ist zu<br />
klein!)<br />
so daß wir in der Sommerpause weiterberaten können.<br />
Aus der Sicht der FDP sind noch gewisse Nachbesserungen<br />
in Einzelfragen nötig. Ein grundlegendes<br />
Infragestellen des vorgelegten Konzepts ist aus unserer<br />
Sicht, Herr Kollege, aber nicht angebracht. Sie wissen,<br />
daß die Ministerpräsidenten angeschrieben wurden.<br />
Sie sollen zu den Stationierungsplanungen Stellung<br />
beziehen. Wir gehen davon aus, daß bei den Eingaben,<br />
die uns erreichen werden, auch die Interessen<br />
der Kommunen berücksichtigt werden.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2621<br />
Günther Friedrich Nolting<br />
Eine Fristverlängerung bis Ende September, die die<br />
Länder jetzt fordern, ist für uns nicht akzeptabel. Sie<br />
kann nicht akzeptabel sein;<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
denn ich sage Ihnen: Die betroffenen Soldaten, ihre<br />
Familien, die zivilen Mitarbeiter und die Regionen<br />
und Standorte müssen jetzt endlich Planungssicherheit<br />
haben.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Zu geringfügigen Fristverlängerungen können wir<br />
uns bestimmt noch äußern.<br />
Die SPD hat noch im letzten Jahr eine Reduzierung<br />
der Bundeswehr auf 200 000 Mann gefordert. Davon<br />
ist jetzt, wo es darum geht, Standorte auszudünnen<br />
oder aufzulösen, natürlich nichts mehr zu hören.<br />
Wenn man alle Forderungen der SPD-Vertreter im<br />
Verteidigungsausschuß nach Verbesserungen und<br />
Zuschlägen zusammenzählt, dann dürften wir die<br />
Bundeswehr nicht verkleinern, sondern müßten ihre<br />
Stärke um einige hunderttausend Mann erhöhen.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —<br />
Dieter Heistermann [SPD]: Märchenerzähler<br />
Nolting!)<br />
— Ich beweise Ihnen das. — Dieses Verfahren ist<br />
schlicht und einfach unredlich.<br />
(Dieter Heistermann [SPD]: „Es war ein<br />
mal" !)<br />
Hier stellt sich Frau Matthäus-Maier für die SPD-<br />
Fraktion hin, und fordert drastische Kürzungen des<br />
Verteidigungshaushalts, die auch zu Lasten der Bundeswehrsoldaten<br />
gingen; gleichzeitig beginnt Herr<br />
Lafontaine das strukturpolitische Gejammer, weil in<br />
seinem Land nur um ein Prozent gekürzt wird.<br />
(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Viel zuwe<br />
nig!)<br />
Plötzlich hat die SPD die Liebe zur Bundeswehr entdeckt.<br />
Das haben wir soeben auch bei Herrn Müller<br />
erlebt.<br />
(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Eine<br />
späte Liebe!)<br />
Herr Müller, Ihnen und Ihrer Partei sage ich dazu: Sie<br />
möchten die Bundeswehr doch am liebsten in den<br />
Kasernen verstecken. Ich erinnere an den Gelöbnisbeschluß<br />
Ihres vorletzten Bundesparteitags.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —<br />
Lachen bei der SPD)<br />
-<br />
Für die FDP ist wichtig, daß es bei der Umsetzung<br />
des Konzepts nicht zu einem Verschiebebahnhof für<br />
Soldaten kommen darf. Die Zahl der Umzüge muß<br />
möglichst geringgehalten werden. Die Soldaten und<br />
ihre Familien dürfen keine beliebige Manövriermasse<br />
sein.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Sie dürfen nicht die Verlierer dieser erfolgreichen Abrüstungspolitik<br />
sein. Dies gilt auch für den zivilen<br />
Bereich.<br />
(Zuruf von der SPD: Eben!)<br />
Im weiteren Verlauf der Beratungen der Standortkonzeption<br />
müssen die anderen Ministerien einbezogen<br />
werden. Der Kollege Beckmann hat darauf hingewiesen.<br />
Dies muß eine Gemeinschaftsaufgabe sein.<br />
Ich erinnere an die Standortschließung bei Stahl<br />
und Kohle, wo schon fast der nationale Nostand ausgerufen<br />
wurde und eine Sondersitzung die andere<br />
jagte. Hier aber geht es um weit über 100 000 Soldaten<br />
und Zigtausende von Zivilbeschäftigten und ihre<br />
Familien, also eine Größenordnung, die noch nie dagewesen<br />
ist.<br />
Deshalb handelt es sich um eine Aufgabe der gesamten<br />
Regierung und des gesamten Parlaments, und<br />
ich beziehe die Opposition ausdrücklich ein, weil ich<br />
noch nicht die Hoffnung aufgegeben habe, daß Sie zu<br />
einem Konsens in der Lage sind.<br />
Ausschließen möchte ich hier ausdrücklich die Kollegin<br />
von der PDS, die sich hier als Spreche rin der<br />
Nachfolgeorganisation der SED hinstellt, uns hier<br />
Vorschriften macht, aber an keiner <strong>Sitzung</strong>, als das<br />
Stationierungskonzept beraten wurde, teilgenommen<br />
hat. Ich frage Sie: Woher nehmen Sie eigentlich Ihre<br />
Informationen? Wenn Sie dann hier als Spreche rin der<br />
SED-Nachfolgeorganisation uns etwas über Abrüstung<br />
erzählen wollen, dann darf ich Sie doch wohl<br />
daran erinnern, daß es die SED war, die ihr Land bis in<br />
den letzten Winkel aufgerüstet hat. Unter diesen Folgen<br />
leiden unsere Mitbürger noch heute, und Sie tragen<br />
dafür die Verantwortung.<br />
Ich bedanke mich.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, das Wort hat nunmehr der Bundesminister der<br />
Verteidigung, Herr Gerhard Stoltenberg.<br />
Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Verteidigung:<br />
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!<br />
Seit der Vorlage und Begründung des Stationierungskonzepts<br />
für die Standorte der Soldaten am 24. Mai<br />
erleben wir in der Öffentlichkeit eine beite, ganz<br />
überwiegend sachbezogene Debatte. Ich will das unterstreichen.<br />
Wir haben seitdem über acht Stunden im Verteidigungsausschuß<br />
diskutiert — heute morgen noch über<br />
die schon erwähnte Folgevorlage für die zivilen Mitarbeiter<br />
der Streitkräfte. Ich hebe das auch hervor,<br />
weil es schon erstaunlich ist, wie Hauptsprecher der<br />
Opposition — Kollege Müller als erster — hier lustig<br />
drauflosreden, die an keiner dieser Beratungen teilgenommen<br />
haben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Von Sachkenntnis ungetrübt übernehmen Sie den<br />
polemischen Teil, und das im Namen einer Partei, die<br />
ja leider im letzten Jahr bewiesen hat — daran ist<br />
schon ein ganzes Jahr lang von Oskar Lafontaine bis<br />
Egon Bahr erinnert worden — , daß sie eine Bundeswehr<br />
von etwa 200 000 Mann wollte. Wenn wir das<br />
umsetzen müßten, würden wir unsere sicherheitspolitische<br />
Verantwortung mißachten und einen Kahlschlag<br />
bei den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern<br />
machen, der vollkommen unvertretbar wäre.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2622 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg<br />
Also, Herr Müller, mäßigen Sie sich vor dem Hintergrund<br />
dieser Debatten. Sie gehören auch zu denen,<br />
die mit massiver Emotionalität die Übungen der Luftwaffe<br />
vor zwei, drei Jahren in ihrem Heimatland bekämpft<br />
haben und heute erklären, die Luftwaffe<br />
müsse hierbleiben.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Tiefflug kommt<br />
von Tiefflieger, Herr Müller!)<br />
Die Soldaten müssen als Mitbürger in ihrer Verantwortung<br />
ernstgenommen und nicht plötzlich als Wirtschaftsfaktor<br />
entdeckt werden, wenn man über sie<br />
redet.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Wir haben dieses Angebot zur Diskussion mit den<br />
Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und allen<br />
anderen Interessierten gemacht, und wir spüren,<br />
daß es von vielen ernstgenommen wird. Es ist auch<br />
möglich — ich habe dies heute im Ausschuß gesagt<br />
—, wenn wir die abschließenden Entscheidungen<br />
für diesen Bereich im August treffen, noch Stellungnahmen<br />
bis gegen Ende Juli in die Schlußwürdigung<br />
einzubeziehen. Aber dann muß entschieden<br />
werden. Herr Kollege Nolting hat als letzter überzeugend<br />
die Gründe genannt, warum wir das nicht immer<br />
weiter verschleppen dürfen.<br />
Man muß auch den jetzigen Diskussionsprozeß in<br />
vier Stufen der Entscheidungsfindung über eine<br />
grundlegende Reform der Bundeswehr sehen.<br />
Wir haben nach sorgfältiger Beratung über eine<br />
drastische Straffung und Vereinfachung der Führungsorganisation<br />
der Kommandobehörden der Bundeswehr<br />
entschieden. Wir sind jetzt im Entscheidungsprozeß<br />
über die Stationierung der Soldaten und<br />
die Standorte für die zivilen Mitarbeiter in den Streitkräften.<br />
Wir wollen im September — ich habe das<br />
heute im Ausschuß ausführlicher vorgetragen — dann<br />
ein grundlegendes Reformkonzept vorlegen, natürlich<br />
auch mit einer notwendigen Rückführung für fast<br />
100 000 Mitarbeiter allein in Westdeutschland bei der<br />
übrigen Bundeswehrverwaltung und im Bereich der<br />
technischen Einrichtungen, der sogenannten Rüstungsorganisation.<br />
Das kann man auch nicht alles<br />
übers Knie brechen; denn hier geht es um zwei Dinge:<br />
die vielbeschworene, von uns ernstgenommene Verantwortung<br />
für die Menschen, aber auch um eine für<br />
die Aufgaben der Bundeswehr sinnvolle Zukunftsorganisation.<br />
Ich will einmal im Deutschen <strong>Bundestag</strong> sagen, daß<br />
hier in einer ungewöhnlich engagierten Weise gearbeitet<br />
wird, daß die Belastung für diejenigen, die die<br />
Hauptarbeit leisten, an die Grenze dessen geht, was<br />
man ihnen zumuten kann.<br />
(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wieviel<br />
arbeiten denn daran?)<br />
— Alles in allem geht es in die Tausende, wenn wir die<br />
Rückkopplungen in die Kommandobereiche und Verwaltungen<br />
sehen, und im Ministerium sind es sicher<br />
auch weit über tausend.<br />
Herr Kollege Müller, es gibt natürlich auch noch<br />
andere Aufgaben. Seit dem 3. Oktober stehen wir vor<br />
der Aufgabe, die alten Strukturen der NVA aufzulösen<br />
und mit dem Aufbau der neuen Bundeswehr zu<br />
beginnen. Wir haben die Aufgabe, uns an den internationalen<br />
Diskussionen über die neue Konzeption<br />
des Bündnisses über Rüstungskontrolle und Reform<br />
zu beteiligen.<br />
Insofern ist das eine große Zeit der Gestaltung, bei<br />
der wir in der Tat vor dem, was an tiefgreifenden<br />
Änderungen kommt, die Verantwortung für die Menschen<br />
zu beachten haben, hier für die Soldaten und<br />
zivilen Mitarbeiter. Ich hoffe, daß wir so zu tragfähigen<br />
Ergebnissen kommen, die der Zukunft und den<br />
Betroffenen gerecht werden.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Helmut Becker: Meine Damen und<br />
Herren, nächste Rednerin ist Frau Kollegin B rigitte<br />
Schulte.<br />
Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Herr Präsident!<br />
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Stoltenberg,<br />
es ist schon erstaunlich, was Sie zu Ihrem Konzept<br />
heute vorgetragen haben. Wir haben dieses<br />
große Werk ja unvollständig erhalten, und in der militärischen<br />
Konzeption ist es auch für den Fachmann<br />
nicht durchschaubar. Sie hatten es ja nicht nötig, uns<br />
vorher zu erklären, warum denn im Jahre 1995 der<br />
Umfang des Heeres mit 255 400, der Luftwaffe mit<br />
82 400 und der Marine mit 32 200 Soldaten der Stein<br />
der Weisen ist.<br />
Im Gegenteil, allen Angeboten der SPD-Opposition<br />
entgegen haben Sie mit uns kein Gesamtkonzept über<br />
moderne Streitkräfte erarbeitet. Ich habe immer den<br />
Verdacht — auch die Soldaten empfinden das inzwischen<br />
draußen so —, daß diese Bundesregierung die<br />
Bundeswehr als ihre Privatarmee versteht und nicht<br />
als Gesamtaufgabe der Gesellschaft.<br />
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/<br />
CSU: Das sagen Sie! — Weitere Zurufe von<br />
der CDU/CSU)<br />
Bei einer solchen Haltung konnten Sie auch nicht erwarten,<br />
daß die Regierungschefs Ihnen ernsthaft auf<br />
das vorgelegte Konzept eine Antwort geben konnten.<br />
Das haben doch nicht einmal die CDU- und CSUgeführten<br />
Länder getan.<br />
(Zuruf von der SPD: Das ist die Wahrheit! —<br />
Zuruf von der FDP: Herr Schäfer, Niedersachsen!)<br />
Meiner Meinung nach haben Sie in diesem riesigen<br />
Konzept selber zugeben müssen, daß es unvollständig<br />
ist, weil, als Sie es am 24. Mai vorlegten — Herr<br />
Stockhausen, Sie hätten es sich ansehen sollen —,<br />
(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Ich habe es<br />
angeguckt!)<br />
noch immer kein Niederschlag der zivilen Mitarbeiter<br />
drin war. Was Sie uns heute über die zivilen Mitarbeiter<br />
geboten haben, ist unvollständig, ist wieder<br />
eine Täuschung der Bevölkerung und erlaubt es wieder<br />
nicht, den Flächenlandministerpräsidenten eine<br />
entsprechende Antwort zu geben.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2623<br />
Brigitte Schulte (Hameln)<br />
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nur<br />
das Beispiel Niedersachsen sagen.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das hätte<br />
uns auch gewundert, wenn Sie nichts gesagt<br />
hätten!)<br />
Niedersachsen hatte — Herr Kollege Nolting, hören<br />
Sie doch einmal zu — 106 000 Soldaten als Friedensumfang.<br />
Es hat jetzt nach den Aussagen von Herrn<br />
Stoltenberg gerade noch 86 000 Soldaten. Das liegt an<br />
der Verkürzung der Wehrdienstzeit und dem Abbau<br />
von Truppenteilen. Es soll 1994, das wissen wir seit<br />
dem 24. Mai, knapp 60 000 Soldaten haben. Das bedeutet<br />
— und darum kümmern sich Sozialdemokraten<br />
— , daß sich der Verteidigungsumfang in Friedenszeiten<br />
um 40 % erfreulicherweise verkleinert. Nur,<br />
was bedeutet das in den Folgen für die Region? Das<br />
bedeutet doch auch, daß wir — und das geben Sie<br />
selbst an — über 20 000 Arbeitsplätze für Berufs- und<br />
Zeitsoldaten verloren haben, allein in diesen letzten<br />
Jahren über 16 000. Das sind Einschnitte, die ganz<br />
besonders die Flächenstaaten treffen. Es lag doch<br />
nicht an uns, Herr Kollege Nolting, daß gerade diese<br />
Länder in der Fläche mit militärischen Ausstattungen<br />
besonders stark waren.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Es war doch die politische Lage und nicht die Lage der<br />
SPD oder der CDU/CSU und der FDP. Wir müssen das<br />
auffangen, denn es kommen zu diesem Abbau von<br />
Arbeitsplätzen bei Berufs- und Zeitsoldaten noch<br />
weit über 10 000 allein in Niedersachsen hinzu. Der<br />
Minister hat uns heute ja nur ein halbes Ergebnis<br />
gegeben. Meine Informationen sagen, daß wir über<br />
50 000 zivile Arbeitsplätze verlieren werden. Das ist in<br />
der Tat, meine Damen und Herren, viel mehr, als wir<br />
alle angenommen haben.<br />
Deswegen stimme ich dem Kollegen Müller zu: Dies<br />
ist eine wirtschaftliche Frage. Dies ist eine eminente<br />
strukturpolitische Frage. Deswegen haben wir sie<br />
zum Gegenstand einer Diskussion für Wirtschaftspolitiker<br />
und Verteidigungspolitiker gemacht.<br />
Ich bin sehr dankbar, Herr Stoltenberg, daß auf unsere<br />
Initiative hin wenigstens die Industrie- und Handelskammern<br />
und die Handwerkskammern in Niedersachsen<br />
versucht haben, diese Problematik aufzuarbeiten.<br />
(Beifall bei der SPD — Günther Friedrich<br />
Nolting [FDP]: Die haben das freiwillig ge<br />
macht!)<br />
— Herr Nolting, wenn Sie sich einmal unterrichten<br />
-<br />
würden! Wir haben Sie zu Gesprächen eingeladen.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ich habe<br />
mit den Leuten gesprochen!)<br />
— Sie sind unheimlich schlau, das ist ganz klar.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Die haben<br />
das auf freiwilliger Basis gemacht, weil Ihre<br />
Landesregierung nicht fähig ist!)<br />
— Wenn Sie so klug sind, wie Sie sich geben, dann<br />
sage ich Ihnen: Wir als SPD-Fraktion haben diese<br />
Thematik bereits am 4. Februar 1991 angesprochen,<br />
als uns die Regierung noch keine Antwort geben<br />
wollte.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Die Industrie- und Handelskammer — ich stelle Ihnen<br />
den Brief zur Verfügung — hat uns das mitgeteilt.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP] : Hatte ich<br />
vor Ihnen!)<br />
Wir brauchen einen Strauß an Antworten.<br />
(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Einen<br />
Strauß, den brauchen wir in der Tat!)<br />
Deshalb verlangt die SPD-Fraktion ein Abrüstungsfolgengesetz,<br />
in dem eben nicht nur die Arbeitnehmer,<br />
zivile wie militärische, berücksichtigt werden,<br />
sondern auch die Schaffung neuer ziviler Arbeitsplätze<br />
erreicht wird,<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
die Liegenschaften eine Rolle spielen. Meine Kolleginnen<br />
und Kollegen, erst dann kann eine ordentlich<br />
arbeitende Landesregierung auch eine Antwort geben.<br />
(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das<br />
wäre prospektiv im Jahre 2010!)<br />
Fragen Sie doch einmal Ihre bayerische Landesregierung,<br />
was sie von diesen Konzepten hält!<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete<br />
Dr. Egon Jüttner.<br />
Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns: Als im<br />
Sommer des vergangenen Jahres unser Bundeskanzler<br />
bei seinem Treffen mit Gorbatschow die Verringerung<br />
der Bundeswehr von 495 000 auf 370 000 Mann<br />
vereinbarte, da waren wir alle erleichtert. Helmut<br />
Kohl hatte damals Einigkeit mit der Sowjetunion über<br />
alle äußeren Aspekte der deutschen Einheit erzielt, so<br />
auch über die Zugehörigkeit des vereinten Deutschland<br />
zur NATO, über den Abzug aller sowjetischen<br />
Truppen bis 1994, aber auch über die Reduzierung der<br />
Streitkräfte des vereinten Deutschlands. Die Reduzierung<br />
der Streitkräfte ist eine schwierige Operation<br />
und bedeutet für die Bundeswehr einen tiefgreifenden<br />
Umbruch. Sie ist eine große Herausforderung für<br />
die Verantwortlichen. Diese müssen nicht nur die Reduzierung,<br />
sondern auch die weitreichendste Strukturreform<br />
der Bundeswehr seit ihrer Gründung und<br />
gleichzeitig den Aufbau der Bundeswehr in den<br />
neuen Bundesländern bewältigen. Dafür sollten wir<br />
den Herren auf der Hardthöhe einmal herzlich danken!<br />
Meine Damen und Herren, das Ressortkonzept für<br />
die Stationierung der Streitkräfte ist eine hervorragende<br />
Entscheidungsgrundlage. Die Vorschläge<br />
orientieren sich an Kriterien, über die allgemein Konsens<br />
besteht. Konsens besteht auch über die Grundsätze,<br />
die dem Ressortkonzept zugrunde liegen.
2624 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Egon Jüttner<br />
Meine Damen und Herren, es war vorauszusehen,<br />
daß es bei manchen Vorschlägen des Ressortkonzepts<br />
Enttäuschung und auch Kritik Betroffener geben<br />
würde. Kein Verständnis aber kann man für jene Politiker<br />
haben, die noch vor kurzer Zeit die Bundeswehr<br />
auf einen unverantwortlich niedrigen Stand zurückführen<br />
wollten,<br />
(Dieter Heistermann [SPD]: Die FDP!<br />
„230 000!" Da sitzen sie doch !)<br />
jetzt aber das Ressortkonzept kritisieren und erstaunlich<br />
schnell ihr Herz für die Bundeswehr entdeckt<br />
haben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Wie glaubwürdig ist Ihr Eintreten für die Erhaltung<br />
von Standorten, und wie ernsthaft ist Ihre Kritik am<br />
Vorschlag des Verteidigungsministers?<br />
Im Einzelfall mag das Ressortkonzept sicher manch<br />
unliebsamen Vorschlag enthalten. Man darf es aber<br />
nicht allein unter lokal- oder regionalpolitischen Gesichtspunkten<br />
sehen, sondern muß es als Ganzes beurteilen.<br />
Dann kommt man zu dem Schluß, daß es,<br />
gemessen an seinen Vorgaben und Rahmenbedingungen,<br />
insgesamt das Ziel, den künftigen Aufgaben<br />
der Bundeswehr gerecht zu werden, und gleichzeitig<br />
die Vorgabe, die Personalstärke auf 370 000 zu reduzieren,<br />
erfüllt.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Heister<br />
mann [SPD]: Hoffentlich holt Sie das nicht<br />
eines Tages wieder ein, was Sie hier sa<br />
gen!)<br />
Dies sollte auch die Opposition zur Kenntnis nehmen!<br />
Die Länder sind frühzeitig vom Verteidigungsminister<br />
in die Planungen einbezogen worden. Nun haben<br />
sie vor der endgültigen Entscheidung noch einmal die<br />
Möglichkeit, sich zu äußern und Vorschläge zu unterbreiten.<br />
Diese Vorschläge müssen sorgfältig und<br />
ernsthaft geprüft werden.<br />
Die Regierung beispielsweise meines Bundeslandes<br />
Baden-Württemberg war von Anfang an damit einverstanden,<br />
Ballungsräume zu entlasten und den ländlichen<br />
Raum zu stärken. Im Ressortkonzept ist dieser<br />
Grundsatz im wesentlichen eingehalten worden. Das<br />
zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß das Heer um 33 %<br />
verringert wird, gleichzeitig aber die Standorte nur<br />
um 12 % vermindert werden. Das bedeutet, daß die<br />
überwiegende Zahl der Standorte in strukturschwachen<br />
Gebieten erhalten bleibt. Den Forderungen der<br />
CDU-Landesgruppe und der Landesregierung - Baden-Württemberg<br />
wurde somit weitgehend entsprochen.<br />
Schließlich gibt es bei uns noch vier Standorte,<br />
für deren Erhalt wir uns weiterhin einsetzen.<br />
Meine Damen und Herren, die Schließung von<br />
Standorten bedeutet stets, auch in einer strukturstarken<br />
Gegend, einen Verlust an Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />
einen Verzicht auf Kaufkraft und überdies<br />
einen Verlust an heimatnahem Einsatz Wehrpflichtiger.<br />
Ich halte es deshalb für dringend erforderlich, daß<br />
sich im Zuge der Auflösung und Reduzierung von<br />
Standorten die Bundesministerien der Verteidigung,<br />
sowie für Wirtschaft und Arbeit nicht nur um wirtschaftsschwache,<br />
sondern um alle betroffenen Regionen,<br />
Gemeinden und Städte kümmern.<br />
(Dieter Heistermann [SPD]: Nennen Sie da<br />
bei auch noch den Finanzminister!)<br />
Ich meine, es muß in allen vom Bundeswehrabzug<br />
betroffenen Standorten bei der Reduzierung des Zivilpersonals<br />
stufenweise und sozialverträglich vorgegangen<br />
werden. Wirtschaftsstrukturelle Hilfen müssen<br />
gegeben werden; Konzepte für den heimatnahen<br />
Einsatz Wehrdienstleistender müssen vorgelegt werden;<br />
für ältere Mitarbeiter muß die Möglichkeit des<br />
vorzeitigen Ausscheidens vorgesehen werden. Darüber<br />
hinaus müssen schon bald auch im Verwaltungsbereich<br />
Entscheidungen getroffen werden. Auch hier<br />
wollen die Betroffenen wissen, ob beispielsweise<br />
Standortverwaltungen aufgelöst, verlegt oder zusammengefaßt<br />
werden.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Manfred Opel<br />
[SPD]: Natürlich wollen die das wissen! —<br />
Detlev von Larcher [SPD]: Dann man tau!)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Manfred<br />
Opel.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Der General a. D.!<br />
— Günther Friedrich Nolting [FDP]: Uns<br />
bleibt nichts erspart!)<br />
Manfred Opel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Ach wissen Sie, Herr Nolting, kurz,<br />
knapp, schnell, präzise und falsch — das kann ich<br />
auch. Das will ich aber nicht machen.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Da sind<br />
Sie gerade dabei!)<br />
Meine Damen und Herren, selbstverständlich<br />
freuen wir uns über die Erfolge bei der Abrüstung,<br />
aber wir möchten auch, daß die europa- und weltweite<br />
Abrüstung weitergeht.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Wir können nicht bei 370 000 Soldaten stehen bleiben.<br />
Deswegen muß die Abrüstung so strukturiert<br />
werden, daß sie auch zukunftssicher ist, daß sie der<br />
Bevölkerung Chancen bietet und für sie attraktiv ist,<br />
damit sie angenommen wird. Genau hier setzt unsere<br />
Kritik an.<br />
Wir wissen natürlich auch, daß Abrüstung nicht<br />
ohne potentielle soziale, wirtschaftliche und strukturelle<br />
Folgewirkungen durchzuführen ist.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dann sa<br />
gen Sie das doch öffentlich!)<br />
Abrüstung muß deshalb Hand in Hand gehen mit<br />
überzeugenden Ausgleichsmaßnahmen. Hier sind Sie<br />
eine Antwort schuldig geblieben, Herr Nolting.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Die dringende Frage ist nicht, o b man abrüstet, son<br />
dern, wie man abrüstet. Deswegen brauchen wir ein<br />
„Gesamtkonzept Abrüstung".<br />
Der erste Entwurf der Hardthöhe zur Reduzierungsplanung<br />
kam nicht nur mit großer Verspätung, son-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2625<br />
Manfred Opel<br />
dern erwies sich auch, wie Sie ja selbst gesagt haben,<br />
als höchst unvollständig und unausgewogen.<br />
(Günther F riedrich Nolting [FDP]: Sie haben<br />
nicht zugehört!)<br />
Würde das sogenannte Ressortkonzept in der vorliegenden<br />
Form umgesetzt, wären vermeidbare Nachteile<br />
und soziale Härten bei den betroffenen Bundeswehrangehörigen,<br />
Gemeinden und Regionen die<br />
Folge. Vor allem die Soldaten vermögen aus dem Konzept<br />
nicht zu erkennen, wie ihre sozialen Belange<br />
wahrgenommen werden sollen. Das aber haben diejenigen<br />
— in erster Linie in den Standortgemeinden —,<br />
die in der Vergangenheit viel in Kauf genommen haben,<br />
um den Frieden in Europa zu sichern, nicht verdient.<br />
Um es klar zu sagen: Das Ressortkonzept des<br />
Verteidigungsministers ist sozial- und strukturpolitisch<br />
unakzeptabel.<br />
Den Plänen des Verteidigungsministers fehlt insbesondere<br />
die Ausrichtung auf ein politisches, strategisches<br />
und operatives Konzept. So werden lediglich<br />
überwiegend veraltete Strukturen fortgeschrieben.<br />
Die Beschaffung der Dinosauriersysteme des Kalten<br />
Krieges wird fortgesetzt, als sei in der Zwischenzeit<br />
überhaupt nichts geschehen.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Die Aufgabenteilung zwischen den Teilstreitkräften<br />
wurde nicht neu definiert, obgleich eine Umplanung<br />
zugunsten der Ma rine — hier trete ich Ihnen bei,<br />
Herr Koppelin — dringend geboten ist.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Militärisches<br />
Fossil!)<br />
Fazit: Das sogenannte Ressortkonzept ist auch politisch<br />
und militärisch nicht tragfähig.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien,<br />
wir laufen ernsthaft Gefahr, die „Friedensdividende"<br />
zu verspielen. Das sollten Sie sich einmal zu<br />
Gemüte führen.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nennen<br />
Sie uns mal Ihr Konzept!)<br />
Man nehme nur einmal das Beispiel des Landesteils<br />
Schleswig im Norden Schleswig-Holsteins. Da läßt<br />
der Verteidigungsminister ausgerechnet eine der<br />
strukturschwächsten Regionen dieser Republik am<br />
meisten bluten. Das beweist das heute veröffentlichte<br />
Konzept für die „Zivilbediensteten bei den Streitkräften"<br />
sogar verstärkt. Die diesbezüglichen Ausführungen<br />
des Kollegen Koppelin sind richtig, und ich<br />
schließe mich ihnen an. Im übrigen, Herr Kollege<br />
-<br />
Koppelin,<br />
wurde Itzehoe vom Verteidigungsminister ja<br />
schon bestraft. Dort wurde der Standort sang- und<br />
klanglos geschlossen. Die zahlreichen und konstruktiven<br />
Alternativvorschläge, die wir gemacht haben,<br />
stießen beim Minister auf taube Ohren.<br />
Wir benötigen dringend die Aufschlüsselung der<br />
zukünftigen Personalstruktur nach Dienstgraden und<br />
Laufbahnen. Wir brauchen endlich die Vergleichszahlen<br />
für alle zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr<br />
und nicht nur für einen Teil. Wir müssen die Planzahlen<br />
in Jahresschritten präzise genannt erhalten. Die<br />
Bürgermeister und Landräte wissen nämlich im Mo<br />
ment nicht, wie ihre Planung vor Ort aussieht. Es<br />
herrscht dort absolute Unsicherheit.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Wir brauchen ein Abrüstungsfolgen-Gesetz mit folgenden<br />
drei Elementen: erstens ein Konzept für soziale<br />
Konversion in Form von sozialer Absicherung<br />
der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr<br />
sowie für alle anderen Betroffenen, zweitens ein<br />
Konzept zur Standortekonversion für wirtschaftliche<br />
Hilfen, in erster Linie für die betroffenen Kommunen,<br />
drittens ein Konzept für Rüstungskonversion, bestehend<br />
vor allem aus Überleitungsmaßnahmen von der<br />
Rüstungsproduktion in die zivile Produktion. Wichtig<br />
ist, daß wir damit weiterkommen, daß Sicherheit vor<br />
Ort entsteht.<br />
Vorzuwerfen ist dem Verteidigungsminister vor allem<br />
auch, daß er seine Planungsarbeit wie seine Privatsache<br />
gefahren hat. Er hätte Gemeinden, Kreise,<br />
Länder, Berufsverbände, Personalräte, Vertrauenspersonen,<br />
Gewerkschaften und andere Betroffene von<br />
Anfang an beteiligen müssen. Dann wären die eklatanten<br />
Fehler, die nun leider zu verzeichnen sind, vermeidbar<br />
gewesen.<br />
So haben wir heute Gemeinden, die ihre Soldaten<br />
loswerden wollen, sie aber behalten müssen; und umgekehrt<br />
solche, die ihre Soldaten behalten wollen, sie<br />
aber abgeben müssen. Genau das hätte man durch<br />
Offenheit von Anfang an anders machen können.<br />
Wir hoffen, daß der Verteidigungsminister endlich<br />
Einsicht zeigt, sich kooperationswillig sowie vor allem<br />
kooperationsfähig erweist und daß wir die Planung in<br />
der Substanz in dem Sinne, wie ich es gesagt habe,<br />
noch im Laufe der nächsten Monate grundlegend korrigieren<br />
können.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, nächster Redner ist unser Kollege Hans Raidel.<br />
Hans Raidel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine<br />
sehr verehrten Damen und Herren! Wir führen heute<br />
eine ganz erstaunliche Debatte: Die SPD spielt sich als<br />
Gralshüter der Bundeswehr auf.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Plötzlich heißt es: Abrüsten ja, aber nicht bei uns.<br />
Schärfste Kritiker des Militärs wandeln sich, Wendehälsen<br />
gleich, aus regionalem Egoismus und mit Blick<br />
auf die Stimmung im eigenen Wahlkreis zu Freunden<br />
soldatischer Präsenz.<br />
(Gudrun Weyel [SPD]: Sie kennen sich nicht<br />
aus! — Josef Vosen [SPD]: Wer hat Ihnen das<br />
aufgeschrieben?)<br />
— Ich würde an Ihrer Stelle Ihre Phrasendreschmaschine<br />
in der Scheune stehen lassen!<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Meine Damen und Herren, die Verringerung der<br />
Bundeswehrstärke auf rund 370 000 Mann und der<br />
gleichzeitige Aufbau demokratischer Streitkräfte in
2626 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Hans Raidel<br />
den neuen Bundesländern sowie der Abzug der sowjetischen<br />
Truppen sind der Erfolg der Sicherheitsund<br />
Außenpolitik dieser Regierung. Die Bundeswehr<br />
erfährt mit der vorliegenden Entscheidung die größte<br />
Umstrukturierung in ihrer Geschichte. Ziel ist dabei<br />
weiterhin, die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten.<br />
Wirtschaftliche Interessen sind zwar, wo immer<br />
es geht, zu berücksichtigen, haben sich aber letztlich<br />
dem Sicherheitsziel unterzuordnen.<br />
Um die militärischen Interessen mit denen der Länder<br />
soweit wie möglich zu harmonisieren, erfolgte die<br />
Stationierungsplanung unter Anlegung eines umfassenden<br />
Kriterienkatalogs: a) Sicherstellung der militärischen<br />
Aufgabenerfüllung, b) politische und gesellschaftliche<br />
Akzeptanz, c) Lebensfähigkeit der Standorte.<br />
Meine Damen und Herren, das vorgelegte Konzept<br />
ist in sich schlüssig und erfüllt die gestellten Ansprüche.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Glauben Sie das<br />
selber?)<br />
Ich darf Ihnen, Herr Minister, und allen Mitarbeitern<br />
Ihres Hauses, insbesondere den Planungsstäben,<br />
herzlich für die enorme Fleißarbeit danken. Dieses<br />
Konzept ist ausgewogen; es hat Hand und Fuß.<br />
Wir wissen, am Truppenabbau geht kein Weg vorbei.<br />
Das darf uns aber nicht den Blick auf die großen<br />
Probleme verstellen, die sich für einzelne Städte und<br />
Gemeinden ergeben, wenn die Soldaten abziehen.<br />
Kaufkraft geht verloren; Infrastruktureinrichtungen,<br />
die für die Bundeswehrangehörigen und ihre Familien<br />
geschaffen wurden, stehen leer.<br />
Als bayerischer Abgeordneter darf ich mir erlauben,<br />
insbesondere auf die bayerischen Probleme hinzuweisen,<br />
die z. B. in Ostbayern, insbesondere in Niederbayern<br />
und der Oberpfalz, oder auch in Nordschwaben<br />
entstehen.<br />
Flankierende Maßnahmen sind nötig. Aus meiner<br />
Sicht sind diese flankierenden gesetzgeberischen<br />
Maßnahmen: erstens das Personalstärkegesetz für die<br />
Reduzierung des Soldatenumfanges, zweitens eine<br />
Vorschrift zur sozial verträglichen Reduzierung des<br />
Zivilpersonals und drittens eine Konzeption, die die<br />
wirtschaftlichen und strukturellen Auswirkungen in<br />
den neuen Stationierungsplanungen auf die Standorte<br />
berücksichtigt.<br />
Die Bundesregierung muß in Abstimmung mit den<br />
Ländern rechtzeitig Vorbereitungen treffen, um geeignete<br />
Maßnahmen einleiten zu können, z. B. aus der<br />
Programmförderung der regionalen Wirtschaftsstruktur.<br />
(Josef Vosen [SPD]: Das ist doch überholt!)<br />
Zudem sollten alle bisher militärisch genutzten Liegenschaften<br />
auf die Möglichkeit ihrer zivilen Folgenutzung<br />
geprüft werden. Als Alternative nenne ich<br />
z. B. die Nutzung für den Wohnungsbau. Hier ist dem<br />
Finanzminister herzlich zu danken, daß das Konzept<br />
für die Abgabe von Bauland deutlich verbessert worden<br />
ist:<br />
(Josef Vosen [SPD]: Viel zu teuer!)<br />
30 % bisher und in möglichen weiteren Fällen über<br />
diese 30 % hinaus. Diese Preisbevorzugungen sollten<br />
sich auf alle der Öffentlichkeit dienenden Einrichtungen<br />
der Länder, Bezirke und Gemeinden erstrekken.<br />
Meine Damen und Herren, die vor Ort entstehenden<br />
wirtschaftlichen und strukturellen Probleme bei<br />
Auflösung bzw. Verlegung von Bundeswehreinheiten<br />
sind politisch sicherlich nicht zu unterschätzen. Dennoch<br />
muß dem Ministerium bescheinigt werden, daß<br />
mit dem vorgelegten Ressortkonzept eine schlüssige<br />
und den künftigen Aufgaben der Bundeswehr gerecht<br />
werdende Stationierungsplanung vorgelegt wurde.<br />
Herzlichen Dank.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt<br />
hat nunmehr der Abgeordnete Thomas Kossendey<br />
das Wort.<br />
Thomas Kossendey (CDU/CSU) : Herr Präsident!<br />
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich die Reden<br />
der Kollegen von der Opposition hörte, fiel mir Ihr<br />
Bürgermeister Momper ein. Er hat den Ausdruck vom<br />
„Rumeiern" geprägt. Sehr viel mehr war es eigentlich<br />
nicht, was Sie heute geboten haben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Sie haben viel geredet, viel lamentiert, aber eigentlich<br />
wenig Konstruktives beigetragen.<br />
(Detlev von Larcher [SPD]: Das machen Sie<br />
jetzt!)<br />
Das kollektive In-die-Kissen-Schluchzen, das Sie<br />
hier demonstriert haben, kann Politik nicht ersetzen.<br />
Die Bürger wollen wissen: Was wollen die Sozialdemokraten<br />
nun eigentlich?<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Das wissen die<br />
doch selber nicht! — Dieter Heistermann<br />
[SPD]: Wir wollen wissen, was die Regierung<br />
will!)<br />
Daß Sie reduzieren wollen, haben wir gehört. Aber<br />
eines würde uns natürlich interessieren: Wieviel und<br />
wo würden Sie reduzieren? Was ist eigentlich aus Ihren<br />
hochtrabenden Plänen geworden?<br />
Mit einem Irrtum unserer Kollegen möchte ich einmal<br />
aufräumen: Die SPD sprach immer von 200 000<br />
Mann. Ich habe hier eine Überschrift aus einer politischen<br />
Zeitung: „Der roten Heidi reichen 100 000<br />
Mann",<br />
(Josef Vosen [SPD]: Für die Heidi allein! —<br />
Heiterkeit)<br />
— Für Heidi allein? Ja, gut.<br />
Mich würde eigentlich interessieren: Wann legen<br />
Sie die Liste der Standorte vor, die wir dann schließen<br />
müßten? Wie sagen Sie das den Zivilbediensteten?<br />
Wie sagen Sie das den Soldaten?<br />
Eines, meine Herren und Damen, wollen wir Ihnen<br />
nicht durchgehen lassen: Jahr für Jahr seit 1988 pachten<br />
Sie die Schlagzeilen der Wochenendzeitungen mit<br />
immer niedrigeren Zahlen für die Bundeswehr. Wenn
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2627<br />
Thomas Kossendey<br />
es wirklich ernst wird, dann fangen Sie an zu jammern.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Jetzt ziehen Sie — ich habe das in Niedersachsen erlebt<br />
— wie ein mehr oder weniger gut organisierter<br />
Haufen professioneller Klageweiber durchs Land, bejammern<br />
den Abbau der Bundeswehr und beschwören<br />
Ihre Liebe zu den Soldaten.<br />
(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wo sind<br />
denn die Klageweiber? — Gegenruf von der<br />
CDU/CSU: In der Südpfalz zuvorderst!)<br />
Jede Garnison ist auf einmal strukturpolitisch sehr<br />
wichtig. Was wäre denn wohl mit 100 000 Mann? Wo<br />
blieben denn Standorte, die wir in der letzten Zeit in<br />
der Diskussion hatten.<br />
Wenn ich Sie dann vom Strukturfaktor Bundeswehr<br />
reden höre, der ganz wichtig sei, und daß viele Regionen<br />
geradezu veröden würden, wenn die Bundeswehr<br />
wegginge, kann ich Ihnen nur eines sagen: Wer Soldaten<br />
in erster Linie als Strukturfaktoren sieht, der<br />
baut keine gute Basis für eine verantwortungsvolle<br />
Zusammenarbeit für die Zukunft.<br />
(Beifall des Abg. Albrecht Müller [Pleiswei<br />
ler] [SPD])<br />
Denn zu einer guten Zusammenarbeit mit Soldaten<br />
und der Bundeswehr gehört mehr. Da muß auch die<br />
innere Bejahung des Auftrages der Bundeswehr und<br />
der Sicherheitspolitik hinzukommen.<br />
(Josef Vosen [SPD]: Das brauchen Sie uns<br />
doch nicht zu erzählen!)<br />
Das lassen Sie vermissen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Ihre Liebesschwüre an die Soldaten erinnern mich<br />
ein bißchen an die Mitgiftjäger. Sie wollen zwar mit<br />
der Braut nicht viel zu tun haben; aber die Mitgift<br />
interessiert alle.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Heister<br />
mann [SPD]: Das ist eine alte Schallplatte!)<br />
Das ist für politische Arbeit zu wenig.<br />
Strukturfaktor Soldat ist vielleicht auch aus einer<br />
anderen Sicht problematisch: Wir würden der Bundeswehr,<br />
glaube ich, eine viel zu große Verantwortung<br />
auf den Buckel binden, wenn wir sie auch noch<br />
für die Strukturpolitik in unserem Lande verantwortlich<br />
machen wollten. Wer so denkt, wird zum - Schluß<br />
noch Fregatten bauen, weil es den Werften schlechtgeht.<br />
Ich mag gar nicht daran denken: Vielleicht kommen<br />
Sozialdemokraten noch auf die Idee, wegen irgendeiner<br />
industriepolitischen Misere in Bayern den<br />
Jäger 90 zu bauen. So eine Logik fände ich nicht gerade<br />
prima.<br />
Mich hat die Rede der Kollegin Schulte beeindruckt,<br />
die im Augenblick nicht mehr da sein kann.<br />
(Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD])<br />
— Herr Opel, seien Sie vorsichtig. Sie sind eines der<br />
wenigen gelungenen Beispiele für personelle Konver<br />
sion. Aber wir können nicht jedem Soldaten eine solche<br />
Zukunft bieten.<br />
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und<br />
der FDP)<br />
Sorgen machen mir die Zivilbediensteten; lassen<br />
Sie mich das ganz deutlich sagen. Hier wird es unser<br />
aller Anstrengung bedürfen — der Anstrengung der<br />
Regierung und des Parlamentes, und zwar beider Seiten<br />
des Parlamentes — , um allen eine sozialverträgliche<br />
Lösung zu bringen. Aber das Schema zieht nicht,<br />
daß Sie erst die Leute in Panik bringen, uns diese<br />
Panik vorhalten und dann meinen, wir seien dafür<br />
verantwortlich, Rezepte für die Beruhigung der Menschen<br />
zu bringen, die Sie erst in Panik gebracht haben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Zum Schluß möchte ich in fünf Punkten zusammenfassen,<br />
was mir in den nächsten Wochen wichtig erscheint.<br />
Das Konzept von Minister Stoltenberg, das<br />
gut und schnell ausgearbeitet worden ist, ist aus meiner<br />
Sicht in einigen Punkten nachbesserungsbedürftig.<br />
Das werden wir leisten. Ich denke dabei insbesondere<br />
an den Nordwesten unseres Vaterlandes.<br />
Zweiter Punkt: Wir müssen das Rahmenkonzept für<br />
eine Hilfe in Zukunft sowohl für die Soldaten als auch<br />
für die Zivilbediensteten präziser fassen. Ich denke, in<br />
der Sondersitzung am 5. August werden wir dazu einiges<br />
erfahren. Es darf nämlich nicht passieren — mit<br />
den 370 000 Mann sind wir ja im Wort — , daß wir ein<br />
Gesetz vorlegen und keiner von der Bundeswehr<br />
weggehen will, weil nämlich auf einmal der Arbeitsplatz<br />
ganz wichtig ist.<br />
Wir müssen drittens die wirtschaftlichen Ausgleichsmaßnahmen,<br />
von denen Herr Staatssekretär<br />
Beckmann sprach, den Kommunen sehr schnell und<br />
sehr präzise darlegen.<br />
(Josef Vosen [SPD]: Sehr richtig! — Albrecht<br />
Müller [Pleisweiler] [SPD]: Das haben alle<br />
schon zweimal gesagt!)<br />
Wenn ich richtig informiert bin, wird das am 26. Juni<br />
klarer werden.<br />
Ein vierter Punkt betrifft die Frage der Grundstücke.<br />
30 % kann für mich nicht das letzte Wort sein.<br />
Darüber werden wir mit dem Finanzminister zu diskutieren<br />
haben. Wir sollten das Problem durchaus differenziert<br />
betrachten. Es gibt durchaus Regionen, die<br />
100 % bezahlen können, und es gibt Regionen, die<br />
höchstens 30 bis 40 % bezahlen können.<br />
(Josef Vosen [SPD]: Und das ist noch zu<br />
viel!)<br />
Da werden wir ein differenziertes Konzept vorlegen.<br />
Ich fordere Sie auf, im Sinne der Reden des Kollegen<br />
Opel und der Kollegin Schulte — bei den anderen<br />
habe ich kaum Ansätze entdeckt — , als Opposition<br />
daran mitzuwirken, daß wir das zum Wohle der Soldaten<br />
und der Zivilbediensteten der Bundeswehr machen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Josef Vosen [SPD]: Ganz vernünftiger Schluß<br />
von Ihnen!)
2628 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, die beschlossene Redezeit ist zu Ende. Ich<br />
schließe daher die Aussprache.<br />
Ich mache Sie auf folgendes aufmerksam: Es ist<br />
interfraktionell vereinbart, daß diese <strong>Sitzung</strong> um<br />
16.30 Uhr unterbrochen werden soll. Nun gibt es inzwischen<br />
eine neue interfraktionelle Vereinbarung,<br />
die sich auf die Aktuelle Stunde, auf den Zusatzpunkt<br />
9, bezieht. Mir haben die Fraktionen mitgeteilt,<br />
daß sie für die Aktuelle Stunde jeweils nur einen Redner<br />
benennen. Unter diesen Voraussetzungen möchte<br />
ich diesen Tagesordnungspunkt, Zusatzpunkt 9, aufrufen.<br />
Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist<br />
nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.<br />
Ich rufe auf:<br />
Aktuelle Stunde<br />
Verhalten der Bundesregierung bezüglich der<br />
geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen<br />
in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung<br />
der Bedenken der betroffenen<br />
Bevölkerung und der Landesregierung von<br />
Niedersachsen<br />
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat eine Aktuelle Stunde<br />
zu diesem Thema verlangt.<br />
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete<br />
Jutta Braband.<br />
(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Schon<br />
wieder! Muß das denn sein, Herr Präsi<br />
dent?)<br />
Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Zu Ihrer Freude,<br />
das muß sein! Es hat sich offenbar sonst niemand gefunden,<br />
der zu diesem Thema etwas sagen möchte.<br />
(Unruhe)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Entschuldigen Sie<br />
bitte. — Darf ich Sie um Ruhe bitten, meine Kolleginnen<br />
und Kollegen, damit die Rednerin zu Wort kommen<br />
kann! — Bitte sehr, Frau Braband.<br />
Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! „Es gibt — das wird immer<br />
augenscheinlicher — eine real existierende Kumpanei<br />
zwischen der Atomlobby auf der einen Seite und<br />
Herrn Töpfer auf der anderen Seite."<br />
(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ein<br />
ganz schlechter Einstieg, Frau Kollegin!<br />
Aber das sind wir ja von Ihnen gewöhnt!)<br />
Das ist ein Zitat vom Ministerpräsidenten von Niedersachsen,<br />
von Herrn Schröder.<br />
-<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem<br />
Bündnis 90/GRÜNE — Zuruf von der FDP:<br />
Aber dadurch wird es ja nicht besser!)<br />
— Nein, natürlich nicht, aber vielleicht beschäftigen<br />
Sie sich einmal mit dem Inhalt dieses Satzes.<br />
Der gewalttätige Polizeieinsatz gegen Atomkraftgegner<br />
und -gegnerinnen in Gorleben und Lüchow<br />
auf Anweisung der Bundesregierung offenbart das<br />
häßliche Gesicht der Atomenergie. In Gorleben haben<br />
wir ein Stück Atomstaat in Aktion gesehen. Mit einem<br />
brutalen Einsatz wurde gestern die Einlagerung des<br />
Transnuklear-Skandal-Atommülls aus Mol in das<br />
Zwischenlager Gorleben gegen den Widerstand der<br />
Bevölkerung der Region mit Gewalt durchgesetzt.<br />
Wie zum Hohn erreichte uns diese Woche wieder<br />
einmal die Nachricht von einem Störfall in den Hanauer<br />
Nuklearbetrieben, auf Grund dessen das hessische<br />
Umweltministerium nun endlich die Konsequenzen<br />
gezogen und die Anlage stillgelegt hat.<br />
Die Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft<br />
erweist sich als Geschichte der Pleiten, wie Brüter,<br />
Hochtemperaturreaktor und Wiederaufarbeitungsanlage<br />
in Wackersdorf belegen. Sie ist aber auch<br />
die Geschichte der Skandale und von Abgründigkeiten<br />
um Transnuklear und große RWE-Vorstandsehrenworte<br />
um Biblis A. Zwischenlagerung und Erkundungsbergwerk<br />
zur Endlagerung in Gorleben, Pilotkonditionierungsanlage<br />
usw., finde ich, sind untaugliche<br />
Ergebnisse des Versuchs der Bundesregierung,<br />
der Atomwirtschaft einen Entsorgungspfad freizuklopfen.<br />
Der Kampf der Bürgerinitiative dagegen ist<br />
bekannt.<br />
Was wir in dieser Woche erleben, ist ein Vorgeschmack<br />
auf das, was kommt, wenn in den nächsten<br />
Jahren die Kompaktlager für abgebrannte Brennelemente<br />
in den Atomkraftwerken voll sein werden. Tausende<br />
von Waggonladungen mit mehr oder minder<br />
radioaktiven Abfällen werden pro Jahr durch das<br />
Land fahren, mit erheblichen Risiken für die Bevölkerung<br />
und gegen ihren Willen.<br />
Das handstreichartige Vorgehen dieser Tage beweist,<br />
in welcher Situation sich das befindet, was<br />
Atomwirtschaft und Bundesregierung als Entsorgung<br />
bezeichnen. Ihnen steht der Atommüll bis zum Hals.<br />
Sie wissen nicht, wie es in den nächsten Jahren, wenn<br />
erst der gesamte Atommüll aus La Hague und Sellafield<br />
zurückgenommen werden muß, weitergehen<br />
soll. Was sie wissen, ist: Es gibt weltweit kein geeignetes<br />
Endlager für Atommüll, in dem das strahlende<br />
Erbe unserer Epoche für Zehntausende von Jahren<br />
wirklich sicher eingeschlossen ist. Trotzdem wollen<br />
sie den Atommüll unter den Teppich der Gorlebener<br />
Salzstöcke kehren, im Schacht Konrad und Morsleben<br />
verschwinden lassen nach dem Motto: Aus den Augen,<br />
aus dem Sinn, und nach uns die Sintflut. Sie<br />
behaupten lediglich: Atomenergie ist sicher und verantwortbar.<br />
Der Transnuklear-Skandal findet in diesen Wochen<br />
mit diesem Einlagerungsskandal seine Fortsetzung.<br />
Selbst die Landesregierung Niedersachsens hatte erhebliche<br />
Bedenken gegen die Einlagerung des Transnuklear-Atommülls<br />
aus Mol erhoben, da Zusammensetzung<br />
und Herkunft des Abfalls weitgehend unbekannt<br />
sind. Trotzdem bestand Atomminister Töpfer<br />
auf der Einlagerung und machte von seinem Weisungsrecht<br />
Gebrauch. Der Polizeieinsatz ist daher<br />
nicht nur vom Innenminister Niedersachsens zu verantworten,<br />
sondern vor allem von Herrn Töpfer<br />
selbst.<br />
Unverständlich ist allerdings, daß die rosa-grüne<br />
Landesregierung in Hannover<br />
(Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und<br />
der FDP)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2629<br />
Jutta Braband<br />
nicht alle rechtlichen und politischen Mittel zur Verhinderung<br />
der Einlagerung ausschöpfte. Angesichts<br />
der Brisanz des Themas und des Anspruchs der niedersächsischen<br />
Koalition hätten wir etwas mehr Widerstandsgeist<br />
erwartet.<br />
Ich frage: Was wäre denn geschehen, wenn Niedersachsen<br />
der Anweisung des Atomministers nicht<br />
Folge geleistet hätte? Hätte Herr Töpfer womöglich<br />
eine Erzwingungshaft für Frau Griefahn erwirkt?<br />
Wahrscheinlich nicht. Die Sache wäre vor dem Bundesrat<br />
verhandelt worden, und hier hätte sich die SPD<br />
nun endlich zu ihrer Forderung nach dem Ausstieg<br />
aus der Atomenergie praktisch bekennen können und<br />
müssen.<br />
Der Polizeieinsatz im Wendland offenbart: Atomenergie<br />
ist nicht nur umweltunverträglich, sondern<br />
auch sozial unverträglich und demokratiefeindlich.<br />
Hier zeigt sich, daß statt Abbau der Mitwirkungsrechte<br />
des und der einzelnen, z. B. im Verkehrswege<br />
Beschleunigungsgesetz, gerade der Ausbau dieser<br />
Rechte dringend nötig ist. Nur der Ausbau dieser<br />
Rechte ist eine Garantie dafür, daß Proteste von Bürgerinnen<br />
und Bürgern nicht kriminalisiert werden<br />
können, ebenso wie dafür, daß die Lösung von Problemen<br />
der ganzen Gesellschaft nicht mit polizeistaatlichen<br />
Mitteln erfolgt. Denn was Atomminister Töpfer<br />
hier versucht hat, ist offensichtlich eine Delegierung<br />
des Problems an die Landespolizei von Niedersachsen.<br />
Statt sich hierfür mißbrauchen zu lassen, sollte die<br />
Polizei nicht nur von der Landesregierung, sondern<br />
vor allem von der Bundesregierung eine politische<br />
Lösung im Sinne der Bürgerinnen und Bürger dieses<br />
Landes verlangen, die — ich sagte es schon einmal —<br />
zu 70 % den Ausstieg aus der Atomenergie fordern.<br />
Ich möchte hier noch einmal daran erinnern, daß<br />
sich der, der hier in diesem Hause ständig von der<br />
friedlichen Revolution in der DDR redet und die F riedlichkeit<br />
der Veränderungen begrüßt, auch daran erinnern<br />
möge, daß die Friedlichkeit durchaus darin bestanden<br />
hat, daß Menschen gegen eine Regierung<br />
demonstriert haben, daß sie Blockaden gemacht, Kerzen<br />
angezündet haben usw. Stellen Sie sich endlich<br />
dieser Situation!<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem<br />
Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Braband, wir<br />
haben Ihre Redezeit verlängert, weil es eingangs hier<br />
nicht ruhig war. Ich will Sie nur darauf aufmerksam<br />
machen.<br />
-<br />
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Klaus Harries.<br />
Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine<br />
sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein<br />
starkes Stück: Wir haben Störfälle und reden seit Jahren<br />
in aller Öffentlichkeit, verehrte Frau Braband, darüber.<br />
Sie haben in der früheren DDR bei uns nicht<br />
genehmigungsfähige Kraftwerke gehabt, die wir<br />
durch Entscheidung unseres Bundesumweltministers<br />
erst abstellen mußten. Darüber konnte bei Ihnen nie<br />
mals geredet werden. Über diesen Unterschied sollten<br />
Sie bitte einmal nachdenken.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Daß bei der Fraktion der PDS das Bewußtsein für<br />
unsere verfassungsmäßige Ordnung, für unseren<br />
Rechtsstaat noch nicht ausgeprägt ist, meine Damen<br />
und Herren, das kann ich beinahe noch nachvollziehen,<br />
daß es aber Lücken in der Beachtung und Anwendung<br />
der Rechtsnormen bei der niedersächsischen<br />
Landesregierung gibt, halte ich für bedenklich.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Zurufe von der SPD)<br />
Meine Damen und Herren, wenn wir dazu kommen,<br />
daß ein Bundesland auf Grund von Bundesgesetzen<br />
nur noch dann tätig wird, wenn eine Weisung ergeht<br />
oder wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet,<br />
dann ist das auf die Dauer unerträglich und bekommt<br />
unserem Verfassungsstaat nicht gut. Auch<br />
darüber bitte ich Sie einmal nachzudenken.<br />
(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP<br />
— Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Aufkündi<br />
gung der Bundestreue ist das!)<br />
Es bedurfte erst einer rechtmäßigen Anweisung des<br />
Bundesumweltministers, um die Rückführung radioaktiver<br />
Abfälle aus Belgien in das genehmigte Zwischenlager<br />
Gorleben zuzulassen. Erst auf Weisung<br />
des Bundesumweltministers hat die niedersächsische<br />
Landesregierung die rechtswidrige und eine Nötigung<br />
darstellende Blockade von etwa 100 bis 150 Jugendlichen<br />
in Lüchow beseitigt.<br />
Dank sage ich an dieser Stelle, meine Damen und<br />
Herren, der Polizei, die beispielhaft und vorbildlich<br />
gehandelt hat und gegen diesen Rechtsbruch vorgegangen<br />
ist. Dank sage ich den Tausenden von Einwohnern<br />
des Kreises Lüchow-Dannenberg, die keineswegs<br />
alle für die Kernenergie sind, aber sich an<br />
rechtswidrigen Maßnahmen nicht beteiligt haben,<br />
sondern ohne Hyste rie und mit Gelassenheit das Vorgehen<br />
und die Vorgänge, glaube ich, sehr, sehr kritisch<br />
verfolgt haben.<br />
Der Bundesumweltminister hat mit seiner Weisung<br />
im Rahmen der Gesetze gehandelt. Die Abfälle aus<br />
Mol waren bedenkenlos nach Gorleben zu bringen,<br />
und zwar einfach deswegen, weil der Herkunftsort<br />
völlig unstrittig war.<br />
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist<br />
leider nicht wahr!)<br />
Neckarwestheim und Krümmel waren die Lieferanten.<br />
Es war überhaupt kein Rechtsgrund gegeben, um<br />
den Transport in der Polizeikaserne zu stoppen.<br />
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik<br />
Deutschland war auf Grund bestehender Verträge<br />
nicht nur zur Abnahme dieser überschaubaren Atommülltransporte<br />
verpflichtet. Sie ist auch verpflichtet, in<br />
Zukunft ohne Störung, regelmäßig und auch sicher all<br />
die Fässer aus Mol zurückzunehmen, zu deren Abnahme<br />
wir vertraglich verpflichtet sind.<br />
Wir reden immer mehr, wir reden intensiv und mit<br />
Recht vom europäischen Wirtschaftsraum. Dazu gehören<br />
auch immer mehr Absprachen zur Behandlung
2630 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Klaus Harries<br />
der Energie im weitesten Sinne. Zuverlässigkeit und<br />
Berechenbarkeit sind gerade auf diesem Gebiet nötig.<br />
Wir haben geschlossene Verträge einzuhalten. Da<br />
kann man vor Ort nicht so eine kleinkarierte — entschuldigen<br />
Sie diesen Ausdruck — rechtswidrige<br />
Politik machen.<br />
(Jutta Braband [PDS/Linke Liste]: Sie nen<br />
nen die Reaktion der Bevölkerung kleinka<br />
riert?)<br />
Ich habe den Skandal in Hanau keineswegs vergessen.<br />
Der <strong>Bundestag</strong> hat sich durch einen von ihm eingesetzten<br />
Untersuchungsausschuß<br />
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Den<br />
Sie nicht wollten!)<br />
über drei Jahre mit Vertretern aller Fraktionen eingehend<br />
mit diesem Skandal befaßt. Dabei ist nichts unter<br />
den Teppich gekehrt worden. Alles ist aufgedeckt,<br />
alles ist diskutiert worden.<br />
(Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Aber nichts<br />
unternommen worden!)<br />
Die Ursachen sind beseitigt. Die Ursachen sind behoben.<br />
Der Bund hat gehandelt. Die Rechtsgrundlage ist<br />
da, um in Zukunft die Entsorgung vorzunehmen.<br />
Meine Damen und Herren, vergessen Sie nicht<br />
— ich richte diesen Appell insbesondere an die niedersächsische<br />
Landesregierung — : Bei der Entsorgung<br />
sitzen wir — ganz egal, wie wir zur Kernenergie<br />
stehen — in einem Boot. Das sollte uns zu einer gemeinsamen<br />
Verantwortung und zu einem gemeinsamen<br />
Handeln auch in Zukunft bringen. Dagegen hat<br />
man in Niedersachsen verstoßen.<br />
Schönen Dank.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Als nächster Redner<br />
hat unser Kollege Arne Fuhrmann das Wort.<br />
Arne Fuhrmann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Herr Kollege Har ries, ich würde<br />
schon Wert darauf legen, daß Sie sich nicht darauf<br />
beschränken zu sagen — so kenne ich das aber von<br />
Ihnen, und wir kennen uns aus dem Wahlkreis gut<br />
genug — , 150 junge Leute — wenn ich Sie richtig interpretiere,<br />
haben Sie nur vergessen dazuzusetzen:<br />
„Randalierer" — waren in Gorleben.<br />
(Heinrich Seesing [CDU/CSU]: Das sagen<br />
Sie!)<br />
-<br />
Herr Harries, in Gorleben waren 250 Menschen. Davon<br />
war mindestens ein Drittel älter als 60 Jahre.<br />
(Klaus Harries [CDU/CSU]: Das ändert<br />
nichts an der Nötigung!)<br />
Ich bitte, irgendwann einmal zur Kenntnis zu nehmen,<br />
daß es sich hier nicht um einzelne junge Leute handelt,<br />
sondern um den Querschnitt der Bevölkerung<br />
aus der Region.<br />
(Beifall bei der SPD — Dr. Paul Laufs [CDU/<br />
CSU]: Verteidigen Sie jetzt die Blockierer<br />
und die Nötigung?)<br />
Mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, würde ich<br />
gerne ein Zitat aus dem heutigen „General-Anzeiger"<br />
verlesen:<br />
Mir Hilfe starker Polizeikräfte sind gestern drei<br />
Atommüll-Container in das Zwischenlager Gorleben<br />
eingelagert worden. Am selben Tag wurde<br />
die Plutonium-Verarbeitung in Hanau vorläufig<br />
eingestellt. In einem Gutachten wurden Zweifel<br />
an der Sicherheit des Atomkraftwerkes Stade geäußert.<br />
Die Verwirrung der Bürger ist komplett. Aber wir wissen<br />
ganz genau: Es bringt uns nicht ein Stück weiter,<br />
wenn wir alle verwirrt in der Gegend herumgucken.<br />
Wir müssen vielmehr tatsächlich etwas tun.<br />
In der niedersächsischen Gemeinde Gorleben im<br />
Landkreis Lüchow-Dannenberg wird einfach häufiger<br />
demonstriert, verweigert und blockiert als sonst irgendwo<br />
in der Bundesrepublik. Aber die Betroffenheit<br />
der Menschen in dieser Region kann nur derjenige<br />
begreifen und nachvollziehen, der immer wieder<br />
mit den Bürgern vor Ort spricht, sich mit ihnen auseinandersetzt<br />
und versteht, daß a) ein atomares Zwischenlager,<br />
b) die Erkundung und Vorbereitung eines<br />
atomaren Endlagers und c) die Baustelle für eine Pilotkonditionierungsanlage<br />
auch hartgesottene Kernkraftbefürworter,<br />
Herr Har ries, als Bedrohung des eigenen<br />
Lebensraumes und Gefahrenquelle ganz<br />
realen Ausmaßes erkennen.<br />
(Klaus Harries [CDU/CSU]: Sie wissen doch,<br />
daß das alles nicht stimmt! — Lachen bei der<br />
SPD)<br />
—Herr Harries, wir können uns gerne darüber nochmals<br />
persönlich unterhalten.<br />
(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Aber es ist wirk<br />
lich Unsinn!)<br />
Aber an dieser Stelle werde ich einfach weiterfahren<br />
in meinen Ausführungen.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Gehen Sie<br />
einmal darauf ein!)<br />
—Bevor Sie so etwas sagen, empfehle ich Ihnen, den<br />
Kopf und nicht nur den Kehlkopf zu benutzen, Herr<br />
Kollege.<br />
(Beifall bei der SPD — Dr. Paul Laufs [CDU/<br />
CSU]: Ich bin sehr oft in Gorleben gewesen<br />
und habe mir das angesehen! — Harald<br />
B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Verschärfen<br />
Sie nicht die Debatte, Herr Laufs!)<br />
Ich hätte gerne den Bundesumweltminister angesprochen.<br />
Er beweist zwar seine Chemiebeständigkeit,<br />
indem er durch den Rhein kreuzt, und er erschreckt<br />
die letzten Seehunde durch unangebrachte<br />
Ausflüge ins Wattenmeer, aber die Sorgen und Ängste<br />
der Frauen, Kinder und Männer im Kreis Lüchow<br />
Dannenberg sind ihm nur aus Fernsehen, Funk und<br />
Presse bekannt. Ich nehme an, er ist äußerst selten da.<br />
Ich habe ihn dort bisher jedenfalls noch nie gesehen.<br />
Der Gebrauch der Weisungsbefugnis im Fall der<br />
drei Container, von denen die Herkunft des einen<br />
noch immer nicht zweifelsfrei geklärt ist, mag zwar<br />
rechtlich so in Ordnung sein — das ist gar nicht die
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2631<br />
Arne Fuhrmann<br />
Debatte — , sie zeigt aber sehr deutlich, wie wenig<br />
sensibel und überlegt der Bundesumweltminister das<br />
Risiko einer Eskalation vor Ort in Kauf nahm und nach<br />
der Hauruckmethode ohne Rücksicht auf die explosive<br />
Stimmung<br />
(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wer hat die<br />
denn geschaffen?)<br />
und die zu diesem Zeitpunkt erheblich gestörten Umfeldbedingungen<br />
in Gorleben reagiert hat.<br />
Ich würde mir wünschen, daß mehr verantwortliche<br />
Politiker den Mut hätten, gelegentlich gegen den Stachel<br />
zu löcken und so, wie Frau Griefahn das getan<br />
hat, mit Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen<br />
(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Es ist unerhört,<br />
was Sie sagen!)<br />
auf die berechtigten Wünsche und Hoffnungen der<br />
Menschen einzugehen.<br />
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste<br />
— Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Anschlag auf<br />
den Rechtsstaat!)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat nunmehr<br />
der Abgeordnete Dr. Karl-Hans Laermann.<br />
Dr.-ing. Karl-Hans Laermann (FDP): Herr Präsident!<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist<br />
schon erstaunlich, wie man die Tatsachen verdrehen<br />
kann und wie man in einer solchen Diskussion, wo<br />
Sachlichkeit sicher angebracht wäre, nur noch in Polemik<br />
macht.<br />
(Beifall des Abg. Günther F riedrich Nolting<br />
[FDP] — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wie<br />
wahr!)<br />
Ich möchte von einer Prämisse ausgehen. Alle<br />
— diejenigen, die für Kernenergie sind, und vor allen<br />
Dingen die, die gegen Kernenergie sind — müßten<br />
ein ausgesprochenes Interesse haben, dafür zu sorgen,<br />
daß die Entsorgungsmöglichkeiten endlich realisiert<br />
werden.<br />
(Zuruf von der PDS/Linke Liste)<br />
— Wo wollen Sie denn hin mit Ihrem Schrott aus<br />
Greifswald? Das waren doch Sie, die das -<br />
Ding da<br />
gebaut haben. Das wäre ja noch in Bet rieb, wenn die<br />
SED weiter am Ruder geblieben wäre.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Es steht doch wohl außer Zweifel, daß der radioaktive<br />
Abfall in Mol, der aus der Bundesrepublik<br />
stammt, wieder zur ordnungsgemäßen Entsorgung<br />
und Endlagerung zurückgenommen werden muß. Ich<br />
kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand daran<br />
Zweifel hat.<br />
Die Umstände, unter denen der Abfall nach Mol<br />
transportiert wurde, sind u. a. auch in dem Untersuchungsausschuß<br />
Transnuklear-Skandal untersucht<br />
und weitgehend oder, sagen wir, hinlänglich aufgeklärt<br />
worden.<br />
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Dem<br />
Versuch einer Aufklärung unterworfen wor<br />
den!)<br />
Ich hoffe, wir sind uns darin einig, daß es keinen<br />
Müllexport geben darf.<br />
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das<br />
machen wir doch! Gerade Atommüll!)<br />
— Wo? Sie wollen das doch jetzt mit Ihrer Weigerung,<br />
den wieder zurückzunehmen.<br />
(Dietmar Schütz [SPD]: Nein, Herr Kollege<br />
Laermann, der Bundesumweltminister will<br />
es, egal wo es herkommt!)<br />
Deswegen, denke ich, ist die Bundesrepublik verpflichtet,<br />
den aus der Bundesrepublik stammenden<br />
Müll aus Mol auch wieder zurückzunehmen und hier<br />
zu entsorgen.<br />
(Dietmar Schütz [SPD]: Das ist sehr rich<br />
tig!)<br />
Ich füge mit gleichem Nachdruck hinzu, daß wir auch<br />
keinen Müllimport wollen. Auch dies ist eine klare<br />
Position der Bundesregierung. Ich glaube, daran<br />
brauchen wir nicht zu zweifeln.<br />
Daß niemand in Parlament und Regierung, auch<br />
nicht die niedersächsische Landesregierung, Belgien<br />
zumutet, Müll aus der Bundesrepublik zu lagern,<br />
dürfte doch wohl einmütige Auffassung sein. Ich kann<br />
mir nicht vorstellen, daß es jemand hier im Hause und<br />
in der Bundesrepublik gibt, der Belgien zumutet, die<br />
Entsorgung des Mülls, der zweifelsfrei aus unserem<br />
Land gekommen ist, zu übernehmen. Das kann doch<br />
wohl niemand wollen. Dazu müssen Sie hier Stellung<br />
nehmen.<br />
(Dietmar Schütz [SPD]: Leider können wir<br />
das nicht!)<br />
Es wäre auch schon interessant zu erfahren, was das<br />
niedersächsische Ministerium für Umwelt bewogen<br />
hat, die Herkunft des atomaren Abfalls auf bloße Vermutungen<br />
hin — Herr Kollege, auf bloße Vermutungen<br />
hin! — zu bezweifeln, obwohl deren Ursprungsherkunft<br />
durch verschiedene unabhängige Überwachungsinstitutionen<br />
zweifelsfrei festgestellt wurde.<br />
(Arne Fuhrmann [SPD]: Wenn! Sie ist aber<br />
nicht zweifelsfrei festgestellt!)<br />
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Es handelt sich<br />
dabei nicht um hochradioaktiven Müll —<br />
(Arne Fuhrmann [SPD]: Spielt doch keine<br />
Rolle!)<br />
auch den Eindruck dürfen wir in der Öffentlichkeit<br />
nicht erwecken — , sondern um rund 4 000 kg preßbarer<br />
Mischabfälle. In den Containern sind Putzwolle,<br />
Putzlappen, Kleidungsstücke, schwach radioaktiv belastet,<br />
aus den Einrichtungen und etwa 2 500 kg Glaswolle,<br />
die bei Umbauarbeiten in einem Kernkraftwerk<br />
in der Bundesrepublik angefallen sind.<br />
Es wäre geradezu grotesk, wenn das niedersächsische<br />
Ministerium für Umwelt die Verbringung der<br />
Container in das Zwischenlager Gorleben etwa nur
2632 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann<br />
deshalb abgelehnt haben sollte, weil als Ursprungshinweis<br />
zwei deutsche Kernkraftwerke angegeben<br />
wurden, sich aber bei Verzicht auf diesen Hinweis<br />
nicht von vornherein geweigert hätte, den Müll in<br />
Gorleben zwischenzulagern. Darauf hätten wir doch<br />
gerne eine Antwort.<br />
Ich darf abschließend — die Uhr läuft — feststellen:<br />
Ich verstehe nicht den anhaltenden Widerstand einiger<br />
Gruppen gegen die Realisierung von Zwischenund<br />
Endlagermöglichkeiten für schwach-, mittelund,<br />
ich füge hinzu, auch hochradioaktiven Abfall.<br />
Wer aus der Kernenergienutzung aussteigen will,<br />
(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie<br />
wollen doch permanent mehr Müll produzie<br />
ren!)<br />
muß doch ein besonderes, ausgeprägtes Interesse<br />
daran haben, daß Endlagermöglichkeiten geschaffen<br />
werden. Wo wollen Sie denn damit hin? Wollen Sie<br />
das in der Gegend liegen lassen? Das ist unverantwortlich.<br />
Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Meine Damen und Herren, ich möchte auch darauf<br />
hinweisen, daß unsere Zwischenlager, die Landessammelstellen,<br />
ja nicht voll sind mit atomarem Abfall,<br />
mit schwach-, mittel-radioaktivem Abfall aus den<br />
Kernkraftwerken. Wer dies einer Öffentlichkeit suggerieren<br />
will, verhält sich nun wirklich schändlich;<br />
denn es ist ja wohl klar — und das muß man auch noch<br />
einmal sagen — , daß wir auch die Verpflichtung haben,<br />
die Menge des nuklearen Mülls, schwach- und<br />
mittelradioaktiv, aus den medizinischen Bereichen,<br />
aus den Forschungsinstituten ordnungsgemäß und relativ<br />
sicher zu entsorgen.<br />
Ich denke, angesichts dieser Verpflichtung müssen<br />
Sie sagen, wo Sie das machen wollen. Das Floriansprinzip<br />
hilft uns hier überhaupt nicht. Insofern denke<br />
ich, daß auch der Bundesumweltminister Töpfer hier<br />
verantwortlich gehandelt hat.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Klaus<br />
Dieter Feige.<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr<br />
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />
Herr Harries ist gerade rausgegangen, aber noch einmal<br />
zu seinen Worten. Wir sind damals auch mit der<br />
Meinung angetreten, Freiheit ist immer die Freiheit<br />
der anders Denkenden. Mir passiert es in - der letzten<br />
Zeit auch häufiger, daß ich als Atomkraftgegner kriminalisiert<br />
werde. In dieser Form muß ich das für die,<br />
die dort in Gorleben einfach ihre persönliche Angst<br />
geäußert haben, die dort einen passiven Protest artikulieren<br />
wollten, zurückweisen. Diese Menschen sollten<br />
nicht kriminalisiert werden.<br />
(Dr. Pauls Laufs [CDU/CSU]: Wer verhält<br />
sich kriminell?)<br />
Das ist für mich unangenehm und unerträglich.<br />
Der gestrige Polizeieinsatz gegen die besorgten<br />
Bürgerinnen und Bürger hat mir gezeigt, daß eigentlich<br />
die Bundesregierung mit ihrem Latein am Ende<br />
ist. Weisungen an die Bundesländer können nicht darüber<br />
hinwegtäuschen, daß die Bundesregierung über<br />
kein akzeptables Konzept für die Atommüllentsorgung<br />
verfügt.<br />
(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Das ist doch eine<br />
absolut unsinnige Behauptung!)<br />
— Drauf kommen wir gleich noch zurück.<br />
Für mich ist das mit der Herkunft vielleicht nicht so<br />
primär. Entscheidend ist, daß überhaupt versucht<br />
wird, Atommüll einzulagern, ohne daß solch ein Konzept<br />
vorliegt. Dies ist ein erneuter Beweis dafür, wie<br />
verantwortungslos im Umweltministerium mit der<br />
Meinung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung<br />
umgegangen wird.<br />
Auch wenn ich den Unterschied zwischen DDR und<br />
Bundesrepublik Deutschland durchaus kenne, die Erscheinungsbilder<br />
sind gleich in der Form des Umgangs<br />
mit einer angeblichen Minderheit. Dabei ist das<br />
in diesem Fall eine Mehrheit.<br />
Aber nicht nur die Entsorgungsfrage des Atommülls<br />
insgesamt ist ungelöst, nein die gesamte Atompolitik<br />
der Regierung steht auf tönernen Füßen. Es muß nicht<br />
immer wieder auf Tschernobyl oder Harrisburg verwiesen<br />
werden, um die Unwägbarkeiten und die Gefahren<br />
der Atomenergie zu verdeutlichen. Genügt es<br />
nicht, daß wir alljährlich allein in der Bundesrepublik<br />
mehr als 300 kleinere oder größere Störfälle zu verzeichnen<br />
haben?<br />
Wie war das denn am Montag in Hanau, als mehrere<br />
Arbeiter radioaktiv verseucht wurden? Von einer<br />
prompten Reaktion aus dem Bundesministerium war<br />
nichts zu verspüren. Herr Fischer, der grüne Minister<br />
— nicht rosa-grün aus der rot-grünen Fraktion — hat<br />
in verantwortungsvoller Weise gehandelt. Am Dienstag<br />
hat dann erst Herr Töpfer eine nachträgliche Reaktion<br />
gezeigt. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß<br />
nach dieser Schwachstellenanalyse diese Atomfabriken<br />
in Hanau für immer geschlossen werden müssen.<br />
Hanau ist ja schon berühmt-berüchtigt. Der Zwischenfall<br />
dort hat erneut gezeigt, daß es keine sichere<br />
Atomkraftnutzung gibt. Auch für diejenigen, die glauben,<br />
die drohende Klimakatastrophe bzw. die notwendige<br />
massive CO2-Reduzierung rechtfertige eine<br />
Renaissance der Atomenergie, wiederhole ich: Nur<br />
der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie ermöglicht<br />
ein ökologisches und dauerhaftes Energiesystem.<br />
Zentrale Großstrukturen verhindern dagegen<br />
die Nutzung von dezentralen Energieeinsparpotentialen<br />
und der Abwärmenutzung in größerem Maßstab.<br />
Wenn Sie nach der Entsorgung fragen, so sage ich:<br />
Wenn klar ist, wieviel tatsächlich noch zu entsorgen<br />
ist, wenn der Zeitpunkt einmal festliegt, dann sind wir<br />
durchaus bereit, uns auch aktiv an der Lösung für eine<br />
Endlagerung zu beteiligen. Aber solange diese Gesamtmenge<br />
nicht klar ist, wird immer wieder nach<br />
neuen Lagerstätten zu suchen sein. Genau das ist<br />
nicht das Konzept, das wir durchstehen können.<br />
Atomkraftwerke stellen keinen schnell verfügbaren<br />
Beitrag zur CO2-Verminderung dar. Jede Mark, die in<br />
die Energieeinsparung investiert wird, vermeidet sie-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2633<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige<br />
benmal mehr CO2 als eine Mark, die in den Ausbau<br />
der Atomenergie fließt.<br />
Die Strahlenbelastung von Atomkraftwerken ist<br />
schon im Normalbetrieb für die Umgebung nicht zumutbar.<br />
In der Debatte wurde gesagt: Das ist ja nur<br />
schwach radioaktiv. Dafür, daß jemand Krebs bekommt,<br />
reicht bereits eine ganz, ganz kleine Dosis.<br />
Dann ist es egal, ob das schwach oder stark radioaktiv<br />
ist. Auf Dauer ist die gesamte nukleare Prozeßkette<br />
nicht nur umweltbelastend, sondern stellt auch eine<br />
permanente Gefährdung des menschlichen Lebens<br />
dar.<br />
Deshalb ist jegliche weitere Diskussion über den<br />
Einsatz oder gar Ausbau der Atomenergie eine Diskussion<br />
von vorgestern und gegen die Mehrheit der<br />
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gerichtet.<br />
Damit werden eine fortschrittliche, zukunftsorientierte<br />
und überlebensfähige Energiepolitik und der<br />
dafür notwendige Innovationsschub der Wirtschaft<br />
verhindert.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li<br />
ste)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />
Damen und Herren, zur Geschäftslage: Wenn wir<br />
jetzt die <strong>Sitzung</strong> unterbrechen und um 18 Uhr fortsetzen,<br />
dann ist nach den interfraktionellen Vereinbarungen<br />
damit zu rechnen, daß wir die <strong>Sitzung</strong> morgen<br />
früh zwischen 2 Uhr und 2.30 Uhr beenden.<br />
Infolgedessen haben offenbar jetzt eine Reihe von<br />
Kolleginnen und Kollegen in dieser Aktuellen Stunde<br />
Reden zu Protokoll gegeben. Ich muß Sie aber alle<br />
fragen, ob Sie damit einverstanden sind, weil wir von<br />
der Geschäftsordnung abweichen. — Ich höre und<br />
sehe keinen Widerspruch. Dann haben wir diese Abweichung<br />
von der Geschäftsordnung heute und für<br />
diesen Fall so gebilligt. Ich danke Ihnen. *)<br />
Wie bereits heute morgen angekündigt, haben sich<br />
die Fraktionen darauf verständigt, daß die <strong>Sitzung</strong><br />
jetzt bis 18.00 Uhr unterbrochen wird. Die <strong>Sitzung</strong> soll<br />
dann mit der namentlichen Abstimmung über den<br />
Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung<br />
des Grundgesetzes (Artikel 146) fortgesetzt werden.<br />
Ich unterbreche die <strong>Sitzung</strong>.<br />
(Unterbrechung von 16.46 bis 18.00 Uhr)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegen!<br />
Liebe Kolleginnen! Die unterbrochene <strong>Sitzung</strong> ist<br />
wiedereröffnet.<br />
-<br />
Wir kommen jetzt noch einmal zum Tagesordnungspunkt<br />
5 zurück, und zwar, wie wir es heute mittag<br />
beschlossen haben, zur Einzelberatung und Abstimmung<br />
über den Gesetzentwurf der Fraktion der<br />
SPD zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 146).<br />
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache<br />
12/794, den Gesetzentwurf abzulehnen.<br />
Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2,<br />
Einleitung und Überschrift auf. Die Fraktion der SPD<br />
verlangt dazu namentliche Abstimmung. Ich eröffne<br />
die Abstimmung. —<br />
*) Anlage 5<br />
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das<br />
seine Stimme abgeben möchte? — Das ist der Fall. Ich<br />
bitte Sie aber, einen Zahn zuzulegen; das wäre ganz<br />
reizend. In einer halben Minute schließe ich die Abstimmung.<br />
—<br />
Ist jetzt womöglich noch ein Mitglied des Hauses<br />
anwesend, das seine Stimme abgeben möchte? —<br />
Dies ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung<br />
und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu<br />
beginnen.<br />
(Unruhe)<br />
Ich bitte des weiteren die Kollegen, wieder Platz zu<br />
nehmen, die Gespräche über Berlin und Bonn und das<br />
Verfahren einzustellen und dem weiteren Verlauf der<br />
Debatten zu folgen.<br />
(Anhaltende Unruhe)<br />
— Dies ist eine ernstgemeinte Aufforderung an alle<br />
Seiten des Hauses, insbesondere an die von mir aus<br />
gesehen rechte Seite.<br />
Kann ich davon ausgehen, daß die Beratungen fortgesetzt<br />
werden können? Man kann auch im Sitzen<br />
über Berlin und Bonn diskutieren. — Ich sehe keinen<br />
Widerspruch. Wir können also mit den Beratungen<br />
fortfahren.<br />
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:<br />
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses<br />
(2. Ausschuß)<br />
Bitten und Beschwerden an den Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong><br />
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des<br />
Deutschen <strong>Bundestag</strong>es im Jahre 1990<br />
— Drucksache 12/683 —<br />
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind dafür<br />
zwei Stunden vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch?<br />
— Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.<br />
Das Wort hat der Abgeordnete Gero Pfennig.<br />
Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />
Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte Ihnen<br />
den Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr<br />
1990 vorstellen.<br />
Der Berichtszeitraum ist weitgehend von der Wiedervereinigung<br />
Deutschlands bestimmt, die sich im<br />
Jahr 1990 vollzog. Zahlreiche Petitionen betreffen Folgen<br />
der Wiedervereinigung. Im schriftlichen Be richt<br />
und seinen Beispielen wird dies nur dort deutlich, wo<br />
Gesetzgebungsmaßnahmen des Bundes oder bestimmte<br />
Regelungen im Einigungsvertrag vorgeschlagen<br />
wurden.<br />
Erst mit dem Tag der Einheit und dem rechtlichen<br />
Beginn exekutiver und legislativer Zuständigkeit des<br />
Bundes für das neue Bundesgebiet schnellte die Zahl<br />
der Einzelbeschwerden steil nach oben. Hiervon<br />
konnten in der 11. Legislaturperiode nur noch die wenigsten<br />
bearbeitet werden.<br />
Vor allem durch die aus der ehemaligen DDR und<br />
dem neuen Bundesgebiet eingegangenen ca. 2 750<br />
Petitionen stieg 1990 die Zahl der Eingaben auf rund<br />
16 500. Sie liegt damit im Vergleich zu den Vorjahren,<br />
*) Ergebnis Seite 2638 B
2634 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Gero Pfennig<br />
ja im Vergleich zu den letzten zehn Jahren eindeutig<br />
an der Spitze.<br />
Auch beim Vergleich der Legislaturperioden liegt<br />
die 11. Legislaturperiode mit 52 528 Eingängen insgesamt,<br />
also mit den Sammelpetitionen und den anderen,<br />
weit an der Spitze. Schon jetzt kann die Prognose<br />
für das Jahr 1991 gewagt werden, daß die Zahl der<br />
Eingaben nochmals kräftig, auf ca. 20 000 wachsen<br />
wird.<br />
Dies stellt die Kollegen im Ausschuß, aber auch den<br />
Ausschußdienst vor erhebliche Probleme. Täglich gehen<br />
Zuschriften aus dem gesamten Bundesgebiet ein.<br />
Übrigens, die größte Steigerung unter den Bundesländern<br />
kam aus Berlin unter Einbeziehung des Ostteils<br />
der Stadt. Ab dem Beitritt am 3. Oktober 1990 kamen<br />
von dort insgesamt 883 Zuschriften, d. h. pro 1 Million<br />
Bevölkerung 350. Zum Vergleich: Aus Hamburg kamen<br />
256, aus Nordrhein-Westfalen 254, wobei man<br />
allerdings wissen muß, daß Nordrhein-Westfalen als<br />
bevölkerungsreichstes Bundesland natürlich mit 26 %<br />
aller Petitionen weit an der Spitze liegt. Gegenstand<br />
der Eingaben aus dem Beitrittsgebiet waren die Währungsunion,<br />
die Fragen der Anpassung von Löhnen,<br />
Gehältern und Renten sowie der Eigentumsordnung<br />
von Grundstücken. Hinzu kommen die Forderungen<br />
vieler Petenten nach strafrechtlicher, beruflicher und<br />
verwaltungsrechtlicher Rehabilitierung, weil das Rehabilitierungsgesetz<br />
der ehemaligen DDR nur in Teilen<br />
weitergilt.<br />
Rund 270 Petenten begehrten die Wiedergutmachung<br />
von Schäden, die in der Folge zwangsweiser<br />
Aussiedlung aus dem früheren Grenzgebiet der DDR<br />
zur Bundesrepublik Deutschland entstanden waren.<br />
Natürlich ist auch die Stasi-Problematik Gegenstand<br />
zahlreicher Eingaben gewesen.<br />
Bei den Eigentumsverhältnissen spielten sowohl<br />
Fragen aus dem neuen Bundesgebiet als auch aus<br />
dem alten Bundesgebiet, darunter übrigens auch von<br />
sehr vielen früheren Flüchtlingen, eine Rolle und auch<br />
die Frage der Rückgabe zwischen 1945 und 1949 enteigneten<br />
Eigentums.<br />
Der Petitionsausschuß hat zu allem eine Stellungnahme<br />
abgegeben und insbesondere die Bundesregierung<br />
gebeten, möglichst schnell Fragen wie etwa<br />
der Aussiedlung aus dem Sperrgebiet zu klären. Einzelfragen<br />
können wir als Petitionsausschuß des <strong>Bundestag</strong>es<br />
nicht regeln, weil hier die Kommunal- und<br />
Landesbehörden zuständig sind. Deswegen werden<br />
diese Petitionen an die Eingabeausschüsse der sechs<br />
östlichen Bundesländer weitergegeben.<br />
Der Zusammenhang zwischen Vereinigung und<br />
Zunahme der Eingaben besteht im weitesten Sinne<br />
auch bei der Kriegsfolgengesetzgebung. Viele Bürger<br />
aus dem Beitrittsgebiet begehren Lastenausgleich für<br />
Vertreibungsschäden. Auch sind Forderungen im Zusammenhang<br />
mit Kriegsgefangenenentschädigung<br />
und Häftlingshilfe erhoben worden.<br />
Der Petitionsausschuß hat auch insoweit ein Überdenken<br />
der geltenden Gesetzgebung gefordert und<br />
der Bundesregierung alle Petitionen als Mate rial im<br />
Jahre 1991 nach Abschluß der Grundverfahren überwiesen.<br />
Zu den einzelnen Ressorts. Eine deutliche Steigerung<br />
der Zahl der Petitionen hat es im Bereich des<br />
Bundesjustizministers und des Bundesministers des<br />
Innern sowie des Finanzministers und beim früheren<br />
Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen gegeben.<br />
Beim zuletzt genannten Ressort gingen früher<br />
viele Petitionen mit der Bitte um Unterstützung bei<br />
Übersiedlungen und Häftlingsfreikäufen ein. Im<br />
Jahre 1990 hat sich das mehr auf Fragen des Einigungsvertrages<br />
verschoben.<br />
Insgesamt ist also im Jahre 1990 eine gewisse Verlagerung<br />
der Schwerpunkte der Eingaben festzustellen.<br />
Beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung<br />
verzeichnete man trotz vieler neuer Eingaben<br />
aus dem neuen Bundesgebiet einen leichten Rückgang<br />
und dafür einen starken Anstieg beim Bundesminister<br />
der Justiz. Bei den Fragen der Staatssicherheit,<br />
die ich noch einmal aufgreifen möchte, also Eingaben,<br />
die vor allen Dingen an das Innenministerium<br />
weitergegeben wurden, haben die berufliche Zurücksetzung,<br />
überhaupt die Verfolgung und — nach Beginn<br />
der Vereinigung im Oktober 1990 — auch vor<br />
allen Dingen die Frage von Stasi-Mitarbeitern in den<br />
Arbeitsämtern eine große Rolle gespielt. Hier hat der<br />
Petitionsausschuß die entsprechenden Hinweise über<br />
das Bundesministerium für Arbeit an die Landesanstalt<br />
gegeben. Ich kann heute feststellen, daß beispielsweise<br />
20 Leiter von Arbeitsämtern auf Grund<br />
der Hinweise, die wir gegeben haben, abgelöst worden<br />
sind.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Pfennig,<br />
darf ich Sie einmal — nicht zu Lasten Ihrer Zeit —<br />
ganz kurz unterbrechen? — Darf ich darum bitten, daß<br />
die Stehkonferenz hinten im Saale außerhalb des Saales<br />
oder im Sitzen stattfindet, aber dann so ruhig, daß<br />
der Redner nicht gestört wird und die anderen dem<br />
Redner folgen können. Ich bedanke mich ganz herzlich.<br />
(Beifall bei allen Fraktionen)<br />
Herr Abgeordneter, Sie haben wieder das Wort.<br />
Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Wie Sie wissen und<br />
wie ich hier schon einmal vorgetragen hatte, hatte die<br />
Volkskammer der ehemaligen DDR einen eigenen<br />
Petitionsausschuß gebildet, dessen Vorsitzender unser<br />
heutiger Kollege Göttsching gewesen ist. Nach<br />
dem Beitritt lagen dort noch eine Reihe unbearbeiteter<br />
Zuschriften. Diese sind unter Mithilfe von Ausschußmitarbeitern<br />
unseres Petitionsausschusses aufgearbeitet<br />
worden und — soweit sie in die Länderzuständigkeit<br />
fielen — an die Petitionsausschüsse in den<br />
sechs östlichen Bundesländern zur Weiterbearbeitung<br />
gegeben worden.<br />
Beim Rückblick auf die Eingänge des Ausschusses<br />
im Jahre 1990 ist in quantitativer Hinsicht vielleicht<br />
am bemerkenswertesten, daß sich neben den Zuschriften<br />
aus dem neuen Bundesgebiet insbesondere<br />
die Zahl der Sammeleingaben mit vielen Unterschriften<br />
merklich erhöht hat. Sie erreichten rund 460 000<br />
gegenüber 300 000 im Vorjahr. Allein 320 000 Bürger<br />
forderten beispielsweise ein sofortiges Verbot der<br />
Herstellung und des Verbrauchs von FCKW.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2635<br />
Dr. Gero Pfennig<br />
Wir nehmen als Ausschuß derartige Sammelpetitionen<br />
sehr ernst, weil sie sich insbesondere mit Umweltanliegen<br />
beschäftigen. Wir werden auch in der jetzigen<br />
Legislaturperiode alles tun, damit die Umweltpetitionen<br />
in Zusammenarbeit mit dem zuständigen<br />
Fachausschuß einer sachgerechten Erledigung zugeführt<br />
werden.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />
SPD)<br />
Die Sammelpetitionen enthielten darüber hinaus<br />
vielfach Forderungen gegen Lärmbelästigung durch<br />
militärische Einrichtungen, aber auch gegen Lärmbelästigung<br />
durch zivile Einrichtungen wie z. B. die Eisenbahn.<br />
In vielen Fragen hat sich allein durch den<br />
Ablauf der Zeit manche Petition gegen Flugplätze,<br />
Truppenübungsplätze, Schießplätze oder gegen Tiefflugübungen<br />
erledigt.<br />
Wir haben einen großen Teil der 16 497 Einzeleingaben<br />
für das Ressort des Bundesministers für Arbeit<br />
und Sozialordnung verzeichnet, wie ich bereits sagte:<br />
insgesamt 3 300. Bei diesen Bitten ging es vorwiegend<br />
um Rentensachen, insbesondere wenn sie aus dem<br />
Beitrittsgebiet kamen. Aber auch Fragen etwa der<br />
Kindererziehungszeiten spielten eine Rolle, beispielsweise<br />
die Anerkennung von Kindererziehungszeiten<br />
für Kindererziehung im Ausland, Fragen der Rentensteigerung<br />
durch Kindererziehungszeiten und vieles<br />
andere mehr. Ich glaube, auch hier hat der Ausschuß<br />
jedem Petenten in zufriedenstellender Weise die erforderliche<br />
Auskunft gegeben und in Einzelfällen<br />
auch weitergeholfen.<br />
Insgesamt, so möchte ich zu dem Bereich des Bundesministers<br />
für Arbeit bemerken, ist die Zahl der<br />
Petitionen wohl auch deswegen etwas rückläufig,<br />
weil kaum noch Petitionen zum Thema Gesundheitsreform<br />
eingehen,<br />
(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Sie haben resi<br />
gniert!)<br />
die im Vorjahr eine große Rolle gespielt hatten.<br />
Der Tätigkeitsbericht enthält erneut zahlreiche Beispiele<br />
betreffend die Integration behinderter Menschen.<br />
Es macht deshalb ausgesprochen betroffen,<br />
wenn bei der Eingabe eines Rollstuhlfahrers, der seit<br />
1953 bei einer Behörde im Beitrittsgebiet, also in der<br />
ehemaligen DDR, tätig war, von einem unserer Ministerien<br />
in der Antwort folgendes bemerkt wird: „Aus<br />
dem Schriftwechsel, der hier vorliegt, ist zu entnehmen,<br />
daß Herr L. selbst auf einem täglichen Weg zur<br />
Arbeit und zurück eine Gefährdung für sich und andere<br />
im Straßenverkehr darstellt. Schon aus - Gründen<br />
der Fürsorge hätte Herr L. beim ... Dienst der ehemaligen<br />
DDR nicht beschäftigt werden dürfen. " Ich<br />
finde, daß ist eine grobe Entgleisung. Der Ausschuß<br />
wird solche Entgleisungen nicht hinnehmen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD<br />
und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie der Abg.<br />
Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])<br />
Der Bericht weist aus, daß der <strong>Bundestag</strong> auf Empfehlung<br />
des Petitionsausschusses in einer Reihe von<br />
Fällen gegenüber der Bundesregierung mit dem Ersuchen<br />
vorgegangen ist, einer Petition abzuhelfen, weil<br />
das Anliegen als berechtigt angesehen worden war.<br />
Dennoch ist die Bundesregierung in zwei Fällen bei<br />
ihrer ablehnenden Haltung geblieben, ohne daß neue<br />
Argumente oder Tatsachen geliefert wurden.<br />
Es ist zwar richtig — wir haben das auch früher<br />
schon als Petitionsausschußmitglieder an dieser Stelle<br />
gesagt — , daß Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es in Form von<br />
Berücksichtigungsbeschlüssen die Bundesregierung<br />
rechtlich nicht verpflichten, diesem Ersuchen zu entsprechen.<br />
Der Ausschuß geht jedoch davon aus, daß<br />
der gegenseitige Respekt, den die Verfassungsorgane<br />
einander schulden, und die Achtung vor dem Grundrecht<br />
des Art. 17 GG die Bundesregierung zumindest<br />
politisch verpflichten, das ihr Mögliche zu tun, um<br />
dem Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es gerecht zu werden.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />
FDP, der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Der Ausschuß hat deshalb in all den Fällen, in denen<br />
die Bundesregierung einem solchen Beschluß<br />
nicht entsprochen hat, sehr gründlich die Gründe für<br />
die Nichtbefolgung geprüft. Der Ausschuß hält es übrigens<br />
auch nicht für vertretbar, wenn erst zum Zeitpunkt<br />
der Antwort auf einen Berücksichtigungsbeschluß<br />
Gründe nachgeschoben werden, die einer<br />
Abhilfe der Petition entgegenstehen; denn dieses<br />
hätte vorher geschehen können und dann vom Ausschuß<br />
ausreichend geprüft werden können. Diese<br />
Verhaltensweise muß ich im Namen des Ausschusses<br />
nachdrücklich beanstanden.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />
FDP, der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Der Ausschuß wird übrigens genausowenig hinnehmen,<br />
daß die Bundesregierung auf Grund einer anderen<br />
Wertung eine Befolgung von Beschlüssen in solchen<br />
Fällen verweigert, in denen der Ausschuß auch<br />
nach Prüfung der Gegenargumente der Bundesregierung<br />
im Rahmen des geltenden Rechts einen Handlungsspielraum<br />
gesehen hat. Der Ausschuß wird, wie<br />
erst jetzt wieder verschiedentlich geschehen, die Verantwortlichen<br />
dann in den Ausschuß laden und auf<br />
Befolgung der Beschlüsse des <strong>Bundestag</strong>es drängen<br />
und durch entsprechende Fristsetzungen das Verfahren<br />
weiter begleiten.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)<br />
Wir wissen aus der Vergangenheit, daß dies häufig<br />
doch noch zu einer Änderung der Haltung der Regierung<br />
geführt hat und deshalb etliche Fälle nach mehreren<br />
Jahren noch erfolgreich abgeschlossen werden<br />
konnten.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />
FDP und der SPD)<br />
Ich möchte mich abschließend bei den Petitionsausschüssen<br />
der Länder und beim Petitionsausschuß des<br />
Europäischen Parlaments für die gute Zusammenarbeit<br />
im Berichtsjahr bedanken. Sie haben vielleicht<br />
gelesen, daß wir in diesem Jahr eine sehr erfolgreiche<br />
Zusammenkunft mit den Petitionsausschüssen aus<br />
unseren 16 Bundesländern hatten, die sich auf meine<br />
Einladung hin mit dem Petitionsausschuß des <strong>Bundestag</strong>es<br />
in Berlin getroffen haben, wo wir unsere Kontakte<br />
vertieft haben und die Erfahrungen bei der Bear-
2636 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Gero Pfennig<br />
beitung von Petitionen, die Bund und Länder gleichzeitig<br />
betreffen, austauschen konnten.<br />
Allen Mitgliedern des Ausschusses möchte ich herzlich<br />
danken. Sie müssen nicht nur den Eingabenzuwachs<br />
bewältigen, sie sind durch Tätigkeit im Petitionsausschuß<br />
und der Mitgliedschaft in den Fachausschüssen<br />
auch einer Doppelbelastung ausgesetzt. Der<br />
gleiche Dank gilt den Mitarbeitern des Petitionsausschusses,<br />
die, wie ich es dargestellt habe, eine enorme<br />
Mehrarbeit schon im Jahre 1990 und fortgesetzt jetzt<br />
auch 1991 bewältigen müssen.<br />
Allen Bürgern, die sich mit ihren Sorgen an den<br />
Petitionsausschuß gewandt haben, darf ich versichern,<br />
daß der Ausschuß in seinem Bemühen nicht<br />
nachlassen wird, berechtigte Interessen engagiert zu<br />
vertreten.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der<br />
Kollege Horst Peter.<br />
Horst Peter (Kassel) (SPD): Frau Präsidentin! Meine<br />
Damen und Herren! Wir beraten heute über den letzten<br />
Jahresbericht des Petitionsausschusses der vergangenen<br />
Legislaturperiode, deshalb ein knapper<br />
Rückblick auf die vergangene Legislaturperiode. Wir<br />
hatten in den Debatten der letzten Jahresberichte drei<br />
Streitpunkte: Erstens. Gibt es einen Unterschied zwischen<br />
politischen Petitionen und p rivaten Anliegen?<br />
Zweitens. Gibt es die Notwendigkeit, Massenpetitionen<br />
anders als Einzelpetitionen zu behandeln? Drittens.<br />
Ist der Petitionsausschuß ein Überausschuß, der<br />
auch fachpolitische Problemstellungen zu entscheiden<br />
hat?<br />
Inzwischen bin ich der Auffassung, daß sich diese<br />
Streitpunkte im Lichte unserer neuen Grundsätze als<br />
scheinbare Streitpunkte erwiesen haben. Ich bin nun<br />
wirklich kein Feind von Konfrontation,<br />
(Zuruf des Abg. Bernd Reuter (SPD])<br />
— ich gehe keinem Streit aus dem Wege, kann man<br />
auch sagen —, aber die neuen Grundsätze haben die<br />
richtige Konfliktlinie dargestellt. Wir sind im Petitionsausschuß<br />
über die Behandlung von Verfahren<br />
weitgehend einig und können uns dann oft gemeinsam<br />
an der Verwaltung, an der Bundesregierung, am<br />
Arbeitsamt, an der Krankenversicherung usw. abarbeiten,<br />
und das ist, glaube ich, die richtige Zielstellung<br />
im Interesse der Petenten.<br />
Die Ursache dafür sind unsere Verfahrensgrundsätze.<br />
Wir haben uns Mühe gegeben, die Voten differenzierter<br />
zu gestalten. So ist es möglich, die Unterschiede<br />
zwischen politischen und p rivaten Anliegen,<br />
zwischen Einzel- und Massenpetitionen und auch die<br />
Frage, ob der Petitionsausschuß ein übergreifender<br />
Ausschuß ist, auszugleichen. Wir haben uns mit den<br />
neuen Grundsätzen auch die Möglichkeit eröffnet,<br />
den Bundesrechnungshof einzuschalten, wenn es uns<br />
sinnvoll erscheint, das Bundesversicherungsamt einzuschalten,<br />
um in dem Bereich, in dem wir oft machtlos<br />
sind — bei Verhaltensweisen der Sozialversicherungen<br />
—, einen Zugriff zu erhalten. Wir haben ja das<br />
Problem, daß unser Zugriff im Sozialversicherungsbereich<br />
durch die Aufgabe, die die Selbstverwaltung<br />
wahrnimmt, gebremst ist. Ich werde im Laufe dieses<br />
Beitrags verdeutlichen, daß das für Petenten manchmal<br />
eine sehr schwierige Sache ist.<br />
Wir haben auch die kritische Auseinandersetzung<br />
mit den Stellungnahmen der Regierung auf Berücksichtigungs-<br />
und Erwägungsbeschlüsse zu unserer<br />
ständigen Praxis gemacht. Darauf ist der Vorsitzende<br />
des Ausschusses eingegangen; darauf wird dann mit<br />
weniger Verpflichtung zur Zurückhaltung auch der<br />
Kollege Reuter noch eingehen.<br />
Mir ist aus dem inzwischen klargeworden: Die<br />
Trennung in Petitionen mit privatem oder politischem<br />
Anliegen ist eine Scheinalternative, wenn man<br />
so will: ein antiquierter Streit. Jede Petition hat eine<br />
politische Dimension. Der Unterschied liegt in der<br />
Reichweite des Anliegens.<br />
Beispiel 1: Ein Petent aus Norddeutschland bezog<br />
nach Abschluß seines Studiums von Juli bis Dezember<br />
1989 Arbeitslosenhilfe. Er bewarb sich im gesamten<br />
Bundesgebiet und erhielt im Dezember 1989 eine<br />
mündliche Zusage in Frankfurt am Main. Dort suchte,<br />
fand und renovierte er mit Freunden bis Ende Dezember<br />
eine Wohnung. Seinen schriftlichen Arbeitsvertrag<br />
erhielt er erst am 6. Januar 1990. Am 8. Januar<br />
— die Daten sind wichtig — schrieb er seinem zuständigen<br />
Arbeitsamt, daß er einen Arbeitsvertrag abgeschlossen<br />
habe, der ab dem 1. Januar 1990 gelte und<br />
den er seit dem 2. Januar 1990 erfülle. Des weiteren<br />
fragte er nach Rückzahlungsmodalitäten für eventuell<br />
zuviel erhaltene Arbeitslosenhilfe. Außerdem bat er<br />
um Informationen über Beihilfe zu seinen Umzugskosten.<br />
Am 25. Januar teilte ihm das Arbeitsamt mit, daß<br />
sein Antrag auf Gewährung von Umzugskosten verspätet<br />
erfolgt sei — spätestens bis zum Tag der Arbeitsaufnahme<br />
oder am Tag des Umzugs —, und<br />
übersandte als Beleg nunmehr das entsprechende<br />
Merkblatt.<br />
Mit Schreiben vom 20. Februar erteilte ihm das Arbeitsamt<br />
darüber hinaus noch eine förmliche Verwarnung<br />
für seine verspätete Meldung der Arbeitsaufnahme<br />
bezüglich der Zeit vom 2. bis 10. Januar 1990,<br />
sah aber „ausnahmsweise" von einem Verwarnungsgeld<br />
ab.<br />
In der Stellungnahme gegenüber dem Petitionsausschuß<br />
schreibt das Arbeitsamt im Ap ril 1990 zur Begründung<br />
der Ablehnung der Umzugskostenhilfe unter<br />
anderem: „Er hat durch die Durchführung des<br />
Umzugs faktisch bewiesen, daß er auf die Hilfe des<br />
Arbeitsamtes nicht unbedingt angewiesen war." Die<br />
arbeitsverwaltungsbehördliche Posse findet ihren Höhepunkt<br />
in einem Bescheid vom 10. September 1990,<br />
in dem das Arbeitsamt die Arbeitslosenhilfe in Höhe<br />
von 32,10 DM für den 1. Januar 1990 zurückfordert,<br />
da er insoweit die Arbeitsaufnahme nicht richtig mitgeteilt<br />
habe.<br />
Deutlicher als der Petent allerdings in seinem<br />
Schreiben vom 8. Januar 1990 kann man die maßgeblichen<br />
Daten nicht formulieren. Das Arbeitsamt hat<br />
demnach neun Monate später faktisch bewiesen, daß<br />
es der Lektüre einfachster Schreiben nicht unbedingt<br />
gewachsen war. Die Reichweite dieser Petition geht<br />
dahin: Der Arbeitsverwaltung am zuständigen Ort ist
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2637<br />
Horst Peter (Kassel)<br />
klarzumachen, daß Bürgerinnen und Bürger Anspruch<br />
auf angemessene Behandlung haben.<br />
(Beifall bei allen Fraktionen)<br />
Da also die Petition in der dargestellten Form notwendig<br />
wurde, wäre das zuständige Arbeitsamt gut beraten,<br />
einmal ein Verhältnis zu den Bürgerinnen und<br />
Bürgern, die Anliegen vorbringen, zu überprüfen.<br />
(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)<br />
Die vielen Eingaben zur Gesetzgebung oder auch<br />
die Eingaben gegen staatliche Großprojekte, einzeln<br />
oder in Gemeinschaft mit anderen, insbesondere die<br />
vielen Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern aus<br />
den neuen Bundesländern, tragen ihre politische<br />
Reichweite in sich.<br />
Ich will im folgenden eine Eingabe darstellen, bei<br />
der sich die politische Reichweite im Verlauf der Behandlung<br />
erst erschloß. Es geht um die Eingabe eines<br />
Chemiearbeiters, der als Mitarbeiter der BASF Ludwigshafen<br />
im November 1953 bei einem Betriebsunfall<br />
durch ausströmende Halogenwasserstoffe — Dioxine<br />
sind damit gemeint — eine Vergiftung erlitt.<br />
Wegen der unmittelbaren gesundheitlichen Schädigungen<br />
erhielt er von der Berufsgenossenschaft Chemie<br />
eine Unfallrentenleistung. Im März wurde die<br />
Rente nicht mehr gewährt, da die Berufsgenossenschaft<br />
Chemie nach den gutachtlichen Stellungnahmen<br />
der damaligen Werksärztin des Unfallbetriebs<br />
eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit<br />
nicht mehr als gegeben ansah. Man beachte:<br />
Der Werksärztin des Unfallbetriebs!<br />
Von diesem Zeitpunkt an kämpfte der Petent um<br />
seine Unfallrente. 1985 wandte er sich erstmals an den<br />
Petitionsausschuß wegen Anerkennung seiner sich<br />
verschlechternden Krankheitsbefunde als Berufskrankheit<br />
— vergeblich, da die Gutachter eine Kausalität<br />
zwischen der Dioxinexposition und den Krankheitsbefunden<br />
nicht als gegeben ansahen.<br />
1987 kam es zu einer erneuten Petition, diesmal<br />
wegen einer rückwirkenden Rentenzahlung ab 1955,<br />
dem Zeitpunkt des Rentenentzugs, für die im März<br />
1987 gewährte Minderung der Erwerbsfähigkeit von<br />
20 % und einer Erhöhung seines MdE-Prozentsatzes.<br />
Inzwischen war die Einschätzung von krankheitsverursachenden<br />
Auswirkungen von Dioxin in der Wissenschaft<br />
weiter vorangeschritten.<br />
Hier sind wir am Beginn der Ausweitung der Eingabe,<br />
hin zur politischen Reichweite für den Berichterstatter.<br />
Wir haben im Ausschuß insgesamt drei Anhörungen<br />
gemacht. Wir haben in der Auseinandersetzung<br />
mit der Berufsgenossenschaft, durch Einschaltung<br />
von Experten, durch Anhörung von Vertretern<br />
der Bundesregierung, durch Einschaltung des Bundesversicherungsamtes,<br />
durch Einladung von alternativen<br />
Experten, durch die Bemühung, eine Einigung<br />
mit dem Geschäftsführer der Berufsgenossenschaft<br />
Chemie herbeizuführen, versucht, dem prinzipiell<br />
schwächeren Teil — die Beweislast liegt nicht bei der<br />
Berufsgenossenschaft, sondern bei dem Petenten als<br />
dem betroffenen Versicherten — , also dem Petenten,<br />
zu seinem Recht zu verhelfen.<br />
Dabei stellte sich — das ist die Dimension für die<br />
Gesetzgebung — heraus, daß § 44 Abs. 4 des SGB X<br />
ein überwindbares Hindernis für eine weitere Rückwirkung<br />
der Petition war. Ich meine, wir haben den<br />
vielen Fällen nachzugehen, bei denen es nicht um<br />
zuviel oder zuwenig gezahlte Renten, sondern darum<br />
geht, anzuerkennen, daß jemand wegen eines Berufsunfalls<br />
vom Zeitpunkt des Eintretens dieses Unfalls an<br />
Ansprüche haben muß.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP<br />
und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Der Ansatz, die MdE, die Minderung der Erwerbsfähigkeit,<br />
zu erhöhen, steht in Widerspruch zur Praxis<br />
der Berufsgenossenschaft Chemie bei der Gewährung<br />
der Unfallrente aus dem Unfall von 1953 für den Petenten<br />
und für weitere 78 Personen, die sich für mich<br />
als Skandal darstellt. Für mich ist die Verhaltensweise<br />
der Berufsgenossenschaft Chemie an vier Punkten zu<br />
kritisieren.<br />
Ich werfe ein Verschleiern der tatsächlich vom Unfall<br />
betroffenen Personengruppe durch Einbeziehung<br />
weiterer Dioxinfälle bei der BASF vor, wodurch Kausalitätsaussagen<br />
erschwert wurden.<br />
Ich werfe das Heranziehen von Gutachtern vor, die<br />
inzwischen in der wissenschaftlichen Diskussion<br />
höchst umstritten sind. Auf diese Weise wurden Gutachten<br />
erstellt, die es dem Versicherten teilweise unmöglich<br />
gemacht haben, schon frühzeitig zu seinem<br />
Unfallrentenanspruch zu kommen.<br />
- Ich werfe das Nichtheranziehen einer Mortalitäts<br />
und Morbiditätsstudie der Unfallkohorten des Unfalls<br />
von 1953 im Auftrag der BASF vor. Kausalitätsvermutungen<br />
im Hinblick auf den Fall des Petenten, werden<br />
dadurch unmöglich gemacht.<br />
Der Absprache, die sich aus einem Gespräch mit<br />
dem Ausschußvorsitzenden und den Berichterstattern<br />
des Ausschusses ergab, jede Chance zu nutzen, um in<br />
einem sozialgerichtlichen Verfahren einen Vergleich<br />
mit dem Petenten über die Höhe der MdE zu erreichen,<br />
und die eine Brücke darstellte, ist der Geschäftsführer<br />
der Berufsgenossenschaft Chemie nicht nachgekommen,<br />
sondern im Gegenteil: Er hat dann, als<br />
von uns angeregte Gegengutachten zur Feststellung<br />
einer höheren Minderung der Erwerbstätigkeit führten,<br />
seinerseits Gegengutachten in Auftrag gegeben,<br />
und zwar unter Einbeziehung einer Dioxin-Studie der<br />
BG Chemie, die wissenschaftlich nicht unstrittig ist,<br />
ebenfalls keine klare Kohorte darstellt.<br />
Ich werfe dem Geschäftsführer vor, daß er die vom<br />
Petitionsausschuß eingeladenen Experten nachträglich<br />
in einer Form unter Druck gesetzt hat, die eigentlich<br />
eine Mißachtung des Auftrags des Petitionsausschusses<br />
darstellt, die wir uns nicht gefallen lassen<br />
können.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Das Ganze führt zu einer verschleppenden Behandlung.<br />
Wenn wir uns vor Augen führen, daß die Krankheitsauswirkungen<br />
von Dioxin tödliche Folgen haben<br />
können, kann eine schleppende Behandlung zur Erledigung<br />
der Fälle. durch Tod der Anspruchsteller führen.<br />
Das ist eine Verfahrenspraxis, die wir einfach<br />
nicht akzeptieren können.<br />
Das Fazit: § 44 Abs. 4 ist überprüfungsbedürftig.<br />
Deshalb haben wir Regierung und Fraktionen des
2638 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Horst Peter (Kassel)<br />
<strong>Bundestag</strong>es die Petition zur Kenntnis gegeben. Wir<br />
meinen, hier ist es möglich, eine Gesetzesinitiative zu<br />
starten. Das ist auch notwendig.<br />
Die Beschwerde über die berufsgenossenschaftliche<br />
Behandlung ist nach unserer Auffassung berechtigt.<br />
Deshalb haben wir das Bundesversicherungsamt<br />
zur Überprüfung der berufsgenossenschaftlichen Behandlung<br />
der Opfer des Dioxinunfalls eingeschaltet.<br />
Wichtig ist das vor allen Dingen für die Behandlung<br />
der weiteren anstehenden Petitionen aus diesem Fall.<br />
Wichtig ist das auch für Petitionen bezüglich anderer<br />
Berufskrankheiten. Wichtig ist es für die Veränderung<br />
der Praxis der Gutachterbenennung durch die Berufsgenossenschaften.<br />
Wichtig ist es vor allen Dingen, um<br />
gesetzliche Regelungen zu finden, die durch eine Umkehr<br />
der Beweislast den Schwächeren in dieser ungleichen<br />
Auseinandersetzung stärker werden lassen,<br />
indem nämlich die schädigenden Unternehmen beweisen<br />
müssen, ob eine Schädigung durch die Arbeit<br />
an einem Arbeitsplatz in einem solchen Unternehmen<br />
ausgeschlossen werden kann.<br />
Eine offene Frage ist: Angesichts der Satzungszwecke<br />
der Träger der Unfallversicherung, der Vorsorge<br />
zur Vermeidung von Unfällen und der Versicherung<br />
im Falle von Unfällen im Interesse ihrer Versicherten<br />
frage ich: Wo ist die Selbstverwaltung, die<br />
sich kritisch mit dem Verhalten des Geschäftsführers<br />
der BG Chemie auseinandersetzt und die prüft, ob er<br />
weiter tragbar ist?<br />
Hervorzuheben ist, daß in der Behandlung dieser<br />
Petition der Ausschuß an einem Strang und alle in die<br />
richtige Richtung gezogen haben. Zu danken ist dem<br />
Petenten, der einer der wenigen ist, der sein Anliegen<br />
zäh in einer unterlegenen Position vorangetragen<br />
hat.<br />
Die Schlußfolgerung lautet: Die Trennung in private<br />
und politische Eingaben ist nicht haltbar. Die<br />
Frage ist, wie die Eingaben mit großer politischer<br />
Reichweite für die Zukunft zu behandeln sind.<br />
Hier zum Schluß ein Vorschlag: Wir müssen zukünftig<br />
prüfen, ob durch eine Änderung der Geschäftsordnung<br />
Fachausschüsse durch den <strong>Bundestag</strong> auf Überweisungsbeschluß<br />
des Petitionsausschusses eingeschaltet<br />
werden können, so wie es der Petitionsausschuß<br />
des Europäischen Parlaments geregelt hat. Dadurch<br />
kann das Petitionsverfahren als Teilhaberecht<br />
der Bürgerinnen und Bürger nur effektiver gestaltet<br />
werden.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bevor ich nun den<br />
nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen das von<br />
den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen<br />
Abstimmung bekanntgeben, und zwar über die<br />
zweite Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung<br />
des Art. 146 des Grundgesetzes.<br />
Die Schriftführer haben folgendes Ergebnis ermittelt.<br />
Es wurden 599 Stimmen abgegeben. Davon war<br />
keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 237 Kollegen<br />
und Kolleginnen gestimmt. Mit Nein haben 358 gestimmt.<br />
Vier haben sich der Stimme enthalten.<br />
Endgültiges Ergebnis<br />
Abgegebene Stimmen: 598;<br />
Ja<br />
ja: 237<br />
nein: 357<br />
enthalten: 4<br />
SPD<br />
Frau Adler<br />
Andres<br />
Bachmaier<br />
Frau Barbe<br />
Bartsch<br />
Becker (Nienberge)<br />
Bernrath<br />
Beucher<br />
Bindig<br />
Frau Blunck<br />
Dr. Böhme (Unna)<br />
Börnsen (Ritterhude)<br />
Brandt<br />
Frau Brandt-Elsweier<br />
Büchner (Speyer)<br />
Dr. von Bülow<br />
Büttner (Ingolstadt)<br />
Frau Bulmahn<br />
Frau Burchardt<br />
Bury<br />
Frau Caspers-Merk<br />
Catenhusen<br />
Conradi<br />
Frau Dr. Däubler-Gmelin<br />
Daubertshäuser<br />
Dr. Diederich (Berlin)<br />
Diller<br />
Frau Dr. Dobberthien<br />
Dreßler<br />
Duve<br />
Ebert<br />
Dr. Eckardt<br />
Dr. Ehmke (Bonn)<br />
Eich<br />
Dr. Elmer<br />
Erler<br />
Esters<br />
Ewen<br />
Frau Ferner<br />
Frau Fischer<br />
(Gräfenhainichen)<br />
Fischer (Homburg)<br />
Formanski<br />
Frau Fuchs (Köln)<br />
Frau Fuchs (Verl)<br />
Fuhrmann<br />
Frau Ganseforth<br />
Gansel<br />
Dr. Gautier<br />
Gilges<br />
Dr. Glotz<br />
Graf<br />
Großmann<br />
Haack (Extertal)<br />
Habermann<br />
Hacker<br />
Frau Hämmerle<br />
Hampel<br />
Frau Hanewinckel<br />
Frau Dr. Hartenstein<br />
Hasenfratz<br />
Dr. Hauchler<br />
Heistermann<br />
Heyenn<br />
Hiller (Lübeck)<br />
Hilsberg<br />
Dr. Holtz<br />
Horn<br />
Huonker<br />
Ibrügger<br />
Frau Iwersen<br />
Frau Jäger<br />
Frau Janz<br />
Jaunich<br />
Dr. Jens<br />
Jungmann (Wittmoldt)<br />
Frau Kastner<br />
Kastning<br />
Kirschner<br />
Frau Klemmer<br />
Dr. sc. Knaape<br />
Körper<br />
Frau Kolbe<br />
Kolbow<br />
Koltzsch<br />
Koschnick<br />
Kretkowski<br />
Kubatschka<br />
Dr. Kübler<br />
Kuessner<br />
Dr. Küster<br />
Kuhlwein<br />
Lambinus<br />
Frau Lange<br />
von Larcher<br />
Leidinger<br />
Lennartz<br />
Frau Dr. Lucyga<br />
Frau Marx<br />
Frau Mascher<br />
Matschie<br />
Dr. Matterne<br />
Frau Matthäus-Maier<br />
Frau Mattischeck<br />
Meckel<br />
Frau Mehl<br />
Meißner<br />
Dr. Mertens (Bottrop)<br />
Dr. Meyer (Ulm)<br />
Mosdorf<br />
Müller (Düsseldorf)<br />
Müller (Pleisweiler)<br />
Müller (Schweinfurt)<br />
Frau Müller (Völklingen)<br />
Müntefering<br />
Neumann (Bramsche)<br />
Neumann (Gotha)<br />
Frau Dr. Niehuis<br />
Dr. Niese<br />
Frau Odendahl<br />
Oesinghaus<br />
Oostergetelo<br />
Opel<br />
Ostertag<br />
Frau Dr. Otto<br />
Paterna<br />
Dr. Penner<br />
Peter (Kassel)<br />
Dr. Pfaff<br />
Dr. Pick<br />
Purps<br />
Reimann<br />
Rempe<br />
Frau von Renesse<br />
Frau Rennebach<br />
Reuter<br />
Rixe<br />
Schäfer (Offenburg)<br />
Frau Schaich-Walch<br />
Schanz<br />
Scheffler<br />
Schily<br />
Schluckebier<br />
Schmidbauer (Nürnberg)<br />
Frau Schmidt (Aachen)<br />
Frau Schmidt (Nürnberg)<br />
Schmidt (Salzgitter)<br />
Frau Schmidt-Zadel<br />
Dr. Schmude<br />
Dr. Schnell
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2639<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt<br />
Schreiner<br />
Frau Schröter<br />
Schröter<br />
Schütz<br />
Dr. Schuster<br />
Schwanhold<br />
Schwanitz<br />
Seidenthal<br />
Frau Seuster<br />
Sielaff<br />
Frau Simm<br />
Singer<br />
Frau Dr. Skarpelis-Sperk<br />
Frau Dr. Sonntag-Wolgast<br />
Sorge<br />
Dr. Sperling<br />
Frau Steen<br />
Stiegler<br />
Dr. Struck<br />
Tappe<br />
Frau Terborg<br />
Dr. Thalheim<br />
Thierse<br />
Tietjen<br />
Frau Titze<br />
Toetemeyer<br />
Urbaniak<br />
Vergin<br />
Verheugen<br />
Dr. Vogel<br />
Voigt (Frankfurt)<br />
Vosen<br />
Wagner<br />
Wallow<br />
Waltemathe<br />
Walter (Cochem)<br />
Walther (Zierenberg)<br />
Wartenberg (Berlin)<br />
Frau Dr. Wegner<br />
Weiermann<br />
Frau Weiler<br />
Weis (Stendal)<br />
Weißgerber<br />
Weisskirchen (Wiesloch)<br />
Welt<br />
Dr. Wernitz<br />
Frau Wester<br />
Frau Westrich<br />
Frau Wettig-Danielmeier<br />
Frau Dr. Wetzel<br />
Frau Weyel<br />
Dr. Wieczorek<br />
Wieczorek (Duisburg)<br />
Frau Wieczorek-Zeul<br />
Wiefelspütz<br />
Wimmer (Neuötting)<br />
Dr. de With<br />
Wittich<br />
Frau Wohlleben<br />
Frau Wolf<br />
Frau Zapf<br />
Dr. Zöpel<br />
Zumkley<br />
FDP<br />
Grünbeck<br />
PDS/LL<br />
Frau Bläss<br />
Frau Braband<br />
Dr. Briefs<br />
Frau Dr. Enkelmann<br />
Frau Dr. Fischer<br />
Dr. Gysi<br />
Henn<br />
Dr. Heuer<br />
Frau Dr. Höll<br />
Frau Jelpke<br />
Dr. Keller<br />
Frau Lederer<br />
Dr. Modrow<br />
Dr. Riege<br />
Dr. Schumann (Kroppenstedt)<br />
Frau Stachowa<br />
Bündnis 90/GRÜNE<br />
Dr. Feige<br />
Frau Köppe<br />
Poppe<br />
Schulz (Berlin)<br />
Dr. Ullmann<br />
Weiß (Berlin)<br />
Frau Wollenberger<br />
Fraktionslos<br />
Lowack<br />
Nein<br />
CDU/CSU<br />
Adam<br />
Dr. Altherr<br />
Frau Augustin<br />
Augustinowitz<br />
Bargfrede<br />
Dr. Bauer<br />
Frau Baumeister<br />
Bayha<br />
Belle<br />
Frau Dr. Bergmann-Pohl<br />
Bierling<br />
Dr. Blank<br />
Frau Blank<br />
Dr. Blens<br />
Bleser<br />
Dr. Blüm<br />
Böhm (Melsungen)<br />
Frau Dr. Böhmer<br />
Börnsen (Bönstrup)<br />
Dr. Bötsch<br />
Bohl<br />
Bohlsen<br />
Borchert<br />
Brähmig<br />
Breuer<br />
Frau Brudlewsky<br />
Brunnhuber<br />
Bühler (Bruchsal)<br />
Büttner (Schönebeck)<br />
Buwitt<br />
Carstens (Emstek)<br />
Carstensen (Nordstrand)<br />
Dehnel<br />
Frau Dempwolf<br />
Deres<br />
Deß<br />
Frau Diemers<br />
Doppmeier<br />
Doss<br />
Dr. Dregger<br />
Echternach<br />
Ehlers<br />
Ehrbar<br />
Frau Eichhorn<br />
Engelmann<br />
Eylmann<br />
Frau Eymer<br />
Frau Falk<br />
Dr. Faltlhauser<br />
Feilcke<br />
Dr. Fell<br />
Fischer (Hamburg)<br />
Frau Fischer (Unna)<br />
Fockenberg<br />
Francke (Hamburg)<br />
Frankenhauser<br />
Dr. Friedrich<br />
Fritz<br />
Fuchtel<br />
Ganz (St. Wendel)<br />
Frau Geiger<br />
Geis<br />
Dr. Geißler<br />
Dr. von Geldern<br />
Gerster (Mainz)<br />
Gibtner<br />
Dr. Göhner<br />
Göttsching<br />
Dr. Götzer<br />
Gres<br />
Frau Grochtmann<br />
Gröbl<br />
Grotz<br />
Dr. Grünewald<br />
Günther (Duisburg)<br />
Frhr. von Hammerstein<br />
Harries<br />
Haschke (Großhennersdorf)<br />
Haschke (Jena-Ost)<br />
Frau Hasselfeldt<br />
Hauser (Esslingen)<br />
Hauser (Rednitzhembach)<br />
Hedrich<br />
Heise<br />
Frau Dr. Hellwig<br />
Helmrich<br />
Dr. Hennig<br />
Dr. h. c. Herkenrath<br />
Hinsken<br />
Hintze<br />
Hörsken<br />
Hörster<br />
Dr. Hoffacker<br />
Hollerith<br />
Dr. Hornhues<br />
Hornung<br />
Hüppe<br />
Jäger<br />
Frau Jaffke<br />
Jagoda<br />
Janovsky<br />
Frau Jeltsch<br />
Dr. Jobst<br />
Dr. Jüttner<br />
Junghanns<br />
Dr. Kahl<br />
Kalb<br />
Kampeter<br />
Dr. Kappes<br />
Frau Karwatzki<br />
Kauder<br />
Keller<br />
Kiechle<br />
Kittelmann<br />
Klein (Bremen)<br />
Klein (München)<br />
Klinkert<br />
Köhler (Hainspitz)<br />
Dr. Köhler (Wolfsburg)<br />
Dr. Kohl<br />
Kolbe<br />
Frau Kors<br />
Koschyk<br />
Kossendey<br />
Kraus<br />
Dr. Krause (Börgerende)<br />
Dr. Krause (Bonese)<br />
Krause (Dessau)<br />
Krey<br />
Kriedner<br />
Kronberg<br />
Dr.-Ing. Krüger<br />
Krziskewitz<br />
Lamers<br />
Dr. Lammert<br />
Lamp<br />
Lattmann<br />
Dr. Laufs<br />
Laumann<br />
Frau Dr. Lehr<br />
Dr. Lieberoth<br />
Frau Limbach<br />
Link (Diepholz)<br />
Lintner<br />
Dr. Lippold (Offenbach)<br />
Dr. sc. Lischewski<br />
Louven<br />
Lummer<br />
Dr. Luther<br />
Frau Männle<br />
Magin<br />
Dr. Mahlo<br />
de Maizière<br />
Frau Marienfeld<br />
Marschewski<br />
Dr. Mayer (Siegertsbrunn)<br />
Meckelburg<br />
Meinl<br />
Frau Dr. Merkel<br />
Frau Dr. Meseke<br />
Dr. Meyer zu Bentrup<br />
Frau Michalk<br />
Michels<br />
Dr. Möller<br />
Müller (Kirchheim)<br />
Müller (Wadern)<br />
Müller (Wesseling)<br />
Nelle<br />
Dr. Neuling<br />
Neumann (Bremen)<br />
Nitsch<br />
Frau Nolte<br />
Dr. Olderog<br />
Ost<br />
Oswald<br />
Dr. Päselt<br />
Dr. Paziorek<br />
Petzold<br />
Pfeffermann<br />
Frau Pfeiffer<br />
Dr. Pfennig<br />
Dr. Pflüger<br />
Dr. Pinger<br />
Pofalla<br />
Dr. Pohler<br />
Frau Priebus<br />
Dr. Probst<br />
Dr. Protzner<br />
Pützhofen<br />
Frau Rahardt-Vahldieck<br />
Raidel<br />
Rauen<br />
Rawe<br />
Reddemann<br />
Reichenbach<br />
Dr. Reinartz<br />
Frau Reinhardt<br />
Repnik<br />
Dr. Rieder<br />
Dr. Riesenhuber<br />
Rode (Wietzen)<br />
Frau Rönsch (Wiesbaden)<br />
Frau Roitzsch (Quickborn)<br />
Romer<br />
Dr. Rose<br />
Rossmanith<br />
Roth (Gießen)<br />
Rother<br />
Dr. Ruck<br />
Rühe<br />
Dr. Rüttgers<br />
Sauer (Salzgitter)<br />
Sauer (Stuttgart)<br />
Scharrenbroich<br />
Frau Schätzle<br />
Dr. Schäuble
2640 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt<br />
Schartz (Trier)<br />
FDP<br />
Schemken<br />
Scheu<br />
Schmalz<br />
Schmidbauer<br />
Schmidt (Fürth)<br />
Dr. Schmidt (Halsbrücke)<br />
Schmidt (Mühlheim)<br />
Frau Schmidt (Spiesen)<br />
Schmitz (Baesweiler)<br />
von Schmude<br />
Dr. Schneider (Nürnberg)<br />
Dr. Schockenhoff<br />
Graf von Schönburg-Glauchau<br />
Dr. Scholz<br />
Frhr. von Schorlemer<br />
Dr. Schreiber<br />
Dr. Schroeder (Freiburg)<br />
Schulhoff<br />
Dr. Schulte<br />
(Schwäbisch Gmünd)<br />
Schulz (Leipzig)<br />
Schwalbe<br />
Schwarz<br />
Dr. Schwarz-Schilling<br />
Dr. Schwörer<br />
Seehofer<br />
Seesing<br />
Seibel<br />
Seiters<br />
Skowron<br />
Dr. Sopart<br />
Frau Sothmann<br />
Spilker<br />
Spranger<br />
Dr. Sprung<br />
Dr. Stavenhagen<br />
Frau Steinbach-Hermann<br />
Dr. Stercken<br />
Dr. Frhr. von Stetten<br />
Stockhausen<br />
Dr. Stoltenberg<br />
Strube<br />
Stübgen<br />
Frau Dr. Süssmuth<br />
Susset<br />
Tillmann<br />
Dr. Töpfer<br />
Dr. Uelhoff<br />
Uldall<br />
Frau Verhülsdonk<br />
Vogel (Ennepetal)<br />
Vogt (Düren)<br />
Dr. Voigt (Northeim)<br />
Dr. Vondran<br />
Dr. Waffenschmidt<br />
Dr. Waigel<br />
Graf von Waldburg-Zeil<br />
Dr. Warnke<br />
Dr. Warrikoff<br />
Werner (Ulm)<br />
Frau Wiechatzek<br />
Dr. Wieczorek (Auerbach)<br />
Frau Dr. Wilms<br />
Wilz<br />
Wimmer (Neuss)<br />
Frau Dr. Wisniewski<br />
Wissmann<br />
Dr. Wittmann<br />
Wittmann (Tännesberg)<br />
Wonneberger<br />
Frau Wülfing<br />
Würzbach<br />
Frau Yzer<br />
Zeitlmann<br />
Zöller<br />
SPD<br />
Frau Albowitz<br />
Frau Dr. Babel<br />
Baum<br />
Beckmann<br />
Bredehorn<br />
Cronenberg (Arnsberg)<br />
Eimer (Fürth)<br />
Engelhard<br />
van Essen<br />
Dr. Feldmann<br />
Friedhoff<br />
Friedrich<br />
Funke<br />
Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink<br />
Gallus<br />
Ganschow<br />
Gattermann<br />
Gries<br />
Grüner<br />
Günther (Plauen)<br />
Dr. Guttmacher<br />
Hackel<br />
Hansen<br />
Dr. Haussmann<br />
Heinrich<br />
Dr. Hirsch<br />
Frau Dr. Hoth<br />
Dr. Hoyer<br />
Hübner<br />
Irmer<br />
Kleinert (Hannover)<br />
Kohn<br />
Dr. Kolb<br />
Dr.-Ing. Laermann<br />
Dr. Graf Lambsdorff<br />
Frau Leutheusser<br />
Schnarrenberger<br />
Lüder<br />
Lühr<br />
Dr. Menzel<br />
Nolting<br />
Otto (Frankfurt)<br />
Paintner<br />
Frau Dr. Pohl<br />
Richter (Bremerhaven)<br />
Dr. Röhl<br />
Schäfer (Mainz)<br />
Schmidt (Dresden)<br />
Dr. Schmieder<br />
Schüßler<br />
Frau Sehn<br />
Frau Seiler-Albring<br />
Frau Dr. Semper<br />
Dr. Solms<br />
Dr. Starnick<br />
Frau Dr. von Teichman und<br />
Logischen<br />
Thiele<br />
Dr. Thomae<br />
Timm<br />
Türk<br />
Frau Walz<br />
Dr. Weng (Gerlingen)<br />
Wolfgramm (Göttingen)<br />
-<br />
Frau Würfel<br />
Zurheide<br />
Zywietz<br />
Enthalten<br />
Frau Dr. Leonhard-Schmid<br />
SPD<br />
Steiner<br />
Frau Homburger<br />
Niggemeier<br />
Koppelin<br />
Damit ist dieser Gesetzentwurf abgelehnt.<br />
Nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung unterbleibt<br />
damit jede weitere Beratung. Damit ist das<br />
Durchführungsgesetz zum Volksentscheid, die dafür<br />
vorauszusetzende Grundgesetzänderung, abgelehnt<br />
worden. Ich kann wohl davon ausgehen, daß wir<br />
deshalb über den Entwurf eines Durchführungsgesetzes<br />
heute nicht mehr weiter beraten müssen. — Darüber<br />
besteht Einverständnis. Dann ist das so beschlossen.<br />
Nun rufe ich als nächsten Redner den Kollegen<br />
Günther Nolting auf.<br />
Günther Friedrich Nolting (FDP) : Frau Präsidentin!<br />
Meine Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung:<br />
Wie wichtig der Jahresbericht 1990 des Petitionsausschusses<br />
von der Regierung genommen wird,<br />
zeigt sich u. a. an der großen Anzahl der anwesenden<br />
Regierungsvertreter.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />
SPD)<br />
Dies ist nicht nur quantitativ, sondern vor allen Dingen<br />
auch qualitativ gemeint.<br />
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der<br />
Vorsitzende des Petitionsausschusses, Herr Dr. Pfennig,<br />
hat schon auf folgendes hingewiesen: Im Jahre<br />
1990 sind insgesamt 16 497 Eingaben beim Petitionsausschuß<br />
eingegangen. Dies ist eine deutliche Zunahme<br />
gegenüber dem Vorjahr, die sich neben der<br />
generell steigenden Tendenz bei der Zahl von Eingaben<br />
vor allem auf die neuen Bundesländer zurückführen<br />
läßt. 16,5 % der Eingaben kamen aus den neuen<br />
Bundesländern, obwohl die Vereinigung erst am<br />
3. Oktober — sie wirkt sich also nur auf ein Viertel des<br />
Berichtszeitraumes aus — vollzogen wurde. Dies ist<br />
zweifellos ein wesentliches Merkmal dieses Jahresberichtes.<br />
Die neuen Bundesbürger haben ihr Petitionsrecht<br />
nicht nur entdeckt, sondern auch gleich in großem<br />
Maße in Anspruch genommen.<br />
Das deutet auf die vielen Probleme im sozialen und<br />
rechtlichen Bereich hin. Die Verwaltung befindet sich<br />
teilweise noch im Aufbau. Die Bürger haben oft für<br />
ihre Schwierigkeiten noch nicht den für uns alte Bundesbürger<br />
selbstverständlichen Ansprechpartner in<br />
einem bestimmten Amt und wenden sich daher in<br />
ihrer teilweise vorhandenen Verzweiflung an den Petitionsausschuß<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es. Mancher<br />
dieser Petenten war froh, bei dieser Institution<br />
einfach seinen Kummer loszuwerden und einmal in<br />
einem Brief alle Sorgen darstellen zu können, ohne<br />
daß er tatsächlich die Hilfe des Ausschusses erwartete.<br />
Im Mittelpunkt der Eingaben stand dabei die persönliche<br />
Betroffenheit der Menschen, vor allem die<br />
Gefährdung und der Abbau von Arbeitsplätzen, das<br />
Rentenniveau und die Neugestaltung der Preise nach<br />
Einführung der Sozialen Marktwirtschaft.<br />
Einen erheblichen Anstieg der Zahl der Petitionen<br />
im Fachbereich des Bundesministers der Justiz lösten
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2641<br />
Günther Friedrich Nolting<br />
die ungeklärten Grundeigentumsfragen in den neuen<br />
Bundesländern aus. Da der Sachverhalt zu einer Petition<br />
erst sorgfältig recherchiert wird, konnten nur wenige<br />
der Eingaben aus den neuen Bundesländern<br />
schon 1990 abschließend behandelt werden. Deshalb<br />
schlagen sich solche Fälle noch nicht in den Beispielen<br />
nieder, die der Ausschuß in seinem Jahresbericht<br />
bringt, um den Bürgern anschaulich zu machen, welche<br />
Chancen sich bieten, wenn sich jemand mit einem<br />
wohlbegründeten Anliegen an uns wendet.<br />
Jeder von uns, der im Petitionsausschuß arbeitet,<br />
bekommt von Zeit zu Zeit böse B riefe von Petenten,<br />
deren Anliegen wir ablehnen mußten. wird<br />
dann bezweifelt, daß wir überhaupt die Möglichkeit<br />
haben, etwas zu bewegen.<br />
Natürlich können wir nicht jedem Petenten weiterhelfen,<br />
das, was er persönlich für Recht hält, zu bekommen.<br />
Aber wer unseren Jahresbericht liest, wird<br />
keine Zweifel haben, daß es auch 1990 wieder eine<br />
Fülle von Fällen gab, in denen wir konkret Einfluß<br />
genommen und auch geholfen haben.<br />
Lassen Sie mich einige wenige Beispiele hier aufzeigen.<br />
So hatte die britische Rheinarmee jahrelang<br />
geplant, auf ihrem Truppenübungsplatz in der Senne<br />
eine Stadtkampfübungsanlage zu bauen. Dies ist in<br />
der Bevölkerung unter dem Stichwort Kampfdorf Augustdorf<br />
bekanntgeworden. Die Petenten, eine regionale<br />
Bürgerinitiative, befürchteten zu Recht, daß von<br />
dieser Anlage eine erhebliche vermehrte Lärmbelastung<br />
ausgehen und der Verkehrswert der Häuser<br />
und Grundstücke weiter abnehmen würde. Drei Jahre<br />
lang zog sich dieses Petitionsverfahren hin, in denen<br />
immer wieder versucht wurde, über das BMF und auf<br />
anderen Wegen auf die Briten einzuwirken. Schließlich<br />
waren diese Bemühungen erfolgreich, und im Juli<br />
1990 verzichtete die britische Rheinarmee auf ihr Projekt.<br />
Eine andere Eingabe forderte die unbefristete Umschreibung<br />
von Führerscheinen von Bürgern aus anderen<br />
EG-Ländern. Bisher mußte dies innerhalb eines<br />
Jahres geschehen. Nach drei Jahren war es sogar erforderlich,<br />
in Deutschland eine neue Führerscheinprüfung<br />
abzulegen. Nachdem der Petitionsausschuß<br />
diese Eingabe der Bundesregierung zur Erwägung<br />
überwiesen hatte, bekam er eine positive Antwort. Es<br />
ist nunmehr möglich, ohne jegliche Fristen den Führerschein<br />
gegen den jeweiligen nationalen einzutauschen.<br />
Auf der anderen Seite dokumentiert der Jahresbericht<br />
aber auch zahlreiche Fälle, in denen der Ausschuß<br />
aus politischen Gründen gewisse Anliegen<br />
nicht unterstützen wollte und nicht unterstützen<br />
konnte. So konnten wir uns beispielsweise die Forderung<br />
nach einem Friedensvertrag gerade angesichts<br />
der politischen Vorgänge im Zusammenhang mit der<br />
Herstellung der deutschen Einheit nicht zu eigen machen.<br />
Meine Damen und Herren, unter den Eingaben sind<br />
in diesem Jahr nur knapp 6 000 Massenpetitionen,<br />
also etwa Postkartenaktionen mit vorgedruckten Texten.<br />
Die Zahl der Massenpetitionen ist damit die niedrigste<br />
seit Jahren, was mir beweist, daß die Bürger und<br />
vor allem die Organisationen erkannt haben, daß sich<br />
der Ausschuß von einer besonders großen Zahl von<br />
Zuschriften nicht beeindrucken läßt, sondern genauso<br />
schnell und gründlich recherchiert wie in jedem anderen<br />
Fall auch. Das heißt, auch jede Einzelpetition wird<br />
sorgfältig bearbeitet.<br />
(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei<br />
Abgeordneten der CDU/CSU)<br />
Mit den meisten Unterschriften, nämlich mit ca.<br />
317 000, wurde ein sofortiges FCKW-Verbot gefordert.<br />
Der Kollege Vorsitzende Dr. Pfennig hat darauf<br />
hingewiesen. Diese Wünsche gingen in die richtige<br />
Richtung, da die Fluorchlorkohlenwasserstoffe als<br />
Zerstörer der Ozonschicht der Erde lebensgefährliche<br />
Folgen für den Menschen und seine Umwelt haben.<br />
Die Bundesregierung hat inzwischen ein FCKW-Verbot<br />
bis 1995 beschlossen, was von uns nachhaltig begrüßt<br />
wird. Bis dahin stehen dann auch die Ersatzstoffe<br />
in gewünschtem Ausmaß zur Verfügung.<br />
Mit gut 17 000 Unterschriften wandten sich Bürger<br />
gegen angeblich mangelnde Sicherheitsvorkehrungen<br />
während des amerikanischen C-Waffenabzugs<br />
aus der Pfalz im letzten Sommer. Da diese Eingaben<br />
sehr kurzfristig eingingen, konnte der Ausschuß keine<br />
Entscheidung in der Sache mehr fällen. Als Verteidigungspolitiker<br />
kann ich hier aber feststellen, daß selten<br />
ein so umfassender und perfekter Sicherheitsaufwand<br />
getrieben wurde und daß zu keinem Zeitpunkt<br />
für die Bürger an der Transportstrecke eine Gefahr<br />
bestanden hat. Hier ist es leider zu Überreaktionen<br />
gekommen. Es besteht bei mir der Verdacht, daß bestimmte<br />
Gruppierungen bewußt oder unbewußt die<br />
Angst der Menschen für ihre politischen Ziele einsetzen<br />
wollten.<br />
Meine Damen und Herren, im Rahmen der deutschdeutschen<br />
Rechtsangleichung gab es bereits 1990 und<br />
vor allem auch in den letzten Monaten zahlreiche Eingaben<br />
zur Neugestaltung des § 218 des Strafgesetzbuches<br />
und damit zur Frage des Schutzes des ungeborenen<br />
Lebens. Die Petenten decken dabei das gesamte<br />
Spektrum des Themas ab: von der Forderung<br />
nach einer drastischen Einschränkung der Möglichkeiten<br />
des Schwangerschaftsabbruchs und entsprechenden<br />
Strafverschärfungen bis hin zur völligen Liberalisierung<br />
der Abtreibung. Der Ausschuß kann in<br />
diesem Fall auf den Einigungsvertrag verweisen, in<br />
dem eine Neuregelung bis 1992 festgelegt worden<br />
ist.<br />
Die FDP-<strong>Bundestag</strong>sfraktion hat im Mai als erste<br />
Fraktion einen Gesetzentwurf eingebracht, der — lassen<br />
Sie mich das dazu sagen — gleichzeitig die beste<br />
der derzeit diskutierten Lösungsmöglichkeiten enthält.<br />
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU)
2642 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Günther Friedrich Nolting<br />
Wir wollen die Fristenlösung mit obligatorischer Beratung,<br />
aber natürlich auch mit umfassender sozialer<br />
Flankierung. Diese Lösung wird am ehesten dazu führen,<br />
daß sowohl die Abtreibungszahlen sinken als<br />
auch die Betroffenen entkriminalisiert werden.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Meine Damen und Herren, eine entsprechende<br />
Rechtsangleichung soll es auch beim § 175 des Strafgesetzbuches<br />
geben. Für die Abschaffung dieses Paragraphen<br />
gab es ca. 4 000 Unterschriften. Da es sich<br />
hier um eine langjährige Forderung der FDP handelt,<br />
findet diese Petition unsere Unterstützung. Eine entsprechende<br />
Gesetzesinitiative der Bundesregierung<br />
ist in Kürze zu erwarten.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuß<br />
genießt hohes Ansehen bei unseren Bürgern im<br />
Lande, die in uns ihre Anwälte sehen. Ich will es einmal<br />
so sagen: Der Petitionsausschuß wird als Kum<br />
merkasten der Nation angesehen. Dies ehrt und ist<br />
gleichzeitig Verpflichtung und Ansporn für die Zukunft.<br />
Auch die in diesem Jahr noch einmal enorm<br />
gestiegene Zahl von Eingaben darf uns nicht nachlässig<br />
werden lassen, jeder Petition mit der erforderlichen<br />
Gründlichkeit nachzugehen.<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich mich beim<br />
Ausschußdienst bedanken, der seine Aufgabe, den<br />
der Petition zugrunde liegenden Sachverhalt zu ermitteln<br />
und uns Politikern einen Entscheidungsvorschlag<br />
zu machen, nach wie vor zu unserer vollsten Zufriedenheit<br />
bewältigt.<br />
(Zustimmung bei der FDP, der CDU/CSU<br />
und der SPD)<br />
Dies ist bei einzelnen Petenten, die beinahe wöchentlich<br />
anrufen, wahrhaftig nicht einfach; davon wissen<br />
wir alle, glaube ich, ein Lied zu singen.<br />
Ich möchte mich aber natürlich auch bei den Kolleginnen<br />
und Kollegen aus der eigenen Fraktion, vor<br />
allem aber auch bei den Kolleginnen und Kollegen<br />
aus den anderen Fraktionen für die allseits kollegiale<br />
Zusammenarbeit bedanken. Ich denke, diese Zusammenarbeit<br />
sollte beispielhaft auf andere Ausschüsse<br />
übertragen werden.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />
SPD sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann<br />
[PDS/Linke Liste] — Zuruf von der - SPD)<br />
— Wir dürfen uns ja vielleicht auch einmal selbst<br />
loben.<br />
Meine Damen und Herren, selbst wenn Sie und wir<br />
gelegentlich über die ständig steigende Zahl von Eingaben<br />
stöhnen: Nehmen wir diese steigende Zahl als<br />
gutes Signal, als Zeichen für die Mündigkeit unserer<br />
Bürger, die sich Verwaltungshandeln nicht widerspruchslos<br />
gefallen lassen und die bei politischen Entscheidungsprozessen<br />
mitdenken und Einfluß nehmen<br />
wollen. Ich denke, dies ist ein Zeichen lebendiger<br />
Demokratie.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD<br />
und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Redner<br />
hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.<br />
Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Sehr<br />
geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!<br />
Ich möchte den Bericht und die Tätigkeit des Petitionsausschusses<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es im<br />
Jahre 1990 nicht bewerten. Das Bündnis 90/DIE GRÜ-<br />
NEN war zu diesem Zeitpunkt noch nicht im <strong>Bundestag</strong><br />
vertreten und kann somit die Ausschußarbeit der<br />
11. Legislaturperiode auch nicht beurteilen. Gestatten<br />
Sie mir aber einige Anmerkungen zu Dingen, die ich<br />
als Mitglied des Petitionsausschusses inzwischen aus<br />
eigener Anschauung kenne, hier zu benennen: Dies<br />
ist zum einen die Tätigkeit des Petitionsausschusses in<br />
der ersten Hälfte dieses Jahres, und dies ist zum Zweiten<br />
— hier bin ich als ostdeutscher Abgeordneter sowohl<br />
Betroffener als auch Verantwortlicher — die Lebenssituation<br />
der Menschen in den östlichen Bundesländern.<br />
Die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen<br />
DDR sind mit großen Hoffnungen und großem Vertrauen<br />
den Weg in die Vereinigung der beiden deutschen<br />
Staaten gegangen. Auch das in Art. 17 des<br />
Grundgesetzes verbriefte Grundrecht, sich mit Bitten<br />
und Beschwerden an seine Volksvertretung wenden<br />
zu können, gehörte und gehört zu unseren Vorstellungen<br />
von Demokratie. Gerade nach unseren Erfahrungen<br />
mit einer Scheindemokratie, in der Bürgerinnen<br />
und Bürger, die sich mit Eingaben an staatliche Stellen<br />
wandten, zu Bittstellern degradiert oder sogar als<br />
Staatsfeinde behandelt wurden, wissen wir den hohen<br />
Wert eines solchen Rechtes zu schätzen.<br />
Wie groß die Hoffnungen der Bürgerinnen und Bürger<br />
aus den ostdeutschen Bundesländern auch in bezug<br />
auf das Petitionsrecht sind, zeigt nicht zuletzt die<br />
stetig ansteigende Flut ihrer Eingaben an den Petitionsausschuß.<br />
Dreimal so häufig wie die Bürger im<br />
Westen wenden sich die Menschen aus der ehemaligen<br />
DDR an ihre frei gewählten Volksvertreter mit der<br />
Bitte um Hilfe.<br />
Es ist für den Petitionsausschuß und damit für den<br />
Deutschen <strong>Bundestag</strong> insgesamt eine große Verpflichtung,<br />
dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich<br />
fürchte — das muß ich nach meinen ersten Erfahrungen<br />
mit der Arbeit des Petitionsausschusses leider sagen<br />
— , daß es uns mit den zur Zeit zur Verfügung<br />
stehenden Kapazitäten und Instrumentarien nicht gelingen<br />
kann. Seit Januar beträgt der Posteingang im<br />
Ausschußsekretariat im Tagesdurchschnitt 180 Eingaben.<br />
Das ist eine Zahl, mit der das fleißige und sehr<br />
kompetente Ausschußsekretariat mehr als überfordert<br />
ist.<br />
(V o r sitz : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth)<br />
Eine erhebliche Erhöhung der Anzahl der Arbeitskräfte<br />
in diesem Bereich ist also das mindeste, was wir<br />
zu fordern haben.<br />
Aber auch die Abgeordneten sind mit der Menge<br />
der Eingaben heillos überlastet. Die Zeit, in der wir<br />
uns im Ausschuß jeder einzelnen Petition widmen
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2643<br />
Konrad Weiß (Berlin)<br />
können, wird immer geringer. So habe ich eine <strong>Sitzung</strong><br />
des Petitionsausschusses erlebt, in welcher in<br />
neunzig Minuten einschließlich zweier Anhörungen<br />
und der Beratung über 83 Eingaben, bei denen die<br />
Anträge der Berichterstatter hinsichtlich der Art der<br />
Erledigung übereinstimmten, insgesamt 123 Petitionen<br />
dank der akrobatischen Fähigkeiten unseres Vorsitzenden<br />
behandelt wurden.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und<br />
der SPD)<br />
Von einer intensiven und sachgerechten Prüfung der<br />
Anliegen kann man trotz allen gerechten Bemühens,<br />
das ich allen Beteiligten bescheinige, unter diesen<br />
Umständen nicht mit reinem Gewissen sprechen.<br />
Zweifellos sollten sich mehr Abgeordnete des Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>es, nicht nur jene, die im Petitionsausschuß<br />
ihren Sitz haben, mit den Eingaben der Bürgerinnen<br />
und Bürger befassen und sich verantwortlich<br />
wissen. Vielleicht wäre es sinnvoll, ein Arbeitssekretariat<br />
schon heute in Berlin einzurichten, um so<br />
unmittelbarer auf Petitionen der ostdeutschen Bürgerinnen<br />
und Bürger reagieren zu können und sie unverzüglich<br />
zu beraten.<br />
Jeder von Ihnen, der mit den Eingaben aus Ostdeutschland<br />
befaßt ist, wird mir bestätigen können,<br />
daß in diesen Petitionen zumeist dramatisch verschlechterte<br />
Lebenssituationen und Lebensperspektiven,<br />
häufig individuell nicht lösbare Notsituationen<br />
oder unhaltbare Rechtszustände geschildert werden.<br />
Häufig sind es Menschen, die sich erneut gedemütigt,<br />
deklassiert und unverstanden fühlen. Die Petitionen<br />
belegen an einer Vielzahl von Einzelfällen anschaulich<br />
die ungeheuren Lücken und Mängel des Einigungsvertrages.<br />
Die Berichte über Arbeitslosigkeit,<br />
Lehrstellenmangel, niedrige Löhne und Gehälter,<br />
mangelhafte gesundheitliche Versorgung, den für<br />
viele, insbesondere Alte und Kranke, nicht zu verkraftenden<br />
Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie Probleme<br />
bei der Privatisierung und Fragen des Eigentums<br />
zeigen, wie weit wir tatsächlich von einer sozialen<br />
Einheit in Deutschland entfernt sind.<br />
Angesichts der Zurückhaltung der Bundesregierung,<br />
die Probleme der in ihrer Lebenssituation oftmals<br />
tiefgreifend verunsicherten Bürgerinnen und<br />
Bürger wirklich zur Kenntnis zu nehmen, wäre es eigentlich<br />
angebracht, alle Petitionen aus den ostdeutschen<br />
Ländern mit dem hohen Votum, über das der<br />
Deutsche <strong>Bundestag</strong> verfügt, der Bundesregierung<br />
zur Berücksichtigung zu überweisen, weil Abhilfe<br />
notwendig erscheint.<br />
-<br />
Klar ist: Der Petitionsausschuß allein kann nicht die<br />
Wunden heilen, die die weitgehende Übertragung<br />
des bundesdeutschen Rechtssystems auf die ehemalige<br />
DDR in vielen Bereichen schlägt. Genau dort<br />
aber, wo schnelle, unbürokratische und unkonventionelle<br />
Hilfe gefragt wäre, stößt der Petitionsausschuß<br />
an eine weitere Grenze. Nach Recht und Gesetz<br />
kann in akuten Notlagen oftmals nicht geholfen werden.<br />
Die Rechtslage ist infolge der unreflektierten<br />
Übernahme des westdeutschen Rechtssystems auf<br />
ostdeutsche Verhältnisse nun einmal so. Aber darf das<br />
das letzte Wort des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es sein? Es<br />
ist doch eindeutig, daß es in diesen Fällen nicht mit<br />
einer Darstellung der Rechtslage oder der Vertröstung<br />
auf langwierige Gesetzesinitiativen der Fraktionen<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es getan ist.<br />
Ich möchte Sie deshalb, sehr geehrte Kolleginnen<br />
und Kollegen, darum bitten, mehr Mut zu unkonventionellen<br />
Entscheidungen im Einzelfall zu haben und<br />
häufiger auch dort zugunsten der Petenten zu entscheiden,<br />
wo das Anliegen mit der Rechtslage nicht in<br />
Übereinstimmung zu stehen scheint. Der gesunde<br />
Menschenverstand und Ihr Gerechtigkeitssinn sind<br />
oft eine bessere Richtschnur als gedrucktes Gesetzeswerk.<br />
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der<br />
SPD)<br />
Gesetze kann man ändern. Wenn ein Gesetz absolut<br />
keine Ausnahme im Einzelfall zuläßt, müssen die Gesetze<br />
vom Deutschen <strong>Bundestag</strong> in Zukunft vermehrt<br />
mit Härtefallregelungen ausgestattet werden,<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
die es dem Petitionsausschuß ermöglichen, angemessen<br />
zu reagieren.<br />
Zu erwägen ist im Sinne einer demokratischen, unmittelbaren<br />
Einmischung der Bürgerinnen und Bürger<br />
in ihre Angelegenheiten, für die wir in der friedlichen<br />
Revolution eingetreten sind, eine Stärkung der<br />
sogenannten Massenpetitionen. Ich habe viel Sympathie<br />
für den Vorschlag, daß Petitionen, die von mehr<br />
als hunderttausend Menschen unterstützt werden, im<br />
Plenum des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es behandelt werden<br />
müssen und daß Vertreterinnen und Vertreter der<br />
Petitionsgemeinschaft vom Ausschuß angehört werden<br />
sollen. In diesem Sinne liegt dem Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />
übrigens eine Petition zur Stärkung des Petitionsrechts<br />
vor, mit der wir uns im Ausschuß zu bef assen<br />
haben.<br />
Weiterhin möchte ich die Bundesregierung auffordern,<br />
die Petitionen, die ihr vom <strong>Bundestag</strong> zugeleitet<br />
werden, ernster als bisher zu nehmen. Dem Bericht<br />
des Petitionsausschusses entnehme ich, daß dies offenbar<br />
nicht selbstverständlich ist. Ich unterstütze<br />
nachdrücklich den Hinweis des Petitionsausschusses,<br />
daß die Bundesregierung politisch verpflichtet ist, alles<br />
ihr Mögliche zu tun, um den Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es<br />
gerecht zu werden.<br />
Zum Schluß möchte ich die Gelegenheit nutzen, um<br />
die Innenminister der Länder und den Herrn Bundesinnenminister<br />
nachdrücklich darum zu bitten, jene<br />
Bestimmung des Ausländergesetzes rückgängig zu<br />
machen, nach der es möglich ist, trotz laufender Petitionsverfahren<br />
die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber<br />
durchzuführen.<br />
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag<br />
mar Enkelmann [PDS/Linke Liste])<br />
Ohne die Entscheidung eines Landesparlaments oder<br />
des <strong>Bundestag</strong>es abzuwarten, werden hier von der<br />
Exekutive Tatsachen geschaffen, die für die Betroffenen<br />
eine unmittelbare Härte oder einen unakzeptablen<br />
sozialen Abstieg bedeuten können. Ich sehe<br />
hierin eine Verletzung des Art. 17 des Grundgesetzes<br />
und eine Mißachtung der frei gewählten Abgeordneten<br />
durch die Exekutive, die wir nicht hinnehmen<br />
können.
2644 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Konrad Weiß (Berlin)<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der<br />
SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU<br />
und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/<br />
Linke Liste])<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />
Abgeordnete Martin Göttsching das Wort.<br />
Martin Göttsching (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />
Meine Damen und Herren! Genau heute vor einem<br />
Jahr, zeitlich etwas günstiger, wandte ich mich an die<br />
Bürgerinnen und Bürger der Noch-DDR, um ihnen als<br />
Vorsitzender des Petitionsausschusses der Volkskammer<br />
über die Tätigkeit dieses Ausschusses seit den<br />
ersten demokratischen Wahlen zu berichten. Heute<br />
nun, wie gesagt, nach einem Jahr, wende ich mich für<br />
meine Fraktion nicht nur an die ehemaligen Bürger<br />
der DDR, sondern an alle Bürgerinnen und Bürger im<br />
vereinten Deutschland. Ich möchte etwas zu ebenjenem<br />
zur Zeit diskutierten Bericht des Petitionsausschusses<br />
sagen.<br />
Dieser Bericht verdeutlicht nicht nur ein weiteres<br />
Mal die umfangreiche Arbeit des Petitionsbüros und<br />
der Ausschußmitglieder — meine Vorredner haben<br />
darauf intensiv hingewiesen — , sondern in Schwerpunkten<br />
wird auch auf die vielen Sorgen und Nöte der<br />
Bundesbürger eingegangen, die sich eben an diesen<br />
Petitionsausschuß im <strong>Bundestag</strong> richten.<br />
Wenn man den Bericht des Ausschusses liest, so hat<br />
man den Eindruck — ich habe diesen Eindruck —, daß<br />
er ein Spiegelbild all derjenigen ungelösten politischen<br />
und sozialen Probleme ist, die uns gerade aktuell<br />
betreffen und die im vergangenen Jahr, als es zu<br />
jener politischen Veränderung in Deutschland kam,<br />
mit Nachdruck im Petitionswesen zu Buche schlugen<br />
— haben sich doch die Eingaben im vergangenen<br />
Jahr um eine stattliche Zahl erhöht. Wenn von rund<br />
16 500 Eingaben im vergangenen Jahr die Rede ist, so<br />
möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß während meiner<br />
Volkskammerzeit 12 980 Posteingänge beim Petitionsausschuß<br />
zu verzeichnen gewesen sind — für die<br />
kurze Zeit der frei gewählten Volkskammer.<br />
Gerade im Hinblick auf die Bürgerinnen und Bürger<br />
in den neuen Bundesländern sollte die heutige Debatte<br />
gleichzeitig auch dazu dienen, den Inhalt des<br />
Petitionsrechtes und die Zuständigkeiten des Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>es darzustellen. Es ist nämlich für die<br />
Bürger der neuen Länder nicht unbedingt einsichtig,<br />
daß es ein Grundrecht, nach Art. 17 des Grundgesetzes<br />
ein verbrieftes Recht ist, daß sich jedermann einzeln<br />
oder in Gemeinschaft mit anderen -mit Bitten und<br />
Beschwerden auch an den Petitionsausschuß wenden<br />
kann, aber natürlich auch an die anderen Institutionen.<br />
Es sind Forderungen nach einem bestimmten<br />
Verwaltungshandeln oder Vorschläge zur Gesetzgebung,<br />
es sind Beanstandungen von Entscheidungen<br />
staatlicher Stellen, die ein Recht benennen, das es,<br />
jedenfalls in dieser Form, in der ehemaligen DDR<br />
nicht gab. Es gab zwar das Eingabengesetz seit 1975;<br />
dieses Eingabenrecht war jedoch nicht im entferntesten<br />
mit dem Recht nach Art. 17 des Grundgesetzes<br />
vergleichbar. Jeder weiß: Erwünscht waren gesellschaftlich<br />
nützliche und politisch genehme Eingaben.<br />
Ein positives Ergebnis für den Bürger war nur zu er<br />
warten, wenn die Aufdeckung von Mißständen im<br />
ideologischen Interesse der Staatsgewalt der SED lag.<br />
—So habe ich es vor einem Jahr in der Volkskammer<br />
gesagt.<br />
(Zuruf von der SPD: Herr Göttsching, es gab<br />
auch noch andere als die SED! — Horst Peter<br />
[Kassel] [SPD]: Streichen wir das!)<br />
— Streichen wir es.<br />
Zahlreiche Bürger der ehemaligen DDR hatten sich<br />
bereits vor dem Beitritt unmittelbar an den Petitionsausschuß<br />
des <strong>Bundestag</strong>es gewandt. Nach dem Beitritt<br />
gab es natürlich selbstverständlich einen weiteren<br />
Anstieg dieser Zahlen. Dies war ein Zeichen für die<br />
besondere Betroffenheit meiner Mitmenschen in den<br />
neuen Bundesländern durch die staatlichen Maßnahmen<br />
aus alten SED-Zeiten, aber auch durch Rechtsunsicherheiten,<br />
die aus den beiden großen Verträgen<br />
zwischen den Ländern des vergangenen Jahres in<br />
Deutschland herrührten. Sie waren aber auch ein Zeichen<br />
für die großen Erwartungen, die Möglichkeiten<br />
wahrzunehmen, ihrem Parlament ihre Sorgen und<br />
Nöte darzulegen.<br />
Einige Stichworte möchte ich nennen, um das gesamte<br />
Spektrum der Petitionen aus den neuen Bundesländern<br />
zu verdeutlichen. Ich wiederhole mich<br />
nicht und beziehe mich auf das, was zumindest der<br />
Vorsitzende Pfennig hier gesagt hat. Ich möchte auf<br />
eines hinweisen und es ergänzen, wenn es zum<br />
Thema „Vergangenheitsbewältigung" auch unter<br />
dem Stichwort „Lastenausgleich" etwas zu sagen gilt.<br />
Dieser Lastenausgleich betrifft etwa 1,5 Millionen<br />
Menschen in den neuen Bundesländern. Über<br />
600 Einzelpetitionen liegen vor. Der Ausschuß ist der<br />
Auffassung, daß die Petitionen für eine parlamentarische<br />
Initiative geeignet sind. Er hat daher die Eingaben<br />
den Fraktionen zur Kenntnis zugeleitet und erwartet<br />
hierzu entsprechende Initiativen.<br />
Es gibt andere persönliche Probleme, mit denen<br />
man sich an den Petitionsausschuß gewandt hat, die<br />
aber schon von meinen Vorrednern erwähnt worden<br />
sind. Wenn ich noch einmal darauf Bezug nehme,<br />
dann nicht, um den Be richt quasi zu ergänzen, sondern<br />
weil ich sehe, daß aus all dem ein Problem für die<br />
Arbeit des Petitionsausschusses entstehen könnte,<br />
denn dieser Ausschuß ist kein unpolitischer Ausschuß.<br />
Seine Mitglieder sind natürlich in die Willensbildung<br />
der Fraktionen eingebunden. Gerade im Petitionsausschuß<br />
weiß ich es zu schätzen, daß wir immer wieder<br />
bestrebt sind, einen Konsens zwischen den Fraktionen<br />
zu finden, wobei manchmal auch die Mehrheit<br />
der Regierungskoalition entscheidet.<br />
Sehe ich mir die Statistik an, so stelle ich fest, daß<br />
eine ganze Reihe von Petitionen zur Berücksichtigung<br />
überwiesen worden sind. Meine Damen und<br />
Herren, Sie wissen, der Berücksichtigungsbeschluß ist<br />
das stärkste Votum des Parlaments. Dies muß die Bundesregierung<br />
konsequenter umsetzen. Der Petitionsausschuß<br />
hat das Verhalten der Bundesregierung<br />
manchmal kritisiert, und zwar auch in den früheren<br />
Jahren. Jetzt hätte ich erwartet, daß der Kollege Peter<br />
intensiver zuhört. Im 9. Bericht wurde es kritisiert:
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2645<br />
Martin Göttsching<br />
zuwenig zur Berücksichtigung, zuwenig an Konsequenzen<br />
seitens der Bundesregierung.<br />
(Bernd Reuter [SPD]: Sie spuren einfach<br />
nicht!)<br />
— Herr Reuter, erst warten, was ich sage!<br />
Der Ausschuß verkennt nicht, daß die Bundesregierung<br />
Berücksichtigungsbeschlüssen überwiegend gefolgt<br />
ist. Dieser Be richt ist es bei allem Für und Wider<br />
und auch bei den „Verbalitern" aus der SPD wert, die<br />
besondere Achtung auch all der Kollegen, die nicht<br />
hier sind, auf jeden Fall aber die Wertschätzung der<br />
Öffentlichkeit zu finden.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die<br />
Abgeordnete Lisa Seuster das Wort.<br />
Lisa Seuster (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,<br />
liebe Kollegen! Als ich den Petitionsbericht<br />
bearbeitet habe, ist mir aufgefallen, daß wir sehr fleißig<br />
waren. Wenn ich daran denke, daß unabhängig<br />
von dem Berichtszeitraum ja auch noch der Zeitraum,<br />
in dem der <strong>Bundestag</strong> nicht getagt hat, weil eine<br />
Pause für den Wahlkampf angesetzt war, zu berücksichtigen<br />
ist, dann ist schon eine Menge passiert. Die<br />
Zahl der Eingaben hat sich in dem Berichtszeitraum,<br />
nicht zuletzt bedingt durch den Beitritt der neuen Länder,<br />
erheblich gesteigert. Die Mitglieder des Ausschußbüros<br />
hatten wesentlich mehr zu tun, um erst<br />
einmal die Spreu vom Weizen zu trennen.<br />
Etwa die Hälfte der eingegangenen Petitionen<br />
konnten im Vorfeld durch Auskünfte, durch Überweisung<br />
an die zuständigen Stellen, durch Übersendung<br />
von Informationsmaterial usw. erledigt werden, ohne<br />
daß überhaupt Berichterstatter eingesetzt werden<br />
mußten. Ich denke, daß diese Vorarbeit, die dort geleistet<br />
wird, Vor- und Nachteile hat. Manche Petitionen<br />
hätten wir sicher gern im Ausschuß behandelt. Nur ist<br />
das bei der Fülle von Petitionen nicht möglich. Deshalb<br />
sind wir dankbar, wenn im Vorfeld zumindest<br />
einige Petenten insofern zufriedengestellt werden<br />
konnten, als diese Tätigkeit durch das Ausschußbüro<br />
erfolgt.<br />
Aber auch die Mitglieder des Petitionsausschusses<br />
mußten Mehrarbeit hinnehmen und mehr Zeit aufwenden.<br />
Zur Mehrarbeit führten jedoch nicht nur die<br />
Petitionen aus den neuen Ländern; insgesamt sind es<br />
einfach mehr Petitionen geworden. Wer seine Arbeit<br />
ernst nimmt und eventuell auch mehrere Stunden in<br />
der Woche mit der Bearbeitung von Petitionen zubringt,<br />
der wird sich darüber nicht beklagen. Nur: Wir<br />
erwarten, daß die Ergebnisse dieser Beratungen<br />
-<br />
von<br />
der Bundesregierung dann auch ernstgenommen<br />
werden. Auch in diesem Be richt wird wie in dem vorigen<br />
Bericht — meine Vorredner sind schon darauf<br />
eingegangen — deutlich, daß es bei Berücksichtigungsüberweisungen<br />
oder bei Erwägungsüberweisungen<br />
oft dazu gekommen ist, daß die Bundesregierung<br />
den Vorschlägen nicht gefolgt ist. Mein Kollege<br />
Reuter wird das noch näher erläutern.<br />
(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Dann muß<br />
der viel sagen!)<br />
Nur soviel: Es reicht uns nicht, wenn wir hier, wie<br />
auch heute, gemeinsam unsere Arbeit loben. Wir wol<br />
len im Interesse der Petenten ernstgenommen werden.<br />
Der Petitionsausschuß hat es nicht verdient, als<br />
Spielwiese für einige gutmütige Trottel abgewertet zu<br />
werden, deren Arbeit nur eine Alibifunktion in der<br />
Öffentlichkeit hat.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Das Gegenteil sollte der Fall sein. Die Bundesregierung<br />
täte gut daran, die Petitionen der Bürgerinnen<br />
und Bürger sorgfältig zu beobachten; denn sie sind<br />
ein Seismograph für die Stimmung im Land. Petitionen<br />
zeigen genau, wo die Schwachstellen in Gesetzeswerken<br />
stecken. Außerdem kann man an ihnen<br />
ablesen, wie die Stimmung im Lande ist. Der Ton der<br />
Petitionen der letzten Jahre ist durchweg ungeduldiger<br />
und auch fordernder als in früheren Zeiten. Das<br />
empfinde jedenfalls ich so. Das sind Zeichen, die die<br />
Bundesregierung nicht leichtfertig übersehen sollte.<br />
(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Jawohl!)<br />
Dies zeigt sich z. B. bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten.<br />
Viele Petenten wandten sich<br />
dagegen, daß sich die Kindererziehungszeiten deswegen<br />
nicht in der erhofften Höhe rentensteigernd auswirkten,<br />
weil sie mit anderen rentenrechtlich anerkannten<br />
Arbeitszeiten zusammentrafen und deshalb<br />
nicht oder nur in einem geringfügigen Umfang berücksichtigt<br />
wurden.<br />
Wir erinnern uns an die laute Ankündigung des<br />
Bundesarbeitsministers: Jede Mutter hat Anspruch<br />
auf die Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der<br />
Rente. Dies hat die Bevölkerung vernommen, und entsprechend<br />
war auch die Erwartungshaltung. Deshalb<br />
ist es nicht verwunderlich, wenn sich insbesondere<br />
viele Petentinnen an den Petitionsausschuß wenden,<br />
um Abhilfe zu suchen, weil sie der Meinung sind, daß<br />
sie ungerecht behandelt werden.<br />
(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Man kann der<br />
Bundesregierung nicht alles glauben!)<br />
Bei dem anstehenden Renten-Überleitungsgesetz<br />
für die neuen Bundesländer müssen deshalb die erworbenen<br />
Kindererziehungszeiten von vornherein<br />
berücksichtigt werden. Sonst wird es auch dort eine<br />
Flut von Petitionen geben, da sich die Frauen ungerecht<br />
behandelt fühlen, und zwar, wie ich meine, zu<br />
Recht. Hier können wir vorbeugen, um uns nachher<br />
viel Arbeit zu ersparen.<br />
Viele Eingaben betrafen den Familienlastenausgleich.<br />
Dazu gab es auf Grund des Beschlusses des<br />
Bundesverfassungsgerichts auch eine Massenpetition<br />
mit 324 Unterschriften. Der Petitionsausschuß hat der<br />
Bundesregierung zu verstehen gegeben, daß eine Erhöhung<br />
des seit 1975 in unverminderter Höhe geltenden<br />
Erstkindergelds familien- und sozialpolitisch<br />
wünschenswert wäre. Der Petitionsausschuß unterstützt<br />
auch grundsätzliche Überlegungen, den Familienlastenausgleich<br />
einfacher und übersichtlicher zu<br />
gestalten.<br />
Das ist sicher nur ein Minimalkonsens, liebe Kolleginnen<br />
und Kollegen. Ich habe gehört, daß sich in dieser<br />
Richtung etwas bewegt. Uns als Fraktion ist das<br />
selbstverständlich zuwenig. Wir sind der Meinung:
2646 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Lisa Seuster<br />
Man sollte hier dem Bundesverfassungsgericht folgen.<br />
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />
Neu waren im Berichtszeitraum die Petitionen, die<br />
im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden<br />
deutschen Staaten standen. Die meisten Petitionen<br />
— jedenfalls bei denen, die ich bearbeitet habe —<br />
drehten sich um Immobilienbesitz, um Grundstücke<br />
u. ä. Welche Emotionen sich in solchen Fällen entwikkeln,<br />
möchte ich an Hand einer Petition deutlich machen.<br />
Der Petent spricht sich gegen die Anerkennung<br />
der Oder-Neisse-Grenze aus. Falls diese Grenze jedoch<br />
rechtsverbindlich anerkannt werden sollte, fordert<br />
er, in Zahlen ausgedrückt, 1 000 000 DM und fügt<br />
in Klammern hinzu „in Buchstaben: eine Million".<br />
Das fordert er als Entschädigung für seinen Bauernhof.<br />
Es fehlt eigentlich nur noch, daß er bittet, diesen<br />
Betrag innerhalb von vier Wochen auf sein Konto zu<br />
überweisen.<br />
Wir haben diese Petition — wie viele andere<br />
auch — an den Finanzminister überwiesen und den<br />
Fraktionen zur Kenntnis gegeben. Hier gerechte Lösungen<br />
zu finden wird für den Gesetzgeber nicht einfach<br />
sein und wird uns, den Mitgliedern des Petitionsausschusses,<br />
bei der Beurteilung der Einzelfälle noch<br />
viel Kopfzerbrechen bereiten.<br />
Das gleiche gilt für die Rentenanpassung in den<br />
neuen Ländern. Auch hier wird es mit Sicherheit im<br />
Einzelfall noch viele Beschwerden und Bitten geben,<br />
die uns erreichen werden. Herr Kollege Weiß vom<br />
Bündnis 90 sagte dazu vorhin: Wir sollten es gleich<br />
ändern. So einfach stelle ich mir das nicht vor. Aber<br />
ich wäre froh, wenn wir ab und zu wenigstens die<br />
Klausel „im Härtefall" hätten. Dann wäre uns in vielen<br />
Fällen schon geholfen.<br />
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />
Auch Umweltfragen nahmen einen breiten Raum in<br />
unseren Beratungen ein. Die Schwerpunkte der Eingaben<br />
lagen in den Bereichen Luftverunreinigung,<br />
Abfallbeseitigung, Kernenergie und Artenschutz. In<br />
mehreren Eingaben — u. a. einer Sammelpetition —<br />
wurde ein sofortiges Verbot der Herstellung und des<br />
Verbrauchs von FCKW gefordert. Hier gab es unterschiedliche<br />
Voten von Koalition und Opposition. Die<br />
Petition wurde daraufhin zur weiteren Bearbeitung<br />
— das war ein einstimmiges Votum — an die Enquete-Kommission<br />
„Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre"<br />
überwiesen.<br />
Beanstandet wurde auch der Einsatz von Herbiziden<br />
auf Gleisanlagen der Deutschen Bundesbahn.<br />
Nach zähen Verhandlungen, Anhörungen, nochmaligen<br />
Stellungnahmen usw. konnte sich der Petitionsausschuß<br />
gegenüber der Bahn durchsetzen. Die Petition<br />
wurde der Bundesregierung zur Berücksichtigung<br />
überwiesen. Die tatsächliche Umsetzung werden<br />
wir jedoch aufmerksam verfolgen müssen. Diesen<br />
Fall hat insbesondere unser ausgeschiedener Kollege<br />
Dr. Emmerlich bearbeitet.<br />
Auch im letzten Jahr konnte der Ausschuß erfreulicherweise<br />
zahlreichen Petenten im Einzelfall helfen.<br />
Zum Beispiel erhofften sich zahlreiche Versicherungsnehmer<br />
und Bankkunden durch eine Petition die Klärung<br />
ihrer Auseinandersetzungen mit Versicherungsunternehmen<br />
und Kreditinstituten. Ich habe viele<br />
Fälle bearbeitet, bei denen die Unerfahrenheit oder<br />
auch die Gutgläubigkeit von Bankkunden böswillig<br />
ausgenutzt wurden. Leider hat der <strong>Bundestag</strong> in diesen<br />
Fällen keine Möglichkeit der direkten Einwirkung.<br />
Auf dem Kulanzweg ist es uns aber in manchen<br />
Fällen gelungen, zu einem Vergleich zu gelangen.<br />
All diese Fälle zeigen jedoch deutlich: Hier besteht<br />
eine Gesetzeslücke. Auch Privatleuten müßte die<br />
Möglichkeit eines persönlichen Konkurses eröffnet<br />
werden. Ich glaube, dann wäre die Überschuldung<br />
gar nicht so groß geworden.<br />
Erreichen konnte der Petitionsausschuß auch, daß<br />
die Krankenkasse die Kosten eines Kuraufenthaltes<br />
am Toten Meer übernommen hat. Das war nach dem<br />
Gesundheits-Reformgesetz an und für sich ausgeschlossen.<br />
Auch im Rentenbereich gelang es dem Petitionsausschuß<br />
in Einzelfällen, die Bearbeitungszeiten zu verkürzen<br />
und eine Nachzahlung zu erreichen. In einem<br />
anderen Fall konnte die Nachentrichtung von Beiträgen<br />
ein Anrecht auf eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente<br />
bewirken.<br />
Auch bei der Bewilligung von Umschulungsmaßnahmen<br />
und bei Höhergruppierungen in der Bundesverwaltung<br />
war der Petitionsausschuß erfolgreich.<br />
Erfreulicherweise ließe sich diese Liste noch erheblich<br />
verlängern. Das war nur dank der guten Zusammenarbeit<br />
innerhalb des Ausschusses möglich. Wenn<br />
wir diese gute Zusammenarbeit und den festen Willen<br />
behalten, für den Petenten im Einzelfall etwas zu erreichen,<br />
dann hat sich unsere Arbeit gelohnt.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die<br />
Abgeordnete Frau Birgit Homburger das Wort.<br />
Birgit Homburger (FDP) : Frau Präsidentin! Liebe<br />
Kolleginnen und Kollegen! Der Be richt des Petitionsausschusses<br />
aus dem Jahre 1990 beweist einmal<br />
mehr, wie wichtig und wie richtig es von den Müttern<br />
und Vätern des Grundgesetzes gewesen ist, das Petitionsrecht<br />
der Bürgerinnen und Bürger in Art. 17 des<br />
Grundgesetzes zu verankern. Damit ist der Petitionsausschuß<br />
neben dem Auswärtigen Ausschuß und dem<br />
Verteidigungsausschuß einer von drei Ausschüssen,<br />
die im Grundgesetz Erwähnung finden. Im Gegensatz<br />
zu den anderen Ausschüssen müssen diese drei Ausschüsse<br />
vom Deutschen <strong>Bundestag</strong> also immer eingesetzt<br />
werden.<br />
Dies hebt noch einmal die Bedeutung hervor, die<br />
die Verfasser des Grundgesetzes dem Petitionsrecht<br />
beimaßen. Ich denke, wir tun gut daran, dem Petitionsausschuß<br />
diese hohe Wertschätzung auch heute<br />
noch — oder aber gerade heute — entgegenzubringen.<br />
Denn nach Vollendung der deutschen Einheit<br />
finden wir uns in einer Situation wieder, in der vieles<br />
noch im Umbruch ist, in der vieles, gerade in den<br />
neuen Bundesländern, verwaltungsmäßig noch im<br />
Aufbau ist. Das heißt: Wir finden uns in einer Situation
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2647<br />
Birgit Homburger<br />
wieder, in der vieles unvollkommener ist als sonst und<br />
damit Anlaß zu Eingaben an den Petitionsausschuß<br />
gibt.<br />
Der Petitionsausschuß ist nicht etwa ein Überausschuß,<br />
wie das hier heute schon gesagt wurde, aber er<br />
ist — im Gegensatz zu den anderen Ausschüssen des<br />
Deutschen <strong>Bundestag</strong>es — fachübergreifend tätig.<br />
Schließlich kommen Petitionen aus der Bevölkerung<br />
aus allen Sachbereichen, und damit hat sich der <strong>Bundestag</strong><br />
zu befassen.<br />
Die große Anzahl von Auskunftsersuchen, bloßen<br />
Mitteilungen und Meinungsäußerungen ohne materielles<br />
Verlangen, die an den Petitionsausschuß gerichtet<br />
sind, gibt Veranlassung, aus unserer Sicht auch<br />
an dieser Stelle erneut zu verdeutlichen, mit welchen<br />
Anliegen man sich an den Petitionsausschuß wenden<br />
kann:<br />
Art. 17 des Grundgesetzes legt fest, daß jeder das<br />
Recht hat, „sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen<br />
schriftlich mit Bitten oder Beschwerden" an den<br />
<strong>Bundestag</strong> zu wenden. Bitten sind dabei Forderungen<br />
und Vorschläge für ein Handeln oder Unterlassen der<br />
Verwaltung, insbesondere aber auch Vorschläge zur<br />
Gesetzgebung. Beschwerden dagegen sind Beanstandungen,<br />
die sich auf ein Handeln oder Unterlassen<br />
von staatlichen Organen, Behörden oder sonstigen<br />
Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen,<br />
richten. Der Petitionsausschuß kann also nur<br />
im Falle von Bitten und Beschwerden tätig werden.<br />
Ein Problem des Petitionsausschusses besteht nach<br />
wie vor darin, daß Ersuche des <strong>Bundestag</strong>es in Form<br />
von Berücksichtungsbeschlüssen die Bundesregie<br />
rung rechtlich nicht verpflichten können, dem Ersuchen<br />
zu entsprechen. So ist auch dem Be richt 1990 zu<br />
entnehmen, daß einigen Berücksichtigungs- und Erwägungsüberweisungen<br />
an die Bundesregierung im<br />
Berichtsjahr 1990 wieder nicht entsprochen wurde.<br />
Insgesamt gesehen kann aber festgehalten werden,<br />
daß die Bundesregierung den Beschlüssen und Bitten<br />
des <strong>Bundestag</strong>es in der überwiegenden Zahl der Fälle<br />
nachgekommen ist. So wurden im Berichtsjahr 1990<br />
vom <strong>Bundestag</strong> 90 Petitionen zur Berücksichtigung<br />
und 85 zur Erwägung überwiesen. Hiervon wurden<br />
während des Berichtszeitraums 28 Berücksichtigungs-<br />
und 5 Erwägungsfälle positiv erledigt. In 5 Berücksichtigungs-<br />
und 17 Erwägungsfällen wurde dem<br />
Anliegen nicht entsprochen. In den weiteren Fällen ist<br />
noch nicht abschließend entschieden.<br />
Dies zeigt nach Meinung der FDP, daß die - Bundesregierung<br />
durchaus Respekt vor der Arbeit des Petitionsausschusses<br />
hat. Es zeigt aber auch, daß es nach<br />
wie vor verbesserungswürdig ist, in welcher Weise die<br />
Bundesregierung den Bitten und Ersuchen des Petitionsausschusses<br />
bzw. den daraus folgenden Beschlüssen<br />
des <strong>Bundestag</strong>es nachkommt.<br />
Dies ist von besonderer Bedeutung, da es sicherlich<br />
Eingaben an den Petitionsausschuß gibt, die nicht von<br />
großem öffentlichen Interesse sind. Gleichwohl sind<br />
sie für den Petenten von herausragender Bedeutung,<br />
und jede Bürgerin und jeder Bürger haben den Anspruch<br />
und das Recht, mit ihren persönlichen Nöten<br />
und Sorgen vom Petitionsausschuß ernst genommen<br />
zu werden.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD<br />
und der PDS/Linke Liste)<br />
Wir sollten auch weiter, wie es bisher der Fall ist,<br />
deutlich machen, daß die Anliegen der Petenten unsere<br />
Anliegen sind. Indem wir das tun, ermuntern wir<br />
die Menschen, mit ihren Sorgen und Nöten zum Petitionsausschuß<br />
zu kommen. Dies ist nicht nur für den<br />
einzelnen in unserer Gesellschaft, sondern auch für<br />
unser Parlament von besonderer Bedeutung; denn die<br />
Eingaben der Bürgerinnen und Bürger sind ein Spiegel<br />
der Meinungen und Sorgen der Bevölkerung und<br />
können daher dem Parlament als Stimmungsbarometer<br />
dienen.<br />
Einige Beispiele aus der Arbeit des Petitionsausschusses<br />
aus dem Jahr 1990 möchte ich erwähnen,<br />
zunächst einen Fall, bei dem es um die Förderung von<br />
Ersatzmethoden für Tierversuche ging.<br />
Nach Auffassung der FDP gilt: Tiere sind Mitgeschöpfe<br />
des Menschen und schmerzempfindliche Lebewesen.<br />
(Bernd Reuter [SPD]: Sehr wahr!)<br />
Um dieser Tatsache gerecht zu werden, ist in den vergangenen<br />
Jahren schon eine Menge passiert: So<br />
wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch die formale<br />
Gleichstellung von Tieren mit Sachen beseitigt und<br />
die Verantwortung des Eigentümers für sein Tier hervorgehoben.<br />
Darüber hinaus wurde das Tierschutzgesetz<br />
im Jahr 1986 novelliert. Dennoch ist damit die<br />
Problematik von Tierversuchen nicht erledigt. Vielmehr<br />
bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, um Tierversuche<br />
weiter einzuschränken.<br />
Die FDP will, daß nur medizinisch unvermeidbare<br />
Tierversuche durchgeführt werden. Daher begrüßen<br />
wir die Arbeit der Zentralstelle zur Erfassung und<br />
Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu<br />
Tierversuchen. Für diese Institution waren, damit sie<br />
ihre Aufgabe wahrnehmen kann, 14 Planstellen vorgesehen.<br />
Inzwischen sollten diese Planstellen aber<br />
nicht mehr gewährt werden. Daher erfolgte eine Petition<br />
dahingehend, daß der Petitionsausschuß sich dafür<br />
einsetzen solle, diese 14 Planstellen zu schaffen,<br />
damit bei dieser Koordinationsstelle des Bundesgesundheitsamts<br />
noch einmal Erkenntnisse und Alternativen<br />
zu Tierversuchen nutzbar gemacht werden<br />
können.<br />
Die vom Petitionsausschuß eingeholte Stellungnahme<br />
des Haushaltsausschusses ergab, daß bisher<br />
zehn Planstellen vorgesehen waren und der Haushaltsausschuß<br />
die vier weiteren Planstellen nicht für<br />
notwendig erachte. Der Petitionsausschuß schloß sich<br />
dieser Meinung nicht an und unterstützte die Forderung<br />
des Bundesgesundheitsamts auf Bewilligung der<br />
in der ursprünglichen Planung vorgesehenen 14 Stellen.<br />
Nach einer Befragung der Bundesregierung bewilligte<br />
diese für das Haushaltsjahr 1991 vier weitere<br />
Planstellen. Das ist ein weiterer Erfolg im Engagement<br />
gegen unnötige Tierversuche, der durch den Peti-
2648 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Birgit Homburger<br />
tionsausschuß erreicht wurde und der von der FDP<br />
sehr begrüßt wird.<br />
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU und der SPD)<br />
Anlaß für eine weitere Petition war das nach wie vor<br />
durchgeführte sogenannte „Schärfen" von Jagdhunden<br />
an lebendem Wild. Hier wurde eine Änderung<br />
des Tierschutzgesetzes dahingehend gefordert, daß<br />
dies zu untersagen ist. Im Grundsatz darf zwar kein<br />
Tier auf ein anderes gehetzt werden; jedoch gilt dies<br />
nicht für die Grundsätze waidgerechter Jagdausübung.<br />
Diese Einschränkung sollte nach dem Wunsch<br />
der Petenten gestrichen werden.<br />
Eine Anhörung der Verbände und des BML ergab,<br />
daß die Ausbildung von Jagdhunden an lebendem<br />
Wild gesetzlich nicht vorgeschrieben, sondern verbandsintern<br />
geregelt ist und sowohl in mehreren Bundesländern<br />
als auch in etlichen europäischen Ländern<br />
verboten ist.<br />
Der Petitionsausschuß schloß sich dem Anliegen der<br />
Tierschützer an und überwies die Eingabe an die Bundesregierung.<br />
Eine Antwort von dort steht noch aus.<br />
Die FDP hofft, daß sie für die Petenten ausfällt.<br />
Eine weitere Eingabe betraf Straftaten gegen die<br />
sexuelle Selbstbestimmung. Auch über dieses Thema<br />
wurde mehrmals diskutiert. Hier unterbreitete ein Petent<br />
Vorschläge zum Entwurf eines Gesetzes über die<br />
Strafbarkeit der Vergewaltigung und der sexuellen<br />
Nötigung in der Ehe. Die SPD hatte bereits in einem<br />
Gesetzentwurf vorgeschlagen, das Wort „außerehelich"<br />
zu streichen, damit das Gesetz auch in der Ehe<br />
zur Anwendung käme. Der <strong>Bundestag</strong> lehnte diesen<br />
Entwurf jedoch deshalb ab, weil er der Meinung war,<br />
es müsse eine konsequente Neuregelung dieser Vorschriften<br />
erfolgen, und es genüge nicht, das Wort<br />
„außerehelich" zu streichen.<br />
(Widerspruch bei der SPD — Horst Peter<br />
[Kassel] [SPD]: Das haben Sie jetzt aber<br />
schöngeredet!)<br />
— Wir können gern hinterher noch darüber diskutieren,<br />
welche Gründe zur Ablehnung geführt haben.<br />
Aber unserer Ansicht nach waren das die Gründe, mit<br />
denen es abgelehnt wurde.<br />
Der Petitionsausschuß jedenfalls ersuchte die Bundesregierung<br />
daher, einen Gesetzentwurf vorzulegen.<br />
Der Fachminister teilte dem Ausschuß mit, daß<br />
ein entsprechender Regierungsentwurf bisher nicht in<br />
die parlamentarischen Beratungen einbezogen werden<br />
konnte, da es hierbei Bedenken wegen - der Auswirkungen<br />
des Vorhabens auf § 218a Abs. 2 Nr. 2 des<br />
Strafgesetzbuches gäbe.<br />
(Zuruf von der SPD: Richtig, das war der<br />
Grund!)<br />
Die FDP allerdings erwartet, daß ein Gesetz, das Vergewaltigung<br />
in der Ehe unter Strafe stellt, nun<br />
schnellstmöglich dem <strong>Bundestag</strong> vorgelegt wird, und<br />
ich begrüße es, aus dem Justizministerium zu hören,<br />
ein solcher Entwurf sei in Vorbereitung.<br />
(Beifall bei der FDP, der SPD, dem Bündnis<br />
90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />
Eine weitere Eingabe befaßte sich mit einem Rentenanerkennungsverfahren.<br />
Hier geriet ein Petent<br />
durch die überlange Bearbeitungszeit seines Antrags<br />
auf Berufsunfähigkeitsrente in eine finanzielle Notlage.<br />
Dem Petitionsausschuß gelang es, durch Einschaltung<br />
des Bundesversicherungsamtes und anderer<br />
Stellen, das Verfahren zu beschleunigen, so daß<br />
dem Petenten eine Rente sowie eine größere Nachzahlung<br />
zuerkannt werden konnten. Dies ist ein Beispiel,<br />
wie ein Bürger ohne Verschulden in erhebliche<br />
Not geraten ist. Hier konnte der Petitionsausschuß<br />
erfolgreich helfen. Dieses Beispiel sollte meiner Meinung<br />
nach Aufmunterung für all jene sein, die mit<br />
ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.<br />
(Beifall bei der FDP, der SPD und beim Bünd<br />
nis 90/GRÜNE)<br />
Der Petitionsausschuß befaßte sich aber auch mit<br />
Petitionen aus dem Bereich des Bundesministeriums<br />
für Post und Telekommunikation. So betraf eine Eingabe<br />
die neue Dienstbekleidung der Postbeamten.<br />
(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Jetzt kommt die<br />
Satire!)<br />
In dieser Petition ging es um die Verpflichtung zum<br />
ausschließlichen Tragen von neu eingeführter Postkleidung<br />
ab dem 1. Januar 1991. Der Petent fühlte<br />
sich in seiner freien Entfaltung gehindert, da er die<br />
von ihm zu einem Drittel mitfinanzierte alte Dienstkleidung<br />
nicht mehr nutzen könne und nun, nur um<br />
ein einheitliches Bild der Post herzustellen, mit neuen<br />
Anschaffungskosten belastet werde.<br />
(Zuruf von der SPD: Lederhosen in Bay<br />
ern!)<br />
— Die können wir gern in Bayern einführen; vielleicht<br />
gibt es dazu eine Eingabe an den Petitionsausschuß.<br />
Nach Auffassung des Petitionsausschusses sollte<br />
die Effizienz der Leistung der Post an erster Stelle stehen<br />
und geringfügig unterschiedliche Bekleidung<br />
nicht so sehr ins Gewicht fallen. Außerdem appellierte<br />
der Ausschuß an die Grundsätze der Sparsamkeit. Das<br />
Bundesministerium für Post und Telekommunikation<br />
hat daraufhin immerhin die Frist zum Auftragen der<br />
bisherigen Dienstkleidung bis zum 31. Dezember<br />
1991 verlängert.<br />
(Zuruf von der FDP: Wahnsinniger Fort<br />
schritt!)<br />
— Ein Riesenfortschritt!<br />
Die Kombination alter und neuer Dienstbekleidungsstücke<br />
wurde jedoch auf bestimmte Teile beschränkt.<br />
Aus unserer Sicht ist das nur ein Teilerfolg<br />
(Manfred Richter [Bremerhaven] [FDP]: Nur<br />
der rechte Ärmel!)<br />
—das kann ich nicht beurteilen; ich müßte es nachlesen,<br />
Herr Richter — , denn nach Auffassung der FDP ist<br />
die Post ein modernes Dienstleistungsunternehmen<br />
oder sollte es jedenfalls sein.<br />
(Zuruf von der FDP: Sollte es sein! — Bernd<br />
Reuter [SPD]: Das letztere war richtig!)<br />
— Einigen wir uns darauf: Sie sollte es sein.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2649<br />
Birgit Homburger<br />
Dies wird allerdings nicht dadurch erreicht, daß einheitliche<br />
Uniformen getragen werden. Es scheint uns<br />
fraglich, ob dies überhaupt notwendig ist.<br />
Ein weiterer Punkt, der die Post betraf, betraf Nebentätigkeiten<br />
von Postbediensteten im Versicherungswesen.<br />
In dieser Petition wird die Nebentätigkeit<br />
von Bediensteten der Bundespost als Vertrauensleuten<br />
für eine Postversicherung gerügt. Daneben<br />
werde auch das Datenschutzgesetz verletzt, da Daten<br />
von Auszubildenden an die Versicherung weitergegeben<br />
wurden.<br />
Der Petitionsausschuß vertrat nach Prüfung der Angelegenheit<br />
die Ansicht, daß, selbst wenn die Versicherung<br />
als Selbsthilfeeinrichtung der Post anerkannt<br />
sei, die Post den Anschein vermeiden müsse, als<br />
würde sie die geschäftlichen Interessen dieser Einrichtung<br />
vertreten. Zur Adressenweitergabe vertrat<br />
der Ausschuß die Meinung, daß Berufsanfänger zumindest<br />
unterschwellig eine Verbindung zwischen<br />
Einstellung und Beitritt in die Versicherung herstellen<br />
könnten und es daher unerheblich sei, daß die Adressenweitergabe<br />
zulässig sei.<br />
Im übrigen befand der Ausschuß, daß das Verständnis<br />
in der Bevölkerung für Beamte, die in ihrer Dienstzeit<br />
einer Nebentätigkeit nachgehen, nicht vorhanden<br />
sei.<br />
Nach der Berücksichtigungsüberweisung teilte der<br />
Bundesminister für Post und Telekommunikation mit,<br />
daß die Vertrauensleute strengstens angewiesen worden<br />
sind, auf die Einhaltung der vorgegebenen Grenzen<br />
zu achten, um die Nebentätigkeit nur außerhalb<br />
der Dienstzeit und außerhalb von Diensträumen auszuüben.<br />
Ich denke, es ist nur recht und billig, daß der<br />
Bundesminister für Post und Telekommunikation dieser<br />
Forderung nachkam.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn die<br />
Mitglieder des Petitionsausschusses gelegentlich über<br />
den hohen Arbeitsaufwand stöhnen — wir haben das<br />
heute abend schon mehrfach gehört — und durch die<br />
Beschäftigung mit Einzelfällen teilweise sehr in Anspruch<br />
genommen werden, so bleibt, denke ich, zum<br />
Schluß zu sagen, daß der Petitionsausschuß ein gutes<br />
Beispiel aktiver Demokratie ist, der den Respekt aller<br />
im Parlament verdient.<br />
Ich möchte abschließend noch einmal alle Bürgerinnen<br />
und Bürger, die in irgendeiner Weise Anliegen,<br />
die als Bitten oder Beschwerden zu bezeichnen sind,<br />
haben, ermuntern, sich an den Petitionsausschuß zu<br />
wenden. Denn so haben wir Gelegenheit, dem „Teufel<br />
im Detail" abzuhelfen.<br />
Danke.<br />
-<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat die<br />
Abgeordnete Frau Dr. Dagmar Enkelmann.<br />
Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Frau<br />
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rednerliste<br />
zu dieser Debatte spricht nicht gerade für ein Bemühen<br />
um Gleichstellung von weiblichen und männlichen<br />
Abgeordneten.<br />
(Bernd Reuter [SPD]: Das ist richtig! Zu viele<br />
Frauen! — Günther Friedrich Nolting [FDP]:<br />
Das können Sie uns nicht vorwerfen! — Stef<br />
fen Kampeter [CDU/CSU]: Die Frau Kollegin<br />
Dempwolf wird noch sprechen!)<br />
Aber das nur als Einstieg.<br />
Ich möchte zu Beginn meiner Rede ebenfalls die<br />
Gelegenheit nutzen, aus Anlaß der Debatte um den<br />
Jahresbericht des Petitionsausschusses den Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern des Ausschußdienstes für<br />
ihre oftmals sehr mühevolle, aufwendige Arbeit Dank<br />
zu sagen. Ich möchte gleichfalls ein Wort über die<br />
sachliche, zumeist konstruktive Zusammenarbeit im<br />
Ausschuß selbst verlieren. Das hebt sich wohltuend<br />
von manchen Plenardebatten, die im <strong>Bundestag</strong> geführt<br />
werden, ab.<br />
(Bernd Reuter [SPD]: Das ist wahr!).<br />
Ich wünschte mir — ebenso wie mein Kollege Nolting<br />
— eine solche Sachlichkeit und einen solchen<br />
kulturvollen Umgang von Abgeordneten bei der gesamten<br />
Tätigkeit des <strong>Bundestag</strong>es.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der CDU/<br />
CSU, der FDP und der SPD — Bernd Reuter<br />
[SPD]: Dann würde es sich doch nicht mehr<br />
abheben!)<br />
— Ich fasse das als Zustimmung auf.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Tolle<br />
Kombination: PDS und FDP)<br />
Der Petitionsausschuß ist auf besondere Weise mit<br />
den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes verbunden.<br />
Das im Grundgesetz verankerte Petitionsrecht<br />
eröffnet ihnen die Möglichkeit, ihre Bitten, Beschwerden,<br />
ihre Sorgen und Probleme sozusagen auf höchster<br />
Ebene loszuwerden. Demzufolge werden große<br />
Erwartungen an die Arbeit des Ausschusses geknüpft.<br />
Meine Erfahrung der letzten Monate ist, daß das vor<br />
allem auch auf Petenten aus den neuen Bundesländern<br />
zutrifft. In der ehemaligen DDR war, so vermerkt<br />
es der vorliegende Bericht, die „Eingabefreudigkeit<br />
... bereits sehr hoch". Dabei haben die Bürgerinnen<br />
und Bürger zwei für sie bedeutsame Erfahrungen gemacht,<br />
die darin bestanden, daß die Wirksamkeit ihrer<br />
Eingaben entweder davon abhängig war, an welche<br />
Ebene der staatlichen Verwaltung diese gerichtet<br />
wurden, oder aber davon, wann die nächsten Wahlen<br />
stattfinden sollten.<br />
(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Was man so<br />
Wahlen nannte!)<br />
Je näher dieser Termin lag, um so erfolgversprechender<br />
konnte eine Eingabe sein.<br />
Nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik<br />
(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Das war<br />
kein Anschluß! — Steffen Kampeter [CDU/<br />
CSU]: Das war eine f riedliche Revolution!)<br />
ist die Anzahl der Petitionen aus den neuen Bundesländern<br />
drastisch angestiegen. Ihr Anteil, gemessen<br />
an den Einwohnerzahlen, liegt heute deutlich über<br />
dem der alten Bundesländer. Diese Zunahme hat meines<br />
Erachtens mehrere Ursachen. Sie liegen sowohl in<br />
einer großen Unsicherheit vieler Bürgerinnen und
2650 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Dagmar Enkelmann<br />
Bürger im Umgang mit den neuen Gesetzlichkeiten,<br />
den Behörden, den Zuständigkeiten usw. als auch in<br />
den zahlreichen im Einigungsvertrag unzureichend<br />
gelösten Problemen begründet.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />
Oftmals haben sich die Bürgerinnen und Bürger vor<br />
dem Einschalten des Petitionsausschusses des <strong>Bundestag</strong>es<br />
bereits an andere staatliche Stellen oder parlamentarische<br />
Organe gewandt und dort entweder<br />
kein Gehör oder keine Abhilfe gefunden. Nach meinem<br />
Verständnis zeugen viele Petitionen von zwei<br />
sich nur scheinbar widersprechenden Erscheinungen:<br />
Sie zeugen von gewachsener Mündigkeit der Bürger<br />
gegenüber dem Staat und von wachsender Müdigkeit<br />
oder auch Verdrossenheit dem Staat gegenüber.<br />
Der Inhalt der Petitionen und die Stellungnahmen<br />
von betroffenen Behörden und Ämtern zeugen sehr<br />
oft von bürokratischem, engherzigem Handeln. Sie<br />
zeugen auch von dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber<br />
einer allmächtigen Bürokratie und Staatsmaschinerie.<br />
Oftmals scheint der Petitionsausschuß die<br />
letzte Rettung zu sein,<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Na, na! —<br />
Zuruf von der CDU/CSU: Die letzte In<br />
stanz!)<br />
eine Hoffnung, die aber eben leider nur selten erfüllt<br />
werden kann.<br />
In diesem Zusammenhang ist es untragbar, wenn in<br />
einigen Stellungnahmen derer, über die Beschwerde<br />
geführt wird, Beklagte zu Klägern werden; Kollege<br />
Peter hat bereits auf Beispiele dafür hingewiesen.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Beispiel!)<br />
Wünschenswert wäre auch eine generelle unabhängige<br />
Begutachtung, die nicht nur rechtliche, sondern<br />
auch soziale, ethisch-moralische, einfach menschliche<br />
Aspekte des konkreten Einzelfalls berücksichtigen<br />
würde, also die Frage des Härtefalls.<br />
Meiner Auffassung nach sind aber gerade die Petitionen<br />
aus den neuen Bundesländern nicht selten ein<br />
Anzeiger dafür, daß manches, was in der Regierung<br />
bzw. im <strong>Bundestag</strong> quasi am grünen Tisch entschieden<br />
wurde, praktisch nicht funktionieren kann. Sie<br />
belegen in bezug auf eine Reihe von Kernproblemen<br />
die Inkompetenz und die fehlende Sachkenntnis dieser<br />
Bundesregierung.<br />
(Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Ge<br />
nau!)<br />
Oder sollte ich besser sagen: Sie sprechen - für die fehlende<br />
Bereitschaft der Bundesregierung, die tatsächlichen<br />
Probleme in den neuen Bundesländern zur<br />
Kenntnis zu nehmen?<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)<br />
Das betrifft meines Erachtens insbesondere Petitionen,<br />
deren Inhalt sich auf die Regelung offener Vermögensfragen,<br />
die Sicherung der medizinischen Versorgung,<br />
die Rehabilitierung und das Rentenrecht beziehen.<br />
Hier ist die Bundesregierung gefordert, konsequent<br />
und schnell zu reagieren. Das wird aber wohl<br />
auch in Zukunft eine Illusion bleiben, stellt doch selbst<br />
der vorliegende Bericht fest — ich zitiere —:<br />
... daß die Bundesregierung im Berichtsjahr<br />
1990 wiederum in einer Reihe von Fällen Berücksichtigungsbeschlüssen<br />
des <strong>Bundestag</strong>es nicht<br />
oder nicht im vollen Umfang gefolgt ist, obwohl<br />
diese Beschlüsse das Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es<br />
beinhalten, für Abhilfe zu sorgen.<br />
Was in diesem Be richt da so harmlos klingt, heißt im<br />
Klartext, daß 1990 z. B. von 90 Petitionen, die der Regierung<br />
zur Berücksichtigung überwiesen wurden, lediglich<br />
28 positiv erledigt wurden. Hier muß sich die<br />
Bundesregierung fragen lassen: Wie ernst nimmt sie<br />
eigentlich die Beschlüsse des <strong>Bundestag</strong>es, wie ernst<br />
nimmt sie die Abgeordneten dieses Hohen Hauses,<br />
wie ernst nimmt sie vor allem die Bitten und Beschwerden<br />
der Bürgerinnen und Bürger?<br />
Der Bericht macht deutlich, daß verstärkt darüber<br />
nachgedacht werden sollte, wie eine höhere Verbindlichkeit<br />
erreicht werden kann, daß also Berücksichtigungsbeschlüsse<br />
des <strong>Bundestag</strong>es eben auch Berücksichtigung<br />
durch die Regierung erfahren müssen. Petitionsausschuß<br />
und <strong>Bundestag</strong> sollten ihr Kontrollrecht<br />
gegenüber der Regierung mit mehr Nachdruck<br />
und Konsequenz wahrnehmen.<br />
Abschließend noch einige Bemerkungen aus aktuellem<br />
Anlaß. Am Freitag wird der <strong>Bundestag</strong> in zweiter<br />
und dritter Lesung das Rentenüberleitungsgesetz<br />
beraten. Gegen diesen Entwurf sind bereits eine<br />
Reihe von Petitionen und Unterschriftensammlungen,<br />
u. a. der Brandenburgischen Rentnerinitiative, eingegangen.<br />
Ihre Anliegen sollten vor der Entscheidung<br />
— —<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Abgeordnete<br />
Enkelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />
Nolting?<br />
Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Ich habe<br />
noch einen letzten Satz, und den würde ich gern zu<br />
Ende führen.<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Aber dann.<br />
(Günther Fried rich Nolting [FDP]: Aber dann<br />
darf ich die Frage stellen!)<br />
Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Die Anliegen<br />
dieser Petitionen, dieser Unterschriftensammlungen<br />
sollten vor der Entscheidung sorgfältig geprüft<br />
und in die nötige Sachkompetenz einbezogen werden.<br />
Das jedenfalls würde dem Petitionsausschuß viel<br />
Arbeit im nachhinein ersparen.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />
Abgeordneten der SPD)<br />
Jetzt dürfen Sie.<br />
Günther Friedrich Nolting (FDP): Frau Kollegin, Sie<br />
haben gerade in Zweifel gezogen, daß die Bundesregierung<br />
die Voten des Petitionsausschusses berücksichtigt.<br />
Darf ich Sie fragen: Wie hat denn die SED-<br />
Regierung die Beschlüsse der Volkskammer berücksichtigt?<br />
Dies auch vor dem Hintergrund, daß Sie seit<br />
1977 Mitglied der SED sind.<br />
Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Das<br />
Thema dieser Debatte ist der Bericht des Petitionsausschusses<br />
für das Jahr 1990, und zu dem habe ich hier
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2651<br />
Dr. Dagmar Enkelmann<br />
gesprochen. Ich habe mich ansonsten zu dem „Eingabenunwesen"<br />
in der DDR geäußert, und das sollte<br />
genügen.<br />
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wenn Sie<br />
hier moralisieren, sollten Sie auch darauf zu<br />
rückkommen!)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat das<br />
Wort die Abgeordnete Gertrud Dempwolf.<br />
Gertrud Dempwolf (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie sehr<br />
die Bundesregierung den Petitionsausschuß ernst<br />
nimmt, ersehen wir heute an der gut gefüllten Regierungsbank.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Und wenn ich sehe, daß bis vor einer Minute — Kollege<br />
Grünewald geht gerade — zwei Mitglieder des<br />
Petitionsausschusses hier zwei Stunden auf der Regierungsbank<br />
gesessen haben, dann kann ich nur sagen:<br />
Das ist für uns sehr erfreulich, und: Meine Damen und<br />
Herren der Koalition, lassen Sie uns im Petitionsausschuß<br />
weiterarbeiten; der Weg ist nicht so sehr<br />
weit.<br />
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der<br />
FDP und der SPD — Günther Friedrich Nol<br />
ting [FDP]: Da braucht die SPD gar nicht zu<br />
klatschen! Da kommt ihr nie hin! — Gegen<br />
ruf des Abg. Bernd Reuter [SPD]: Ihr wollt<br />
immer dabei sein!)<br />
Über die große Anzahl von Eingaben an den Petitionsausschuß<br />
möchte ich jetzt nicht mehr im einzelnen<br />
sprechen, aber vielleicht nur noch ein Bild: Wenn<br />
wir heute täglich 160 Eingaben an den Petitionsausschuß<br />
bekommen, dann sehen wir, wie weise die Verfasser<br />
unseres Grundgesetzes gehandelt haben, als<br />
sie das Petitionsrecht der Bürger in Art. 17 verankerten.<br />
Wie sehr politisches Handeln in das Leben hineinreicht,<br />
sehen wir auch an den Eingaben an den<br />
Petitionsausschuß.<br />
Wir beklagen darum auch nicht, daß die Anzahl der<br />
Petitionen weiterhin zugenommen hat. Es ist gut zu<br />
sehen, daß unsere Bürger um ihr Recht wissen und<br />
davon selbstverständlich Gebrauch machen. Sie wissen<br />
auch, daß sie nicht Bittsteller sind, sondern daß sie<br />
ein selbstverständliches Recht in Anspruch nehmen.<br />
So erfahren wir Abgeordnete des Petitonsausschusses<br />
täglich auf beeindruckende Weise, wo den -Bürger der<br />
Schuh drückt. Die Petitionen zeigen uns die Lücken,<br />
die wir im Gesetz noch zu schließen haben.<br />
Ohne die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
des Ausschußdienstes aber könnten wir diese<br />
schwierige Arbeit nicht leisten. Darum möchte ich von<br />
dieser Stelle aus dem Ausschußdienst und dem Büro<br />
ganz herzlich danken.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Wieder einmal betrafen 26 % der Eingaben den Geschäftsbereich<br />
des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung.<br />
Helfen konnte der Petitionsausschuß<br />
zum Beispiel einem Petenten, dessen Antrag auf Er<br />
werbsunfähigkeitsrente von der Bundesversicherungsanstalt<br />
für Angestellte mit der Begründung abgelehnt<br />
worden war, daß die erforderlichen Beitragszeiten<br />
nicht erfüllt seien. Der Ausschuß hat sich ausführlich<br />
mit dieser Petition befaßt. Wir konnten nachweisen,<br />
daß eine Ausfallzeit wegen Arbeitslosigkeit<br />
nicht angerechnet wurde. Dennoch verweigerte die<br />
BfA zunächst die Rentenzahlung, weil dem Petenten<br />
Rehabilitationsmaßnahmen bewilligt worden waren,<br />
er aber die Durchführung ablehnte. Der Ausschuß ließ<br />
nicht locker und veranlaßte eine nochmalige Überprüfung,<br />
bis schließlich die BfA auf die Durchführung der<br />
Rehabilitationsmaßnahmen verzichtete und dem Petenten<br />
die Erwerbsunfähigkeitsrente zubilligte. Der<br />
Nachzahlungsbetrag war_ eine fünfstellige Zahl. Ich<br />
meine, auch das ist eine Hilfe im Einzelfall.<br />
Ich möchte hervorheben, daß der Petitionsausschuß<br />
nicht nur der vielzitierte Kummerkasten der Nation<br />
ist, sondern daß wir uns alle gemeinsam in erster Linie<br />
als Anwalt der Bürger verstehen.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Wenn es auch im Ausschuß unterschiedliche Meinungen<br />
gibt und das im Einzelfall zu heftigen Sachauseinandersetzungen<br />
führt, so suchen wir doch immer einen<br />
vernünftigen gemeinsamen Weg, um dem Petenten<br />
bei seinem Anliegen zu helfen. Ich erinnere hier<br />
noch einmal an den Fall der Schädigung durch Dioxin,<br />
den wir so gut zum Abschluß gebracht haben. Da muß<br />
ich sagen: Herr Peter, Sie hatten da sehr lange die<br />
richtige Nase.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />
SPD)<br />
Er ließ nicht locker, und er hat mich dann auch immer<br />
wieder überzeugt.<br />
(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das war die so<br />
genannte Dioxinnase!)<br />
Es gibt sehr viele Petitionen, die wir zu einem guten<br />
Abschluß gebracht haben. Über Erfolge spricht man<br />
zwar gerne, aber es liegt mir sehr am Herzen, eine<br />
Petition zu erwähnen, die uns im letzten Jahr erreichte<br />
und die wir noch nicht abgeschlossen haben. Sie betrifft<br />
den Geschäftsbereich des Bundesministers der<br />
Justiz und bezieht sich auf die Geltendmachung eines<br />
Schadensersatzanspruches. Es geht um einen Petenten,<br />
der im Jahre 1949 am Kopf operiert wurde. Nach<br />
dieser Operation stellte sich ein Anfallsleiden mit<br />
Schwerstbehinderung ein. Erst 1986 konnte auf<br />
Grund von medizinischen Untersuchungen ein ärztlicher<br />
Fehler, eine bei der Operation vergessene Tamponade<br />
— versteinert — , aufgedeckt werden. Es ist zu<br />
spät, um Schadensersatzansprüche zu stellen; denn<br />
die Verjährung trat 30 Jahre nach der Operation, also<br />
bereits 1979, ein.<br />
( V o r s i t z : Vizepräsident Hans Klein)<br />
Es fällt mir sehr schwer, diesen Fall zu akzeptieren.<br />
Daß die Verjährungsfrist auch dann gilt, wenn der<br />
Verletzte keine Kenntnis von der schädigenden<br />
Handlung hatte und deswegen keinen Schadensersatzanspruch<br />
stellen konnte, läßt mich nicht ruhen.<br />
Wegen der Tragik dieses Falles bemüht sich der Petitionsausschuß<br />
auf allen nur möglichen Wegen, wenigstens<br />
eine finanzielle Unterstützung für den Petenten
2652 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Gertrud Dempwolf<br />
zu bekommen. Der Petent lebt bei seinem Bruder und<br />
von der Sozialhilfe mit dem niedrigsten Satz.<br />
Unsere Bemühungen sind noch nicht abgeschlossen.<br />
Aber wir suchen noch nach weiteren Lösungen,<br />
damit dieser Mann einen Ausgleich für verlorene Gesundheit<br />
und für verlorenes Lebensglück bekommt.<br />
Ich weiß, daß das sehr schwer ist, aber ich wünschte<br />
mir, es käme ein guter Rat aus unserem Kreis.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abgeordnete<br />
Bernd Reuter.<br />
Bernd Reuter (SPD): Herr Präsident! Meine sehr<br />
verehrten Damen und Herren! Wie wir in dieser Aussprache<br />
schon einige Male zur Kenntnis genommen<br />
haben, hat sich die Tätigkeit des Petitionsausschusses<br />
im Jahre 1990 erheblich ausgeweitet, vor allem auch<br />
durch eine Vielzahl von Petitionen aus den östlichen<br />
Bundesländern. Dies reflektiert vor allem die großen<br />
sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Menschen<br />
in der ehemaligen DDR. Wir stellen allerdings auch<br />
hier vielfach überhöhte Erwartungen an die Regelungskompetenz<br />
des Petitionsausschusses fest.<br />
Bei der Diskussion des Jahresberichts des Petitionsausschusses<br />
kann natürlich nicht nur Positives zur<br />
Sprache kommen. In einigen Fällen ist auch Kritik an<br />
der Bundesregierung angebracht, die unser Vorsitzender<br />
schon in so hervorragender Weise formuliert<br />
hat. Es gibt Entscheidungen des Petitionsausschusses,<br />
die die Bundesregierung nicht beachtet hat.<br />
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, dazu ein<br />
Beispiel vortragen. Da schreibt ein Minister am Schluß<br />
seiner Aussage zu einer Petition, die wir zur Berücksichtigung<br />
überwiesen hatten:<br />
Nach allem komme ich zu dem Ergebnis, die der<br />
Bundesregierung vom Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />
überwiesene Petition auf Grund der dargestellten<br />
Rechtslage nicht berücksichtigen zu können. Ich<br />
bedaure, dem Wunsch des <strong>Bundestag</strong>s nach einem<br />
anderen Ergebnis nicht entsprechen zu können,<br />
sehe mich aber durch das Gesetz zu dieser<br />
Entscheidung gezwungen.<br />
Meine Damen und Herren von der Regierung, das<br />
wußte der Petent auch, sonst hätte er keine Petition<br />
eingereicht. Sein Begehren war doch, sich hilfesuchend<br />
an den <strong>Bundestag</strong> zu wenden und zu sagen:<br />
Hier ist Handlungsbedarf.<br />
-<br />
Der Petitionsausschuß sagt in seinen Beratungen:<br />
Jawohl, wir sehen das auch so; die Bundesregierung<br />
möge das berücksichtigen. Die Bundesregierung stellt<br />
dann fest: Die Rechtslage steht dem entgegen. Das<br />
wußten alle. Ich hätte gerne von der Bundesregierung,<br />
daß sie die Entscheidungen des Petitionsausschusses<br />
in Zukunft etwas ernster nimmt, als das in<br />
der Vergangenheit geschehen ist.<br />
Ich will auch hinzufügen, daß Entscheidungen des<br />
Petitionsausschusses auch solche des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />
sind. Sie sollten für die Regierung eigentlich<br />
schon aus diesem Grunde beachtenswert sein.<br />
Auch in diesem Berichtszeitraum gab es eine große<br />
Anzahl von Fällen, in denen die Petitionen der Bundesregierung<br />
zur Berücksichtigung oder zur Erwägung<br />
überwiesen worden waren, aber nicht im Sinne<br />
des Petitionsausschusses erledigt wurden.<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten<br />
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Göhner?<br />
Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Verehrter und<br />
hochgeschätzter Kollege Reuter, würden Sie mir darin<br />
zustimmen, daß auch bei einem Beschluß des Petitionsausschusses<br />
und des <strong>Bundestag</strong>es die Bundesregierung<br />
als Exekutive gleichwohl an die Gesetze gebunden<br />
bleibt, so daß dann, wenn der <strong>Bundestag</strong> die<br />
Regierung zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert<br />
hat, dieses Verhalten aber ohne eine Gesetzesänderung<br />
nicht möglich ist, nur der <strong>Bundestag</strong> selbst<br />
dem Petitum der Petition durch eine Gesetzesänderung<br />
entsprechen kann?<br />
Bernd Reuter (SPD): So wie ich die Praxis unserer<br />
Arbeit kenne, Herr Kollege Dr. Göhner, ist es richtig,<br />
daß die Regierung an das Gesetz gebunden ist. Es<br />
wäre noch schöner als schön, wenn die Regierung<br />
machen könnte, was sie wollte!<br />
(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Na<br />
eben!)<br />
Das ist vollkommen klar.<br />
Wenn aber Handlungsbedarf aus einer Petition erwächst,<br />
weil ein Mensch erklärt und uns darlegt, daß<br />
das Gesetz eine Lücke, keine Härteregelung oder etwas<br />
ähnliches hat, dann kann ich doch von einem ausgewachsenen<br />
Minister, der noch dazu Professor ist,<br />
erwarten, daß er uns sagt: Wir sehen das ein; wir werden<br />
bei der nächsten Novelle des Gesetzes darangehen,<br />
diesen Mangel zu beheben. — Darum geht es im<br />
wesentlichen.<br />
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste,<br />
beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge<br />
ordneten der CDU/CSU)<br />
Herr Dr. Göhner, Sie kennen mich schon lange, und<br />
ich kenne Sie auch. Natürlich will ich der Regierung<br />
nicht einfach Schuld zuweisen; denn es gibt vielfach<br />
Petitionen, wo der <strong>Bundestag</strong> selber, die Fraktionen<br />
Handlungsbedarf erkennen müßten und selber handeln<br />
müßten. Das will ich Ihnen gerne zugestehen.<br />
Meine Damen und Herren, es ist aus meiner Sicht<br />
nicht hinnehmbar, daß manche Petitionen nur deshalb<br />
über mehrere Jahre laufen, weil die Stellungnahmen<br />
nicht fristgerecht abgegeben wurden. Ich will deshalb<br />
einmal ganz nachhaltig Kritik an den Ministerien und<br />
Bundesbehörden üben, die sich über Gebühr lange<br />
Zeit lassen, wenn sie um Stellungnahmen zu Petitionen<br />
gebeten werden.<br />
Erfreulich — auch das ist heute abend schon einige<br />
Male angeklungen — ist die Tatsache, daß im Petitionsausschuß<br />
im Interesse der hilfesuchenden Menschen<br />
sehr oft parteiübergreifende Entscheidungen<br />
fallen. Es soll allerdings auch nicht verschwiegen werden,<br />
daß es durchaus strittige Themen gibt, die kontrovers<br />
diskutiert werden und diskutiert werden müssen.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2653<br />
Bernd Reuter<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich einmal auch<br />
das Problem der Massenpetitionen ansprechen. Ein<br />
Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen um<br />
die Reaktivierung des US-Flughafens Wiesbaden-Erbenheim<br />
für Kampfhubschrauber oder auch die Stationierung<br />
von Hubschraubern in Büdingen in Hessen<br />
gewesen. Hier haben von Lärmbelästigungen betroffene<br />
Menschen ein Problem an den Petitionsausschuß<br />
herangetragen, das auch unter den Parteien und Fraktionen<br />
kontrovers diskutiert wurde.<br />
Vor allem aus dem Naturschutz- und Umweltbereich<br />
werden gelegentlich Petitionen eingereicht, die<br />
einige tausend Unterschriften tragen. Ich meine,<br />
meine Damen und Herren, auch wenn solche Zahlen<br />
beeindruckend sind, darf eine Petition mit nur einer<br />
Unterschrift aus meiner Sicht nicht weniger ernst genommen<br />
werden.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Auch im zurückliegenden Jahr wurde bei strittigen<br />
Entscheidungen im Ausschuß § 112 der Geschäftsordnung<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es von der Opposition<br />
in Anspruch genommen. Er bietet nämlich die Möglichkeit,<br />
strittige Entscheidungen des Ausschusses im<br />
Plenum des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es zu diskutieren<br />
und unterschiedliche Auffassungen vor einer breiteren<br />
Öffentlichkeit darzustellen.<br />
Ich will hier nicht nur kritisieren, sondern auch den<br />
Behörden ein hohes Lob aussprechen, die kooperativ<br />
und hilfsbereit nach menschlichen Lösungen suchen<br />
und sich nicht allein an den Wortlaut des Gesetzes<br />
klammern. Hier denke ich z. B. an Leiter von Kreiswehrersatzämtern,<br />
deren menschliche und hilfsbereite<br />
Zusammenarbeit oft in krassem Gegensatz zum<br />
Verhalten des Bundesverteidigungsministeriums<br />
steht.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Jawohl!<br />
Das ist wirklich wahr!)<br />
Ich will hier gerne einmal ein Beispiel vortragen, bei<br />
dem ein Arzt der Allgemeinmedizin, der einen Antrag<br />
auf Kriegsdienstverweigerung eingereicht hatte,<br />
kurz darauf die Einberufung zu einer einwöchigen<br />
Wehrübung erhielt. Dieser Arzt mit einer großen Praxis,<br />
der noch dazu seinen Vater postoperativ versorgen<br />
mußte, wurde gezwungen, die Wehrübung abzuleisten,<br />
da nach der Ablehnung seines Zurückstellungsantrages<br />
auch seine Petition an den Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong> erfolglos blieb.<br />
Meine Damen und Herren, mir will einfach nicht<br />
einleuchten, daß in der jetzigen Entspannungssituation,<br />
in der die Bundeswehr erheblich reduziert werden<br />
soll, ein Arzt seine Patienten für eine Woche - im<br />
Stich lassen muß, um an einer Wehrübung teilzunehmen.<br />
Dieses stupide Festhalten an einmal getroffenen<br />
Beschlüssen demonstriert die sture Betonkopfmentalität<br />
der Hardthöhe auf eindrucksvolle Art und<br />
Weise.<br />
Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung wie<br />
an die Ministerien, daß bei Vorlagen des Petitionsausschusses<br />
nicht im praktischen Verwaltungshandeln<br />
irreversible Fakten geschaffen werden, die das Petitionsrecht<br />
ad absurdum führen.<br />
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li<br />
ste)<br />
Besonders prägnante Fälle gibt es z. B. beim Straßenbau<br />
und beim Ausländerrecht. Gerade das neue<br />
Ausländerrecht — der Kollege Konrad Weiß hat darauf<br />
hingewiesen — birgt große Gefahren durch seine<br />
Möglichkeiten zur sofortigen Abschiebung, wenn<br />
eine Anerkennung als Asylant verweigert wird. Wenn<br />
uns hierzu dann eine Petition vorgelegt wird, kann sie<br />
nicht mehr greifen, weil sich der Betroffene möglicherweise<br />
bereits außer Landes befindet und bei einem<br />
eventuellen positiven Ausgang der Petition auch<br />
nicht mehr in das Land einreisen kann, weil er keinen<br />
Sichtvermerk erhält.<br />
Der Bundesminister des Innern sollte seine diesbezügliche<br />
Anweisung an die Innenminister und Senatoren<br />
der Länder zur Auslegung des § 55 Abs. 4 des<br />
Ausländergesetzes vom Februar dieses Jahres noch<br />
einmal überdenken. Durch Anweisungen dieser Art<br />
besteht nämlich die große Gefahr, daß unser Petitionsrecht<br />
ausgehöhlt wird. Es kann nicht angehen, daß<br />
laufende Petitionen durch Maßnahmen von Ministerien<br />
abgewürgt werden. Beim Gesetzesvollzug im<br />
Ausländerrecht ist zudem in besonderem Maße auf<br />
ein enges Zusammenwirken zwischen <strong>Bundestag</strong>sund<br />
Landtagspetitionsausschüssen zu achten.<br />
Als Fazit stelle ich fest, daß sich am Petitionswesen<br />
am eindeutigsten die Fehlentwicklungen der Politik<br />
widerspiegeln. Zwar ist der Petitionsausschuß kein<br />
Überausschuß, der andere bevormunden könnte. Er<br />
ist vielmehr auf die Kompetenz der anderen Fachausschüsse<br />
angewiesen. Nicht selten ist er jedoch die<br />
letzte Anlaufstelle für Menschen, die in Not geraten<br />
sind.<br />
Ich will am Schluß meiner Ausführungen gerne<br />
noch hervorheben, daß wir in diesem Ausschuß relativ<br />
kollegial zusammenarbeiten.<br />
(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Was heißt<br />
denn „relativ"?)<br />
Ich will natürlich nicht so weit gehen, das auch für<br />
andere Ausschüsse zu empfehlen, weil wir uns sonst<br />
nicht mehr von anderen Ausschüssen abheben können.<br />
(Heiterkeit)<br />
Frau Dempwolf hat dankenswerterweise den Sprecher<br />
unserer Fraktion, Horst Peter, hier genannt, der<br />
bei dem Dioxinfall wirklich bohrend war, um Erfolge<br />
zu erzielen. Er war aber noch woanders bohrend,<br />
nämlich bei dem behindertengerechten Ausbau des<br />
Bahnhofs Wilhelmshöhe in Kassel. Es wurden auch<br />
für die Behinderten Aufzüge eingebaut, die heute in<br />
Kassel unter dem Namen „Peternoster" ihren Eingang<br />
gefunden haben.<br />
(Heiterkeit)<br />
Meine Damen und Herren, unserem Vorsitzenden,<br />
Herrn Gero Pfennig, danke ich nicht für seine akrobatische<br />
Art, wie er die Dinge hier regelt, sondern für<br />
seine sachliche und effiziente Arbeit. Er ist stets ein<br />
kollegialer und pünktlicher Vorsitzender, der die Arbeit<br />
des Ausschusses auf vorbildliche Art und Weise<br />
organisiert und sich — wie hier schon mehrfach erwähnt<br />
— um Konsens bemüht. Minderheitenmeinungen<br />
fallen im Petitionsausschuß nicht zwangsläufig<br />
unter den Tisch.
2654 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Bernd Reuter<br />
Wir müssen — das will ich am Schluß noch sagen —<br />
mittelfristig mit einem weiteren erhöhten Eingang von<br />
Petitionen rechnen. Daher richte ich abschließend<br />
meine Bitte an die Präsidentin und die zuständigen<br />
Stellen, hierfür die personellen Voraussetzungen zu<br />
schaffen.<br />
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die im<br />
Ausschuß in so hervorragender Art und Weise mitgewirkt<br />
haben, und bin überzeugt davon, daß wir auch<br />
in der vor uns liegenden Zeit im Interesse unserer Bürgerinnen<br />
und Bürger dort etwas Vernünftiges leisten<br />
können.<br />
Schönen Dank.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Steffen<br />
Kampeter, bevor ich Ihnen das Wort gebe, kann ich<br />
folgende Bemerkung einfach nicht unterdrücken: Ich<br />
wünsche mir, daß diese interfraktionelle Tonlage der<br />
Debatte über die Petitionen gewisse Beispielkraft auf<br />
unsere morgige Diskussion hat.<br />
(Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU)<br />
Herr Kollege Kampeter, bitte.<br />
Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herzlichen Dank. —<br />
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und<br />
Herren! Erst einmal will ich — es ist eine schwierige<br />
Aufgabe, am Ende einer zweistündigen Debatte noch<br />
etwas wesentlich Neues beizutragen — denjenigen<br />
Kolleginnen und Kollegen danken, die, statt den zahlreichen<br />
Einladungen zu Sommerfesten gefolgt zu<br />
sein, dieser Debatte folgen.<br />
Zweitens. Wir haben gerade im letzten Beitrag viel<br />
Kritik an der Bundesregierung und an ihrem Verhalten<br />
gehört. Wenn ich mir die Präsenzquote auf der<br />
Regierungsbank angucke und mit der Präsenzquote<br />
der Parlamentarier vergleiche, muß ich in diesem<br />
Falle feststellen: i : 0 für die Bundesregierung.<br />
(Beifall im ganzen Hause)<br />
Rund 16 000 Eingaben im vergangenen Jahr an den<br />
Petitionsausschuß haben gezeigt, wie wichtig die Bürgerinnen<br />
und Bürger dieses grundgesetzlich garantierte<br />
Recht schätzen. Es ist davon auszugehen, daß<br />
wir in diesem Jahr die Schallmauer von 20 000 Eingaben<br />
an den Petitionsausschuß deutlich übersteigen<br />
werden.<br />
An dieser Stelle ist daher nicht nur den Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern des Petitionsausschusses zu<br />
danken; vielmehr müssen wir vor allen Dingen auch<br />
den Petenten dafür danken, daß sie von ihrem Recht<br />
Gebrauch gemacht haben, oftmals Finger in Wunden<br />
gelegt haben, die wir noch nicht erkannt hatten, und<br />
so uns Parlamentariern neue Wirklichkeiten eröffnet<br />
haben, die dazu beitragen sollten und dazu beigetragen<br />
haben, daß wir in Zukunft staatliches Handeln<br />
etwas bürgernäher gestalten werden. Die erfreuliche<br />
Vielzahl der Petitionen ist ein Beleg für die Lebendigkeit<br />
dieses Verfassungsrechts.<br />
In welchem Maße die Bürger der Institution Petitionsausschuß<br />
Vertrauen schenken, wird wesentlich<br />
dadurch bestimmt, wie entschlossen wir als Petitionsausschuß<br />
bei einem erkannten Mißstand Abhilfe<br />
schaffen. Der Bericht führt aus, daß im Jahre 1990<br />
90 Petitionen zur Berücksichtigung und 85 Petitionen<br />
zur Erwägung überwiesen wurden. 33mal wurde dem<br />
Anliegen entsprochen. In 22 Fällen geschah dies<br />
nicht.<br />
Es ist aus meiner Sicht festzustellen, daß zum einen<br />
die Geschwindigkeit, mit der die Regierung unsere<br />
Voten bearbeitet, verbessert werden könnte. Hier ist<br />
verschiedentlich schon auf diesen Aspekt verwiesen<br />
worden.<br />
Zum anderen ist in einer nicht geringen Anzahl dem<br />
Votum des Ausschusses nicht gefolgt worden. Klar ist:<br />
Wir können die Bundesregierung nicht zu einer bestimmten<br />
Handlung verpflichten; aber — so führt der<br />
Bericht aus, die Verfassungsorgane sollten auf Grund<br />
des gegenseitigen Respekts dem Art. 17 eine entsprechende<br />
Wertschätzung entgegenbringen. Also sollte<br />
die Bundesregierung die Voten des Ausschusses entsprechend<br />
würdigen.<br />
Herr Kollege Weiß hat hier darauf hingewiesen, daß<br />
wir die Voten manchmal im Schnellverfahren in den<br />
Ausschüssen beraten. Herr Weiß, ich weise darauf<br />
hin, daß sich die Intensität, mit der ein Anliegen behandelt<br />
wird, nicht unbedingt in der Länge der Ausschußberatung<br />
niederschlägt; die Arbeit muß vielmehr<br />
im vorhinein gemacht worden sein. Von daher<br />
halte ich das, was die Intensität der Behandlung der<br />
Bürgeranliegen angeht, für einen schlechten Indikator.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Lassen Sie mich auf eine in diesem Be richt ausgewiesene<br />
Neuerung hinweisen. Wir haben im Berichtszeitraum<br />
erstmals mit dem Bundesrechnungshof direkt<br />
zusammengearbeitet. Von zwei Petenten wurde<br />
die nicht sachgerechte Verwendung öffentlicher Mittel<br />
beklagt. Das betroffene Ministerium hat zwar in<br />
dem einen Fall wiederholt die Zweck- und Rechtmäßigkeit<br />
der Ausgabe betont. Die Überprüfung durch<br />
den Rechnungshof hat aber in die Bemerkungen dieser<br />
Behörde Eingang gefunden.<br />
Für mich ist es höchst erfreulich, wenn Bürger —<br />
neben der Klage über eine finanzielle Benachteiligung<br />
— uns als Staat auf die Finger klopfen, gefälligst<br />
sachgerecht mit ihrem Geld umzugehen. Es ist sicherlich<br />
richtig, daß der Rechnungshof und der Petitionsausschuß<br />
unterschiedliche Aufgaben haben. Aber die<br />
Kooperation zwischen diesen beiden Institutionen<br />
sollte zukünftig sicher fortgesetzt werden. Ich empfinde<br />
es nämlich als einen interessanten Aspekt, wenn<br />
wir im Bereich der öffentlichen Verwaltung dazu beitragen<br />
könnten, das Gebot der Sparsamkeit stärker<br />
zu beachten. Die öffentliche Berichterstattung über<br />
einen solchen Vorfall hat schon viel Heilsames bewirkt.<br />
Meine Vorredner haben hier von zahlreichen Einzelpetitionen<br />
berichtet. Ich möchte daher nochmals<br />
auf den Bereich Massenpetitionen eingehen. Die Petition<br />
mit der größten Anzahl von Unterschriften beschäftigte<br />
sich mit der Situation bei den Fluorchlorkohlenwasserstoffen,<br />
einem der gefährlichsten Klimakiller<br />
mit verdeckter Langzeitwirkung. Sie wurde<br />
von knapp 320 000 Bürgern unterzeichnet und auf<br />
Initiative des Petitionsausschusses den Fraktionen zur
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2655<br />
Steffen Kampeter<br />
Kenntnis gegeben. Neben anderen parlamentarischen<br />
Anstößen, z. B. aus der Enquete-Kommission<br />
„Schutz der Erdatmosphäre", hat diese Petition wesentlich<br />
dazu beigetragen, daß die Bundesrepublik<br />
Mitte der 90er Jahre als erstes Land in Europa fluorchlorkohlenwasserstofffrei<br />
ist.<br />
Unsere Verordnung hat hohe Aufmerksamkeit erregt.<br />
So hat die bundesdeutsche Vorreiterrolle anläßlich<br />
der letzten Konferenz zum Montrealer Protokoll<br />
eine hohe Anerkennung der Position der Bundesregierung<br />
auch bei den Umweltschutzverbänden erfahren.<br />
Länder wie die Schweiz und Österreich werden in<br />
dieser Frage der bundesdeutschen Position folgen.<br />
Die 320 000 Bürger — sicherlich ist eine Petition so<br />
wichtig wie die andere; aber 320 000 ist eine beachtenswerte<br />
Zahl — haben mit dazu beigetragen, daß<br />
die Klimaproblematik in der 12. Legislaturperiode<br />
wieder Gegenstand der parlamentarischen Beratung<br />
geworden ist.<br />
Wir haben einen Arbeitsauftrag zur erneuten Einsetzung<br />
einer Klima-Enquete erteilt. Sie wird ihre Arbeit<br />
nach der Sommerpause aufnehmen. Sie hat den<br />
Auftrag, die Zusammenhänge zwischen Treibhauseffekt<br />
und Klimaänderung und mögliche Auswirkungen<br />
der weltweiten Klimaänderungen zu untersuchen.<br />
An diesem Beispiel läßt sich zeigen, daß mit<br />
Petitionen auch aktuelle Diskussionspunkte aus der<br />
Bevölkerung in die parlamentarische Beratung hineingetragen<br />
werden. Die Anliegen der Petenten lassen<br />
sich zwar, wie ich ausdrücklich betone, nicht immer<br />
vollständig umsetzen, aber sie werden von uns als<br />
wichtige Diskussionsbeiträge aus der Bevölkerung interpretiert.<br />
Dies trifft beispielsweise auch auf die Petitionen zur<br />
Kfz-Steuer zu. Wir haben die Umgestaltung hin zu<br />
einer ökologieorientierten Kfz-Steuer vorbereitet.<br />
Lassen Sie mich abschließend auf eine Dreistigkeit,<br />
verkleidet in Form einer Petition, hinweisen. Deutsche<br />
Bewohner einer Einrichtung in Chile — Ihnen wohl<br />
am besten unter dem Namen „Colonia Dignidad"<br />
bekannt — haben sich über das Auswärtige Amt und<br />
die Botschaft in Chile beschwert. Dieser Institution<br />
wurde vorgeworfen, ihre Bewohner zu verleumden<br />
und zu diskriminieren. Obwohl zahlreiche Indizien<br />
diese Anschuldigungen als absurd erscheinen lassen<br />
mußten, beabsichtigte der Petitionsausschuß, dem Begehren<br />
nachzugehen und vor Ort zu ermitteln. Die<br />
Colonia Dignidad lehnte dies ab. Der Vorwurf konnte<br />
nicht geklärt werden, da unser Verfassungsorgan in<br />
Chile nicht ermitteln konnte.<br />
Heute gehört die chilenische Diktatur der - Vergangenheit<br />
an. Die Gegenwart wird von dem seit langem<br />
erstmals wieder demokratisch gewählten Präsidenten<br />
Aylwin gestaltet.<br />
(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sie kön<br />
nen ja jetzt den Ortstermin machen!)<br />
— Herr Kollege Göhner, Sie müßten gelegentlich<br />
auch einmal zuhören. Das Verfahren ist ja im Gange;<br />
wir sind ja dabei, die Geschichte einmal zu machen.<br />
—<br />
(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sehr<br />
gut!)<br />
Der gewachsene internationale Druck auf die jetzt<br />
demokratisch legitimierte chilenische Regierung<br />
führte dazu, daß der christdemokratische Präsident<br />
dem Treiben der Kolonie nach seiner Amtsübernahme<br />
ein Ende bereitete, indem er ihr die Rechtspersönlichkeit<br />
entzog.<br />
Was dann an die Öffenlichkeit kam, zeigte, daß die<br />
Petition eine an Dreistigkeit kaum zu überbietende<br />
Verdrehung der Tatsachen darstellte. Die Kolonie<br />
hatte nach den jetzt vorliegenden Berichten beispielsweise<br />
das Zollprivileg dazu mißbraucht, Güter für den<br />
Verkauf in Chile einzuführen, darunter Presseberichten<br />
zufolge auch ein Fahrzeug für den Diktator Pinochet.<br />
Dies mag Anlaß gewesen sein, daß Pinochet<br />
nahe Kräfte die Verfassungskonformität dieses Dekrets<br />
vor dem Verfassungsgericht bestritten haben.<br />
Kurz vor dieser Debatte habe ich die Information aus<br />
Chile bekommen, daß die Klage abgewiesen wurde<br />
und das Dekret verfassungskonform ist. Ich glaube,<br />
daß damit ein weiterer Schritt zur Beendigung eines<br />
ungünstigen Kapitels gemacht worden ist. Der Petitionsausschuß<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es hat dabei<br />
in gutem Geiste mitgewirkt.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)<br />
Lassen Sie mich diese Debatte damit schließen, daß<br />
mir als relativ jungem und neuem Mitglied des Petitionsausschusses<br />
— auch wenn man mir das vielleicht<br />
nicht so ansieht, Kollege Nolting,<br />
(Heiterkeit)<br />
aber ich bin eines der jüngsten Mitglieder des Petitionsausschusses<br />
— die Arbeit viel Freude macht und<br />
daß wir sicherlich auch bei der Diskussion des Jahresberichts<br />
1991 feststellen können, daß wir viel Gutes im<br />
Sinne der Bürger erwirkt haben.<br />
Herzlichen Dank.<br />
(Beifall bei allen Fraktionen)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aussprache.<br />
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:<br />
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />
CSU, SPD und FDP<br />
Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet<br />
des öffentlichen Auftragswesens<br />
— Drucksache 12/770 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Ausschuß für Wirtschaft (federführend)<br />
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau<br />
EG-Ausschuß<br />
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für<br />
die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen<br />
erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete<br />
Dr. Hermann Schwörer.<br />
Dr. Hermann Schwörer (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der<br />
Antrag auf Drucksache 12/770 befaßt sich mit der Verzögerung<br />
bei der Umsetzung der Vergaberichtlinien
2656 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Hermann Schwörer<br />
der EG im Bundesrecht. Zur Vermeidung von Diskriminierungen<br />
von Bietern bei der Vergabe öffentlicher<br />
Aufträge hatte die Kommission 1988 die obengenannten<br />
Richtlinien vorgelegt mit dem Ziel, ein eigenes<br />
Vergabegesetz für diesen Zweck zu erreichen.<br />
In den Verhandlungen setzte sich die deutsche Delegation<br />
dafür ein, erstens die angestrebten Ziele der<br />
Richtlinien durch die Angleichung von VOB und VOL<br />
an den Inhalt der Richtlinie zu verwirklichen und damit<br />
unser bewährtes deutsches Vergabesystem zu behandeln<br />
und zweitens die Nachprüfung einer Entscheidung<br />
der ersten Instanz nicht durch ein Gericht,<br />
schon gar nicht durch ein Verwaltungsgericht, sondern<br />
durch eine gerichtsähnliche Instanz im Verwaltungswege<br />
zu erreichen.<br />
Dieser deutsche Sonderweg wurde in Brüssel akzeptiert,<br />
vor allem nachdem sich der Deutsche <strong>Bundestag</strong><br />
einstimmig für die Erhaltung des deutschen<br />
Vergabeverfahrens ausgesprochen und sich das Europäische<br />
Parlament der deutschen Position angeschlossen<br />
hatte.<br />
Nun hat sich die Bundesregierung darangemacht,<br />
diese Richtlinie durch eine Novelle zum Haushaltsgrundsätzegesetz<br />
in deutsches Recht umzusetzen. Sie<br />
liegt nun im Rohentwurf vor und ist zwischen den<br />
Behörden des Bundes und der Länder fachlich abgestimmt.<br />
Plötzlich gibt es Schwierigkeiten. Durch ein Schreiben<br />
der Europäischen Kommission wurde das früher<br />
Abgesprochene und im Gesetzgebungsverfahren Abgeschlossene<br />
aus rechtlichen Gründen in Frage gestellt.<br />
Die Arbeiten kamen ins Stocken. Die heutige<br />
Debatte soll dafür sorgen, daß die Umsetzung weitergeht,<br />
daß also das von der Bundesregierung ausgearbeitete<br />
Gesetz dem <strong>Bundestag</strong> auch vorgelegt wird.<br />
Ich möchte mich nun mit den rechtlichen Bedenken<br />
befassen, die hiergegen vorgebracht werden und die<br />
nach meiner Meinung unbegründet sind.<br />
Das erste Argument: Die Kommission verlange ein<br />
Vergabegesetz, um damit einen subjektiven Anspruch<br />
im Sinne eines Klagerechts zu verwirklichen.<br />
Diese Forderung der Kommission gab es. Das ist richtig.<br />
Aber bereits in einer früheren Phase, nämlich bei<br />
der Beratung in den europäischen Gremien, ist diese<br />
Richtung der Kommission für die Bundesrepublik fallen<br />
gelassen worden, wie ich schon dargestellt habe.<br />
Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie diese Richtung<br />
nun plötzlich wieder einbringen will. Ich bin der Meinung,<br />
sie muß bei der früher erklärten Haltung bleiben.<br />
Damit kann sie diese Forderung jetzt nicht mehr<br />
stellen.<br />
-<br />
Das zweite, die Berufung auf den EuGH, den Europäischen<br />
Gerichtshof: Dieser wolle ein Klagerecht vor<br />
ordentlichen Gerichten. Auch dieses Argument zieht<br />
nicht. Ein subjektiver Anspruch nach EG-Recht verlangt<br />
nicht unbedingt ein Gerichtsverfahren in der<br />
zweiten Instanz. Es muß nur sichergestellt werden,<br />
daß ein Verstoß gegen Vergaberichtlinien rasch und<br />
wirksam abgestellt wird. Das ist auch im Rahmen des<br />
Haushaltsrechts möglich, so wie es jetzt vorgesehen<br />
ist. Der Europäische Gerichtshof überläßt es nach seiner<br />
bisherigen Rechtsprechung jedem Mitgliedstaat,<br />
wie er die Überprüfung von Rechten, die aus umge<br />
setzten Richtlinien erwachsen, ausgestalten wird. Das<br />
ergibt sich aus seiner bisherigen Rechtsprechung zu<br />
§ 77 des EWG-Vertrages. Auch die Kommission hat<br />
bei der Verabschiedung der Richtlinie durch den Ministerrat<br />
am 21. Dezember 1989 nicht Bedenken aus<br />
der Rechtsprechung des EuGH geltend gemacht.<br />
Das dritte Argument. Es wird behauptet, ohne ein<br />
Vergabegesetz komme es zu einem Durcheinander<br />
von Rechtsbehelfen. Auch das ist nicht richtig. Zwar<br />
ist der Rechtsweg durch die haushaltsrechtliche Lösung<br />
nicht ausgeschlossen. Es ist aber wenig wahrscheinlich,<br />
daß dieser zusätzlich eingeschlagen wird.<br />
Es ist auch heute schon möglich, neben dem VOB-<br />
Verfahren ein Gerichtsverfahren zu erzwingen. Trotzdem<br />
ist es nicht zu einem Durcheinander gekommen.<br />
Warum sollte es in Zukunft so sein, wenn eine funktionierende<br />
Überwachungs- und darüber hinaus eine<br />
unabhängige Instanz existiert?<br />
Viertens. Es wird behauptet, der Bieter könne auf<br />
Grund Art. 19 des Grundgesetzes das Eingreifen eines<br />
Verwaltungsgerichts fordern. Auch das ist nicht richtig.<br />
Die Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 des<br />
Grundgesetzes gilt nur für Rechtsverletzungen durch<br />
die öffentliche Gewalt. Die Vergabe öffentlicher Aufträge<br />
ist jedoch keine hoheitliche, sondern eine fiskalische<br />
Tätigkeit.<br />
Zusammengefaßt: Die vorgesehene haushaltsrechtliche<br />
Lösung ist rechtlich nicht zu beanstanden und<br />
für jeden seriösen Bieter sogar ein Vorteil. Sie schafft<br />
eine Beschwerdeinstanz, die mit Fachleuten des Vergaberechts<br />
besetzt ist. Diese werden für eine schnelle<br />
Abwicklung der Streitigkeiten sorgen — und gerade<br />
diese zügige Erledigung von Differenzen ist ein Erfordernis<br />
unserer Zeit. Alle Bauverwaltungen können ein<br />
Lied davon singen, wieviel Mehrkosten aus Steuermitteln<br />
- aufgebracht werden müssen infolge monate<br />
oder gar jahrelanger Verzögerungen durch zeitraubende<br />
Verwaltungsgerichtsverfahren bei Planfeststellungen.<br />
Wenn diese Verzögerungen auch bei der<br />
Vergabe noch möglich werden, dann wäre eine zügige<br />
Baudurchführung wichtiger öffentlicher Bauvorhaben<br />
überhaupt nicht mehr möglich. Deshalb unterstützt<br />
der Wirtschaftsausschuß, der für diese Mate rie<br />
federführend ist, das Petitum des Bauausschusses, die<br />
begonnene Umsetzung fortzuführen.<br />
Diesem Vorstoß parallel läuft ein Antrag des für<br />
diese Materie im Bundesrat federführenden Landes<br />
Baden-Württemberg. Dort wird verlangt, VOB und<br />
VOL weiterhin beizubehalten und Verwaltungsverfahren<br />
für die Überwachung einzurichten. Dort wird<br />
auch verlangt, die abgesprochenen Arbeiten für die<br />
haushaltsrechtliche Umsetzung umgehend fortzusetzen<br />
und das Gesetzgebungsverfahren einzuleiten.<br />
Dieser Forderung schließe ich mich vollinhaltlich an.<br />
Die Bundesregierung sollte den ausgearbeiteten Entwurf<br />
fertigstellen und umgehend dem Parlament zur<br />
Beschlußfassung vorlegen.<br />
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete<br />
Gabriele Iwersen, Sie haben das Wort.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2657<br />
Gabriele Iwersen (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />
Was erwarten wir von Europa im letzten Jahrzehnt<br />
dieses Jahrtausends? In erster Linie positive Veränderungen<br />
auf dem Weg in eine Gemeinschaft der Regionen<br />
mit annähernd gleichen wirtschaftlichen und sozialen<br />
Bedingungen. Die EG-Kommission arbeitet für<br />
dieses Ziel seit Jahren mit viel Energie und überschwemmt<br />
uns dabei mit einem gewaltigen Meer an<br />
bürokratischen Verfahrensregelungen, in dem die<br />
schöne Idee der Gemeinschaft unterzugehen droht.<br />
Wieder einmal stehen die Baukoordinierungsrichtlinien<br />
und die Überwachungsrichtlinie auf der Tagesordnung.<br />
Es geht um ihre Umsetzung in nationales<br />
Recht. Nach Art. 189 des EWG-Vertrages sind Richtlinien<br />
für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet werden,<br />
hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich,<br />
überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen<br />
die Wahl der Form und der Mittel.<br />
Um diese geeignete Form ist schon in der 11. Wahlperiode<br />
gerungen worden. Das Ergebnis war eindeutig.<br />
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und<br />
Städtebau empfiehlt die Beibehaltung des in der Bundesrepublik<br />
üblichen Vergabesystems durch eine verbindliche<br />
Anwendung der VOB und VOL und erwartet<br />
dazu die notwendige Ergänzung des Haushaltsgrundsätzegesetzes,<br />
in das alle Eckwerte der EG-<br />
Kommissionsrichtlinie eingearbeitet werden müssen.<br />
An dieser Auffassung hat auch die Wahl zur<br />
12. Wahlperiode des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es nichts<br />
ändern können.<br />
Es sei mir aber gestattet, an dieser Stelle mein Erstaunen<br />
zum Ausdruck zu bringen über die Hartnäkkigkeit,<br />
mit der die Willensbildung des Parlaments<br />
und auch die des Bundesrates ignoriert werden; denn<br />
anders kann ich die Tatsache nicht bezeichnen, daß<br />
wir erneut mit dieser Frage konfrontiert werden.<br />
Der gemeinsame Antrag der CDU/CSU, FDP und<br />
SPD soll sowohl der Bundesregierung als auch der<br />
EG-Kommission zeigen, daß der Bauausschuß nicht<br />
bereit ist, ein umfassendes Vergabegesetz mit dem<br />
Rechtsanspruch auf gerichtliche Nachprüfung des<br />
Verfahrens zu akzeptieren. Wir lehnen es ab, die fachkundige<br />
Beurteilung einer Vergabeentscheidung<br />
durch eine rein juristische Beurteilung zu ersetzen.<br />
Schon am 8. März 1989 hat der Bauausschuß eine<br />
diesbezügliche Stellungnahme abgegeben, die bereits<br />
am 9. und 10. März 1989 zu einem entsprechenden<br />
Einlenken der EG-Kommission führte; das heißt,<br />
die Richtlinie enthielt nicht mehr die Notwendigkeit,<br />
den am Vergabeverfahren Beteiligten einen Rechtsanspruch<br />
und, damit verbunden, einen Anspruch auf<br />
gerichtliche Nachprüfung des Verfahrens einzuräumen.<br />
Nach dem dort ausgehandelten Wortlaut würde,<br />
wie vom Ausschuß gefordert, eine Nachprüfung durch<br />
eine Verwaltungsinstanz genügen.<br />
Die EG-Kommission hat außerdem auf ihre Interventions-<br />
und Aussetzungsrechte verzichtet und<br />
wollte nunmehr nur noch gegebenenfalls als Gutachter<br />
die Mitgliedstaaten auf ihre, der EG-Kommission<br />
also bekanntgewordenen Verfahrensverstöße hinweisen<br />
und diese sozusagen aus erzieherischen Gründen<br />
veröffentlichen. Voraussetzung für diese Art der Beschwerdeinstanz<br />
ist allerdings, daß diese wieder von<br />
einer unabhängigen Instanz überprüft werden kann.<br />
Ist auch diese Instanz kein Gericht, so soll sie notfalls<br />
noch einmal einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen.<br />
Soweit der Sachstand vom April 1989, der im großen<br />
und ganzen auch den Einwendungen des Bundesrates<br />
im September 1987 Rechnung trägt.<br />
Am 15. Oktober 1990 erscheint ein Entwurf zur Umsetzung<br />
der EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen<br />
Auftragwesens und der Überwachungsrichtlinie<br />
in das Haushaltsgrundsätzegesetz. Auch die<br />
hierin enthaltene Überwachung durch je einen Beauftragten<br />
für das Vergabewesen bei Bund und Ländern<br />
erscheint allseits akzeptabel. Aber schon wieder treten<br />
Irritationen auf. Ein Schreiben der EG-Kommission<br />
vom September 1990 beanstandet abermals das<br />
Fehlen eines gerichtlichen Verfahrens zur Überprüfung<br />
von Verstößen, diesmal bei der schon längst in<br />
Kraft befindlichen Liefer- und Koordinierungsrichtlinie.<br />
Wieder kommt ein Vergabegesetz ins Gespräch.<br />
Es interessiert mich wirklich, an welcher Stelle dieser<br />
hartnäckige Verfechter juristischer Instanzen sitzt.<br />
Ich sage dies, in der Hoffnung, daß diese Stellungnahme<br />
hier im <strong>Bundestag</strong> mehr Wirkung erzielen<br />
wird als die bisherigen Bemühungen durch <strong>Bundestag</strong>sausschüsse,<br />
Bundesrat, Vertreter des Städtetages,<br />
des Städte- und Gemeindebundes, der Wirtschaftsminister<br />
der Länder, des Bund-Länder-Ausschusses<br />
Haushaltsrecht und Haushaltsdynamik und auch der<br />
Bauindustrie, in deren Interesse angeblich diese Liberalisierung<br />
des europäischen Baumarktes durchgeführt<br />
werden soll.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr<br />
wahr!)<br />
Ich frage denjenigen, der das Verfahren immer wieder<br />
von Anfang an neu aufrollen möchte, in wessen Interesse<br />
er das eigentlich beabsichtigt. Ich würde ja in<br />
diese Richtung gucken, aber ich nehme an, daß er da<br />
nicht sitzt, und deshalb gucke ich weiterhin ins Plenum.<br />
Die Notwendigkeit für eine weitere Liberalisierung<br />
des öffentlichen Auftragswesens im gemeinsamen<br />
Markt und die zu dessen Durchsetzung angeblich notwendige<br />
Überwachung bzw. gerichtliche Überprüfung<br />
sollte doch im Interesse der potentiellen Güter<br />
bei den zukünftigen öffentlichen Ausschreibungen<br />
liegen.<br />
Diese aber lehnen ein Vergabegesetz aus vielerlei<br />
Gründen ab. Wichtige Einwände sind die überlangen<br />
gerichtlichen Verfahren mit der Möglichkeit der Aussetzung<br />
des Vergabeverfahrens. Die Blockadewirkung<br />
dieser Prüfinstrumente muß sich einfach investitionshemmend<br />
auswirken. Daß heißt, es muß befürchtet<br />
werden, daß die vorgeschlagenen endlosen bürokratischen<br />
Verfahren mit anschließenden zeitaufwendigen<br />
gerichtlichen Überprüfungen nicht zu einer<br />
Liberalisierung des Binnenmarktes, sondern zu einem<br />
Zusammenbruch der öffentlichen Investitionstätigkeit<br />
führen.
2658 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Gabriele Iwersen<br />
Eine andere Gefahr liegt auf der Hand: Die VOB<br />
— Verdingungsordnung für das Baugewerbe —, die<br />
nach unserem Wunsch weiterhin Grundlage der öffentlichen<br />
Vergabe bleiben soll, sieht die getrennte<br />
Ausschreibung und Vergabe nach Gewerken vor, so<br />
daß jedes Fachlos an einen anderen mittelständischen<br />
Handwerksbetrieb mit all seiner fachlichen Spezialerfahrung<br />
vergeben werden kann. Hier liegt die Marktchance<br />
für die Handwerksbetriebe. Muß aber eine<br />
ausschreibende Stelle, sagen wir das Bauamt einer<br />
mittleren Kommune am Rande unserer Republik, bei<br />
jedem Fachlos Klagen von nicht berücksichtigten Bietern<br />
aus halb Europa erwarten, wird sie zur eigenen<br />
Absicherung auf die Einzelausschreibungen der Gewerke<br />
verzichten und sich lieber einen Generalübernehmer<br />
suchen, damit der Verwaltungsaufwand und<br />
das Prozeßrisiko kleiner werden. Schon werden die<br />
kleineren Betriebe höchstens noch als Subunternehmer<br />
an öffentlichen Aufträgen beteiligt werden, und<br />
das soll verhindert werden.<br />
Im Gegenteil, wir müssen den einzelnen Regionen<br />
die besondere Fachkunde und Erfahrung der Handwerksbetriebe<br />
gerade in regionaltypischen Bauweisen<br />
erhalten.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Ich komme aus einer Region, in der der Regen zuweilen<br />
waagerecht fällt oder besser weht und durch alle<br />
nur denkbaren feinsten Ritzen und Haarrisse in das<br />
Mauerwerk eindringt. Darüber hinaus drückt der<br />
Wind das Wasser auch aufwärts oder um die Ecken<br />
herum. Die Details, mit denen der ständige Kampf<br />
gegen dieses Element ausgefochten wird, sind auf<br />
dem Papier wunderbar darstellbar. Aber nur ein Maurer,<br />
Klempner oder Tischler, der diese Gemeinheiten<br />
des Wetters kennt, weiß, weshalb hier so unwahrscheinlich<br />
pingelig gearbeitet werden muß.<br />
Das ist hier kein Versuch, wieder über die Fachkunde<br />
Grenzen zu ziehen, sondern ein Hinweis darauf,<br />
daß wir eine Ausschreibungsart erhalten müssen,<br />
die es uns ermöglicht, auch kleinere Betriebe mit besonderen<br />
Erfahrungen — z. B. mit Erfahrungen im<br />
Bauen direkt an der Küste — zu beauftragen.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Dies kann bestimmt ein Holländer genausogut wie<br />
ein <strong>Deutscher</strong> oder ein Däne; aber ein Bonner hat da<br />
vielleicht nicht die notwendige Phantasie, um sich<br />
auch nur annähernd vorzustellen, wie die Probleme<br />
anderswo vor Ort aussehen. Auch in Brüssel glaubt<br />
man offensichtlich, alle Probleme allein durch Juristen<br />
lösen zu können. Da irrt die Kommission jedoch. Zumindest<br />
irrt der eine, der als treibende Kraft - dahintersteht.<br />
Wir wollen kein Europa der Juristen, sondern ein<br />
Europa der Regionen, die zwar nicht durch nationale<br />
Grenzen zusätzlich zerschnitten sind, die sich aber<br />
sehr wohl voneinander unterscheiden. Wenn mein<br />
europäisches Haus an der Küste nun einmal ein zweischaliges<br />
Mauerwerk braucht, möchte ich nicht den<br />
Bau dadurch um ein Jahr verzögert haben, daß ein<br />
Konzern mit eigener Rechtsabteilung und einschlägiger<br />
Erfahrung im erdbebensicheren Bauen von Tiefgaragen<br />
und Parkhochhäusern vor einem Gericht im<br />
„finstersten Binnenland" einen Prozeß gegen das aus<br />
schreibende Bauamt führt, weil er die Vergabe als<br />
Diskriminierung der Alpenvorlandbewohner entlarvt<br />
hat.<br />
In Deutschland haben wir sehr gute Erfahrungen<br />
mit der VOB gemacht und wollen diese auch weiterhin<br />
nutzen, damit die öffentlichen Aufträge auch weiterhin<br />
von den mittelständischen Handwerksbetrieben<br />
ausgeführt werden können, falls diese neben ihrer<br />
besonderen Fachkunde auch konkurrenzfähige<br />
Preise angeboten haben.<br />
Wir sind nicht daran interessiert, Vergaben durch<br />
Juristen abwickeln zu lassen, sondern betrachten das<br />
Vergabewesen immer noch als einen Teilbereich des<br />
Bauwesens und wehren uns deshalb mit allen Mitteln<br />
gegen ein Vergabegesetz, in dem die Verantwortung<br />
auf Juristen verlagert wird.<br />
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU)<br />
Diese Ansicht vertreten Fachleute des Baugewerbes,<br />
der öffentlichen Verwaltung von Bund, Ländern<br />
und Kommunen sowie das Parlament und der Bundesrat.<br />
Mehr an demokratischer Legitimation ist nicht<br />
möglich. Das sollten auch die Beamten in Brüssel und<br />
in Bonn zur Kenntnis nehmen; denn sie haben kein<br />
politisches Mandat, sondern sollen politischen Willen<br />
in problemlos anwendbare Richtlinien oder Gesetze<br />
umsetzen. Oder sollte die treibende Kraft vielleicht<br />
doch ein politischer Beamter sein? Dann sollte er sich<br />
doch der Ansicht seiner Parteifreunde anschließen;<br />
denn dieser Antrag hier ist, wie Sie der Drucksache<br />
entnehmen können, von allen größeren Parteien getragen.<br />
Zu irgendeiner dieser Parteien müßte sich ja<br />
auch dieser politische Beamte zugehörig fühlen. —<br />
Diese Bemerkung bezieht sich selbstverständlich<br />
nicht auf rein zufällig anwesende Personen.<br />
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abgeordnete<br />
Dr. Heinrich Leonhard Kolb.<br />
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Meine<br />
Damen und Herren! Wie bereits bei den Kollegen<br />
Frau Iwersen und Herrn Dr. Schwörer angeklungen,<br />
bietet uns der heute hier zu behandelnde interfraktionelle<br />
Antrag die, wie ich finde, insgesamt nicht allzu<br />
häufig gegebene Möglichkeit, quer durch die Fraktionen<br />
und, wie ich vermute, auch durch die Gruppen,<br />
Einigkeit in einer wichtigen Sachfrage zu demonstrieren.<br />
Bei dem Thema, um das es hier geht, halte ich das<br />
allerdings auch für durchaus angemessen.<br />
Es ist nicht das erste Mal, daß wir uns mit diesem<br />
Problembereich des öffentlichen Auftragswesens beschäftigen<br />
müssen.<br />
Der <strong>Bundestag</strong> hatte vielmehr in der Vergangenheit<br />
bereits mehrfach Gelegenheit, sich mit der Thematik<br />
der Gestaltung und Umsetzung von EG -Richtlinien<br />
und deren Auswirkungen auf das deutsche Vergabewesen<br />
zu befassen.<br />
Auch damals schon herrschte Einigkeit zwischen<br />
den Fraktionen. Damals wie heute ging es um die
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2659<br />
Dr. Heinrich L. Kolb<br />
Erhaltung des bewährten deutschen Vergabesystems.<br />
Die Voraussetzungen dafür wurden in mühsamen<br />
Verhandlungen auf EG-Ebene geschaffen. Mit erheblichen<br />
Anstrengungen war es möglich, daß die Bundesrepublik<br />
durchsetzte, die EG- Überwachungsrichtlinie<br />
auch auf den Einsatz außergerichtlicher Rechtsbehelfe<br />
auszudehnen, so daß man mit einer Beschwerde<br />
nicht mehr zwingend vor Gericht gehen<br />
muß, sondern sie an dafür eingerichtete Überprüfungsstellen,<br />
vergleichbar mit unseren früheren<br />
Schiedsstellen, richten kann.<br />
Nun sehen wir heute erneut Anlaß, unseren politischen<br />
Willen deutlich zu machen und diese mühsam<br />
bewahrte Möglichkeit zur Beibehaltung des deutschen<br />
Vergabewesens auf nationaler Ebene zu nutzen.<br />
Das heißt, die Umsetzung der EG-Überwachungsrichtlinie<br />
muß im Wege des Haushaltsrechts<br />
erfolgen. Ein eigenes Vergabegesetz lehnen wir ab.<br />
Damit sprechen wir uns nicht gegen einen wirksamen<br />
Wettbewerb aus. Im Gegenteil, wir wollen Wettbewerb<br />
auch auf den Beschaffungsmärkten öffentlicher<br />
Auftraggeber. Wir sind aber überzeugt, daß die<br />
juristischen Bedenken, die gegen die haushaltsrechtliche<br />
Lösung gelegentlich erhoben werden, auch bei<br />
sorgfältiger Prüfung und Abwägung nicht schwer genug<br />
wiegen, um von diesem erfolgreichen Weg abzugehen.<br />
Betroffene, Wirtschaftsfachleute und Gutachter<br />
sind mit uns dieser Meinung.<br />
Es ist bei den früheren Debatten zu diesem Thema<br />
schon zutreffend ausgeführt worden, daß zunehmend<br />
die Gefahr besteht, daß EG-Regelungen zu einer<br />
Überbürokratisierung führen. Das kann und darf nicht<br />
im Sinne eines lebendigen, vielfältig strukturierten<br />
und wirtschaftlich aktiven Europa sein. Natürlich ist<br />
es auch unser Ziel, im Sinne des europäischen Binnenmarktes<br />
den Marktzugang über die Grenzen hinweg<br />
zu gewährleisten. Dazu gehören selbstverständlich<br />
auch Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten. Es besteht<br />
aber kein Grund, sich von einem seit 60 Jahren<br />
funktionierenden System, wie es in der Bundesrepublik<br />
Deutschland besteht, ohne zwingende Notwendigkeit<br />
zu trennen, wenn — und davon sind wir überzeugt<br />
— der Zweck der EG-Regelungen auch mit unserem<br />
bestehenden Regelwerk vollkommen erreicht<br />
wird.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />
SPD)<br />
Ein Gesetzentwurf zur Umsetzung der EG-Richtlinie<br />
über das Haushaltsrecht ist in den Ministerien<br />
bereits erarbeitet worden. Unser gemeinsamer Antrag<br />
nimmt darauf Bezug. Mit einer solchen Regelung soll<br />
Bietern, die sich durch einen Verstoß gegen die Vergaberegelungen<br />
benachteiligt fühlen, wirksamer<br />
Rechtsschutz gewährt werden. Die Einschaltung von<br />
Gerichten zur regelmäßigen Überprüfung von Vergabeverfahren<br />
wird aber vermieden.<br />
Mit einem Vergabegesetz wären dagegen zwangsläufig<br />
Gerichtsverfahren verbunden, und diese würden<br />
sich im Falle großer Aufträge besonders problematisch<br />
auswirken. Für diese soll die zu suchende<br />
Regelung gerade gelten. Solche großen Aufträge sind<br />
gekennzeichnet durch eine Aufgliederung des Gesamtprojekts<br />
in zahlreiche Teillose. Die Klage gegen<br />
ein im Sinne des Baufortschritts grundlegendes Los<br />
müßte zwangsläufig dazu führen, daß das gesamte<br />
Projekt gestoppt würde. Terminverzug oder auch<br />
Schadenersatzforderungen derjenigen Auftragnehmer,<br />
deren Lose ohne eigenes Verschulden gestoppt<br />
würden, stellten ein besonderes Risiko für die öffentlichen<br />
Auftraggeber dar.<br />
Der von mir beschriebene Fall brächte überdies die<br />
Gefahr mit sich, daß Auftraggeber, die die EG-Richtlinie<br />
beachten müssen, aus Sorge vor Verfahrensverzögerungen<br />
künftig überwiegend Generalunternehmer<br />
beauftragen würden. Das hätte gravierende Auswirkungen<br />
vor allen Dingen für den Mittelstand; denn<br />
im Baugewerbe sind zu 90 % mittelständische Betriebe<br />
tätig. Hier bin ich der Meinung, daß wir als<br />
gewählte Parlamentarier eines Landes, das zu Recht<br />
und mit Stolz die wirtschaftliche Bedeutung seines<br />
Mittelstandes betont, gut beraten sind, diese Bedrohung<br />
ernst zu nehmen.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />
SPD)<br />
Meine Damen und Herren, der interfraktionelle Antrag<br />
dient dazu, unseren gemeinsamen politischen<br />
Willen noch einmal deutlich zu machen. Wir wollen<br />
miteinander am Europa der Zukunft bauen, nicht aber<br />
miteinander prozessieren.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />
SPD)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parlamentarische<br />
Staatssekretär beim Bundesminister für<br />
Wirtschaft, unser Kollege Klaus Beckmann.<br />
Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr<br />
verehrten Damen! Meine Herren! Einmal mehr verursacht<br />
uns die Umsetzung von EG-Richtlinien in nationales<br />
Recht erhebliche Schwierigkeiten. Die sogenannte<br />
Überwachungsrichtlinie legt fest, welche<br />
Rechte die Mitgliedstaaten Bietern einräumen müssen,<br />
die sich gegen Form- und Rechtsverstoß bei der<br />
Vergabe öffentlicher Aufträge zur Wehr setzen wollen.<br />
Dieses Thema ist für uns Deutsche deshalb so<br />
schwierig, weil wir unsere Vergabegrundsätze aus<br />
alter Tradition im internationalen Vergleich zwar vorbildlich<br />
entwickelt, zugleich aber auch Wert darauf<br />
gelegt haben, die Rechtsform von innerdienstlichen<br />
Weisungen beizubehalten. Freilich sind das keine<br />
Weisungen üblicher Art. Sie werden vielmehr in Verdingungsausschüssen<br />
mit der Wirtschaft bis in alle<br />
Details diskutiert, und zwar in der Regel so lange, bis<br />
ein Konsens gefunden ist. Durch ihre amtliche Veröffentlichung<br />
zeigt dann die Exekutive, daß sie diese<br />
Regeln als für ihr Verwaltungshandeln verbindlich<br />
anerkennt.<br />
Um dieses System auch nach der EG-Harmonisierung<br />
in etwa beibehalten zu können, ist es dem Bundeswirtschaftsminister<br />
in enger Zusammenarbeit mit<br />
dem Bundesbauminister in langwierigen Brüsseler<br />
Verhandlungen gelungen, zu erreichen, daß eigentlich<br />
speziell für den deutschen Gebrauch eine Son-
2660 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann<br />
derregelung geschaffen wurde. Hiernach gibt es neben<br />
dem üblichen gerichtlichen Verfahren eine als<br />
gleichwertig anerkannte Überprüfung: zunächst<br />
durch eine Beschwerdeinstanz und sodann — in rein<br />
rechtlicher Hinsicht — durch eine unabhängige, gerichtsähnliche<br />
Instanz.<br />
Auf dieser Basis haben die beteiligten Ressorts im<br />
Herbst 1990 einen Gesetzentwurf erarbeitet, der im<br />
Kern darauf beruht, die erforderliche Neuregelung in<br />
das Haushaltsgrundsätzegesetz aufzunehmen und<br />
die Bundesregierung zu ermächtigen, auf der Basis<br />
der dort vorgesehenen drei neuen Paragraphen mit<br />
Zustimmung des Bundesrates die entsprechenden<br />
Verordnungen zu erlassen. Dadurch werden die Verdingungsordnungen<br />
in toto den Rechtscharakter von<br />
Verordnungen erhalten. Dies ist nötig, um auch solche<br />
Auftraggeber den Vergaberegelungen zu unterwerfen,<br />
die privatrechtlich als GmbH oder als Aktiengesellschaft<br />
organisiert sind, aber nach EG-Recht<br />
dennoch zu deren Anwendung zu verpflichten sind.<br />
Andererseits zeigt die Verankerung im Haushaltsrecht,<br />
daß der für die Umsetzung verantwortliche Gesetzgeber<br />
die klare Absicht hat, einen Zugang zu den<br />
normalen Ge richten nicht zu gewähren.<br />
Leider — das will ich hier auch sagen — sind bei der<br />
weiteren Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs, der<br />
Anfang dieses Jahres auch mit den Ländern abgestimmt<br />
wurde, aus zweierlei Richtung Bedenken aufgetaucht,<br />
die ich hier nicht verhehlen möchte.<br />
Zum einen droht die EG-Kommission mit Klage. Sie<br />
meint, es genüge nicht, wenn ein abgewiesener Bieter<br />
die Überprüfung bei den außergerichtlichen Instanzen<br />
lediglich beantragen könne; er müsse vielmehr<br />
einen subjektiven Anspruch hierauf bekommen. Würden<br />
wir uns aber darauf einlassen, so würde dies nach<br />
Art. 19 Abs. 4 unserer Verfassung zwangsweise den<br />
Weg zu den Gerichten eröffnen.<br />
Das andere Bedenken kommt aus unserer nationalen<br />
Rechtsordnung. Der Bundesjustizminister — das<br />
will ich hier auch noch erwähnen — weist darauf hin,<br />
daß ganz unabhängig von der erwähnten Gefahr eines<br />
Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof allein<br />
die Tatsache, daß unsere Verdingungsordnungen<br />
künftig zu Rechtsverordnungen würden, genüge, um<br />
zusätzlich den Weg zu den Gerichten zu eröffnen, und<br />
zwar nebeneinander gleichermaßen zu den Verwaltungs-<br />
wie auch zu den Zivilgerichten.<br />
Andererseits, verehrte Kolleginnen und Kollegen,<br />
stehen diesen noch in Diskussion befindlichen Bedenken<br />
der dezidierte Wunsch der Koalitionsfraktionen<br />
bzw. wie ich heute abend gesehen habe, -der drei größeren<br />
Fraktionen dieses Hauses nach Verwirklichung<br />
der angedachten haushaltsrechtlichen Lösung und<br />
der Zeitdruck zur Umsetzung der Richtlinie bis Ende<br />
dieses Jahres gegenüber.<br />
Der Bundeswirtschaftsminister hat deshalb in Verfolgung<br />
der haushaltsrechtlichen Lösung am 12. Juni<br />
dieses Jahres die Verbände angehört. Diese haben<br />
sich für die haushaltsrechtliche Lösung ausgesprochen,<br />
zur Überprüfung der Einzelheiten aber um einige<br />
Wochen Zeit bis zu ihrer definitiven Äußerung<br />
gebeten. Auch die Länder möchten zu den Einzelheiten<br />
des Entwurfs noch einmal Stellung nehmen und<br />
waren im übrigen der Meinung, daß das EG-Recht der<br />
haushaltsrechtlichen Lösung nicht entgegenstehe.<br />
Leider — das will ich hier auch sagen — hat EG-Vizepräsident<br />
Bangemann in seiner soeben, also nach der<br />
Anhörung eingegangenen Antwort auf eine Anfrage<br />
des früheren Staatssekretärs Schlecht ausgeführt, er,<br />
- die Kommission habe keine Zweifel, daß die Liefer<br />
und die Baukoordinierungsrichtlinie nach der Rechtsprechung<br />
des EuGH subjektive Rechte des einzelnen<br />
herbeiführten.<br />
Bei der Beratung des heutigen Entschließungsantrags<br />
in den Ausschüssen wird deshalb Gelegenheit<br />
sein, über den Fortgang der Arbeiten zu berichten und<br />
dabei auch die Antwort von Vizepräsident Bangemann<br />
zu werten. Außerdem kann dann auch schon<br />
das Konzept für die Umsetzung der sogenannten Sektorenüberwachungsrichtlinie,<br />
die der Binnenmarktrat<br />
gestern im ersten Durchgang beschlossen hat, in die<br />
Beratungen einbezogen werden. Ich glaube, wir werden<br />
uns hier noch viele Gedanken machen müssen.<br />
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der FDP und der SPD)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ich erteilte dem Abgeordneten<br />
Georg Brunnhuber das Wort.<br />
(Dr. Hermann Schwörer [CDU/CSU]: Jung<br />
fernrede!)<br />
Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die deutsche<br />
Wiedervereinigung und die Probleme in den neuen<br />
Bundesländern haben die Bedeutung eines nach wie<br />
vor wichtigen Zieles deutscher Politik ein wenig in<br />
den Hintergrund treten lassen: die Schaffung des Europäischen<br />
Binnenmarktes.<br />
Wenn Europa zu einem Binnenmarkt zusammenwachsen<br />
soll, ist es unerläßlich, daß die Unternehmen<br />
der verschiedenen EG-Staaten über die nationalen<br />
Grenzen hinweg gleiche Chancen erhalten. Die Baukoordinierungsrichtlinie<br />
will dies durch eine Reihe<br />
von Maßnahmen sicherstellen. Die Überwachungsrichtlinie<br />
hat das Ziel, durch Kontrollen und Sanktionen<br />
die Einhaltung der Vergabevorschriften der Gemeinschaft<br />
zu gewährleisten.<br />
<strong>Bundestag</strong> und Bundesrat haben sich in den vergangenen<br />
Jahren ausführlich mit beiden Richtlinienentwürfen<br />
befaßt und sind jeweils einmütig für eine<br />
Richtlinienfassung angetreten, die die Umsetzung<br />
dieser Richtlinie durch Anpassung der Verdingungsordnung<br />
für Bauleistungen sowie haushaltsrechtlicher<br />
Vorschriften gewährleistet. Dies entsprach im<br />
übrigen dem bei der Umsetzung der Baukoordinierungsrichtlinie<br />
seit 1973 gewählten Vorgehen, das<br />
von der EG-Kommission bis dato nicht beanstandet<br />
wurde. Trotzdem wird nun von der EG-Kommission<br />
erneut die Auffassung vertreten, daß zur Umsetzung<br />
der EG-Richtlinie ein Vergabegesetz erforderlich<br />
sei.<br />
Dabei gibt es zwei Aspekte zu berücksichtigen, und<br />
zwar einerseits den rechtlichen, auf den vor allem der<br />
Kollege Schwörer schon detailliert eingegangen ist,<br />
(Manfred Carstens [Emstek] [CDU/CSU]:<br />
Das hat er gut gemacht!)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2661<br />
Georg Brunnhuber<br />
und andererseits die praktischen Auswirkungen, die<br />
ein Vergabegesetz hätte.<br />
Bei einem Vergabegesetz hat, wie schon erwähnt,<br />
jeder abgewiesene Bieter die Möglichkeit, durch<br />
Wahrnehmung seines subjektiven Rechtes den Verwaltungsrechtsweg<br />
zu beschreiten und damit überlange<br />
gerichtliche Verfahren einzuleiten, die so weit<br />
gehen könnten, daß die Aussetzung des Vergabeverfahrens<br />
bis zur endgültigen Entscheidung notwendig<br />
wäre. Dies hätte, worauf Frau Iwersen zu Recht hingewiesen<br />
hat, unübersehbare Blockadewirkungen<br />
zur Folge und würde sich darüber hinaus äußerst investitionshemmend<br />
auswirken.<br />
(Manfred Carstens [Emstek] [CDU/CSU]:<br />
Sehr wahr! — Zurufe von der CDU/CSU:<br />
Sehr gut!)<br />
Für den Aufbau in den neuen Bundesländern wäre<br />
dies verheerend und verhängnisvoll.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />
SPD)<br />
Man muß sich hier auch fragen: Was macht es für<br />
einen Sinn, daß die Regierung derzeit Überlegungen<br />
anstellt, wie man das Planungsverfahren beschleunigt,<br />
wenn nachher bei der Ausschreibung eine Baustelle<br />
nicht begonnen werden kann, weil durch die<br />
Wahrnehmung subjektiven Rechtes eines Bieters bei<br />
gerichtlichen Verfahren die Baumaßnahme Monate<br />
verzögert würde und das, was durch eine schnellere<br />
Planung an Zeit eingespart wurde, durch das EG-Vergabegesetz<br />
verlorenginge?<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Die CDU/CSU-Fraktion ist deshalb der Meinung,<br />
daß schon aus diesem Grund die Regierung in Brüssel<br />
mit Vehemenz gegen dieses Vergabegesetz vorgehen<br />
muß.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)<br />
Der für die mittelständische Indust rie verhängnisvollste<br />
Aspekt bei der Einführung dieses Vergabegesetzes<br />
wäre die zukünftige Ausschreibungspraxis.<br />
Nach der VOB ist vorgesehen, daß getrennte Ausschreibungen<br />
und die Vergabe von Bauaufträgen<br />
nach Fachlosen und Gewerken zu erfolgen haben,<br />
dies ganz besonders, um mittelständischen Baubetrieben<br />
Marktchancen zu eröffnen. Eine Mehrzahl von<br />
Ausschreibungen für eine Baumaßnahme würde das<br />
Prozeßrisiko durch Klagen nicht berücksichtigter Bieter<br />
deutlich erhöhen. Um das Prozeßrisiko zu minimieren,<br />
würden die vergebenden und ausschreibenden<br />
Stellen dazu übergehen, ganze Bauwerke nur<br />
-<br />
noch an<br />
Generalunternehmer auszuschreiben, was den Kreis<br />
der konkurrierenden Firmen deutlich verringern<br />
würde. Viele kleine und mittlere Bet riebe könnten<br />
dann allenfalls nur noch als Unterauftragnehmer beschäftigt<br />
werden. Dadurch würde ein Konzentrationsprozeß<br />
in Gang kommen, der gerade die mittelständische<br />
Wirtschaftsstruktur in der Baubranche stark beeinträchtigen<br />
würde. Dies kann auch nicht im Interesse<br />
der Europäischen Gemeinschaft sein.<br />
Auch das Wirtschaftsministerium der Bundesrepublik<br />
Deutschland ist aus den oben genannten Gründen<br />
dazu herausgefordert, mit Engagement, Sachkunde<br />
und den vorhandenen guten rechtlichen Argu<br />
menten, wie wir gehört haben, in Brüssel ein Vergabegesetz<br />
zu verhindern.<br />
Alle diese Gesichtspunkte haben den Ausschuß für<br />
Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bewogen,<br />
dem <strong>Bundestag</strong> zu empfehlen, für eine Lösung im<br />
Rahmen unseres bewährten Systems der VOB und der<br />
VOL einzutreten.<br />
Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> sollte diese Empfehlung<br />
nicht nur deshalb annehmen, um zu verhindern, daß<br />
eine übermächtige europäische Bürokratie alles erdrückt<br />
und daß die mittelständische Bauwirtschaft<br />
das Nachsehen hätte, sondern es geht hier auch um<br />
das Selbstverständnis dieses Parlaments, das bei der<br />
Schaffung des EG-Gemeinschaftsrechts und der Umsetzung<br />
europäischer Vorstellungen ohnehin schon<br />
fast auf eine Zuschauerrolle reduziert ist.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)<br />
Europa braucht das wache Auge des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es.<br />
Wir fordern die Bundesregierung auf, alles<br />
zu tun, um in Brüssel eine ordnungsgemäße, in unserem<br />
Sinn ausgestaltete Lösung zu erzielen.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP und der SPD)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aussprache.<br />
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf<br />
Drucksache 12/770 an die in der Tagesordnung genannten<br />
Ausschüsse zu überweisen. Der EG-Ausschuß<br />
erhält die Vorlage zur Mitberatung nach seiner<br />
Konstituierung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge?<br />
— Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung<br />
so beschlossen.<br />
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:<br />
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia<br />
Nolte, Dr. Maria Böhmer, Monika Brudlewsky,<br />
weiterer Abgeordneter und der Fraktion<br />
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten<br />
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,<br />
Dr. Eva Pohl, weiterer<br />
Abgeordneter und der Fraktion der FDP<br />
Fristverlängerung zur Antragstellung auf Aufhebung<br />
von Zwangsadoptionen<br />
— Drucksache 12/763 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Rechtsausschuß (federführend)<br />
Ausschuß für Familie und Senioren<br />
Ausschuß für Frauen und Jugend<br />
Interfraktionell gibt es eine Einigung, daß die Beiträge<br />
zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben<br />
werden. — Dazu sehe ich auch keinen Widerspruch.<br />
Dann ist das so beschlossen *)<br />
Interfraktionell wird ebenfalls vorgeschlagen, die<br />
Vorlage auf Drucksache 12/763 an die in der Tagesordnung<br />
genannten Ausschüsse zu überweisen. Besteht<br />
damit Einverständnis, oder gibt es andere Vorschläge?<br />
— Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung<br />
so beschlossen.<br />
*) Anlage 6
2662 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsident Hans Klein<br />
Meine Damen und Herren, jetzt sind die Redner für<br />
den Tagesordnungspunkt 10 noch nicht da.<br />
(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Also kön<br />
nen wir das auch absetzen!)<br />
Dann überblättere ich zunächst einmal diesen Tagesordnungspunkt,<br />
bis die Kolleginnen und Kollegen im<br />
Saal sind.<br />
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:<br />
Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis<br />
90/DIE GRÜNEN<br />
Nationale und internationale Konsequenzen<br />
der ökologischen Auswirkungen des Golf<br />
Krieges<br />
— Drucksache 12/779 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />
(federführend)<br />
Auswärtiger Ausschuß<br />
Rechtsausschuß<br />
Finanzausschuß<br />
Ausschuß für Wirtschaft<br />
Verteidigungsausschuß<br />
Ausschuß für Verkehr<br />
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
Haushaltsausschuß<br />
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Runde<br />
mit Zehn-Minuten-Beiträgen vereinbart worden. —<br />
Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.<br />
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete<br />
Dr. Feige.<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />
Der frühe Debattenzeitpunkt wird jetzt, glaube ich,<br />
einige Kollegen in Verlegenheit bringen, die diesen<br />
Beitrag ebenfalls kommentieren wollten. Aber ich<br />
denke, sie werden im Laufe der Zeit noch eintrudeln.<br />
Gestern früh, auf dem Weg zur Pressekonferenz,<br />
fragte mich ein Kollege, zu welchem Thema ich mich<br />
denn dort äußern wolle. Die Antwort war, daß es um<br />
die ökologischen Auswirkungen des Golfkrieges<br />
gehe. Dies veranlaßte ihn — sinngemäß — zu der Aussage:<br />
Wen interessiert denn jetzt so etwas? Da kommt<br />
ja nicht einmal Berlin und Bonn drin vor. — Somit,<br />
meinte er, sei es schon fast aussichtslos, daß das Aufmerksamkeit<br />
bekomme.<br />
(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)<br />
Es stimmt: Der Krieg am Golf ist zu Ende. Die Kon-<br />
-<br />
fetti-Siegesparaden wollen uns gar suggerieren, alles<br />
sei wieder in bester Ordnung. Aber noch brennen die<br />
Schlachtfelder, noch sterben die Menschen an den<br />
Folgen dieses Krieges, der, genau gesehen, ein Krieg<br />
um Erdöl war. Es werden noch lange Menschen und<br />
vor allem Kinder an den Spätfolgen dieses datengeschützten<br />
Umweltkrieges umkommen. Die Zensur<br />
über die genauen Kriegsfolgen besteht immer noch.<br />
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Saddam<br />
Hussein ist ein Verbrecher. Aber Verbrecher sind<br />
auch all diejenigen, die ihn aktiv gefördert haben, ihm<br />
die Waffen lieferten oder ihn technisch beraten haben.<br />
Nicht erst seit Hiroshima sind die Auswirkungen<br />
eines Krieges auf die natürlichen Lebensgrundlagen<br />
bekannt. Die Giftgaseinsätze im Ersten Weltkrieg töteten<br />
nicht nur zigtausend Soldaten, sie rotteten auch<br />
alles höhere tierische Leben im Frontgebiet aus. Ich<br />
möchte hier nur an die Schlachten von Verdun erinnern.<br />
Selbst auf dem Gebiet sogenannter konventioneller<br />
Kriegswaffen gibt es kein Tötungsinstrument<br />
mehr, das nicht nachhaltig auf die Umwelt wirken<br />
kann. So beinhaltet jeder Krieg, der heute geführt<br />
wird, die Gefahr der unwiederb ringlichen Vernichtung<br />
wertvoller Ökosysteme oder der Erde selbst. Da<br />
wir nun einmal nur diese eine Erde haben, ist es die<br />
Pflicht der friedensbewahrenden Menschen, endlich<br />
Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln und die<br />
Menschenrechte und die Freiheit ohne den Einsatz<br />
des Waffenarsenals sogenannter moderner Kriege zu<br />
sichern.<br />
Es kann eben nicht nur darum gehen, mit Nachsorgemaßnahmen<br />
und einer internationalen Neubewertung<br />
der Umweltauswirkungen von Kriegen den Eindruck<br />
zu erwecken, als wäre die ökologische Bedrohung<br />
der Menschheit durch technischen Umweltschutz<br />
oder völkerrechtliche Vereinbarungen zu bewältigen.<br />
Es muß um die Beseitigung der Kriegsursachen<br />
selbst gehen.<br />
In Kuwait brennen die Ölfelder. Mediziner raten<br />
jedem, der es sich leisten kann, das Land zu verlassen.<br />
Die regionalen oder globalen Folgen der Ölbrände,<br />
die möglicherweise erst in Jahren gelöscht sein werden,<br />
sind völlig unabsehbar. Aber nicht nur das: Unmengen<br />
Rohöl sind in den Persischen Golf geflossen.<br />
Dort, wo das Öl unmittelbar auf Meeresfauna und<br />
-flora trifft, vergiftet und vernichtet es sofort alles Leben.<br />
Treibende Fischeier und Larven erleiden irreparable<br />
Schäden; Vögel, deren Gefieder verklebt, erfrieren<br />
oder müssen jämmerlich ertrinken. Es erscheint<br />
schon makaber, wenn sogenannte Experten angesichts<br />
der dicken ausgehärteten Ölfladen an den<br />
Stränden von einer „angenehmen Küstensicherung"<br />
oder „Verfestigung" sprechen.<br />
Aber schon die sogenannten normalen Folgen des<br />
Krieges können sich zu einer langen Liste von Zeitbomben<br />
summieren. Hunderttausende Minen und<br />
Bomben, eine Unmenge von Kampfstoffen verseuchen<br />
Böden und Luft, erzeugen gefährliche Altlasten,<br />
deren Sanierung nur mit Milliardenaufwand möglich<br />
sein wird. Die Zerstörung von Ent- und Versorgungssystemen<br />
führte in größeren Städten bereits nach wenigen<br />
Tagen zum Zusammenbruch der Strom- und<br />
der Wasserversorgung. Gesundheitsgefahren durch<br />
schlechte Wasserqualiltät und unzureichende medizinische<br />
Versorgungsmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung<br />
sind die Folge.<br />
Lange genug hat sich Deutschland intensiv an der<br />
Verbrennung jahrmillionenlang aufgespeicherter<br />
Sonnenenergie beteiligt und auch gut vom Golföl gelebt.<br />
Ohne diese Voraussetzung wäre die Regierung<br />
auch nicht in der Lage gewesen, so problemlos die fast<br />
20 Milliarden DM für die Unterstützung des militärischen<br />
Einsatzes der USA bzw. der Alliierten aufzubringen.<br />
Aus einem Gefühl der Mitverantwortung für<br />
die Zukunft und nicht zur Restaurierung eines vergangenen<br />
Status quo muß die Bundesrepublik
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2663<br />
Dr. Klaus-Dieter Feige<br />
Deutschland der Bevölkerung der betroffenen Region<br />
in besonderer Weise verpflichtet sein.<br />
Diese Mitverantwortung ist dann auch eine Mitverantwortung<br />
für den Schutz des Ökosystems Erde. Die<br />
drohende Erwärmung der Erdatmosphäre und die<br />
fortschreitende Zerstörung der Ozonschicht haben<br />
bereits in den letzten Jahren deutlich gemacht, daß<br />
nur eine strukturelle Veränderung der wirtschaftlichen<br />
Abhängigkeit von fossilen Energieträgern die<br />
Gefahren des Treibhauseffektes und anderer umweltund<br />
gesundheitsschädigender Auswirkungen der<br />
Verbrennung fossiler Energieträger mildern kann.<br />
Drei Erdölkrisen in 17 Jahren und schließlich der<br />
Golfkrieg sind eine kleine Warnung, daß die Welt auf<br />
dem Weg der Unabhängigkeit vom Öl nicht weitergehen<br />
kann.<br />
Ich weiß, die Damen und Herren der Koalition werden<br />
wie bei der Diskussion des Antrags der SPD-Fraktion<br />
zur Hilfe beim Löschen der kuwaitischen Ölbrände<br />
in der letzten Woche wieder beteuern, daß sie<br />
ja schon alles Mögliche versucht haben. Doch die versprengte<br />
unkonzeptionelle Hilfe an einzelnen Punkten<br />
genügt der erforderlichen deutschen Mitverantwortung<br />
keineswegs. Erst ein Gefüge aus Soforthilfen,<br />
vorbeugenden technischen und langfristig wirkenden<br />
politischen Maßnahmen auch hier bei uns zu<br />
Hause in Deutschland gibt uns die Chance zu einer<br />
Lösung für diese Herausforderung.<br />
In unserem Antrag haben wir ein Bündel notwendiger<br />
Maßnahmen zusammengefaßt. Erstens: umfassende<br />
Hilfeleistung bei der Erkundung, Erforschung,<br />
Beseitigung von unmittelbaren Kriegsauswirkungen<br />
durch die Ölpest im Persischen Golf; das, was dort<br />
angedacht ist, reicht nicht.<br />
Zweitens. Die bereits bestehenden Bemühungen<br />
bei der Löschung der Ölbrände sind zu intensivieren<br />
und auch durch internationale Aktivitäten zu unterstützen.<br />
Hierbei geht es auch um die Bereitstellung<br />
finanzieller Mittel.<br />
Drittens. Beim Umweltbundesamt ist eine Expertengruppe<br />
zusammenzustellen, die unmittelbar mit<br />
der regionalen Umweltorganisation ROPME zusammenarbeiten<br />
kann.<br />
Viertens. Kurzfristig ist ein humanitäres Hilfsprogramm<br />
zur Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung,<br />
Trinkwasserbereitstellung und medizinische<br />
Betreuung der Zivilbevölkerung in den betroffenen<br />
Gebieten aufzubauen. Die Arbeiten von Organisationen<br />
wie Rotem Kreuz beziehungsweise Rotem Halbmond<br />
in den von Flüchtlingsströmen betroffenen Gebieten<br />
sind mit 1 Milliarde DM zu unterstützen.<br />
Fünftens. Die Bundesregierung sollte eine Konferenz<br />
der Vertragsstaaten des Umweltkriegsübereinkommens<br />
mit dem Ziel der Überprüfung und Verschärfung<br />
des Abkommens beantragen, um eine internationale<br />
Ächtung und Verfolgung von Methoden<br />
der Kriegführung gegen die Umwelt zu erreichen, und<br />
sie sollte auf alle Partner in der NATO einwirken, endlich<br />
das Umweltkriegsübereinkommen und das<br />
46. Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention der Vereinten<br />
Nationen von 1977 verbindlich anzuerkennen.<br />
Sechstens. Die Folgen aus Kriegen und fossile Energieträger<br />
machen zwingend einen konsequenten Umbau<br />
auch der nationalen Wirtschaftsweise notwendig.<br />
Das betrifft sowohl die Energieproduktion überhaupt,<br />
insbesondere Markteinführungshilfen für erneuerbare<br />
Energieträger bei gleichzeitiger Einschränkung<br />
beziehungsweise dem mittelfristigen<br />
Ausstieg aus der Öl- und Atomwirtschaft. Das bedeutet<br />
aber auch, unverzüglich den Stromvertrag in den<br />
neuen Bundesländern zu annullieren und den ostdeutschen<br />
Kommunen beim Aufbau eigenständiger<br />
Energiedienstleistungsunternehmen zu helfen.<br />
Siebtens. Wir schlagen Maßnahmen für eine umfassende<br />
Neugestaltung der Verkehrspolitik der Bundesrepublik<br />
vor. Ein wesentliches Element ist dabei<br />
der Auftrag an die Regierung, dem <strong>Bundestag</strong> noch<br />
1991 einen Entwurf eines Mineralölabgabegesetzes<br />
vorzulegen, durch den über eine spürbare Verteuerung<br />
von Vergaser- und Dieselkraftstoff eine nennenswerte<br />
Verlagerung von motorisiertem zu nichtmotorisiertem<br />
Individualverkehr und öffentlichem<br />
Personennahverkehr gewährleistet wird.<br />
Achtens und letztens. Die Bundesregierung wird<br />
aufgefordert, sich für einen globalen und umfassenden<br />
Schuldenerlaß für die Länder der sogenannten<br />
Dritten Welt einzusetzen, um für diese die Chancen<br />
ökologischer und sozialer Reformen wesentlich zu<br />
verbessern und eine ressourcenschonende Wirtschaft<br />
aufzubauen. Dies setzt allein schon aus Gründen der<br />
Glaubwürdigkeit natürlich die Durchführung der vorgeschlagenen<br />
umfassenden Aktivitäten auf nationaler<br />
Ebene voraus.<br />
Es darf keinen Krieg mehr geben.<br />
Ich danke für die Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der<br />
PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der<br />
SPD)<br />
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Feige, es<br />
war ein Mißverständnis. Es war eine Zehn-Minuten-<br />
Rede vereinbart, Sie haben sich durch die Lampe, die<br />
da dauernd leuchtet, aber nicht ganz aus der Fassung<br />
bringen lassen.<br />
Es geht mit Zehn-Minuten-Beiträgen weiter. Der<br />
nächste Redner ist unser Kollege Dr. Norbert Rieder.<br />
Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel hat uns die<br />
Situation am Golf gezeigt, daß wir Deutsche uns nicht<br />
isoliert sehen dürfen, vor allen Dingen nicht isoliert<br />
von den militärischen und ökologischen Folgen eines<br />
Konflikts, der sich scheinbar weit weg von uns abspielt.<br />
Es kann uns eben nicht mehr egal sein, wenn<br />
sich weit hinten in der Türkei die Völker schlagen;<br />
doch die Politik der Bundesregierung zeigte eindeutig,<br />
daß eine isolierte Haltung, ein Zurücklehnen in<br />
den bequemen Ohrensessel eben nicht ihre Art ist, hat<br />
doch Minister Töpfer sehr schnelle Hilfe gebracht.<br />
Unsere deutschen Ölsperren haben in vielen Fällen<br />
das Schlimmste verhindert, wenn auch diese Hilfe bei<br />
der Größe der Aufgabe mitten im verminten Gebiet<br />
nur ein Tropfen auf den heißen Stein war. Deutsche<br />
Meßtechnik ist zur Erfassung der ökologischen Ge-
2664 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Norbert Rieder<br />
samtsituation ebenfalls vor Ort. Das BMFT organisiert<br />
den Einsatz deutscher Löschtechnik. Die Kuwaitis, die<br />
sich ja lange Zeit etwas gesperrt haben, sind inzwischen<br />
an dieser deutschen Hilfe interessiert. Der Einsatz<br />
der Bundeswehr bei den Minenräumaktionen ist<br />
ebenfalls allgemein bekannt. Deutsche Wissenschaftler<br />
waren oder sind vor Ort, um Daten zur ökologischen<br />
Gesamtsituation zu erheben. Somit sind Deutsche<br />
ohne Zweifel in angemessener Weise an dieser<br />
internationalen Aufgabe voll beteiligt.<br />
Weitere Konsequenzen werden mit Sicherheit gezogen<br />
werden, sobald neue, weiterführende Daten vorliegen.<br />
Wir sind deshalb der Ansicht, daß der erste Teil<br />
des Antrags der GRÜNEN unbegründet ist, da die vorgeschlagenen<br />
Maßnahmen entweder bereits vollzogen<br />
sind oder auf Grund der noch mangelnden Daten<br />
nicht sinnvoll durchgeführt werden können. Zum Teil<br />
können sie aber auch nicht unsere deutsche Aufgabe<br />
sein; denn wir sind sicherlich nicht dazu da, überall<br />
auf der Welt alles, was irgendwo schiefgegangen ist,<br />
hinterher wieder in Ordnung zu bringen. Ein paar<br />
eigene Probleme im eigenen Land haben wir schließlich<br />
auch.<br />
Dem zweiten Teil Ihres Antrags können wir voraussichtlich<br />
ebenfalls nicht zustimmen, denn leider haben<br />
Sie der Versuchung nicht widerstehen können<br />
und haben die große Gebetsmühle — ich muß das einmal<br />
so ausdrücken — wieder einmal anlaufen lassen.<br />
Ich zitiere aus Ihrem Antrag:<br />
Viele der im vorliegenden Antrag skizzierten<br />
Überlegungen und Forderungen für eine neue<br />
Energie-, Verkehrs- und Weltwirtschaftspolitik<br />
sind bereits ... in der 11. Wahlperiode in zahlreichen<br />
parlamentarischen Initiativen ausgeführt<br />
worden.<br />
Nun, das können wir nur bestätigen. Es ist immer das<br />
gleiche; nur der Vorspann ändert sich. Dieses Mal ist<br />
es der Golfkrieg, morgen sind es vielleicht die Vulkanausbrüche<br />
in Japan oder auf den Philippinen, und<br />
wenn übermorgen in der Antarktis ein großer Gletscher<br />
kalbt, kommt wieder derselbe Antrag mit einem<br />
anderen Vorspann.<br />
Deshalb kann ich nur sagen: Sicherlich müssen wir<br />
Deutsche unserer Verantwortung der Welt und der<br />
Natur gegenüber gerecht werden, das aber Schritt für<br />
Schritt, und nicht alles auf einmal. Am deutschen Wesen<br />
kann und wird die Welt sicherlich nicht allein<br />
genesen.<br />
Vielen Dank.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />
Damen und Herren, der nächste Redner ist der<br />
Abgeordnete Dr. Klaus Kübler.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Ich will nicht so anfangen wie der<br />
von mir wirklich geschätzte Kollege Rieder, der eine<br />
ganz interessante schwarz-grüne Mischung in der Argumentation<br />
hat. Das ist nicht negativ gemeint, das ist<br />
wirklich im wahrsten Sinn des Wortes eine interessante<br />
Mischung.<br />
Ich möchte auch nicht meine Kritik an der Bundesregierung<br />
von der letzten Woche in denselben Punkten<br />
im wesentlichen wiederholen, sondern nur das<br />
ansprechen, was in der Zwischenzeit, in dieser einen<br />
Woche, im Zusammenhang mit dem Antrag der<br />
Gruppe Bündnis 90/GRÜNE erfolgt ist.<br />
Ich begrüße es, daß Sie, Herr Feige, und auch Ihre<br />
Gruppe dieses Thema in der Öffentlichkeit wachhalten<br />
wollen. Ich bin dafür außerordentlich dankbar.<br />
Ich füge hinzu: Dazu wäre es sicherlich besser gewesen,<br />
einen Antrag mit kurzfristig notwendigen<br />
Maßnahmen zur Bekämpfung der Ölbrandkatastrophe<br />
nicht mit Anträgen für längerfristig wirkende<br />
Strategien zu verbinden. Ich glaube, daß dies ein strategisches<br />
oder auch taktisches Handicap Ihres Antrages<br />
ist. Eine Trennung hätte den Antrag möglicherweise<br />
politisch erfolgreicher gemacht. Trotzdem: Der<br />
Antrag hat in nicht unwichtigen Teilen seinen politischen<br />
Stellenwert.<br />
Die Expertengruppe, die im Auftrag des BMFT<br />
letzte Woche nach Kuwait gereist ist, hat gestern eine<br />
Presseerklärung abgegeben, die heute in den Zeitungen<br />
erschienen ist und die die Katastrophe und ihre<br />
Folgen — ich betone: in erfreulicher Offenheit und in<br />
dramatischer Weise — geschildert hat. Ich begrüße<br />
ausdrücklich — ich wiederhole dies heute genauso,<br />
wie ich es in der letzten Woche gesagt habe — diese<br />
offene Informationspolitik der Bundesregierung in<br />
diesem Punkt und hoffe — ich spreche dies deutlich<br />
aus —, daß dies in Zukunft anhält.<br />
Viel zu lange hat es gedauert — das hat der Besuch<br />
und das Ergebnis des Besuchs der Expertenkommission<br />
bestätigt — , bis diese Expertenkommission vier<br />
Monate nach Kriegsende nach Kuwait gereist ist. Ich<br />
stelle die nicht nur rheto rische Frage — dies muß man<br />
zugestehen — : Wie wäre die Situation heute, wenn<br />
die Amerikaner dazu auch vier Monate gebraucht<br />
hätten?<br />
Ich muß deshalb, bestätigt durch das Ergebnis dieses<br />
Besuchs, das zögerliche Verhalten der Bundesregierung<br />
erneut scharf verurteilen. Ungeschicktes Management,<br />
Unentschlossenheit, aber vor allem auch<br />
mangelndes Vertrauen der Bundesregierung in die<br />
Fähigkeit und in das Know-how deutscher Firmen<br />
und deutscher Experten beim Löschen von Ölbränden<br />
haben die unnötigen Verzögerungen verursacht.<br />
Leider war die deutsche Expertenkommission<br />
— entgegen nachhaltig erhobenen Forderungen der<br />
SPD — ohne einen einheitlichen umfassenden Vorschlag<br />
für das Löschen der Ölquellen dorthin gereist.<br />
Jetzt kommen die Experten zurück, und was sagen<br />
sie? — Der Bundesforschungsminister Riesenhuber<br />
teilt mit, mehr oder weniger wörtlich wiedergegeben,<br />
die kuwaitische Seite habe die Deutschen aufgefordert,<br />
einen solchen einheitlichen umfassenden deutschen<br />
Vorschlag nun endlich — „endlich" füge ich<br />
hinzu — vorzulegen.<br />
Das hatte ich Herrn Riesenhuber nach unserer<br />
Rückkehr von Kuwait schon vor Fünf Wochen genau<br />
in diesem Punkte mitgeteilt. Auch im persönlichen<br />
Gespräch hatte er eigentlich nichts gegen diese Verfahrensweise<br />
eingewendet. Übrigens hatte sich auch
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2665<br />
Dr. Klaus Kübler<br />
der deutsche Botschafter unmittelbar nach unserem<br />
Besuch entsprechend geäußert.<br />
Wir alle wissen ja, daß die Katastrophe in Kuwait<br />
nicht kleiner, sondern immer größer wird. Ich will<br />
auch nicht zwischen den Zeilen der Erklärung von<br />
Herrn Riesenhuber lesen, daß die Deutschen dorthin<br />
müssen, um, was nachher ganz schwierig ist, abräumen<br />
zu helfen. Aber auch damit würde ich mich einverstanden<br />
erklären.<br />
Die SPD sieht jetzt gleichwohl einen Fortschritt bei<br />
der Realisierung einer wirksamen deutschen Beteiligung<br />
beim Löschen der Ölbrände. Wer will, daß das<br />
bisherige Tempo der Löscharbeiten beschleunigt wird<br />
— dies ist nicht nur eine Frage Kuwaits — , der muß im<br />
Grunde die Beteiligung aller weltweit vorhandenen<br />
Löschkapazitäten fordern.<br />
Sie wissen, daß der amerikanische Löschexperte<br />
Ted Adair davon gesprochen hat: Wenn es so weitergeht<br />
wie bislang — er hat seine amerikanischen<br />
Freunde und Arbeitskollegen genannt — , dann würden<br />
die Löscharbeiten noch fünf Jahre andauern.<br />
Die sozialdemokratische Fraktion fordert deshalb<br />
die Bundesregierung erneut auf, auf politischer Ebene<br />
eine Beteiligung bei der Ölbrandbekämpfung durchzusetzen,<br />
gegebenenfalls auch dadurch, daß zu diesem<br />
Zweck auch Kontakte zur US-Regierung aufgenommen<br />
werden.<br />
Ich frage deshalb insbesondere den Bundesforschungsminister<br />
— ich gehe davon aus, daß er dies<br />
hinterher zur Kenntnis nimmt —: Bis wann wird denn<br />
nun der konkrete Vorschlag für eine deutsche Löschexpertengruppe<br />
erarbeitet sein, und wann wird der<br />
Bundesforschungsminister nach Kuwait reisen? Da es<br />
bisher sehr schwerfällig gelaufen ist, muß sich wohl<br />
der Minister persönlich durch eine Reise bis hin vor<br />
Ort einschalten. Ich darf dies nicht nur ironisch sagen:<br />
Ich bitte den Bundesforschungsminister, sich rechtzeitig<br />
um ein Visum zu bekümmern, damit er nicht vier<br />
oder sechs Wochen braucht, um ein Visum zu erhalten.<br />
Lassen Sie mich zum Schluß als Perspektiven folgendes<br />
sagen: Aus dem Völkerrecht kann durchaus<br />
eine Informations- und Kooperationspflicht Kuwaits<br />
abgeleitet werden. Ich komme deshalb kurz auch auf<br />
Kuwait zu sprechen. Wir müssen — nicht nur im Interesse<br />
Kuwaits, aber auch im Interesse Kuwaits — die<br />
Regierung von Kuwait auffordern, mögliche Vorbehalte<br />
gegen eine deutsche Beteiligung aufzugeben.<br />
Mögliche Vorbehalte: ausdrückliche habe ich nie gehört.<br />
Ich betone noch einmal: Selbst wenn mögliche<br />
Vorbehalte da sind, muß ich eben politisch - handeln<br />
und muß wissen, wie ich diese möglichen Vorbehalte<br />
abbaue. Aber ich fordere die Regierung von Kuwait<br />
auf, mögliche Vorbehalte gegen eine deutsche Beteiligung<br />
aufzugeben. Ich bitte die kuwaitische Regierung<br />
auch, richtig zu verstehen, wenn ich unterstreiche<br />
und in Erinnerung rufe, daß sich Deutschland mit<br />
über 17 Milliarden DM an der Befreiung Kuwaits beteiligt<br />
hat.<br />
Die Bundesregierung ist aufgefordert, auch die anderen<br />
Lehren zu ziehen und internationale Initiativen<br />
zu ergreifen. Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit<br />
zwei oder drei Punkte ansprechen.<br />
Es kann wohl nicht sein, daß auch relativ unzulängliche<br />
Umweltschutzabkommen völkerrechtlicher Art<br />
von der Bundesrepublik und auch von anderen Ländern<br />
unterzeichnet worden sind, aber von wesentlichen<br />
Ländern der EG und unseres Bündnisses NATO,<br />
wie immer man dazu auch steht, nicht ratifiziert worden<br />
sind. Was dem Umweltstandard in dieser völkerrechtichen<br />
Weise angeht, müssen die Partner der<br />
NATO, wenn wir uns als richtige Partner verstehen,<br />
und die Mitglieder der EG an einem Strang ziehen. Ich<br />
fordere die Bundesregierung auf, mit darauf hinzuwirken,<br />
daß die Länder, die nicht ratifiziert haben, in<br />
Richtung Ratifizierung arbeiten.<br />
Ich bitte die Bundesregierung weiterhin und fordere<br />
sie auf, zu überlegen, wieweit das internationale Umweltschutzvölkerrecht<br />
fortzuschreiben ist. Ich spreche<br />
hier den Gedanken an, daß es wohl nicht sein kann,<br />
daß das internationale Umweltschutzrecht immer sofort<br />
zurückstecken muß, wenn militärische Notwendigkeiten<br />
unterstellt werden. Mit einer militärischen<br />
Notwendigkeit kann man in der Tat jede Umweltschutzmaßnahme<br />
aushebeln.<br />
Ich fordere die Bundesregierung auch auf, ihre<br />
Überlegungen zu einem internationalen Strafgerichtshof<br />
— Überlegungen, die von ihr durch den Außenminister<br />
angesprochen wurden — weiter zu prüfen.<br />
Ich fordere die Bundesregierung auf, Haftungsfragen<br />
in diesem Zusammenhang zu klären, wer für<br />
solche Umweltschäden international zur Haftung zu<br />
ziehen ist.<br />
Ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland wäre<br />
gut beraten, wenn sie im internationalen Spektrum in<br />
schwierigen Situationen ihre Umweltaktivitäten und<br />
ihr Umweltprofil schärfen würde. Dies ist mit diesen<br />
Möglichkeiten als e i n Schritt gegeben.<br />
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste,<br />
beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge<br />
ordneten der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, ich erteile der Abgeordneten Birgit Homburger<br />
das Wort.<br />
Birgit Homburger (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen<br />
und Kollegen! Herr Kübler, Sie haben gerade<br />
gesagt, Sie wollten eigentlich nicht das wiederholen,<br />
was wir hier schon in der letzten Woche an<br />
gleicher Stelle gesagt haben. Aber ich denke, das wird<br />
sich nicht vermeiden lassen; denn sehr viel Neues in<br />
der Sache gibt es eigentlich seit letzter Woche nicht.<br />
Nach wie vor gibt es die gleiche schlimme ökologische<br />
Situation am Golf. Es brennen nach wie vor ungefähr<br />
gleich viele Ölquellen in Kuwait.<br />
Im Umweltausschuß haben wir heute morgen in<br />
Fortsetzung der Expertenanhörung, die wir am<br />
29. April durchgeführt haben, einen weiteren Zwischenbericht<br />
des Bundesministers für Umwelt erhalten.<br />
Dieser Bericht unterstreicht im Prinzip zweierlei:<br />
erstens, daß man nach wie vor nur unzureichend<br />
schnell oder, besser gesagt, viel zu langsam mit dem<br />
Löschen der Brände vorankommt, und zweitens, daß<br />
offensichtlich nach wie vor insbesondere von Kuwait
2666 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Birgit Homburger<br />
und dem Iran die Brisanz der Lage nicht wirklich verstanden<br />
wird. Nur so ist aus Sicht der FDP jedenfalls<br />
zu erklären, daß weiterhin gezögert wird, die Hilfe,<br />
die z. B. in Form von zwei mobilen Meßstationen von<br />
der Bundesregierung angeboten wurde, anzunehmen.<br />
Es sind Hilfen von seiten der Bundesregierung<br />
angeboten worden — auch wenn das bestritten<br />
wird — , und sie sind nach wie vor nicht angenommen<br />
worden.<br />
Anläßlich der Rückkehr einer deutschen Expertengruppe<br />
zur Bekämpfung der Ölbrände aus Kuwait<br />
— Sie haben sie gerade schon zitiert, Herr Kübler —<br />
erklärte der Bundesforschungsminister gestern, daß<br />
Kuwait nun offensichtlich bereit ist, einen Einsatz<br />
deutscher Unternehmen beim Löschen der Ölbrände<br />
zuzulassen, und dafür auch einen Vorschlag einer Arbeitsgemeinschaft<br />
der beteiligten Firmen erbeten<br />
hat.<br />
Nachdem Kuwait eine solche Hilfe in den vergangenen<br />
Monaten abgelehnt hat, ist es für mich eine<br />
erfreuliche Nachricht — —<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das trifft nicht zu!<br />
Ich sage das noch einmal ausdrücklich und<br />
habe das auch Herrn Riesenhuber vor fünf<br />
Wochen mitgeteilt!)<br />
—Herr Kübler, Sie behaupten immer und immer wieder<br />
— das haben wir auch letzte Woche hier schon<br />
gehört — , daß Kuwait diese Hilfe nicht ablehnt. Es ist<br />
doch die Frage, wie diese Hilfe aussieht. Es ist eine<br />
ganze Menge Hilfe von seiten der Bundesregierung<br />
geleistet worden. Ich denke nur daran, daß eine<br />
Menge Material zur Ölbekämpfung in die Golfregion<br />
geliefert wurde, daß z. B. Ölbarrieren und Skimmer,<br />
also Ölabsaugpumpen, sowie aufblasbare Tanks hingeliefert<br />
wurden. Es sind z. B. allein 2 700 m Ölsperren<br />
und fünf große Skimmer an Saudi-Arabien im<br />
Wert von 4 Millionen DM gegeben worden.<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das ist doch ganz<br />
unbestritten! Das ist doch nicht das Pro<br />
blem!)<br />
— Diese Hilfe ist auf jeden Fall gegeben worden. Es ist<br />
auch Kuwait Hilfe z. B. in Form zweier Meßwagen<br />
angeboten worden. Die Hilfe wird nach wie vor nicht<br />
angenommen. Es wird von Kuwait verhindert, daß die<br />
Meßstationen ins Land gelassen werden und daß sie<br />
die Arbeit aufnehmen können. Kuwait lehnt sie nach<br />
wie vor überwiegend deswegen ab<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das ist doch nicht<br />
das Problem!)<br />
— doch! —, weil es darum geht, wer diese Hilfe bezahlt.<br />
-<br />
Ich muß Ihnen ganz deutlich sagen, was ich schon<br />
einmal gesagt habe: Ich sehe nicht ein, daß wir die<br />
Hilfen, die wir anbieten, kostenlos leisten, wenn andere<br />
Hilfen, z. B. aus den USA, die privatwirtschaftlich<br />
geboten werden, bezahlt werden. Das ist doch der<br />
springende Punkt. Ein Punkt war offensichtlich auch,<br />
daß Kuwait nicht akzeptiert hat, daß diese Hilfen von<br />
der deutschen Seite angeboten wurden.<br />
m Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Ho<br />
burger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen<br />
Kübler?<br />
Birgit Homburger (FDP): Sicherlich.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD) : Ich stelle die Zwischenfrage<br />
deshalb, weil ich glaube, daß man in diesem Punkt<br />
wirklich Einigkeit erzielen kann. Ich wiederhole noch<br />
einmal, was ich schriftlich und mündlich mehrfach<br />
gesagt habe, und frage Sie, ob Sie nicht mitbekommen<br />
haben, daß ich natürlich erklärt habe, daß die Löscharbeiten<br />
auf kommerzieller Basis abgewickelt werden<br />
müssen, genauso wie die Amerikaner die Löscharbeiten<br />
auf kommerzieller Basis abwickeln. Darf ich Sie<br />
bitten, dies zur Kenntnis zu nehmen? Wenn Sie mit Ja<br />
antworten, bin ich voll zufrieden.<br />
Birgit Homburger (FDP): Sie dürfen mich bitten,<br />
Herr Kübler; ich nehme es zur Kenntnis.<br />
Es gibt einen Dissens also nur noch in der Frage, ob<br />
Kuwait die Hilfe abgelehnt hat oder nicht. Ich glaube<br />
nicht, daß wir diesen Dissens ausräumen werden.<br />
Die Bundesregierung hat verschiedene Gespräche,<br />
z. B. auch mit dem Botschafter Kuwaits, geführt und<br />
sich ernsthaft bemüht, Expertenkommissionen hinunterzuschicken.<br />
Diese Hilfen wurden aber nicht angenommen.<br />
Ich meine, daß dieses Bemühen der Bundesregierung<br />
durchaus einmal anerkannt werden muß.<br />
Ich möchte dazu noch folgende Bemerkung machen:<br />
Kuwait ist nach wie vor ein selbständiger Staat.<br />
Wenn die Kuwaitis nicht bereit sind, Hilfen, die angeboten<br />
werden, anzunehmen, dann können wir sie ihnen<br />
nicht aufzwingen.<br />
Die FDP erwartet nun vor allen Dingen, daß<br />
schnellstmöglich ein Vorschlag dieser Arbeitsgemeinschaft<br />
erarbeitet und den Kuwaitis ein Angebot unterbreitet<br />
wird.<br />
Gleichzeitig erwartet die FDP von der Bundesregierung,<br />
daß in weiteren Gesprächen mit der kuwaitischen<br />
Regierung und mit den Vertretern Kuwaits hier<br />
in der Bundesrepublik klargemacht wird, daß auch<br />
Kuwait eine Verantwortung für die entstehenden<br />
ökologischen Schäden trägt, insbesondere dann,<br />
wenn es durch eine Ablehnung von Hilfen dazu beiträgt,<br />
die Beiseitigung der Ursachen der ökologischen<br />
Schäden weiter hinauszuzögern.<br />
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />
der CDU/CSU)<br />
Es ist hier also nochmals zu verdeutlichen, daß es<br />
a) eine regionale Verantwortung, aber b) auch eine<br />
internationale Verpflichtung für Kuwait gibt.<br />
Im Hinblick auf die Ursache der verheerenden ökologischen<br />
Auswirkungen des Golfkrieges möchte ich<br />
aber auch noch eines aufgreifen und klarstellen, und<br />
zwar im Hinblick auf den Antrag des Bündnisses 90/<br />
GRÜNE, nämlich daß aus unserer Sicht der irakische<br />
Diktator Saddam Hussein derjenige ist, der diese Umweltkatastrophe<br />
zu verantworten hat und niemand<br />
anders. Dies gilt insbesondere für die Ölpest und für<br />
die Luftverschmutzung, die durch die Ölbrände in<br />
Kuwait entstanden ist. Das rührt aus unserer Sicht aus<br />
einer verbrecherischen, gegen die Umwelt gerichteten<br />
und nichthinnehmbaren Kriegführung her. Das,<br />
glaube ich, sollte man nicht vergessen, wenn man<br />
einen solchen Antrag stellt.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2667<br />
Birgit Homburger<br />
Daher ist es aus Sicht der FDP unumgänglich, alle<br />
erforderlichen Schritte zu unternehmen, um dem bereits<br />
geltenden Völkerrecht mehr Wirksamkeit und<br />
Beachtung zu verschaffen und um es auch der UNO zu<br />
ermöglichen, eine Kriegführung gegen die Umwelt<br />
sowie Verstöße gegen internationale Konventionen<br />
zum Schutz der Umwelt zu verhindern und auch zu<br />
ahnden.<br />
Gleichzeitig gilt es auch erneut festzuhalten — das<br />
geht jetzt in Richtung Bundesregierung — , daß die<br />
Koordinationsprobleme — da stimmen wir ja überein,<br />
und zwar eigentlich durchgängig, auch im Umweltausschuß<br />
— , national und international noch nicht<br />
endgültig angegangen worden sind. Wenn, wie es in<br />
diesem Fall in der Bundesrepublik Deutschland ist,<br />
mehrere Minister zuständig sind, dann kommt es vor<br />
allen Dingen an den Nahtstellen zwischen den einzelnen<br />
Ministerien immer wieder zu erheblichen Problemen.<br />
Daher wiederhole ich hier für meine Fraktion die<br />
Forderung, daß diese Kompetenzschwierigkeiten unverzüglich<br />
auszuräumen sind.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
Gleichzeitig wiederholt die FDP aber auch ihre Forderung,<br />
daß das Wissen, das auf verschiedenen Ebenen<br />
vorhanden ist, so z. B. in der Industrie, bei der<br />
Wissenschaft, aber auch in verschiedenen Fachministerien<br />
auf Verwaltungsebene, koordiniert werden<br />
muß und daß eine ökotechnologische Arbeitsgruppe<br />
installiert werden muß. Das Bündnis 90/GRÜNE hat<br />
das dankenswerterweise aufgenommen. Dies ist ein<br />
Punkt, bei dem wir übereinstimmen, auch wenn ich<br />
glaube, daß wir nicht ganz die gleiche Zielrichtung<br />
dieser Arbeitsgruppe sehen. Aber immerhin gibt es<br />
schon den gleichen Ansatz.<br />
(Klaus Harries [CDU/CSU]: Die halten nichts<br />
vom Öl!)<br />
Wir wollen also eine ökotechnologische Arbeitsgruppe<br />
auf nationaler Ebene einsetzen, die die Personen,<br />
die Fachwissen haben, umfassen muß.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />
bei Abgeordneten der SPD)<br />
Diese Gruppe muß dann Schwerpunktaufgaben erhalten.<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Diese richten sich<br />
nach den Katastrophen!)<br />
— Das richtet sich natürlich nach den Katastrophen.<br />
Es ist ja Wissen in verschiedensten Bereichen vorhanden,<br />
Herr Kübler. Dies bezieht sich nicht nur auf Ölunfälle,<br />
sondern auch auf Chemieunfälle und andere<br />
Umweltkatastrophen. Dieses Wissen sollte man endlich<br />
bündeln und in einer Arbeitsgruppe zusammenführen,<br />
um zu verhindern, daß beim Eintreten eines<br />
Ernstfalles Reibungsverluste entstehen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der<br />
CDU/CSU)<br />
Insofern sind wir ja, wie ich sehe, alle so ziemlich<br />
einig. Das ist genau der Wunsch. Das sollte sich die<br />
Bundesregierung zu Herzen nehmen, und sie sollte<br />
diese Arbeitsgruppe einrichten.<br />
Ich möchte noch kurz ein paar Worte zu den Aufgaben<br />
dieser Arbeitsgruppe sagen, also zu dem, was sie<br />
aus unserer Sicht tun soll. Sie soll eine ökotoxikologische<br />
Schadens- und Risikodefinition vornehmen; sie<br />
soll humantoxikologische Problembeschreibungen<br />
erarbeiten und sie soll auch für die technische Eindämmung<br />
und Beseitigung von Schäden sorgen.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Homburger,<br />
lassen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen<br />
Kübler zu?<br />
Birgit Homburger (FDP): Wenn ich meinen Satz zu<br />
Ende geführt habe, darf er eine Zwischenfrage stellen.<br />
Die Arbeitsgruppe — diesen Gedanken wollte ich<br />
nur zu Ende führen — muß wiederum Teil einer internationalen<br />
„task force" sein, die in UNEP, IMO und<br />
USAID eingebunden wird.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege Kübler.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD): Frau Homburger, wird die<br />
FDP ihren Kollegen, den Außenminister Genscher,<br />
veranlassen, darauf zu drängen, daß die jetzigen internationalen<br />
Umweltvorschriften z. B. auch von den<br />
Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich<br />
ratifiziert werden?<br />
Birgit Homburger (FDP): Ich glaube, wir brauchen<br />
unseren Bundesaußenminister, Herrn Genscher, nicht<br />
dazu zu drängen, sich für die Ratifizierung solcher<br />
Konventionen einzusetzen. Er hat sich in den vergangenen<br />
Jahren immer sehr für diese Sache engagiert.<br />
Ich denke, es ist überflüssig, da erneut auf ihn Druck<br />
ausüben zu wollen.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bei diesen<br />
Bemerkungen zum Antrag des Bündnisses 90/<br />
GRÜNE möchte ich es eigentlich belassen. Ich denke,<br />
das sind die wichtigsten Punkte, die aus unserer Sicht<br />
anzumerken sind.<br />
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem<br />
Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, wir haben die Tagesordnung umgestellt. Das<br />
bringt für mache Kolleginnen und Kollegen natürlich<br />
auch Probleme mit sich. Ich bitte deswegen um Ihr<br />
Einverständnis, daß die Rede unserer Kollegin Frau<br />
Jutta Braband zu Protokoll genommen wird. - Ich<br />
höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so<br />
beschlossen. )<br />
Jetzt hat Herr Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />
das Wort.<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen<br />
und Kollegen! Als Konsequenzen der ökologischen<br />
Auswirkungen des Golfkriegs macht der Ruf<br />
') Anlage 7
2668 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />
nach Ächtung der Umweltkriegführung die Runde.<br />
Dem kann man im Ergebnis nur zustimmen. Allerdings<br />
muß man wissen, daß entsprechend dem Umweltkriegsübereinkommen<br />
von 1977 und den Zusatzprotokollen<br />
zu den Genfer Konventionen Umweltkriegshandlungen,<br />
wie Saddam Hussein sie began-<br />
hat, bereits eindeutig dem Völkerrecht wider-<br />
mgen<br />
sprechen. Beide Völkerrechtsinstrumente gehen davon<br />
aus, daß Kriegshandlungen untersagt sind, welche<br />
entweder umweltverändernde Technik einsetzen<br />
oder die zu einer weiträumigen, langandauernden<br />
und schwerwiegenden Auswirkung in der Umwelt<br />
führen.<br />
Man hat uns berichtet, Herr Kollege Kübler, daß<br />
namhafte Experten, die anläßlich der öffentlichen Anhörung<br />
Ihrer Partei zu den völkerrechtlichen Fragen<br />
der Umweltkriegführung am 10. Juni angehört worden<br />
sind, die Meinung vertreten, daß die vorhandenen<br />
Völkerrechtstexte im wesentlichen ausreichend<br />
seien, aber es fehle die weltweite Geltung, die Ratifikation<br />
durch wichtige Staaten. Hier scheint mir einer<br />
der wichtigen Ansätze zu sein.<br />
Es besteht, glaube ich, über alle Parteigrenzen in<br />
diesem Hause hinweg Einvernehmen darüber, daß<br />
dem Grundgedanken zur Vermeidung der Umweltkriegführung<br />
weltweite Geltung zu verschaffen ist.<br />
Die Bundesregierung wird die anstehende Umweltkonferenz<br />
1992 in Brasilien zum Anlaß nehmen — der<br />
Umweltminister hat ja, wenn ich mich recht erinnere,<br />
auch im Ausschuß darauf hingewiesen —, daß wir mit<br />
dieser Zielrichtung andere Staaten auffordern, die genannten<br />
Völkerrechtsverträge zu ratifizieren. In einem<br />
weiteren Schritt muß geprüft werden, ob und wie<br />
die Rolle der Vereinten Nationen mit dieser Zielrichtung<br />
verstärkt werden kann. Dies scheint mir wichtig<br />
zu sein. Dies muß eine der wichtigen Konsequenzen<br />
aus dieser Situation, aus dieser Umweltzerstörung<br />
sein. Sie kennen auch unser Bemühen, in diesem Zusammenhang<br />
auf der Ebene der Vereinten Nationen<br />
ein Stück weit voranzukommen.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatssekretär,<br />
lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kübler<br />
zu?<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Selbstverständlich, Herr Präsident.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege<br />
Kübler.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD): Ich bin für diese Äußerung<br />
sehr dankbar, und ich darf Sie deshalb fragen, - ob ein<br />
Unterschied zwischen Ihrer Auffassung und der Auffassung<br />
der Kollegin Homburger von der FDP dahin<br />
gehend besteht, ob es nicht angezeigt ist, den Bundesaußenminister<br />
nicht doch weiterhin zu bitten, nachdrücklich<br />
darauf hinzuwirken — das ist ja nicht nur<br />
ein Vorwurf in bezug auf die Vergangenheit, sondern<br />
das ist ja auch ein Zukunftsaspekt — , daß diese Verträge<br />
nun wirklich ratifiziert werden?<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Es besteht zwischen mir und der Frau Kollegin<br />
Homburger hier überhaupt kein Dissens. Ich gehe<br />
wie sie davon aus, daß unser Außenminister dies<br />
ebenfalls zum Anlaß nimmt, entsprechend tätig zu<br />
werden. Äußerungen von ihm in den letzten Wochen<br />
belegen dies eindeutig. Ich glaube nicht, daß er hier<br />
Nachhilfe braucht oder daß er hier von uns noch besonders<br />
darauf hingewiesen werden muß. Frau Ho<br />
burger sagte dies ja auch. Ich glaube auch, daß es<br />
Ihrem Anliegen entspricht, wenn so verfahren wird,<br />
wie ich es soeben zitiert habe. Wir brauchen dabei<br />
Unterstützung auf einer breiten Ebene, und zwar<br />
nicht nur im nationalen, sondern auch im europäischen<br />
Rahmen und auch im internationalen Bereich.<br />
Ich denke, daß wir in den Zielen, die wir hier verfolgen<br />
müssen, weitgehend übereinstimmen. Ich habe es soeben<br />
zum Ausdruck gebracht.<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Frau Homburger hat<br />
es gehört! — Birgit Homburger [FDP]: Ich<br />
habe es gehört!)<br />
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen<br />
und Kollegen! Zum Antrag der Gruppe Bündnis 90/<br />
GRÜNE will ich nur sagen, Herr Kollege Feige,<br />
daß der Antrag aus unserer Sicht natürlich teilweise<br />
verfehlt ist, teilweise auch überholt ist und in dem<br />
Zusammenhang teilweise natürlich auch sehr wichtige<br />
Probleme aufwirft, die wir allgemein diskutieren<br />
müssen. Das will ich hier klar und deutlich sagen.<br />
Wenn Ihr Antrag aber das Ziel verfolgt, „jetzt den<br />
Ausstieg aus der Abhängigkeit unserer Wirtschaft<br />
vom Erdöl einzuleiten" , dann sage ich Ihnen: Wer<br />
diese Folgerungen aus dem schrecklichen Mißbrauch<br />
des Öls als Waffe durch Saddam Hussein zieht, verkennt<br />
die eigentliche umweltpolitische Problemlage<br />
des Kuwait-Krieges. Er verkennt auch die für wesentliche<br />
Wirtschaftszweige auf längere Sicht absolute<br />
Unentbehrlichkeit des Erdöls. Wir verkennen aber<br />
nicht, daß wir eine bestimmte Unabhängigkeit erreichen<br />
und daß wir diesen Weg weite rverfolgen müssen.<br />
Aber dem Ausstieg, so wie er hier gefordert wird,<br />
kann ich nicht folgen. Wer heute den Menschen einredet,<br />
wir könnten uns bereits jetzt mit dem Ausstieg<br />
aus der Abhängigkeit unserer Wirtschaft vom Erdöl<br />
befassen, der verharmlost das Problem, teilweie auch<br />
sehr irreführend.<br />
Die Bundesregierung — das ist von ihr wiederholt<br />
betont worden — verurteilt den Umweltkrieg Saddam<br />
Husseins. Der völkerrechtswidrige, vorher für undenkbar<br />
gehaltene umweltverachtende Einsatz des<br />
Erdöls als Waffe wurde von der Bundesregierung von<br />
Anfang an schärfstens verurteilt.<br />
(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])<br />
Wer allerdings der Öffentlichkeit glauben machen<br />
will, wir hätten dies von vornherein verhindern können,<br />
oder gar, daß wir das in Zukunft tun könnten,<br />
verbreitet Legenden. Das war wohl auch nicht Ihre<br />
Absicht. Ich unterstelle Ihnen das gar nicht. Da jedenfalls<br />
geht dieser Antrag an der Wirklichkeit vorbei.<br />
Wir verwahren uns ausdrücklich gegen jeden Versuch,<br />
der Bundesregierung eine Art tatsächlicher oder<br />
moralischer Mitverantwortung an den Umweltauswirkungen<br />
des Golfkriegs zu unterschieben.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2669<br />
Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />
Von den Umweltverbrechen Saddam Husseins darf<br />
nicht abgelenkt werden. Ich habe das auch zum Anlaß<br />
genommen, vor dem Verwaltungsrat der Vereinten<br />
Nationen noch einmal auf diesen Punkt hinzuweisen.<br />
Das militärisch sinnlose Sprengen und Anzünden von<br />
ungefährt 600 unter hohem Gasdruck stehenden Ölquellen<br />
ist und bleibt ein Umweltverbrechen.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />
Herr Kollege Kübler, ich sage es noch einmal. Ihre<br />
Aussage wird nicht richtiger, wenn Sie sie ständig<br />
wiederholen. Dem Ziel nach sind wir uns in vielem<br />
einig. Ich konzediere Ihnen auch Ihr Engagement in<br />
diesen Punkten. Aber eines will ich hier noch einmal<br />
feststellen: daß die Bundesregierung sehr rasch reagiert<br />
hat. Die Bundesregierung hat von Anfang an<br />
schnelle und großzügige Hilfe bei der Bekämpfung<br />
der Ölpest geleistet. Wir haben Experten und Ölwehr<br />
gerät zur vorsorglichen Entlastung der lebenswichtigen<br />
Meerwasserentsalzungsanlagen und ein leistungsfähiges<br />
Ölauffangschiff in den Golf geschickt.<br />
Das Gerät wurde bereits im Februar aus Gründen der<br />
Vorsorge dort stationiert, von wo die ersten klaren Hilfeersuchen<br />
vorlagen, nämlich in Katar und Bahrain.<br />
Bereits eine Woche nach dem Waffenstillstand, Anfang<br />
März 1991, ist Bundesumweltminister Töpfer mit<br />
einer fachlich breit zusammengesetzten Expertengruppe<br />
in die Golfregion geflogen, um eine erste Bestandsaufnahme<br />
der Umweltschäden zu versuchen.<br />
Er hat bei dieser Gelegenheit die technische und wissenschaftliche<br />
Hilfe der Bundesrepublik Deutschland<br />
angeboten. Ich sage noch einmal sehr deutlich:<br />
Diese Hilfe ist von uns zu diesem Zeitpunkt, kurz nach<br />
Beendigung des Krieges, angeboten worden. Aus Sicherheitsgründen<br />
wurde kurzfristig die Landung in<br />
Kuwait verweigert, nicht weil Töpfer nicht nach Kuwait<br />
wollte, sondern weil es nicht möglich war, zu diesem<br />
Zeitpunkt dort zu landen.<br />
In dem von der Ölpest stark betroffenen Saudi-Arabien<br />
konnte nach einer beispiellosen Aktion bester<br />
Zusammenarbeit zwischen den Bundesressorts in kürzester<br />
Frist ebenfalls wichtiges Ölwehrgerät zur Verfügung<br />
gestellt werden: sieben Großraumflugzeugladungen<br />
im Wert von annähernd 4 Millionen DM. Umweltminister<br />
Töpfer konnte anläßlich seiner Gespräche<br />
in Saudi-Arabien das dort dringend benötigte Ölwehrgerät<br />
bereits am 10. März — das war die erste<br />
Landung — übergeben. Ich bitte Sie, dann nicht ständig<br />
die Vorwürfe zu bringen: Fehlanzeige, Nullanzeige,<br />
zu spät und überhaupt nicht. Wir haben sehr rasch<br />
und sehr schnell, auch beispielhaft für andere Länder,<br />
gehandelt. Das wird auch von den Staaten der - Golfregion<br />
anerkannt.<br />
Inzwischen haben auf unsere Initiative hin — das<br />
darf ich noch sagen — eigene Luftmeßflüge stattgefunden,<br />
weil wir wegen der bedeutenden Umweltauswirkungen<br />
der Rauchwolken aus den Ölbränden auf<br />
verläßliche eigene Daten nicht verzichten wollten. Die<br />
Einzelauswertung wird in den nächsten Wochen erfolgen.<br />
Es kann aber schon jetzt bestätigt werden, daß<br />
die Rauchentwicklung das Regionalklima im Umkreis<br />
von einigen hundert bis höchstens ein- bis zweitausend<br />
Kilometern beeinträchtigen kann, keinesfalls<br />
aber das Weltklima. Auch das ist inzwischen unstrittig.<br />
Ebenfalls unstrittig ist die Ausbreitung der Rußpartikel.<br />
Die beiden für Kuwait und Iran aus humanitären<br />
Gründen kostenlos bereitgestellten Meßfahrzeuge<br />
zur Messung der Luftverschmutzung in Kuwait City<br />
und im Iran stehen bereit. Sie können sofort per Luftfracht<br />
und in Begleitung der Experten in Marsch gesetzt<br />
werden, wenn die Gaststaaten die zur persönlichen<br />
Sicherheit der Begleitmannschaft unerläßlichen<br />
Vereinbarungen ausdrücklich anerkannt haben.<br />
Diese ausdrückliche Zustimmung der Gaststaaten zu<br />
den Vereinbarungen wird von uns nahezu täglich angemahnt.<br />
Wir halten es für unverantwortlich, die Luftmeßfahrzeuge<br />
nach der Hauruck-Methode und ohne<br />
schriftliche Zustimmung der Gastländer zu den Vereinbarungen<br />
in Kuwait City und im Iran zu stationieren,<br />
so wie manche uns das nahelegen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatssekretär,<br />
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen<br />
Kübler?<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Wenn ich den nächsten Satz noch sagen<br />
darf.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Unsere Regierung kann in Kuwait nur tätig<br />
werden, wenn wir dazu vom Gastland ausdrücklich<br />
aufgefordert sind. Kuwait ist ein souveräner Staat.<br />
Ausdrückliche Vereinbarungen zwischen Regierungen<br />
entsprechen dem zivilisierten Miteinander einer<br />
auf Völkerverständigung und Völkerrecht angewiesenen<br />
Staatengemeinschaft. Jede Eigenmächtigkeit<br />
wird von uns strikt abgelehnt.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kübler,<br />
bitte.<br />
Dr. Klaus Kübler (SPD): Herr Parlamentarischer<br />
Staatssekretär, finden Sie es nicht auffallend, daß<br />
praktisch alle Länder, von den USA bis zu den Niederlanden<br />
— ich beziehe mich da auf Ausführungen<br />
von Herrn Bundesminister Töpfer in der vorletzten<br />
Umweltausschußsitzung —, die unterschiedlichsten<br />
Hilfsmaßnahmen in Kuwait durchsetzen konnten —<br />
ich spreche immer über Kuwait — und daß das dieser<br />
Bundesregierung nicht gelungen ist? Ich frage: Hat sie<br />
da nicht genügend getan, ist sie so untalentiert, oder<br />
sind die Beziehungen so schlecht,<br />
(Klaus Harries [CDU/CSU]: Das wird doch<br />
langsam penetrant, Herr Kübler!)<br />
daß keine unserer Maßnahmen dort bis jetzt zum Einsatz<br />
gekommen ist? Dies ist doch eine grundsätzlich<br />
politische Frage. Ich frage Sie: Woran liegt dies?<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Herr Kollege Kübler, ich habe Ihnen das in
2670 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> - 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />
dieser besagten Umweltausschußsitzung ja in großer<br />
Offenheit vorgetragen.<br />
(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr rich<br />
tig!)<br />
Ich kann nur noch einmal betonen, daß sich die<br />
Bundesregierung seit März 1991 auf den unterschiedlichsten<br />
Kanälen bei den kuwaitischen Dienststellen<br />
um eine entsprechende Aufforderung, um entsprechende<br />
Hilfe — wenn Sie so wollen — bemüht hat. Es<br />
entspricht aber der Praxis Kuwaits — ich will das auch<br />
einmal offen ansprechen — , an der Löschung der Ölbrände<br />
und dem Wiederaufbau des Landes auf kommerzieller<br />
Basis zunächst nur diejenigen Länder zu<br />
beteiligen, die sich an der Seite Kuwaits am Golf<br />
Krieg beteiligt hatten. Dies ist eben so. Von der kuwaitischen<br />
Regierung liegt bis heute keine eindeutige<br />
Aufforderung vor, daß sich die deutsche Indust rie auf<br />
kommerzieller Basis an der Löschung der Ölbrände<br />
beteiligen möge.<br />
Ich will Ihnen weiter sagen: Wir haben jetzt die<br />
Chance, mit diesen Experten auf einer anderen Basis<br />
zu beginnen — wenn Kuwait dies wünscht; dies<br />
scheint nun so zu sein —, d. h. uns aktiv an der Löschung<br />
dieser Ölbrände zu beteiligen.<br />
Wir haben versucht, nachdem wir gesehen hatten,<br />
daß es Vorbehalte gegen bestimmte Staaten gab —<br />
Sie wissen, daß es Japan nicht anders ergangen ist als<br />
der Bundesrepublik Deutschland — , aus diesem Dilemma<br />
herauszukommen, indem Bundesumweltminister<br />
Töpfer auf der Tagung des EG-Umweltrates am<br />
18. März 1991 intensiv für eine Aktion der Europäischen<br />
Gemeinschaft geworben hat. Wir wollten gemeinsam<br />
mit der Europäischen Gemeinschaft die Umweltkrise<br />
am Golf bewältigen.<br />
Nach langem Zögern hat die kuwaitische Regierung<br />
den offiziellen Besuch einer deutschen Expertengruppe<br />
zu diesem Termin gebilligt. Auch dies ist<br />
Ihnen klar, und auch dies haben wir sehr offen betont.<br />
Ich will Ihnen auch sagen — damit das noch einmal<br />
deutlich wird — : Gespräche von Vertretern des BMFT<br />
mit der kuwaitischen Ölindustrie in London waren<br />
bereits Anfang Mai 1991 vorausgegangen. Seit dieser<br />
Zeit finden im BMFT intensive Koordinierungsgespräche<br />
über die technischen Möglichkeiten der Ölbrandbekämpfung<br />
statt.<br />
Wir gehen aber davon aus — dies besagt auch die<br />
Presseerklärung und dies hat auch Bundesumweltminister<br />
Töpfer dem Ausschuß mitgeteilt — , daß wir<br />
-<br />
nach dieser Expertenreise noch einmal mit einem entsprechenden<br />
umfassenden Angebot an Kuwait herantreten.<br />
Wir gehen weiter davon aus, daß wir uns dann<br />
auf Bitten Kuwaits hin in diesem, wie ich finde — und<br />
das sagen auch Sie —, sehr wichtigen Bereich engagieren<br />
können. Dies muß — auch das will ich noch<br />
einmal betonen — auf kommerzieller Basis abgewikkelt<br />
werden. Wir meinen, daß auch der kuwaitischen<br />
Regierung inzwischen klar ist, daß zusätzliche technische<br />
Hilfe aus Europa zwecks schnellerer Beendigung<br />
der Ölbrände im Interesse Kuwaits und im Interesse<br />
des Gesundheits- und Umweltschutzes auch in den<br />
Nachbarstaaten notwendig ist.<br />
Lassen Sie uns insofern an einem Strang ziehen.<br />
Lassen Sie uns bitte nicht ständig wiederholen, daß<br />
die Bundesregierung in diesem Zusammenhang zu<br />
langsam oder überhaupt nicht gehandelt habe. Auch<br />
längeres Herbeten dieser Vorwürfe macht diese Vorwürfe<br />
nicht richtig.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, sicher,<br />
viel zu spät!)<br />
Wir haben Ihnen detailliert ausgeführt, welche Bemühungen<br />
notwendig waren. Lassen Sie uns hoffen, daß<br />
das Angebot jetzt angenommen wird und daß wir mithelfen<br />
können, daß die Ölbrände wesentlich rascher<br />
gelöscht werden, als es in den vergangenen Wochen<br />
ausgesehen hat.<br />
In meinem Gespräch mit dem Umweltminister<br />
Saudi-Arabiens hat sich eindeutig ergeben, daß wir<br />
gemeinsam an einem Strang ziehen müssen<br />
(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, aber<br />
schneller!)<br />
und daß die Bundesrepublik Deutschland ein wichtiger<br />
Partner bei der Lösung dieser Umweltproblematik<br />
am Golf ist.<br />
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das war zuviel<br />
Rechtfertigung! Das macht nachdenklich!)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt<br />
11.<br />
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf<br />
Drucksache 12/779 an die in der Tagesordnung aufgeführten<br />
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit<br />
einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch.<br />
Dann ist die Überweisung so beschlossen.<br />
Ich rufe nunmehr den vorhin zurückgestellten Tagesordnungspunkt<br />
10 auf:<br />
Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />
Dr. Liesel Hartenstein, Dietmar Schütz, Harald<br />
B. Schäfer (Offenburg), weiterer Abgeordneter<br />
und der Fraktion der SPD<br />
Minderung der Ozon-Belastung — Maßnahmen<br />
zur Bekämpfung des Sommer-Smogs<br />
— Drucksache 12/772 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />
(federführend)<br />
Ausschuß für Wirtschaft<br />
Ausschuß für Verkehr<br />
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für<br />
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich<br />
höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so<br />
beschlossen.<br />
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete<br />
Dr. Liesel Hartenstein.<br />
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Präsident! Liebe<br />
Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren ist der Sommersmog<br />
zur Geißel nicht nur unserer Innenstädte<br />
geworden, sondern auch zur Geißel vieler sogenann-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2671<br />
Dr. Liesel Hartenstein<br />
ter Reinluftgebiete. Seit Jahren ist die Bundesregierung<br />
leider untätig geblieben. Sie hat nichts Entscheidendes<br />
unternommen, um dem Übelstand abzuhelfen.<br />
Dies muß sich endlich ändern.<br />
Nun werden wir gleich von Regierungs- oder Koalitionsseite<br />
sicherlich auf die segensreichen Taten der<br />
Vergangenheit hingewiesen werden, z. B. auf die legendäre<br />
Großfeuerungsanlagen-Verordnung von<br />
1983, die unbestritten die NO X-Emissionen reduziert<br />
hat. Aber dieser Rückgriff, so denke ich, ist insofern<br />
antiquiert, als er die Untätigkeit auf anderen Gebieten<br />
nicht wettmachen kann.<br />
Der Sommer 1991 läßt sich viel Zeit; das ist wahr.<br />
Aber dennoch kann man unschwer die Prophezeiung<br />
wagen: Der nächste Ozonsmog kommt bestimmt.<br />
Hauptverursacher ist der motorisierte Straßenverkehr.<br />
Auf unseren Straßen tummeln sich mittlerweile<br />
rund 32 Millionen Kraftfahrzeuge, und ihre Zahl steigt<br />
ständig an. Sobald eine längere Schönwetterperiode<br />
eintritt, entsteht aus den Stickoxid- und Kohlenwasserstoffemissionen<br />
jene gefährliche Ozonmixtur, die<br />
Gesundheitsschäden hervorruft. Hustenreiz, Augenbrennen,<br />
Atembeschwerden, Kopfschmerzen — das<br />
sind nur einige der krankmachenden Phänomene. Risikogruppen,<br />
wie alte Menschen, Kinder und<br />
Schwangere sind besonders hart davon betroffen.<br />
Seit langem sind diese Zusammenhänge bekannt.<br />
Seit langem werden wirksame Gegenmaßnahmen gefordert,<br />
aber die Schadstoffquellen sprudeln ungehemmt<br />
weiter. Bis heute gibt es eben leider keine verbindlichen<br />
Grenzwerte für Ozonsmog. Es gibt kein<br />
bundeseinheitliches Warnsystem. Es gibt vor allen<br />
Dingen keine Rechtsgrundlage für die Kommunen,<br />
um weiträumige Verkehrsbeschränkungen verhängen<br />
zu können.<br />
Die Bundesregierung hat sich lediglich damit<br />
begnügt, Verhaltensempfehlungen auszusprechen:<br />
Man solle bitte schön ab einer Konzentration von 180<br />
Mikrogramm/m 3 keine körperlichen Anstrengungen<br />
unternehmen, z. B. kein Jogging machen, man solle<br />
Aufenthalte im Freien vermeiden, die Kinder ins Haus<br />
zurückholen. Im letzten Jahr wurde sogar der Rat<br />
gegeben, intensives Atmen zu unterlassen. Liebe Kolleginnen<br />
und Kollegen, soll das etwa heißen, das Atmen<br />
von Zeit zu Zeit einzustellen? Zynischer geht es<br />
nun wirklich nicht mehr. Hier wird das Verursacherprinzip<br />
auf den Kopf gestellt. Statt die Ursachen zu<br />
bekämpfen, werden den potentiell Geschädigten perfide<br />
Ratschläge erteilt. Es ist an der Zeit, endlich zu<br />
handeln und das jährliche Ritual bloßer Ankündigungen<br />
einzustellen.<br />
Unser Antrag enthält ein Bündel konkreter Maßnahmen,<br />
die alle notwendig und auch alle realisierbar<br />
sind. Ich nenne nur die wichtigsten Forderungen. Erstens<br />
soll ein Ozongrenzwert von 120 Mikrogramm/<br />
m3 als Luftqualitätsziel festgelegt werden, entsprechend<br />
der VDI-Richtlinie und den Empfehlungen der<br />
Weltgesundheitsorganisation. Dieser Wert gilt in der<br />
Schweiz ab 1994 als verbindlicher Grenzwert; er darf<br />
höchstenfalls einmal pro Jahr überschritten werden.<br />
Zweitens wird die Bundesregierung aufgefordert,<br />
bis Juli 1992 Maßnahmepläne aufzustellen, aus denen<br />
hervorgeht, wie dieses Luftqualitätsziel bis 1996 erreicht<br />
werden kann. Dazu gehören Konzepte zur<br />
Drosselung des Verkehrsvolumens. Dazu gehören<br />
auch der beschleunigte Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel,<br />
die Einführung einer Entfernungspauschale<br />
anstelle der bisherigen Kilometerpauschale<br />
und nicht zuletzt die Einführung eines Tempolimits<br />
von 120 km/h auf Autobahnen und 90 km/h auf den<br />
übrigen Außerortsstraßen. Allein damit könnten mindestens<br />
130 000 t Stickoxide eingespart werden. Das<br />
sind immerhin 8 % der jährlichen Gesamtverkehrsemissionen.<br />
Es ist höchst bemerkenswert, daß inzwischen sogar<br />
der Arbeitskreis Umwelt der CSU diesem Vorschlag<br />
beigetreten ist<br />
(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr guter<br />
Kommentar!)<br />
und im Juli auf dem kleinen Parteitag der CSU in<br />
München einen entsprechenden Antrag einbringen<br />
will. Man darf gespannt sein. Offensichtlich sollte man<br />
die Hoffnung nie aufgeben, daß sich ökologische Einsicht<br />
letztendlich doch durchsetzt, auch in Bayern.<br />
(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wieso,<br />
Bayern ist doch Vorreiter!)<br />
Meine Damen und Herren, der Verkehrsbereich<br />
nimmt eine Schlüsselstellung bei der Bekämpfung des<br />
Sommersmogs ein. Jährlich werden 2,8 Millionen t<br />
Stickoxidemissionen in die Luft gejagt. Davon gehen<br />
immerhin fast 69 % auf das Konto des Autoverkehrs.<br />
Einer der Hauptgründe dafür ist neben der wachsenden<br />
Zahl der Kraftfahrzeuge die Tatsache, daß<br />
Jahr für Jahr schneller gefahren wird; oder um es<br />
deutlicher zu sagen: daß wieder gerast wird. Knapp<br />
die Hälfte aller Pkw fährt heute schneller als<br />
130 km/h. Jeder siebte Pkw fährt sogar schneller als<br />
150 km/h. Die mittlere Lkw-Geschwindigkeit liegt<br />
heute bereits bei 87,3 km/h, obwohl für Lastwagen<br />
bekanntlich ein Tempolimit von 80 km/h gilt. Ich<br />
denke, in diesem Zusammenhang sollte man doch<br />
daran denken, einen Geschwindigkeitsregler für Lkw<br />
einzuführen. Das wäre eine nützliche Angelegenheit.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und beim<br />
Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Auch die Unfallsituation hat sich auf den Autobahnen<br />
leider verschärft. Die Zahl der Verkehrstoten auf<br />
den Autobahnen ist im letzten Jahr um sage und<br />
schreibe 20,3 % angestiegen. Das ist eine traurige Bilanz;<br />
um so mehr, als die Zahl der Verkehrstoten auf<br />
den übrigen Straßen unseres Landes glücklicherweise<br />
zurückgegangen ist.<br />
Als weitere Maßnahmen sind die Einführung von<br />
Höchstverbrauchswerten für alle Kraftfahrzeugtypen<br />
und eine Zielvorgabe, wonach bis zum Jahre 2000 der<br />
Durchschnittsverbrauch der gesamten neu verkauften<br />
Flotte höchstens fünf Liter pro 100 Kilometer betragen<br />
soll, noch zu nennen. Dies ist realistisch und wird auch<br />
von der Automobilindustrie als machbar bestätigt.<br />
Schließlich sollte die lange angekündigte, aber nie<br />
erlassene Verordnung zur Einführung des Gaspendelverfahrens<br />
endlich kommen. Die Schweiz hat dieses<br />
Systems bereits obligatorisch eingeführt, und auch in
2672 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Liesel Hartenstein<br />
den USA ist es in einer Reihe von Bundesstaaten bereits<br />
verwirklicht.<br />
Last but not least wird der Umweltminister aufgefordert,<br />
ein Defizit aufzufüllen, das er schon längst<br />
hätte beheben können — die Rede ist von der Rechtsverordnung<br />
nach § 40 Bundes-Immissionsschutzgesetz<br />
— , damit die Länder und die Kommunen endlich<br />
in die Lage versetzt werden, verkehrsbeschränkende<br />
Maßnahmen anordnen zu können. Nach Pressemeldungen<br />
fordert Umweltminister Töpfer selbst autofreie<br />
Innenstädte für die Sommermonate. Er verweigert<br />
aber bis jetzt den Ländern und den Gemeinden<br />
die rechtliche Handhabe dafür. Wie reimt sich das<br />
zusammen?<br />
(Beifall bei der SPD — Dr. Peter Paziorek<br />
[CDU/CSU]: Ach, der verweigert das doch<br />
nicht! — Klaus Harries [CDU/CSU]: Das ist<br />
doch heute schon möglich!)<br />
— Nein, sie können es nicht. Sie können keine weiträumigen<br />
verkehrsbeschränkten Maßnahmen verfügen.<br />
Herr Harries, das stimmt nicht.<br />
(Klaus Harries [CDU/CSU]: Aber es geht um<br />
die Innenstädte!)<br />
— Nein, es geht um weiträumige Maßnahmen.<br />
(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist ein<br />
Unterschied!)<br />
Wir schlagen vor, daß Fahrbeschränkungen nur für<br />
diejenigen Pkw gelten sollen, die nicht mit einem geregelten<br />
Dreiwegekatalysator ausgestattet sind. Umweltfreundliche<br />
Fahrzeuge brauchen nicht am Straßenrand<br />
stehenzubleiben. Sie sollten Benutzervorteile<br />
genießen. Nur so, lieber Herr Kollege Klinkert, kann<br />
das Anreizsystem unserer Meinung nach funktionieren.<br />
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Die Situation ist b risant. Im letzten Jahr wurde der<br />
Richtwert 120 Mikrogramm/m 3 in vielen Städten um<br />
das Doppelte und um das Dreifache überschritten. Die<br />
Situation ist nicht zum Spaßen. Das gilt für Berlin, für<br />
Hamburg, für Stuttgart, für Hannover und für München.<br />
In manchen Regionen wurden sogar Spitzenwerte<br />
über 300 Mikrogramm/m 3 gemessen. Das sind<br />
absolut unverantwortliche Zustände.<br />
Warum — so muß man doch fragen — erfolgen nicht<br />
wenigstens rechtzeitige und offene Informationen<br />
über die tatsächlichen Verhältnisse? Es kann doch<br />
nicht angehen, daß regelmäßig Wasserstandsmeldungen<br />
über die Rundfunksender gehen und - Pollenflug<br />
vorhersagen gemacht werden, und zwar mit akribischer<br />
Genauigkeit, und daß die Menschen nicht rechtzeitig,<br />
nicht regelmäßig und nicht offen über die tatsächlich<br />
vorhandene Ozonbelastung unterrichtet werden.<br />
Hier geht es doch um ihre Gesundheit. Man sollte<br />
nicht warten, bis die Krankenwagen laufend durch die<br />
Straßen tuten. Auch das Warten auf europaweit einheitliche<br />
Grenzwerte ist keine Lösung.<br />
Der Ozonstau in Bodennähe ist nicht nur ein alltägliches<br />
Gift für die Gesundheit, er gehört auch zu den<br />
Hauptsündern beim Waldsterben. Er trägt mindestens<br />
10 % zum Treibhauseffekt bei.<br />
Alles in allem Gründe genug, um endlich etwas zu<br />
unternehmen. Die Ozonsaison 1991 steht mit Sicherheit<br />
vor der Tür. Deshalb ist jetzt Vorsorge geboten.<br />
Mit Abwarten, Augenverschließen und Atemanhalten<br />
kann man keine verantwortliche Umweltpolitik machen.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />
GRÜNE)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />
Damen und Herren, als nächster Redner hat jetzt<br />
das Wort der Abgeordnete Dr. Peter Paziorek.<br />
Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Hartenstein,<br />
ich habe ja Verständnis dafür, daß die Opposition<br />
immer wieder versucht, der Regierung Versäumnisse<br />
in ihrer Arbeit vorzuhalten. Das ist vielleicht<br />
auch die Aufgabe der Opposition. Ich glaube aber,<br />
daß die Opposition in ihrer politischen Arbeit überzeugender<br />
wäre, wenn sie erkennen würde, daß Untätigkeit<br />
nicht der Stil dieser Regierungskoalition ist, vor<br />
allen Dingen nicht im Bereich des Umweltschutzes.<br />
Das können wir für diese Koalition ganz selbstbewußt<br />
herausstellen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
In der letzten Woche habe ich für meine Fraktion bei<br />
der Aussprache über die für 1992 geplante Umweltkonferenz<br />
eine grundlegende Umstrukturierung im<br />
Verkehrsbereich gefordert.<br />
(Monika Ganseforth [SPD]: Dann mal zu!)<br />
Durch diese Umstrukturierung soll ein wesentlicher<br />
Beitrag zur Verminderung der CO2-Emissionen in<br />
Deutschland geleistet werden. Diese Forderung hat<br />
ihre Berechtigung nicht nur in einer Vorsorgepolitik<br />
zum Schutz der Erdatmosphäre. Vielmehr macht sie<br />
einen Sinn, wenn die in den Sommermonaten auftretenden<br />
Ozon-Spitzenwerte umweltpolitisch und medizinisch<br />
bewertet werden.<br />
Langjährige Messungen zeigen neben abnehmenden<br />
Immissionsbelastungen eine ansteigende Tendenz<br />
bei den Stickoxiden und vor allem für das<br />
Ozon.<br />
(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: So ist es!)<br />
Dabei spielt das Ozon eine Sonderrolle, da es nicht als<br />
primärer Schadstoff emittiert wird, sondern sich in<br />
komplexen Reaktionsabläufen bildet.<br />
Man kann es wie folgt auf den Punkt bringen: Ab<br />
etwa 20 °C und bei starker Sonneneinstrahlung entsteht<br />
u. a. aus den Autoabgasen Stickoxid und Kohlenwasserstoff<br />
der Sommersmog mit dem aggressiven<br />
Gas Ozon. Dieses Ozon beschleunigt das Sterben unserer<br />
Wälder und kann bei Menschen zu gefährlichen<br />
gesundheitlichen Folgen durch eine Abnahme der<br />
Lungenfunktion führen.<br />
Drastischer und damit einprägsamer ist dies so zu<br />
beschreiben, daß die Ozonmoleküle mühelos in die<br />
menschliche Lunge eindringen und dabei das Lungengewebe<br />
zerstören können. Die Warnungen vor<br />
erhöhten O3-Konzentrationen beim Sommersmog ha-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2673<br />
Dr. Peter Paziorek<br />
ben in den letzten Jahren somit zu Recht bei der interessierten<br />
Bevölkerung viele Fragen aufgeworfen.<br />
Die Regierungskoalition kann dabei auf ein Bündel<br />
von Maßnahmen gegen Ozon und Sommersmog verweisen.<br />
So hat diese Bundesregierung durch eine<br />
konsequente Luftreinhaltepolitik in den letzten Jahren<br />
bereits entscheidende Fortschritte zur Reduzierung<br />
des NOx und der Kohlenwasserstoffe erreicht.<br />
Mit der — ich muß es erwähnen, Frau Hartenstein; Sie<br />
haben es sich fast schon gedacht — Großfeuerungsanlagen-Verordnung,<br />
der TA Luft sowie der Einführung<br />
des geregelten Dreiwegekat sind wirkungsvolle Regelungen<br />
durchgesetzt worden. Diese Maßnahmen<br />
haben schon zu geringeren Emissionen geführt und<br />
werden insgesamt — es war schade, daß Sie das nicht<br />
erwähnt haben — zu einer Verminderung der Emissionen<br />
an NO um mehr als 30 % bis Mitte der 90er<br />
Jahre führen. Bei den Kohlenwasserstoffen werden<br />
die angeführten Maßnahmen im Bereich der stationären<br />
Anlagen des Verkehrs und der Produkte bis zu<br />
diesem Zeitpunkt eine Reduzierung um rund 40 %<br />
erbringen.<br />
(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: 30 % bis<br />
40 % von wieviel?)<br />
Da jedoch der Verkehr auf Grund der gesamteuropäischen<br />
Entwicklung weiter zunehmen wird, Herr<br />
Kollege Böhme, reichen diese Maßnahmen nicht aus.<br />
Meine Fraktion setzt sich daher nachdrücklich für<br />
weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Vorläufersubstanzen<br />
für Ozon und Sommersmog aus dem Verkehrsbereich<br />
ein. Wir setzen dabei auf folgende<br />
Schritte: auf eine weitere drastische Verschärfung der<br />
Abgasnormen für Benzinfahrzeuge und für Lastkraftwagen<br />
auch gegenüber den gerade vom EG-Umwelt<br />
rat beschlossenen Grenzwerten, auf eine Verordnung<br />
zur Rückführung von Kohlenwasserstoffdämpfen<br />
beim Betanken, auf eine kontinuierliche Verlagerung<br />
des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene<br />
und auf die Erarbeitung umweltschonender Stadtverkehrskonzepte<br />
unter stärkerer Förderung des öffentlichen<br />
Personennahverkehrs.<br />
(Monika Ganseforth [SPD]: Und wo merkt<br />
man was davon?)<br />
In diesem Zusammenhang begrüßt meine Fraktion<br />
die Absicht des Bundesumweltministers, den Entwurf<br />
einer Verordnung nach § 40 Abs. 2 BImSchG vorzulegen,<br />
die den zuständigen Länderbehörden kleinräumige<br />
Verkehrsbeschränkungen, z. B. im Innenstadtbereich,<br />
für den Fall ermöglichen soll, daß die in der<br />
Bundesverordnung zu regelnden Schadstoffkonzentrationen<br />
überschritten sind. Wir begrüßen es, -<br />
daß der<br />
Umweltminister z. B. den Kommunen vor Ort mit einer<br />
solchen Verordnung Mut machen will. Denn die<br />
rechtlichen Möglichkeiten zu Verkehrsbeschränkungen<br />
gibt es z. B. in der Straßenverkehrsordnung schon<br />
seit 1980 und im Bundes-Immissionsschutzgesetz seit<br />
dem letzten Jahr; das nur noch einmal der Vollständigkeit<br />
halber, Frau Hartenstein.<br />
Nur, eines sollten wir uns ganz deutlich vor Augen<br />
führen: Dem Ozonproblem kann durch diese kleinräumigen<br />
Maßnahmen allein nicht wirksam begegnet<br />
werden. Wir brauchen neben den von uns geforderten<br />
Maßnahmen — das ist auch ein Appell an die sozial<br />
demokratischen Fraktionen in Bund und Ländern —<br />
auch ein Straßennetz, das trotz des Umsteuerns den<br />
drohenden Stop-and-go-Verkehr verhindert. Ebenso<br />
brauchen wir in den übrigen Wirtschaftsbereichen mit<br />
bedeutenden Emissionen von Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen<br />
außerhalb des Verkehrsbereiches<br />
weitere Schritte zur Reduzierung der erhöhten Ozonkonzentration.<br />
Nun ein Wort zum Tempolimit: Vor einigen Wochen<br />
forderte die SPD ein Tempolimit von 100 km/h<br />
auf Autobahnen. Nun fordert sie in ihrem Antrag<br />
120 km/h. Mit dieser neuen Forderung zur Höchstgeschwindigkeit<br />
gibt die SPD selbst zu erkennen, daß<br />
einiges in diesem Bereich noch nicht geklärt ist. Die<br />
bisherigen Versuche haben gezeigt, daß ein Tempolimit<br />
vom Volumen her nur verhältnismäßig wenig zur<br />
Verringerung der Schadstoffemissionen beiträgt. Aus<br />
diesem Grunde habe ich auch überhaupt kein Verständnis<br />
dafür, daß die SPD in dieser Frage eine dogmatische<br />
Haltung einnimmt.<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das macht sie nicht!<br />
Es ist eine rein rationale Haltung!)<br />
Aber ich sage auch ganz deutlich: Es kann auch<br />
nicht richtig sein, dogmatisch im umgekehrten Sinne<br />
gegen Tempolimit um jeden Preis aufzutreten. Hier<br />
gilt es, vorurteilsfrei abzuwägen, was ein Tempolimit<br />
an Umweltverbesserungen im Verhältnis zu nachteiligen<br />
Auswirkungen wie der eventuell stärkeren Benutzung<br />
von Bundesstraßen überhaupt erbringen<br />
kann. Dies sollte in Ruhe geprüft werden.<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Ja, schlimm diese<br />
Amerikaner und Franzosen! Alles Ideolo<br />
gen!)<br />
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für uns sehr wichtig,<br />
die Bundesregierung in ihrem eingeschlagenen Kurs<br />
entschieden zu unterstützen, wirkungsvolle Regelungen<br />
gegen Ozon und Sommersmog durchzusetzen.<br />
Die Regierungskoalition ist hierbei auf dem richtigen<br />
Weg. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen.<br />
Deshalb, Frau Hartenstein, kann ich seitens der<br />
Regierungskoalition — ich will das vorsichtig formulieren<br />
— keine Unterstützung all Ihrer Punkte, die Sie<br />
angesprochen haben, in Aussicht stellen.<br />
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist<br />
der Abgeordnete Dr. Jürgen Starnick.<br />
Dr. Jürgen Starnick (FDP) : Herr Präsident! Meine<br />
Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige Anmerkungen<br />
zu dem Antrag und zu dem, was vorher gesagt<br />
worden ist. Ich will versuchen, es knapp zu machen,<br />
weil ich gerade belehrt worden bin, daß das hier keine<br />
Parlamentsveranstaltung, sondern eine Angelegenheit<br />
psychotherapeutischer Selbsterfahrung sei. Aber<br />
einige Anmerkungen kann ich mir nicht verkneifen.<br />
Zum ersten: Eigentlich hat es sich die SPD mit diesem<br />
Antrag mitten im Juni gar nicht so schlecht ausgedacht.<br />
Letzte <strong>Sitzung</strong>swoche des Parlaments vor<br />
der Sommerpause, strahlender Sonnenschein, Verbreitung<br />
von Horrormeldungen über Ozonwerte im<br />
Radio, was dann der richtige Anlaß wäre, eine darauf
2674 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Jürgen Starnick<br />
aufbauende verkehrspolitische Debatte zu führen.<br />
Denn wenn man den Antrag liest, kommt man natürlich<br />
schnell zu dem Ergebnis, daß nichts anderes damit<br />
gewollt ist.<br />
Aber welch ein Pech. Das Wetter spielt nicht mit, der<br />
liebe Gott ist ungerecht. Aber vielleicht ist er, wie ich<br />
meine, nicht ungerecht, sondern weise, hebt er doch<br />
den Finger und macht uns darauf aufmerksam, liebe<br />
Frau Hartenstein: Nicht der Verkehr ist die Ursache<br />
für das Entstehen von Ozon, sondern der Sonnenschein.<br />
(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Meinen Sie<br />
das, was Sie sagen, ernst? Unglaublich!)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Starnick,<br />
gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin<br />
Liesel Hartenstein?<br />
Dr. Jürgen Starnick (FDP): Einen kleinen Moment<br />
noch.<br />
Gleichwohl möchte ich natürlich nicht bestreiten,<br />
daß Luftschadstoffe, insbesondere Abgase aus dem<br />
Kraftfahrzeugverkehr, zur Entstehung erdnahen<br />
Ozons beitragen. Denn sie beschleunigen die Bildung<br />
von Ozon, sobald die Sonne scheint. Aber sie beschleunigen<br />
auch den Abbau des Ozons.<br />
So mag es zwar verwunderlich sein — aber es ist<br />
letztlich erklärbar — , daß bei einer Sommersmogwetterlage<br />
in Ballungsräumen die niedrigsten Ozonwerte<br />
oft dort gemessen werden, wo in den Großstädten der<br />
stärkste Verkehr tobt.<br />
Bitte, Frau Hartenstein.<br />
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Kollege Starnick,<br />
darf ich Sie fragen, ob Sie eine Schadstoffkonzentration,<br />
die so gravierende Gesundheitsschäden verursacht,<br />
nicht doch für ernsthaft genug halten, um sie<br />
auch ernsthaft zu behandeln? Und darf ich Sie an<br />
etwas erinnern — was Sie vielleicht gar nicht wissen<br />
können —, daß die SPD-Fraktion bereits 1989 eine<br />
ähnliche Initiative eingebracht hat, aber leider erfolglos<br />
geblieben ist? Sie hat sie eingebracht, weil wir die<br />
üble Situation verbessern wollen. Nur, die Frage ist,<br />
ob Sie wenigstens anerkennen, daß es uns um die<br />
Sache und die Verbesserung eines Übelstandes<br />
geht.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
Dr. Jürgen Starnick (FDP): Sehr verehrte Frau Hartenstein,<br />
ich erkenne das durchaus an. Wenn -<br />
ich das<br />
jetzt etwas ironisch oder vielleicht auch launisch vortrage,<br />
dann tue ich das wegen eines Punktes, der meines<br />
Erachtens die große Schwäche dieses Antrags ist.<br />
Ich will etwas später darauf zu sprechen kommen.<br />
Tatsache ist jedenfalls — das belegen Messungen<br />
im Berliner Luftgütemeßnetz, das nach meinem<br />
Kenntnisstand das dichteste Meßnetz überhaupt in<br />
dieser Republik ist — , daß dort, wo wir starke Emissionen<br />
aus dem Verkehr haben, während einer Smogwetterlage<br />
die Ozonwerte teilweise niedriger als in<br />
einem Reinluftgebiet sind. Es ist nun einmal gemessene<br />
Tatsache, daß wir dort in Deutschland, wo wir die<br />
reinste Luft haben, nämlich auf der Zugspitze, die<br />
höchsten Ozonwerte messen.<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Woher kommt<br />
das?)<br />
Ich nenne das immer — ich erlaube mir, das auch<br />
hier so zu nennen — das Ozon-Paradoxon, weil es<br />
nicht jedem im ersten Moment einsichtig ist. Man muß<br />
natürlich etwas genauer auf die Entstehungsgeschichte<br />
des erdnahen Ozons schauen.<br />
(Monika Ganseforth [SPD]: In der Strato<br />
sphäre hätten wir sogar gern mehr!)<br />
— Ja, natürlich hätten wir das dort ganz gern.<br />
(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das entschärft doch<br />
nicht die Ursache!)<br />
— Richtig; das entschärft nicht die Ursache.<br />
(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Das läuft auf Philo<br />
sophie hinaus!)<br />
Ich sage das, meine sehr verehrten Kollegen von der<br />
SPD, weil das, was Sie jetzt beabsichtigen, etwas ist,<br />
womit Sie das umweltpolitische Pferd vom Schwanz<br />
aufzäumen. Denn wenn Sie einen Sekundärschadstoff,<br />
der sich — wenn man es so sagen will — letzten<br />
Endes wie ein Beelzebub verhält und bei dem es vom<br />
Wetter und von der Intensität des Sonnenscheins abhängt,<br />
ob er in einer hohen Konzentration auftritt, zu<br />
einer Leitgröße für die Beurteilung der Luftqualität<br />
machen wollen, dann setzen Sie schlicht auf den verkehrten<br />
Schadstoff.<br />
(Monika Ganseforth [SPD]: Wir wollen das<br />
Problem lösen!)<br />
— Sie setzen dabei aber auf den verkehrten Schadstoff.<br />
Wenn Sie das machen wollen — was ich durchaus<br />
anerkenne — , dann müssen Sie konsequenterweise<br />
auf einen Primärschadstoff wie beispielsweise Stickoxid<br />
setzen. Dies ist ein Qualitätsmaßstab zur Beurteilung<br />
unserer Umweltsituation, nicht aber ein Schadstoff,<br />
der mit so vielen Zufälligkeiten behaftet ist, in<br />
welcher Konzentration er auftritt und wann er auftritt.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Ich möchte ganz kurz auch noch auf den Wert eingehen,<br />
der angegeben worden ist, nämlich den Ozonemissionsgrenzwert<br />
von 120 Mikrogramm/m 3. Wenn<br />
er für das, wofür er hier herangezogen werden soll,<br />
nicht geeignet ist, sollte man eigentlich gar nicht weiter<br />
darüber reden. Aber die Erfahrung ist ja, daß bei<br />
der Nennung solcher Werte schnell der Eindruck vermittelt<br />
wird, hiermit werde ein Grenzwert angegeben,<br />
dessen Überschreitung auf jeden Fall gesundheitliche<br />
Gefahren nach sich ziehe.<br />
Leider fehlen noch immer Wirkungsforschungsstudien,<br />
aus denen für Ozon ein Grenzwert mit der gleichen<br />
Zuverlässigkeit wie etwa für Schwefeldioxid und<br />
Schwebstäube beim Wintersmog abgeleitet werden<br />
kann. Leider ist das so.<br />
Das mag auch daran liegen, daß die Empfindlichkeit<br />
gegenüber Ozon individuell sehr unterschiedlich
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2675<br />
Dr. Jürgen Starnick<br />
ist. Eigenverantwortliches Handeln zur Abwehr gesundheitlicher<br />
Beeinträchtigungen<br />
(Zuruf von der SPD: Luft anhalten!)<br />
bei Sommer-Smog-Lagen ist deshalb geboten. So hat<br />
sich die Umweltministerkonferenz mit Recht im vorigen<br />
Jahr auf ein gemeinsames Vorgehen bei der Information<br />
der Bevölkerung geeinigt und 180 Mikrogramm<br />
Ozon pro Kubikmeter Luft als einen Wert festgelegt,<br />
bei dessen Überschreitung eine Ozonwarnung<br />
herausgegeben wird. Sie hat sich aber wohlweislich<br />
hierauf beschränkt.<br />
Noch ein Satz: Ich will damit nun Ihre Intention<br />
nicht in Frage stellen. Ich stimme mit vielem, was Sie<br />
in diesem Antrag grundsätzlich gesagt haben, vollkommen<br />
überein. Aber ich meine, daß wir diese Ziele,<br />
die hier verfolgt werden, gemeinsam mit einer anderen<br />
Begründung darlegen sollten. Ich bin gemeinsam<br />
mit Ihnen der Auffassung, daß wir eine Verlagerung<br />
des Verkehrs von der Straße auf die Schiene erwirken<br />
müssen,<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
weil ich will, daß unsere Städte lebenswert bleiben<br />
und nicht total mit Blech verstellt werden, und weil ich<br />
will, daß unsere Einträge aus der Luft in den Boden<br />
und die Seen — insbesondere auch die Stickstoffeinträge<br />
— deutlich reduziert werden. Aber das sind natürlich<br />
dann andere Gründe. Ich meine, das sind auch<br />
die langfristigen, wichtigen umweltpolitischen Ziele,<br />
(Zuruf von der SPD: Sie sind an der Regie<br />
rung. Machen Sie es!)<br />
die sich so begründen lassen, so daß wir letzten Endes<br />
sicherlich wieder zu gemeinsamen Anliegen kommen,<br />
die wir auch gemeinsam vertreten können.<br />
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, die nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete<br />
Jutta Braband.<br />
Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Ich darf Ihnen einen angenehmen<br />
Abend wünschen!<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Danke sehr!)<br />
Ich finde, daß die Atmosphäre hier sehr viel angenehmer<br />
ist als am Nachmittag — zumindest bis jetzt.<br />
(Zuruf von der SPD: Jeder muß dazu beitra<br />
-<br />
gen!)<br />
— Ja, das finde ich auch.<br />
Sommerzeit also Ozonzeit? Und obwohl es nicht so<br />
heiß ist, geht das Problem mit dem Ozonloch nicht aus<br />
der Welt.<br />
Pünktlich zur Urlaubszeit, der Zeit der langen Autoschlangen<br />
und der Staus auf den Autobahnen<br />
kommt auch wieder das altbewährte Sommerthema<br />
Ozon auf die Tagesordnung — nicht nur hier im Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>. Wir können uns also wieder auf die<br />
Veröffentlichung von Meßwerten, die Warnungen an<br />
ältere Menschen, sich nicht zu sehr, und an alle Jog<br />
ger und Joggerinnen, sich nicht zu überanstrengen,<br />
einstellen.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war in der<br />
DDR verboten!)<br />
— Ach, bitte, hören Sie doch auf, mich immer mit der<br />
DDR zu strafen. Ich gehöre durchaus zu den Leuten,<br />
die in den letzten zwölf Jahren in der DDR bewiesen<br />
haben, daß sie sehr wohl handlungsfähig gegen Regierungen<br />
sind. Ich gedenke, damit hier nicht aufzuhören.<br />
Doch nun zum vorliegenden Antrag: So sinnvoll ich<br />
es finde, auch in Detailfragen die ökologische Diskussion<br />
vorantreiben zu wollen, so erweist er sich doch als<br />
einigermaßen halbherzig. Grundsätzlich ist zu sagen,<br />
daß die Forderung nach Festsetzung von Grenzwerten<br />
— das hat die Diskussion nach dem AKW-Unfall<br />
von Tschernobyl gezeigt — politisch immer hilflos ist.<br />
Grenzwerte sind politische Festsetzungen; sie sagen<br />
in der Regel nichts über die tatsächliche Gesundheitsgefährdung<br />
oder Umweltschädigung aus.<br />
Wenn mit der Forderung nach Festsetzung eines<br />
Grenzwertes ein ordnungspolitisches Signal gesetzt<br />
werden soll, so ist allerdings für mich die Frage, ob 120<br />
Mikrogramm pro Kubikmeter ausreichend sind — der<br />
gültige Grenzwert liegt, wie Sie sicher wissen, bei<br />
180 — oder ob darüber zu diskutieren sei, daß dieser<br />
Grenzwert noch weiter herabgesetzt werden soll.<br />
Dies gilt auch für die Festsetzung der Abgaswerte,<br />
zumindest nach dem US-Standard, und die weiteren<br />
Forderungen, die sich auf technische Lösungen beschränken.<br />
Ich will noch zum Abschluß sagen, daß ich grundsätzlich<br />
dem Antrag zustimme, ganz einfach deshalb,<br />
weil ich in der Tatsache, daß man sofort politische<br />
Maßnahmen ergreift, auch auf verkehrspolitischem<br />
Gebiet, eine Möglichkeit sehe, ein bestimmtes Bewußtsein<br />
für diese Sachen herzustellen. Grundsätzlich<br />
bin ich jedoch der Meinung, daß erst eine politische<br />
Neuorientierung auch auf dem Verkehrssektor<br />
nötig ist, und dann können wir uns über ordnungspolitische<br />
Maßnahmen unterhalten. Ich stimme aber<br />
dennoch diesem Antrag zu, weil ich denke, daß er<br />
einen gewissen Lerneffekt hervorruft.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, zum Schluß hat Herr Staatssekretär Bernd<br />
Schmidbauer das Wort.<br />
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen<br />
und Kollegen! Ich denke, daß bei allen Beteiligten<br />
hier Einvernehmen darüber besteht, daß weitere<br />
Schritte gegen die erhöhte Ozonkonzentration<br />
und den Sommer-Smog getan werden müssen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />
SPD)<br />
Ich will, weil ich die Kollegen Dr. Starnick und Pazio<br />
rek nur unterstützen kann, einmal einige Zitate brin<br />
gen. Das erste Zitat ist dem ersten Zwischenbericht
2676 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />
der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der<br />
Erdatmosphäre" entnommen:<br />
Die Zunahme des Ozons in der Nordhemisphäre<br />
beträgt seit 1970 im Jahresmittel etwa 0,5 bis<br />
1 Prozent pro Jahr und etwa 2 Prozent in stark<br />
schadstoffbelasteten Gebieten.<br />
(Zuruf der Abg. Dr. Liesel Hartenstein<br />
[SPD])<br />
— Frau Kollegin Hartenstein, das ist eben nur Ihr Problem:<br />
Sie denken, daß dem Problem der Bildung troposphärischen<br />
Ozons mit nationalen Maßnahmen<br />
Rechnung getragen werden könnte. Das ist etwas<br />
ganz anderes.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />
Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Irgendwann<br />
muß man doch einmal anfangen!)<br />
Nachdem wir alle wissen, Frau Kollegin Hartenstein,<br />
daß dies ein Problem der Nordhemisphäre ist,<br />
will ich Ihnen noch etwas dazusagen. Klar ist, daß<br />
Ozon in erheblichem Umfang in der Troposphäre bei<br />
der durch die Stickoxide NO und NO2 — was wir hier<br />
als NO, bezeichnen — katalysierten photochemischen<br />
Oxidation von Kohlenmonoxid, Methan und<br />
höheren Kohlenwasserstoffen gebildet wird. Ich will<br />
noch ein Zitat bringen, und zwar aus dem dritten Bericht<br />
der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz<br />
der Erdatmosphäre" :<br />
Dabei ist die Ozon-Produktionsrate in nichtlinearer<br />
Weise von den Konzentrationen der genannten<br />
Spurengase, aber auch von den Verhältnissen<br />
der Konzentrationen der einzelnen Gase untereinander<br />
abhängig.<br />
Das ist ein höchst komplexer Zusammenhang. Wer<br />
hier Maßnahmen durchsetzen will, die sich auf lineare<br />
politische Argumente gründen, der wird am Ende<br />
überhaupt keine Veränderung der Konzentration des<br />
Ozons erreichen. Das ist die Problematik, die eben<br />
auch Dr. Starnick hier dargelegt hat.<br />
Es ist überraschend, daß die hohe Konzentration<br />
genau dort, wo sie vermutet wird, nicht auftritt, daß<br />
überall dort, wo viel Verkehr herrscht — z. B. an den<br />
Autobahnen — der umgekehrte Prozeß, nämlich die<br />
Reduktion des 03 stattfindet, während dies, wie schon<br />
vorhin erwähnt, in Gebieten mit reiner Luft zu erwarten<br />
gewesen wäre.<br />
(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Aber Sie ken<br />
nen doch die Gründe sehr genau, Herr<br />
Schmidbauer!)<br />
-<br />
Wenn wir uns im Ziel einig sind, müssen wir in der Tat<br />
dort ansetzen, wo dies möglich ist. Reden von 1989,<br />
die gegen die Politik der Bundesregierung gerichtet<br />
sind, Frau Kollegin Hartenstein, wirken — auch wenn<br />
Sie sie zweimal oder dreimal halten — im Hinblick auf<br />
die Ozonkonzentration kein Stück vermindernd.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Im übrigen sind die Länderminister da ein wesentliches<br />
Stück weiter; denn sie haben genau ausgeführt<br />
— entgegen Begründungen in Ihrem Antrag —, daß<br />
es mit diesen Konzentrationswerten überhaupt nichts<br />
auf sich hat, weil sie überhaupt keinen Parameter für<br />
die Qualität unserer Luft darstellen. Hier wird ein anderer<br />
Ansatz nötig.<br />
Im vergangenen Jahr hat sich die Umweltministerkonferenz<br />
mehrheitlich auf diesen Grenzwert von<br />
180 Mikrogramm Ozon pro Kubikmeter Luft als Zweistundenmittelwert<br />
festgelegt. Aber dies ist natürlich<br />
ein Informationswert, der in den nächsten Jahren beliebig<br />
lange aufrecht erhalten werden kann, wenn es<br />
uns nicht gelingt, die Konzentration der Vorläufersubstanzen<br />
im richtigen Verhältnis zu reduzieren.<br />
(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Da setzen wir<br />
an!)<br />
Das scheint mir hier auch einvernehmlich gesehen zu<br />
werden, mit den entsprechenden Konsequenzen.<br />
Dazu gehört, Frau Kollegin Hartenstein, daß wir in<br />
den letzten Jahren durch eine sehr konsequente Luftreinhaltepolitik,<br />
um die uns viele — auch unsere<br />
Nachbarn — sehr beneiden, und ihren entsprechenden<br />
Ergebnissen mit dazu beigetragen haben, daß es<br />
hier zu einer starken Reduzierung der Stickoxide und<br />
der Kohlenwasserstoffe gekommen ist.<br />
Ich will nicht verhehlen, daß wir seit dem 3. Oktober<br />
eine etwas andere Situation haben. Statistisch gesehen<br />
haben wir gegenüber der Situation vor dem<br />
3. Oktober eine Verdoppelung der Konzentration. Das<br />
mag mancher beklagen; ich sehe es als Aufgabe. Ich<br />
sehe, daß wir im Hinblick auf die Sanierung im Osten<br />
auf die Notwendigkeit der Fortentwicklung der Lebensqualität<br />
in den fünf neuen Ländern eben noch<br />
viel stärker Anstrengungen unternehmen müssen, um<br />
unsere Ziele zu erreichen. Immerhin hat das dazu<br />
geführt, daß wir bis heute 600 000 Tonnen Stickstoffoxide<br />
und 200 000 Tonnen Kohlenwasserstoffe weniger<br />
emittieren als ohne solche Luftreinhaltemaßnahmen:<br />
97 % der neu zugelassenen Fahrzeuge haben<br />
Drei-Wege-Katalysatoren; 25 % des Bestandes sind<br />
mit Drei-Wege-Katalysatoren ausgerüstet. Die Nachrüstung<br />
geht weiter. Wir haben es durch unseren<br />
Druck immerhin geschafft, auch im Hinblick auf die<br />
Europäische Gemeinschaft die anderen davon zu<br />
überzeugen, daß die Werte für Gesamteuropa diesen<br />
Stand der Technik bei unseren Fahrzeugen notwendig<br />
machen.<br />
Wir sagen aber genauso deutlich, daß diese Maßnahmen<br />
nicht ausreichen. Insbesondere das Anwachsen<br />
des Verkehrs macht uns Probleme. Der Ost-West<br />
Verkehr, der Binnenmarkt, all das wird im Energiebereich<br />
einen starken Zuwachs bewirken. Dies bedeutet<br />
eben, daß wir uns nachdrücklich dafür einsetzen, daß<br />
im Bereich der EG weitere Reduzierungen stattfinden.<br />
Ich will Ihnen unsere Zielvorstellung nennen. Wir<br />
gehen davon aus, daß es zu einer weiteren drastischen<br />
Verschärfung der Abgasnormen für Pkw durch eine<br />
weitere Halbierung der vom EG-Umweltrat am<br />
13. Juni 1991 beschlossenen Grenzwerte für Kohlenwasserstoff-<br />
und Stickstoffoxidemissionen für Benzinfahrzeuge<br />
sowie zu einer deutlichen Herabsetzung<br />
des Stickstoffoxidwertes für Lkw kommt. Auch beim<br />
Lkw hat der EG-Umweltrat bereits am 18. März 1991<br />
zu einem gemeinsamen Standpunkt gefunden, der<br />
eine Herabsetzung der Schadstoffgrenzwerte in zwei<br />
Schritten auf etwa die Hälfte des heutigen Niveaus
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2677<br />
Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />
vorsieht. Wir gehen aber auch davon aus, daß jetzt<br />
noch Forschungs- und Entwicklungsprogramme für<br />
neue Treibstoffe notwendig werden. Dazu gehören<br />
weiter der Erlaß von Verordnungen zur Rückführung<br />
von Kohlenwasserstoffdämpfen, die Reduzierung des<br />
Benzolgehalts im Treibstoff, eine Begrenzung der<br />
CO2-Emissionen für Pkw, die etwa einer Verbrauchsminderung<br />
bis zum Jahr 2005 auf 51 pro 100 km<br />
gleichkommt. Dies sind ehrgeizige Ziele. Wir werden<br />
noch genügend Gelegenheit haben, hier an einem<br />
Strang zu ziehen.<br />
Beim Schlagwort „Verlagerung von der Straße auf<br />
die Schiene" ist manches einzuklagen, wenn es um<br />
Maßnahmen geht, Schienenstrecken bei uns zu<br />
bauen.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Wer weiß, in welch geringen Prozentsätzen wir für<br />
diese Verlagerung noch Spielraum haben, der weiß,<br />
daß es darauf ankommt, neue Trassen zu realisieren.<br />
Oftmals sind es dieselben, die uns die Verlagerung<br />
ankündigen, mitgehen und dann bei der Neubautrasse<br />
an vorderster Stelle gegen diese Neubautrasse<br />
protestieren.<br />
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Dop<br />
pelstrategie der SPD!)<br />
Wenn es um den Entwurf einer Verordnung nach<br />
§ 40 Abs. 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes<br />
geht, so will ich einmal richtigstellen: Es geht darum,<br />
daß die Landesbehörden kleinräumige Verkehrsbeschränkungen<br />
ergreifen können. Es wird nicht darum<br />
gehen — ich sagte dies bereits —, als Parameter<br />
Ozongrenzwerte herzunehmen, sondern hier zählen<br />
allein Stickoxide und andere Parameter, die uns über<br />
die Qualität, über die Verschmutzung in solchen<br />
Hochbelastungsgebieten Auskunft geben.<br />
Es gäbe eine Fülle von Maßnahmen, die wir dazu<br />
auf den Weg gebracht haben. Aber ich will hier schließen,<br />
indem ich auf einen Punkt hinweise. Wir müssen<br />
im internationalen Bereich vorankommen. Wir drängen<br />
darauf, noch in diesem Jahr im Bereich der Europäischen<br />
Wirtschaftskommission ein neues Protokoll<br />
abzuschließen, nämlich flüchtige Kohlenwasserstoffe<br />
um 30 % zu reduzieren. Dies führt natürlich zu der<br />
Entlastung, von der ich gesprochen habe. Die Schadstoffkonzentrationen<br />
müssen europaweit reduziert<br />
werden. Auch das ehrgeizige Ziel, die CO2-Emissionen<br />
in der Bundesrepublik Deutschland um 25 bis<br />
30 % zu reduzieren, trägt dazu in nicht unerheblicher<br />
-<br />
Weise bei. In der Abschätzung bedeutet dies, daß wir<br />
die Stickoxidemissionen noch einmal um 30 % reduzieren<br />
und, was wichtig ist, die Kohlenwasserstoffemissionen<br />
um 60 % zurückgehen werden.<br />
In einem können wir sicher sein: Wir werden in<br />
unseren Immissionsschutzberichten an den Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>, in den Daten zur Umwelt den Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong> auch über die Entwicklung des<br />
troposphärischen Ozons ausreichend informieren.<br />
Herzlichen Dank.<br />
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt<br />
10.<br />
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf<br />
der Drucksache 12/772 an die in der Tagesordnung<br />
genannten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu<br />
andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist<br />
die Überweisung so beschlossen.<br />
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:<br />
Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />
Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow und der<br />
Gruppe der PDS/Linke Liste Erlassung der<br />
Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR<br />
— Drucksache 12/427 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Finanzausschuß (federführend)<br />
Auswärtiger Ausschuß<br />
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
Haushaltsausschuß<br />
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünf-<br />
Minuten-Runde vereinbart worden. — Ich sehe keinen<br />
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unsere<br />
Kollegin Frau Dr. Ursula Fischer.<br />
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!<br />
Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste<br />
im Deutschen <strong>Bundestag</strong> stellt den Antrag, Nicaragua<br />
die gegenüber der ehemaligen DDR bestehenden<br />
Schulden zu erlassen.<br />
Eine generelle Feststellung vorab, um nicht eines<br />
ungerechtfertigten Subjektivismus bezichtigt zu werden:<br />
Die PDS/Linke Liste vertritt die Ansicht, daß zur<br />
wirklichen Lösung der internationalen Verschuldungskrise<br />
erstens ein genereller Schuldenerlaß und<br />
zweitens eine umfassende Demokratisierung der internationalen<br />
Verhältnisse unumgänglich sind. Das<br />
betrifft vor allem die internationalen Verteilungs- und<br />
Austauschverhältnisse, die in ihrer jetztigen Konstellation<br />
Unterentwicklung unüberwindbar machen.<br />
Daß ein genereller Schuldenerlaß ein moralisches<br />
Muß darstellt, ist ein weiterer Aspekt in unserer Argumentation.<br />
Sollten eines Tages alle Völker der sogenannten<br />
Dritten Welt mit der berechtigten Forderung<br />
nach Reparationsleistungen für fünfhundert Jahre erlittene<br />
Ausbeutung und Zerstörung materiellen und<br />
ideellen Reichtums an den entwickelten Norden herantreten,<br />
müßte Europa ohnehin seine Zahlungsunfähigkeit<br />
anmelden. Derweilen hält der Netto-Ressourcen-Rückfluß<br />
von Süd nach Nord an, wird noch am<br />
Elend der Zweidrittelwelt verdient, und Entwicklungshilfe<br />
ist so lohnend, daß sogar die Privatwirtschaft<br />
einsteigt, was ich nicht immer für negativ halte.<br />
Aus - dieser Perspektive ist die notorische Zahlungs<br />
bzw. Schuldenerlaßunwilligkeit des Nordens doppelt<br />
verwerflich.<br />
Aber zurück zu Nicaragua! Warum gerade Nicaragua?<br />
In den entwicklungspolitischen Konzeptionen<br />
der Bundesrepublik spielt die Erfüllung von Rahmenbedingungen<br />
eine wichtige Rolle. Ich will an dieser<br />
Stelle nicht über Sinn und Objektivität derartiger Bedingungen<br />
und ihre Auslegung polemisieren, sondern<br />
auf die konkrete Situation hinweisen, die sich in Nica-
2678 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Ursula Fischer<br />
ragua wie folgt darstellt: Seit den Wahlen im März<br />
1990 bemüht sich die Regierung Chamorro darum, die<br />
wirtschaftliche und politische Krise des Landes zu bewältigen.<br />
Ohne Hilfe von außen wird dieses Land, das<br />
durch Krieg, Wirtschaftsblockade, ökonomische Fehlentscheidungen<br />
und Naturkatastrophen total am Boden<br />
ist, den eingeschlagenen Weg der Demokratisierung<br />
und friedlichen Veränderung nicht weitergehen<br />
können.<br />
Um aber diese internationale Hilfe zu erlangen, akzeptiert<br />
die Regierung die Auflagen internationaler<br />
Geldgeber, ohne deren verheerende Wirkung für die<br />
breite Masse der Bevölkerung auffangen zu können.<br />
Alle sich jetzt abzeichnenden Tendenzen deuten auf<br />
eine absolute Verschlechterung der Lage hin.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Fischer,<br />
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />
Irmer?<br />
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Bitte.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege<br />
Irmer.<br />
Ulrich Irmer (FDP): Frau Kollegin, vielen Dank dafür,<br />
daß Sie die Zwischenfrage zulassen. Würden Sie<br />
einräumen, daß Ihre geistigen Vorväter, nämlich die<br />
Regierung der DDR, ihrerseits in gewaltigem Maße<br />
dazu beigetragen haben, diese von Ihnen zutreffend<br />
beschriebene Misere Nicaraguas herbeizuführen?<br />
(Zuruf von der PDS/Linke Liste)<br />
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich möchte<br />
darauf etwas ausführlicher antworten. Ich bin durchaus<br />
der Meinung, daß die ganze Anlage der Entwicklungspolitik,<br />
sowohl in Ost als auch in West, unter der<br />
damaligen Konstellation zu dieser Lage beigetragen<br />
hat. Auch das ist für mich ein Grund, in der Aufarbeitung<br />
der Geschichte diesen Antrag zu stellen, weil ich<br />
die Lage in Nicaragua erstens am besten kenne und<br />
zweitens für sehr gravierend halte. Deshalb tue ich<br />
das auch. Die Entwicklungspolitik sowohl in Ost als<br />
auch in West war ideologisiert; sie ist es nach wie vor.<br />
Ich weiß nicht, ob Sie anderer Meinung sind. Darüber<br />
könnten wir uns bei Gelegenheit ja einmal unterhalten.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />
Ist denn jemand in der Lage, sich vorzustellen, was<br />
zum Beispiel eine Arbeitslosenrate von 46 % bedeutet,<br />
von der die Regierung immerhin 30 % zugibt, wenn<br />
dazu noch unter den neuen Bedingungen Gesundheitsbetreuung<br />
und Bildung jetzt wieder -<br />
bezahlt werden<br />
müssen, wenn auch mit geringen Beträgen, aber<br />
doch für die arme Bevölkerung unerschwinglich?<br />
Der Vizepräsident der nicaraguanischen Nationalversammlung<br />
traf während seines Aufenthalts in der<br />
Bundesrepublik eine treffende, wenn auch niederschmetternde<br />
Feststellung. Er sagte sinngemäß:<br />
„Wenn all diese Reformen irgendwann greifen, wohlgemerkt,<br />
wenn sie greifen, werden fünf bis zehn Jahre<br />
vergangen sein. Diese fünf bis zehn Jahre werden<br />
Tausende Menschen, vor allem Kinder, das Leben<br />
kosten, weil Mittel für Gesundheit und Bildung nicht<br />
da sind und nicht da sein werden. Investitionen in Bil<br />
dung und Gesundheit sind nun mal weder für nationales<br />
noch für internationales Kapital lohnend. "<br />
Weil Mittel für diese Bereiche nicht zur Verfügung<br />
stehen, wächst in Nicaragua bereits heute wieder eine<br />
Generation von Kindern heran, die weder lesen noch<br />
schreiben können. Eltern müssen ihre Kinder zu<br />
Hause sterben lassen, weil sie das Geld für Medikamente<br />
nicht aufbringen und die staatlichen Einrichtungen<br />
die medizinische Versorgung nicht mehr sichern<br />
können.<br />
Statt dessen werden von der Regierung bekannter<br />
weise selbstzerstörerische Auflagen des IWF und der<br />
Weltbank erfüllt, und der Schuldendienst macht nach<br />
wie vor den angeblich helfenden Norden noch reicher.<br />
Im Land wachsen die sozialen Spannungen. Der<br />
mühsam errungene Frieden ist zunehmend gefährdet,<br />
und dieser Krieg ging nicht nur von Nicaragua aus.<br />
Das Projekt Demokratisierung droht an diesen Auseinandersetzungen<br />
zu scheitern.<br />
Einer zu erwartenden Ausweitung der Choleraepidemie<br />
auf Mittelamerika hat die gesamte Region<br />
wenig entgegenzusetzen. In den Armenvierteln Managuas<br />
ist bei dem derzeitig desolaten Zustand von<br />
medizinischer Versorgung und Infrastruktur und der<br />
sich zunehmend verschlechternden Ernährungslage<br />
der Bevölkerung die Katastrophe vorprogrammiert.<br />
Angesichts dieser Konstellation ist die Vorstellung<br />
unerträglich, daß auch die 570 Millionen US-Dollar,<br />
die Nicaragua aus der Zusammenarbeit mit der ehemaligen<br />
DDR belasten, von einer Regierung eingefordert<br />
werden sollen, die erstens in den vergangenen<br />
Jahren verschwindend wenig für die nicaraguanischen<br />
Menschen getan hat und die zweitens mit ihrer<br />
Entwicklungspolitik einen wesentlichen Beitrag zur<br />
Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten<br />
beabsichtigt.<br />
Ein umfassender Schuldenerlaß gegenüber Nicaragua<br />
wäre hingegen zumindest ein Hinweis darauf,<br />
daß die Bundesregierung bereit ist, die aufgestellten<br />
Richtlinien ihrer Entwicklungspolitik mit Leben zu erfüllen.<br />
Das wäre für mich ein Schritt in die richtige<br />
Richtung.<br />
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, nunmehr hat unser Kollege Dr. Uwe Holtz das<br />
Wort.<br />
Dr. Uwe Holtz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr<br />
geehrten Damen und Herren! Die Behandlung des<br />
Nicaragua-Antrags im Plenum, wenn auch nicht vor<br />
vollem Hause, macht deutlich: Wir vergessen Nicaragua<br />
nicht. Das zentralamerikanische Land befindet<br />
sich in einer katastrophalen wirtschaftlichen Situation.<br />
Sie ist auf die negativen internationalen wirtschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen, auf den jahrelang<br />
von außen mit angeheizten Bürgerkrieg, aber auch<br />
auf eine in vielen Bereichen falsche Wirtschaftspolitik<br />
des Landes und auch auf die von der Bundesrepublik<br />
mit betriebene Sanktionspolitik zurückzuführen. In<br />
jüngster Zeit wurde diese katastrophale Situation
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2679<br />
Dr. Uwe Holtz<br />
noch durch ausbleibende Hilfen aus den mittel- und<br />
osteuropäischen Ländern verschärft.<br />
Bei ihren Besuchen in der Bundesrepublik haben<br />
sowohl der ehemalige Präsident Daniel Ortega als<br />
auch die neue Präsidentin Chamorro die Bundesrepublik<br />
um finanzielle und technische Zusammenarbeit<br />
sowie um Schuldenerleichterungen gebeten.<br />
Wir müssen in der Entschuldungsfrage in der Tat<br />
weiterkommen. Dabei sind wir Sozialdemokraten jedoch<br />
nicht für eine pauschale Streichung der Schulden<br />
gegenüber allen Ländern, weil wir nicht wollen,<br />
daß etwa Diktatoren davon dann noch profitieren können.<br />
(Beifall bei der SPD und der FDP)<br />
Im Februar dieses Jahres hatte Hans-Jochen Vogel<br />
der Präsidentin zugesagt, daß die SPD deutsche Hilfsleistungen<br />
an Nicaragua unterstützen werde. Er verwies<br />
auch darauf, daß wir wiederholt die Wiederaufnahme<br />
der vollen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit<br />
gefordert haben; außerdem müsse es in<br />
einer Zeit, in der für den Golfkrieg Milliarden innerhalb<br />
kürzester Zeit bereitgestellt würden, auch möglich<br />
sein, für die Festigung der Demokratie und die<br />
Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Nicaragua<br />
einen maßgeblichen Beitrag zu leisten.<br />
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />
dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Die Verschuldung Nicaraguas hat, wie in ähnlich<br />
gelagerten Fällen in anderen Entwicklungsländern,<br />
nicht nur wirtschaftliche und finanzielle Bedeutung,<br />
sondern auch eine politische Dimension: Sie gefährdet<br />
die politische Stabilität und die demokratische<br />
Entwicklung und blockiert den sozialen Fortschritt.<br />
Deshalb kommt der Entschuldung eine hohe Bedeutung<br />
zu. Wir vertreten zu dem vor uns liegenden Antrag<br />
folgende Auffassung:<br />
Erstens. Die Regierung des vereinten Deutschlands<br />
kann sich ihrer Verantwortung gegenüber Nicaragua<br />
nicht entziehen. Dies gilt auch für den Bereich der<br />
Entschuldung.<br />
Zweitens. Wir halten es für falsch, bei der Frage der<br />
Verschuldung und dementsprechenden Lösungen<br />
nur von den Schulden auszugehen, die Nicaragua<br />
gegenüber der ehemaligen DDR hat. Hier muß es zu<br />
einer Regelung für die Gesamtschulden kommen.<br />
(Beifall bei der SPD, der FDP, der PDS/Linke<br />
Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Drittens. Wir erwarten, daß die Bundesregierung<br />
einen mutigen Schritt nach vorne wagt. Dabei<br />
-<br />
muß sie<br />
wissen: Schulden teilweise oder gar vollständig zu<br />
erlassen ist nicht nur ein Gebot der Solidarität, sondern<br />
oft auch ein Akt der Vernunft.<br />
Eine neue Qualität der Entschuldungsregelungen<br />
ist kürzlich im Falle Polens und Ägyptens gefunden<br />
worden, bei zwei Ländern, die, wie Nicaragua, der<br />
mittleren Einkommensgruppe zuzurechnen sind.<br />
Ausdrücklich haben die Industrieländer — auch die<br />
Bundesrepublik — bei dieser Regelung von politischen<br />
Gründen gesprochen. Leider besteht bei der<br />
Bundesregierung nicht — noch nicht? — die Absicht,<br />
diese Regelung auf andere Länder auszudehnen. Wir<br />
meinen jedoch: Die Beispiele Polens und Ägyptens<br />
sollten in vergleichbaren Fällen Schule machen. Es<br />
gibt gute politische Gründe, die für eine dementsprechende<br />
Entschuldung auch Nicaraguas sprechen.<br />
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />
dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Viertens. Die notwendige Entschuldung Nicaraguas<br />
sollte mit der Erwartung verbunden werden, daß<br />
Nicaragua zukünftig eine Entwicklungsstrategie verfolgt,<br />
bei der das Kapital produktiver verwandt wird,<br />
die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt<br />
werden und ein sich selbst tragender, menschenwürdiger,<br />
sozialer und ökologisch verträglicher Entwicklungsprozeß<br />
in Gang gesetzt wird.<br />
(Beifall bei der SPD)<br />
In jedem Fall muß die Bevölkerung Nicaraguas vor<br />
einem Rückfall in die Zeiten des Somoza-Regimes<br />
geschützt werden. Die Landreform sollte nicht rückgängig<br />
gemacht werden, und die Alphabetisierung ist<br />
voranzutreiben.<br />
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />
dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Dementsprechende Strukturanpassungsprogramme<br />
von Internationalem Währungsfonds und Weltbank<br />
dürfen nicht eine wirtschaftliche und monetaristische<br />
Schlagseite haben. Sie müssen die soziale, die<br />
menschliche und die ökologische Dimension mit<br />
sehen.<br />
Ich komme zum Schluß.<br />
Fünftens. Wir warnen davor, Herr Präsident, isoliert<br />
nur Nicaragua als Entschuldungsfall zu sehen, und<br />
fordern die Bundesregierung auf, endlich allgemeine<br />
Regeln für ein innovatives Konzept von Schuldenlösungen<br />
für hochverschuldete Entwicklungsländer<br />
vorzulegen, das dann von Fall zu Fall angewendet<br />
wird.<br />
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.<br />
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />
dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Werner Zywietz.<br />
Werner Zywietz (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen<br />
und Herren! Mir scheint außer Zweifel zu sein,<br />
daß Nicaragua nach den demokratischen Wahlen des<br />
letzten Jahres die Unterstützung der Bundesrepublik<br />
Deutschland und anderer Staaten braucht, damit keimende<br />
Demokratie und keimende ökonomische Entwicklung<br />
in diesen zwischen Nord- und Südamerika<br />
gelegenen sieben Brückenstaaten für die f riedliche<br />
Entwicklung positive Auswirkungen haben. Ich<br />
glaube, insoweit — das könnte ich mir jedenfalls denken<br />
— kann hier im Hause zwischen den wesentlichen<br />
Fraktionen Übereinstimmung bestehen.<br />
(Beifall bei der FDP — Zuruf der Abg.<br />
Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste])<br />
— Zu Ihnen komme ich noch; denn ich muß sagen: Ich<br />
habe mir ein paar Mal Ihren Antrag nachdenklich<br />
angeschaut. Einer doch sehr heuchlerischen und dop-
2680 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Werner Zywietz<br />
pelgesichtigen Aufmachung kann man sich nicht entziehen.<br />
Natürlich verdient Nicaragua Hilfe, wie ich sagte.<br />
Sie, Kollegin Fischer, sprechen hier aus persönlicher<br />
Betroffenheit. Ich habe nachgelesen, daß Sie in<br />
diesem Land einige Zeit gearbeitet haben. Aber der<br />
Ex-Ministerpräsident der früheren DDR, Dr. Hans<br />
Modrow, der diesen Antrag mitunterzeichnet hat, ist<br />
nicht hier, obwohl er während seiner verantwortlichen<br />
Regierungszeit genau das hätte tun können, was Sie<br />
hier einfordern. Sie tun dies in einer seltsamen Penetranz,<br />
als hätte eine Wiedervereinigung gar nicht<br />
stattgefunden. Sie sprechen hier nur von den „Schulden<br />
Nicaraguas gegenüber der DDR", das in einem<br />
Antrag vom 25. Ap ril 1991. Das macht mir deutlich,<br />
daß bei Ihnen im Kopf eine Wiedervereinigung eigentlich<br />
noch gar nicht stattgefunden hat und daß Sie<br />
— das ist eigentlich das Peinliche an diesem Antrag —<br />
als die Brandstifter der Vergangenheit hier auftreten<br />
und in die Rolle der Biedermänner schlüpfen, als hätte<br />
Ihnen das Schicksal Nicaraguas schon immer besonders<br />
am Herzen gelegen.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege<br />
Zywietz, es gibt zwei Bitten um Zwischenfragen. Gestatten<br />
Sie diese?<br />
Werner Zywietz (FDP): Ja, gerne. Sehr gerne sogar.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Weiß,<br />
Sie hatten sich zuerst gemeldet. Bitte sehr.<br />
Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />
Kollege, ich habe eine Nachfrage, die sich auf etwas<br />
bezieht, was schon etwas zurückliegt.<br />
Sie befleißigten sich, das Hohe Haus in wesentliche<br />
und unwesentliche Fraktionen zu unterteilen. Könnten<br />
Sie mir vielleicht einmal deutlich machen, nach<br />
welchen Gesichtspunkten Sie diese Unterscheidung<br />
vorgenommen haben<br />
(Ulrich Irmer [FDP]: Das ist selbsterklärend!<br />
Das bedarf keiner Erläuterung!)<br />
und aus welchem Wählerverhalten Sie das schließen<br />
würden?<br />
Werner Zywietz (FDP): Das will ich gerne tun, Herr<br />
Kollege.<br />
Wenn in diesem Hause ein Antrag mit dem Datum<br />
25. April 1991 eingebracht wird, dann kann es sich<br />
nur um Schulden der Bundesrepublik -<br />
Deutschland<br />
handeln und nicht um Schulden der DDR; denn in der<br />
Rechtsfolge gemäß Einigungsvertrag und dem, was<br />
zwischenzeitlich stattgefunden hat, sind das übernommene<br />
Schulden. Das ist die Rechtslage. Wer hier<br />
auftritt und so tut, als gehe es hier um spezielle Schulden<br />
der DDR, der hat ergo die letzten Monate geschichtlich<br />
verpaßt.<br />
Ich vermisse die Gesamtverantwortung. Hier wird<br />
nur eine Teilbetrachtung des Problems vorgenommen.<br />
Da, meine ich schon, ist zwischen wesentlichen<br />
und unwesentlichen Fraktionen zu unterscheiden,<br />
und zwar zwischen denen, die Gesamtverantwortung<br />
wahrnehmen oder sie wahrzunehmen sich bemühen,<br />
und denen, die das nicht tun.<br />
Da schaue ich zu der linken Seite des Hauses und<br />
erwarte gern die folgende Frage.<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Fischer,<br />
bitte.<br />
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Es ist an dieser<br />
Stelle von einem Redner einmal über die Wirkung<br />
von Worten gesprochen worden. Ich möchte Sie bitten,<br />
darüber einmal nachzudenken.<br />
Meine Frage: Ist Ihnen bekannt, daß von dem Ausschuß<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Volkskammer,<br />
von Minister Ebeling damals ein genereller<br />
Schuldenerlaß gegenüber der DDR gefordert worden<br />
ist und daß das von Theodor Waigel nicht anerkannt<br />
worden ist?<br />
Werner Zywietz (FDP): Das machen Sie jetzt auch.<br />
Sie wollen sich jetzt sozusagen in die Biedermann<br />
Rolle begeben und andere die Verantwortung übernehmen<br />
lassen. Sie hätten das alles früher tun können.<br />
Sie haben in der früheren DDR aber nur Umschuldung<br />
vorgenommen; so habe ich es gelesen. Die Zahlungen<br />
sollten eigentlich erst 1994 beginnen — ich habe mich<br />
in die Sache schon eingearbeitet —; nur, davon ist hier<br />
nicht die Rede.<br />
Sie haben an Nicaragua Waffen geliefert; Sie haben<br />
mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet.<br />
(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste<br />
— Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/<br />
GRÜNE]: Das ist doch unfair gegenüber der<br />
Kollegin Fischer!)<br />
— Das alles ist doch authentisch.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Das kann ich zu Protokoll geben; ich kann es auch<br />
zitieren, wenn Sie es wollen.<br />
(Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]:<br />
Die Kollegin Fischer hat in Nicaragua huma<br />
nitäre Hilfe geleistet!)<br />
Das ist authentisch: ,,... beklagt sich öffentlich über<br />
Vertragsbrüche der DDR wegen der Einstellung der<br />
Zusammenarbeit zwischen beider Staatssicherheitsdiensten.<br />
" — Diese Passage habe ich aus den Unterlagen<br />
entnommen.<br />
Also leugnen Sie nicht die vielleicht nicht in allen,<br />
aber in wesentlichen Teilen schlimme Verantwortlichkeit,<br />
die Sie dort für zehn Jahre zu übernehmen<br />
haben. Sie sprechen lieber von den letzten 500 Jahren<br />
und der großen Geschichte im allgemeinen, um Ihre<br />
Verantwortung für die letzten fünf oder zehn Jahre<br />
vergessen zu machen. So kommen Sie hier nicht durch<br />
die Maschen der geschichtlichen Betrachtung.<br />
(Beifall bei der FDP — Dr. Ursula Fischer<br />
[PDS/Linke Liste]: Sie auch nicht!)<br />
Hier wird das Gesamte verantwortet.<br />
(Zuruf von der SPD: Wie war das denn mit<br />
der LDP; hat die da nicht zugestimmt?)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2681<br />
Werner Zywietz<br />
— Langsam, immer eins nach dem anderen, so wie im<br />
Emsland die Klöße gegessen werden; nicht alles miteinander<br />
vermischen!<br />
(Abg. Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]<br />
meldet sich zu einer weiteren Zwischen<br />
frage)<br />
Vizepräsident Helmut Becker: Herr Kollege Zywietz,<br />
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?<br />
Werner Zywietz (FDP): In den zwei Minuten, die ich<br />
noch habe, stelle ich nur fest, daß Ihre Vergangenheit<br />
(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Meine<br />
ist sauber! Prüfen Sie einmal die von Ihren<br />
Abgeordneten!)<br />
mit der Verantwortung, die Sie da tragen, nicht die<br />
rühmlichste ist. Das ist in zwei Minuten hier leider<br />
nicht auszuführen. Aber ich stehe zu der Behauptung,<br />
die ich an anderer Stelle gerne belege.<br />
(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Das<br />
wird Ihnen aber schwerfallen!)<br />
Aber das wird für Sie nicht sehr gemütlich sein.<br />
Ich sage hier: Wir wissen, daß Nicaragua für ein<br />
wirtschaftlich und demokratisch prosperierendes<br />
Mittelamerika eine große Bedeutung hat. Wir werden<br />
unsere Kräfte und Bemühungen zusammennehmen,<br />
um bilateral und aktiv dieses Land zu unterstützen.<br />
Davon ist in Ihrem Antrag überhaupt keine Rede. Sie<br />
konzentrieren sich nur auf Ihre eigenen Altschulden.<br />
Alles andere scheint Ihnen egal zu sein. Wir setzen<br />
finanzielle Hilfe ein, wir setzen bilaterale technische<br />
Hilfe ein, und wir werden auch über Schuldenerleichterungen<br />
und Schuldenerlasse im Zusammenhang mit<br />
den Gläubigerstaaten zu reden haben.<br />
Die Welt ist gerade im Bereich der Entwicklungshilfe<br />
nun einmal sehr multinational. Sie können nicht<br />
gegenüber Gläubigern so auftreten, als gebe es allein<br />
gegenüber der Ex-DDR oder gegenüber der Bundesrepublik<br />
Schulden. Auch gegenüber England, Frankreich<br />
und Oststaaten bestehen Schulden. Das muß im<br />
Paket behandelt werden und darf nicht in einer so<br />
isolierten und einseitigen Weise gesehen werden, die<br />
Ihre vergangene Verantwortung total außer acht läßt,<br />
wie es aus diesem Antrag hervorgeht.<br />
Deswegen, sage ich Ihnen, bekennen wir uns zu<br />
unserer stützenden und aufbauenden Rolle, die das<br />
neue Nicaragua verdient. Wir sagen auch ganz -<br />
deutlich,<br />
daß Sie etwas mehr in sich kehren sollten und<br />
sich Ihre Vergangenheit einmal etwas distanzierter<br />
und, wie ich meine, etwas ehrlicher gegenüber diesem<br />
Land und vor allem seiner Bevölkerung vor Augen<br />
führen sollten. Die Beziehung zwischen der DDR<br />
und Nicaragua war kein Ruhmesblatt. Sie haben einen<br />
sozialistischen Staat sozusagen in den Bankrott<br />
getrieben und haben einen zweiten fast noch mit hereingezogen.<br />
Daß Sie sich dann hier in dieser belehrenden pädagogischen<br />
Art hinstellen und solche Anträge stellen,<br />
ist von einer besonderen Frivolität.<br />
Ich sage: Wir werden helfen; aber Sie als Ratgeber<br />
in dieser Form brauchen wir nicht.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Vizepräsident Helmut Becker: Meine Damen und<br />
Herren, als nächster Redner hat jetzt unser Kollege<br />
Konrad Weiß das Wort.<br />
Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />
Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege<br />
Zywietz, ich bedauere, daß die Diskussion über das<br />
wichtige Anliegen, das hier verhandelt werden sollte,<br />
so in persönliche Ang riffe gegen die Kollegin Fischer,<br />
die in Nicaragua ehrlich als Ärztin gearbeitet hat, ausgeartet<br />
ist.<br />
(Ulrich Irmer [FDP]: Das ist doch ein Mißver<br />
ständnis; das war doch kein Anwurf! — Wer<br />
ner Zywietz [FDP]: Das war es auch nicht! —<br />
Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]:<br />
Das war sehr eindeutig! Ich habe es so ver<br />
standen!)<br />
Ich bin der Auffassung, daß dieser Antrag der PDS<br />
— Sie werden mich sicher nicht der Freundschaft mit<br />
der PDS bezichtigen — eine Forderung beinhaltet, die<br />
zu begrüßen ist. Es geht wirklich darum, nicht global<br />
Schulden zu erlassen, sondern für ein konkretes Land<br />
Schulden zu erlassen, die auf Leistungen der DDR<br />
beruhen.<br />
Wir wissen, Nicaragua steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise,<br />
die von Koordinationsminister Antonio<br />
Lacayo mittels einschneidender Spar- und Sanierungsmaßnahmen<br />
bekämpft wird. Derartige wirtschaftliche<br />
Roßkuren sind erfahrungsgemäß mit hohen<br />
sozialen Kosten und Risiken verbunden und leisten<br />
der politischen Polarisierung im Lande weiteren<br />
Vorschub. Auch für 1991 kann die Regierung in Managua<br />
nicht mit einem Wirtschaftswachstum rechnen,<br />
sondern allenfalls mit einem Ende des langjährigen<br />
und gefährlichen wirtschaftlichen Schrumpfungsprozesses.<br />
Kurzfristige Überbrückungsdarlehen, wie sie dem<br />
Land zugesagt sind, gewähren Nicaragua wieder Zugang<br />
zu den Entwicklungskrediten im Sinne von<br />
Bretton Woods und von anderen internationalen Institutionen.<br />
Doch Maßnahmen der Umschuldung und<br />
Neuverschuldung verzögern das Problem nur, lösen<br />
es aber nicht. Neue Kapitalströme, die aus multilateralen<br />
Quellen nach Nicaragua fließen könnten, müßten<br />
zum Teil wieder zur Rückzahlung der soeben vereinbarten<br />
dreimonatigen Überbrückungskredite verwendet<br />
werden.<br />
Die Verschuldung Nicaraguas aus von der DDR<br />
gewährten Krediten beträgt gegenwärtig rund<br />
570 Millionen US-Dollar. Nach mehrfacher Umschuldung<br />
sind 450 Millionen US-Dollar am 1. Januar 1994<br />
fällig. Im Zeitraum von 1990 bis zum Jahr 2000 sind<br />
rund 120 Millionen US-Dollar zu begleichen. Davon<br />
sind allein aus dem Jahre 1990 rund 27,2 Millionen<br />
US-Dollar überfällig. 1991 hätte Nicaragua 13 Millionen<br />
US-Dollar zu zahlen. All das sind Belastungen für<br />
dieses Land, die unerträglich sind.<br />
Nach der Beurteilung der Bundesregierung, die bei<br />
ihrer Bewertung die Richtlinien des DAC zugrunde<br />
legt, sind alle Leistungen der ehemaligen DDR im
2682 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Konrad Weiß<br />
Rahmen der gewährten Kredite nicht als Entwicklungshilfe<br />
einstufbar. Ich teile diese Einschätzung<br />
ausdrücklich nicht.<br />
Dennoch wird der Aufbau Nicaraguas durch Kredite<br />
belastet, die nicht alle der Entwicklung des Landes<br />
dienten und die nicht von der demokratischen<br />
Regierung unter Präsidentin Chamorro zu verantworten<br />
sind. In meinen Augen ist es daher nicht nur politisch<br />
fragwürdig, sondern auch aus ethischen und humanistischen<br />
Erwägungen heraus unerträglich, wenn<br />
Deutschland heute von Aktivitäten der ehemaligen<br />
DDR profitiert, die mit der Wert- und Rechtsordnung<br />
des Grundgesetzes vielfach nicht im Einklang standen.<br />
Auch aus diesem Grunde habe ich der Präsidentin<br />
Nicaraguas unlängst bei ihrem Besuch in Deutschland<br />
versprochen, mich für eine Streichung dieser<br />
Schulden einzusetzen.<br />
Ich bitte das Hohe Haus, der Bundesregierung die<br />
Streichung dieser Schulden aufzutragen. Dies wäre<br />
ein wirksamer Beitrag Deutschlands zur Unterstützung<br />
einer jungen demokratischen Regierung und ein<br />
wirklicher Erweis der Solidarität mit dem Volk von<br />
Nicaragua.<br />
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld zu später<br />
Stunde.<br />
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD<br />
und der PDS/Linke Liste)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />
Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.<br />
Unser Kollege Klaus-Jürgen Hedrich möchte seine<br />
Rede zu Protokoll geben. Ich denke an das, was wir im<br />
Laufe des Abends vereinbart haben, und bitte um Ihre<br />
Zustimmung. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch.<br />
Dann ist das so beschlossen.*) Damit ist die<br />
Aussprache beendet.<br />
Nunmehr hat gemäß § 30 der Geschäftsordnung<br />
unsere Kollegin Frau Ursula Fischer das Wort.<br />
Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich möchte an<br />
dieser Stelle eine persönliche Erklärung abgeben,<br />
weil ich es auch zur Verbesserung der Kultur dieses<br />
Hauses und der Art und Weise, wie hier miteinander<br />
umgegangen wird, für nötig halte. Diese bestürzen<br />
mich doch immer wieder sehr.<br />
Ich bin ganz persönlich von Ihnen angesprochen<br />
worden. Sie haben „Sie" gesagt; Sie haben das nicht<br />
im übertragenen Sinne gemeint. Sie sollten sich vielleicht<br />
Leute einmal besser ansehen. Ich finde es um so<br />
bedauerlicher, daß gerade in diesem Bereich - derart<br />
polemisiert wird.<br />
Ich weiß nicht, ob Ihnen die ganzen Dinge, die ich<br />
vorgetragen habe, bekannt sind, unter anderem, daß<br />
der entsprechende Ausschuß in der damaligen DDR<br />
beschlossen hatte, die Schulden zu streichen. Das ist<br />
nicht genehmigt worden. Das scheint Ihnen offensichtlich<br />
nicht bekannt gewesen zu sein.<br />
Ich habe aber noch etwas anderes dazu zu sagen. Es<br />
ging mir — das habe ich am Anfang gesagt — nicht<br />
allein um Nicaragua. Es ging vielmehr um einen An-<br />
*) Anlage 8<br />
fang, und einen solchen wollte ich an dieser Stelle<br />
machen.<br />
Ich möchte Sie jedoch auch fragen, ob Ihnen bekannt<br />
ist, wer die Häfen in Nicaragua damals vermint<br />
hat und was die Contras gemacht haben. Ich hatte<br />
z. B. Kinder in der Sprechstunde, die nicht mehr gesprochen<br />
haben, weil die Mutter in Anwesenheit der<br />
fünf Kinder von den Contras auf eine Mine gesetzt<br />
worden ist. Solche Sachen habe ich erlebt. Ich möchte<br />
wissen, wie Sie das bewerten. Es liegt nicht immer nur<br />
an einer Seite.<br />
Ich möchte noch eines sagen: Wenn sich jeder Bürger<br />
der BRD dafür verantworten müßte, was meinetwegen<br />
jetzt im Golfkrieg mit Giftgasfabriken usw.<br />
passiert ist, dann ist hier, wenn das eines Tages aufgerollt<br />
wird, auch jeder dafür verantwortlich. Auch ich<br />
bin jetzt dafür verantwortlich, weil ich jetzt im vereinigten<br />
Deutschland lebe.<br />
Sie haben gesagt, ich hätte die Vereinigung noch<br />
nicht im Kopf. Ich frage mich angesichts der Situation<br />
im Osten, wie ich das vollkommen verarbeiten kann.<br />
Ich habe überhaupt keine Idee, wie Sie mit der Mentalität,<br />
mit der anderen Entwicklung, die wir nun einmal<br />
40 Jahre lang durchgemacht haben, umgehen.<br />
Auch Sie hätten 1952 auf dem Gebiet der DDR geboren<br />
worden sein können. Ich weiß nicht, wie Sie sich<br />
entwickelt hätten. Von dem Standpunkt aus sollten<br />
Sie das auch einmal betrachten, und zwar in aller<br />
Ruhe.<br />
Ich halte es für unerträglich, wie hier mit Worten<br />
umgegangen wird. Ich bitte Sie, in Zukunft solche<br />
Anwürfe zu unterlassen.<br />
(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem<br />
Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordne<br />
ten der SPD — Ulrich Irmer [FDP]: Das ist ja<br />
ein Skandal! — Abg. Werner Zywietz [FDP]<br />
meldet sich zu Wort)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Zywietz,<br />
was möchten Sie?<br />
(Werner Zywietz [FDP]: Ich möchte ebenfalls<br />
eine persönliche Erklärung abgeben!)<br />
— Bitte sehr.<br />
Werner Zywietz (FDP): Herr Präsident! Ich möchte<br />
nur feststellen, daß ich in meinem Redebeitrag bis auf<br />
die Erwähnung der Berufstätigkeit der Kollegin in<br />
Nicaragua keine persönlichen Anwürfe gemacht<br />
habe, sondern mich ausschließlich mit der politischen,<br />
parteilichen Wertung dieser Thematik beschäftigt<br />
habe. Ich habe mich in keinster Weise persönlich eingelassen.<br />
(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Lesen<br />
Sie es im Protokoll noch einmal nach!)<br />
Vizepräsident Helmuth Becker: Ich nehme an, Herr<br />
Kollege Zywietz, daß das, was Sie jetzt erklärt haben,<br />
auch so zu verstehen ist, wie Sie es jetzt gesagt haben,<br />
daß, selbst wenn etwas vorgekommen ist, dies keine<br />
Absicht war.<br />
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der<br />
Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> - 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2683<br />
Vizepräsident Helmuth Becker<br />
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Vorlage<br />
in Abweichung von dem in der Tagesordnung auf geführten<br />
Überweisungsvorschlag wie folgt zu überweisen:<br />
zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß,<br />
zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß, an<br />
den Auswärtigen Ausschuß sowie an den Ausschuß<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kann ich Ihr Einverständnis<br />
dazu feststellen? — Das ist der Fall.<br />
Ich rufe nun Punkt 13 der Tagesordnung auf:<br />
Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/<br />
Linke Liste<br />
Aufnahme des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsordnung<br />
— Drucksache 12/728 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Ausschuß für Verkehr<br />
Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit Fünfminutenbeiträgen<br />
für jede Fraktion vereinbart worden. In<br />
der Zwischenzeit haben aber alle Redner ihre Reden<br />
zu Protokoll gegeben. Da wir von der Geschäftsordnung<br />
abweichen, bitte ich auch hier um Ihre Zustimmung.<br />
— Ich sehe und höre keinen Widerspruch.<br />
Dann ist das so beschlossen. *)<br />
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage<br />
auf Drucksache 12/728 an den in der Tagesordnung<br />
aufgeführten Ausschuß vor. Sind Sie damit einverstanden?<br />
— Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist<br />
die Überweisung so beschlossen.<br />
Ich rufe nunmehr Punkt 14 des Tagesordnung<br />
auf:<br />
Erste Beratung des von der Bundesregierung<br />
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über<br />
die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen<br />
in Bund und Ländern 1991<br />
(Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz<br />
1991 — BBVAnpG 91)<br />
— Drucksache 12/732 —<br />
Überweisungsvorschlag:<br />
Innenausschuß (federführend)<br />
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO<br />
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die<br />
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich<br />
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />
Ich stelle fest, daß interfraktionell vorgeschlagen<br />
-<br />
worden ist, auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt<br />
zu Protokoll zu geben. Ich muß aber Ihre<br />
Zustimmung dazu erbitten, weil wir wiederum von<br />
der Geschäftsordnung abweichen. — Ich sehe und<br />
höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.<br />
**)<br />
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage<br />
auf Drucksache 12/732 an die in der Tagesordnung<br />
aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit<br />
*) Anlage 9<br />
**) Anlage 10<br />
einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch.<br />
Dann ist das so beschlossen.<br />
Ich rufe nun Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung<br />
auf :<br />
Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />
Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling,<br />
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter<br />
und der Fraktion der CDU/CSU sowie<br />
der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Norbert<br />
Gansel, Rudolf Binding, weiterer Abgeordneter<br />
und der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP<br />
und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN<br />
Westsahara-Friedensplan der Vereinten Nationen<br />
— Drucksache 12/798 —<br />
Auch hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung<br />
für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.<br />
— Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch<br />
das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Wer<br />
wünscht das Wort? — Das Wort wünscht der Abgeordnete<br />
Dr. Uwe Holtz, und ich erteile es ihm. Bitte<br />
sehr.<br />
Dr. Uwe Holtz (SPD): Herr Präsident! Meine lieben<br />
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß es interfraktionell<br />
gelungen ist, das Thema Westsahara<br />
noch in dieser letzten, für uns alle so bedeutsamen<br />
<strong>Sitzung</strong>swoche vor der Sommerpause auf die Tagesordnung<br />
zu setzen und zu wichtigen Punkten eine<br />
gemeinsame Position zu entwickeln.<br />
Daß es jetzt mit Zustimmung der beiden Konfliktparteien,<br />
dem Königreich Marokko und der Frente<br />
Polisario, zu einem Selbstbestimmungsreferendum in<br />
der Westsahara kommen wird, ist vor allem der UNO<br />
und ihrem Generalsekretär Perez de Cuellar zu verdanken.<br />
Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> würdigt ausdrücklich<br />
diese positive Arbeit und stellt sich hinter den<br />
Westsahara-Friedensplan. Mit seiner Verwirklichung<br />
kann endlich der seit 1975 andauernde und von der<br />
Weltöffentlichkeit weitgehend vergessene Krieg in<br />
dieser Region beendet und ein weiteres Kapitel der<br />
Dekolonisierung Afrikas abgeschlossen werden.<br />
Deshalb wird mit diesem Antrag die Bundesregierung<br />
aufgefordert, sowohl von sich aus als auch auf<br />
EG-Ebene auf eine rasche und vollständige Verwirklichung<br />
des Friedensplans für die Westsahara zu drängen<br />
und sich sowohl finanziell an der vorgesehenen<br />
UNO-Mission zu beteiligen als auch qualifiziertes<br />
Personal für deren zivile Aktivitäten zur Organisation<br />
und Durchführung des Referendums zur Verfügung<br />
zu stellen.<br />
Wir fordern die Bundesregierung auf, alles in ihrer<br />
Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, daß das<br />
Referendum wirklich frei und fair stattfindet. Die Sahraouis<br />
haben über die Frage zu entscheiden, ob sie die<br />
Unabhängigkeit oder die Eingliederung in das Königreich<br />
Marokko wünschen.<br />
(V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)<br />
Die Bundesregierung sollte sich z. B. eindeutig dage<br />
gen wenden, daß von marokkanischer Seite bereits<br />
jetzt entgegen den Bestimmungen des UNO-Frie-
2684 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Uwe Holtz<br />
densplanes mit Wahlkampfaktivitäten begonnen worden<br />
ist. Außerdem sollte sie den deutschen Botschafter<br />
in Marokko zur Ordnung rufen, der kürzlich vor<br />
der Presse in Marokko zugunsten eines positiven Ausgangs<br />
des Referendums für Marokko Stellung bezog<br />
und damit, wie ich meine, die diplomatisch gebotene<br />
Zurückhaltung vermissen ließ.<br />
Außerdem fordern wir in dem interfraktionellen Antrag<br />
die Bundesregierung auf, ihre Beziehungen zur<br />
marokkanischen Regierung dahin gehend zu nutzen,<br />
daß diese mit der UNO-Mission in der Westsahara<br />
kooperiert und wie die Frente Polisa rio förmlich erklärt,<br />
jedes mögliche Resultat des Referendums akzeptieren<br />
zu wollen. Wir begrüßen die Erklärungen<br />
hochrangiger Vertreter der Frente Polisa rio, daß diese<br />
für ein offenes, demokratisches und politisch rechenschaftspflichtiges<br />
System steht und sich den universell<br />
akzeptierten Prinzipien der Menschenrechte verpflichtet<br />
weiß.<br />
Wir Sozialdemokraten bedauern, daß es nicht möglich<br />
war, in diesem gemeinsamen interfraktionellen<br />
Antrag folgende zwei klare Aussagen aufzunehmen,<br />
nämlich die, daß jede Ausstattungs- bzw. Ausrüstungshilfe<br />
an Marokko zumindest so lange einzustellen<br />
ist, bis der UNO-Friedensprozeß in der Westsahara<br />
zum Abschluß gekommen ist, und daß sich die<br />
Bundesregierung nicht länger offiziellen Kontakten<br />
mit der Frente Polisario verschließt. Es ist mit der von<br />
der Bundesregierung immer wieder dargestellten<br />
Neutralität in diesem Konflikt unvereinbar, wenn sie<br />
die marokkanische Seite mit Ausrüstungs- oder gar<br />
Militärhilfe unterstützen würde.<br />
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des<br />
Bündnisses 90/GRÜNE)<br />
Wir können nur hoffen, daß sie hier internationales<br />
Verantwortungsgefühl an den Tag legt und die Finger<br />
davon läßt.<br />
Nach den 15 Jahren Krieg braucht das geschundene<br />
Land nicht nur Frieden, sondern auch eine Zukunftsperspektive.<br />
Dazu gehört, daß sich die internationale<br />
Gemeinschaft wie auch die Bundesrepublik<br />
Deutschland an dem Wiederaufbau beteiligt.<br />
Wir Abgeordneten sollten selbst versuchen, einen<br />
Beitrag zu leisten, um sicherzustellen, daß durch offizielle<br />
Beobachterdelegationen sowohl auf <strong>Bundestag</strong>s-<br />
als auch der Ebene der Parteien, die in die Westsahara<br />
entstandt werden, dazu beigetragen wird, daß<br />
das freie und faire Referendum dann wirklich auch so<br />
ablaufen kann.<br />
Ich bitte alle hier im Saal um Zustimmung zu dem<br />
Antrag.<br />
-<br />
Besten Dank.<br />
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />
dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat<br />
das Wort Herr Dr. Köhler.<br />
Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Frau<br />
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine<br />
Herren! Wir sprechen über ein Gebiet, dessen Besiedlung<br />
noch etwas dünner ist als die Anwesenheit im<br />
Deutschen <strong>Bundestag</strong> an diesem Abend bei der Behandlung<br />
dieses Gegenstandes.<br />
(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [FDP])<br />
Wir sprechen über einen Antrag, dem auch meine<br />
Fraktion zustimmt, obwohl, verehrter Kollege Holtz<br />
— das wird Sie nach den vielen Jahren, in denen wir<br />
dieses Thema miteinander traktiert haben, nicht verwundern<br />
—, ich mindestens in einigen Nuancen nicht<br />
dem folgen kann, was Sie hier im einzelnen gesagt<br />
haben. Trotzdem glaube ich, daß die Intention überwiegend<br />
so ist, daß wir die Sache gemeinsam tragen<br />
können.<br />
Der Friedensplan der Vereinten Nationen vom<br />
29. April 1991 hat in der Tat allseitige Zustimmung<br />
gefunden. Er soll und muß durchgeführt werden.<br />
Dazu gehört auch ein freies und faires Referendum.<br />
Ich möchte das Augenmerk noch darauf lenken, daß<br />
eine der entscheidenden Fragen dabei ist, von welcher<br />
Bevölkerungszählung, also von welcher Zahl der<br />
Stimmberechtigten, man ausgeht. Dafür sollte sich<br />
auch die Bundesregierung noch speziell interessieren.<br />
(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Vom spanischen Zen<br />
sus 1974! Das hat die UNO so vorgeschlagen!<br />
Ist akzeptiert!)<br />
— Ja.<br />
Dieser Krieg verzehrt seit 16 Jahren eine Fülle von<br />
Kräften — seit dem grünen Marsch 1975 ist das so —,<br />
die dringend für wirklich andere Aufgaben genutzt<br />
werden müßten — im gesamte Raum des Maghreb.<br />
Auch wenn die Bundesregierung — das gilt für alle<br />
Bundesregierungen — stets eine formale Neutralität<br />
in dieser Angelegenheit betont hat, meine ich doch,<br />
daß jetzt alles durch uns und die Europäische Gemeinschaft<br />
getan werden sollte, um diese unerträgliche<br />
Belastung der Situation des Maghreb endlich zu beseitigen.<br />
Deswegen teile ich auch ausdrücklich die<br />
Forderung nach einer aktiven Unterstützung des Referendums<br />
und der Mission der Vereinten Nationen,<br />
die ich wie Sie begrüße; denn es wird dringend Zeit,<br />
daß ein größerer Maghreb aufgebaut wird und die<br />
Störfaktoren fallen. Der Ballast dieses Sahara-Krieges<br />
ist in höchstem Maße überflüssig und anachronistisch<br />
und muß fallen.<br />
(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [FDP])<br />
Wir haben es in Wahrheit mit Ländern und Völkern<br />
zu tun, in denen über 50 % der Menschen jünger sind<br />
als 20 Jahre. Für sie ist entscheidend, wie sie Behausung<br />
bekommen, Ausbildung bekommen, wie sie Arbeit<br />
bekommen. Darauf haben sich alle Anstrengungen<br />
zu konzentrieren. Das hat auch uns zu interessieren;<br />
denn die Wanderungsbewegung von dort führt<br />
nicht nur an unsere Pforten in Europa, sondern sie ist<br />
schon in Spanien, Frankreich, Italien spürbar. Deswegen<br />
geht uns das eine ganze Menge an. Es geht nicht<br />
nur um das soziale Problem dieser jungen Generation,<br />
sondern auch um die Frage unseres Zusammenlebens<br />
an beiden Küsten des Mittelmeeres. Wir werden reagieren<br />
müssen und dürfen uns dem nicht länger entziehen.<br />
Marokko, so fordert dieser Antrag, soll voll und<br />
ganz kooperieren. Die Polisa rio habe dies zugesagt.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2685<br />
Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)<br />
Ja. Trotzdem ist das für mich ein Anlaß, noch einmal<br />
ganz kurz die Interessenlage aller Beteiligten zu beleuchten:<br />
Marokko — Sie werfen vor, daß man dort<br />
schon Wahlkampf mache; anzunehmen, daß das nicht<br />
geschehe, wäre vielleicht doch ein bißchen weltfremd<br />
—<br />
(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Widerspricht den<br />
UNO-Vereinbarungen!)<br />
ist immerhin dabei, seine Truppen nach dem UNO-<br />
Plan zu kantonieren, erfüllt also in dieser Hinsicht den<br />
UNO-Plan bereits jetzt. Ich halte es für begrüßenswert,<br />
daß am Ende des Ramadan König Hassan II.<br />
eine Amnestie ausgerufen hat. Ich meine, es sind noch<br />
mehr Wunden zu heilen. Ich würde hier gern in aller<br />
Form darum bitten — wenn es denn den König Marokkos<br />
erreichen mag — , den Festtag des 9. Juli zu einer<br />
weiteren und weiterreichenden Amnestie zu nutzen,<br />
um die Wunden weiter heilen zu helfen. Ich verkenne<br />
nicht, daß die innenpolitischen Spielräume für die<br />
marokkanische Regierung und für den König durchaus<br />
limitiert sind. Es sind in Marokko verschiedene<br />
Kräfte, auch bis zu ganz linken Parteigruppierungen<br />
hin,<br />
(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Bis zu den Kommuni<br />
sten! )<br />
die in der Sahara-Frage nach wie vor eine unversöhnliche<br />
Haltung einnehmen. Der König ist hier nicht völlig<br />
unabhängig, und die sozialen Unruhen im Lande<br />
verschärfen dieses Klima für ihn noch. Wenn wir hier<br />
Politik mit der Hoffnung auf Zielerreichung treiben<br />
wollen, müssen wir auch diese realen Fakten sehen.<br />
Auch die Handlungsmöglichkeiten Algeriens als<br />
eines zweiten entscheidenden Faktors in diesem Spiel<br />
sind durch die inneren Wirren des Landes begrenzt.<br />
Algerien hat die Bewegungsfreiheit der Polisa rio<br />
durch verschiedene Maßnahmen ein Stück vermindert.<br />
Die Benzinlieferungen Algeriens an die Polisa rio<br />
reichen nicht mehr aus, um das schwere Gerät zu<br />
bewegen; aber andererseits ist die Polisa rio auch kein<br />
passives Objekt in diesem Spiel algerischer Politik. Es<br />
gibt inzwischen Pressemeldungen, von denen ich<br />
hoffe, daß sie nicht zutreffen, daß die Polisa rio angefangen<br />
hat, islamistische Kampfgruppen in Algerien<br />
auszubilden. Dies wäre, wenn es stimmte, schlimm.<br />
Es gibt vor diesem Hintergrund neben dem Prozeß,<br />
den die Vereinten Nationen eingeleitet haben, Bemühungen<br />
um Vorabsprachen, wobei wir nicht genau<br />
wissen, was alles vor drei Wochen in Oran zwischen<br />
Marokko und Algerien verhandelt worden ist. Ich<br />
neige zu der Vermutung, daß die begrenzte Handlungsfähigkeit<br />
Algeriens im Moment solche - Absprachen<br />
durchaus begrenzt hat. Aber man kann zuweilen<br />
den Eindruck haben, daß Algerien und Marokko, weil<br />
sie ein intensives Auftreten der Vereinten Nationen in<br />
ihrem Gebiet als ihrem Prestige abträglich und vor<br />
ihren Völkern als Fremdbestimmung betrachten müßten,<br />
beide bemüht sind, das Problem schon so weit<br />
vorab zu regeln, daß das Referendum eigentlich nur<br />
noch eine Formaletüde und eine Art formaler Schlußpunkt<br />
sein könnte.<br />
Ich möchte hier in aller Freundschaft sagen, daß ich<br />
glaube, daß es für ein solches Spiel zu spät ist. Die<br />
Angelegenheit hängt vor der Öffentlichkeit der Welt<br />
organisation der Vereinten Nationen an, und so, wie<br />
wir an anderer Stelle nicht dulden können und dulden<br />
werden, daß die Vereinten Nationen geschwächt werden,<br />
so können wir es auch hier nicht. Wir müssen<br />
auch unseren Freunden raten: Für eine dauerhafte<br />
Lösung des Problems vor der Weltöffentlichkeit ist ein<br />
Unterlaufen der Vereinten Nationen und ihres Friedensplanes<br />
unerträglich.<br />
Wenn ich auf den gesamten Maghreb schaue, so<br />
stelle ich doch einige positive und mich ermutigende<br />
Anzeichen fest. Niemand ist zu sehen, der nun nicht<br />
endlich zu einem Ausgleich strebt. Allerdings muß ich<br />
auch sagen, daß ich kaum einen Staat erkenne, der die<br />
Gründung eines neuen Teilstaates in dieser Ära ernstlich<br />
will. Wir wollen, daß am Ende ein dauerhafter<br />
Frieden steht, und dazu, verehrter Kollege Holtz, geht<br />
mir der Text hinter dem letzten Spiegelstrich des Antrags,<br />
wie wir ihn jetzt vorliegen haben, der den Wiederaufbau<br />
der Westsahara fordert — sprachlich ein<br />
etwas zu hinterfragender Satz — , nicht weit genug.<br />
Ich meine, der Gedanke muß weiterreichen. Was<br />
wird aus denen, die bei dem Referendum unterliegen<br />
werden? Nehmen wir einmal an, was ja nicht sicher<br />
ist, daß nicht die Polisa rio, sondern die Marokko-Befürworter<br />
die Mehrheit bekommen. Wie werden dann<br />
die, die nicht für Marokko votiert haben, sich gegenüber<br />
Algerien einstellen, das sie nach ihrer Meinung<br />
im Stich gelassen hat? Anders werden Sie es kaum<br />
werten können.<br />
Wird es für solche Gruppen zu einem Exodus nach<br />
Mauretanien kommen? Kann dieses Land, das gerade<br />
nur mühsam ein bißchen aufkeimende Stabilität gewinnt,<br />
so etwas tragen, ohne destabilisiert zu werden?<br />
Wir müssen weitere Dinge ins Auge fassen, und<br />
dazu gehört, daß wir es nicht geringachten und einfach<br />
verwerfen können, daß die überragende Mehrheit<br />
der Stammesführer in der Westsahara erst jüngst<br />
wieder König Hassan II. gehuldigt hat. Darunter waren<br />
zwar auch die Führer vieler kleiner Stämme, aber<br />
man muß auch erkennen, daß diese kleinen Stämme<br />
mit Sorge und einer gewissen Angst auf das Geschehen<br />
bei der Polisario schauen, die zu einem wesentlichen<br />
Teil einen Großstamm repräsentiert, mit dem<br />
die anderen Schwierigkeiten des Zusammenlebens<br />
haben.<br />
Das zeigt gerade das Problem. Es gibt auch eine<br />
Furcht der kleinen Stämme vor dem, was da kommt.<br />
Einfach nur vom Volk der Westsahara zu sprechen<br />
wird den Tatsachen und Spannungsverhältnissen<br />
nicht voll gerecht.<br />
(Zustimmung des Abg. Ulrich Irmer [FDP])<br />
Um wirklich Frieden zu stifen, wird man über Modelle<br />
der Regionalisierung sprechen müssen, vielleicht sogar<br />
über föderative Konstruktionen. Hier sind neue<br />
Formen der Ansässigkeit und des Zusammenlebens<br />
zu schaffen. Ich finde es bemerkenswert, daß es, ausgelöst<br />
von König Hassan, seit zwei Jahren eine Diskussion<br />
in Marokko über die Frage des Föderalismus<br />
— mit deutlichem Blick auf den Föderalismus der Bundesrepublik<br />
— gibt. Das ist eine Herausforderung, in<br />
dieser Diskussion dienlich zu sein und weiter solche<br />
Gedankengänge zu unterstützen.
2686 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)<br />
Meines Erachtens geht unser Interesse und unsere<br />
Verpflichtung über die formale Einhaltung des UN-<br />
Friedensplanes und die Abhaltung des Referendums<br />
ein gutes Stück hinaus. Wir sollten auch hier versuchen,<br />
nicht nur den Krieg zu beenden, sondern den<br />
Frieden zu gewinnen.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
(Beifall bei der FDP)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als letzter Redner<br />
des heutigen Tages hat der Kollege Ulrich Irmer das<br />
Wort.<br />
Ulrich Irmer (FDP): Vielen Dank, Frau Präsidentin.<br />
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Nachdem der<br />
Kollege Köhler hier in sehr profunder und sorgfältiger<br />
Weise die Situation in der Westsahara geschildert hat,<br />
kann ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken.<br />
Erstens. Ich freue mich darüber, daß wir hier erneut<br />
einen Fall haben, in dem die Vereinten Nationen ihrer<br />
Rolle gerecht werden, nämlich da, wo es Ärger gibt,<br />
da, wo es Krieg gibt, da, wo es Schwierigkeiten gibt,<br />
vermittelnd einzugreifen und einen Plan vorzulegen,<br />
auf den sich dann alle Streitparteien verständigen<br />
können und der wirklich zur Bef riedung der Lage beitragen<br />
möge.<br />
Zweitens. Wir kennen Berichte über Menschenrechtsverletzungen<br />
in Marokko. Marokko hat nicht<br />
den besten „record" in Menschenrechtsfragen. Ich<br />
nehme diese Gelegenheit gerne wahr, anzumahnen,<br />
daß das Königreich Marokko sich bitte stärker der<br />
Wahrung der Menschenrechte verpflichten möge und<br />
auch Appellen von uns aufgeschlossener gegenübertreten<br />
möge. Wir bekommen ja die Berichte von amnesty<br />
international. Ich meine wirklich, daß Marokko<br />
ein wichtiger Partner ist, daß es aber eben aus dieser<br />
Partnerschaft auch Verpflichtungen gibt, sich in der<br />
Zukunft gerade in Menschenrechtsfragen besser zu<br />
verhalten, als es in der Vergangenheit leider der Fall<br />
war.<br />
Drittens. Die Polisario ist eine Organisation, die<br />
in den ideologischen Meinungsstreit geraten ist. Es<br />
hat in der Vergangenheit — speziell zu den Zeiten, als<br />
der Ost-West-Konflikt noch in vollem Schwange<br />
war — —<br />
(Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]<br />
geht grüßend am Rednerpult vorbei)<br />
-<br />
— Herr Kollege, guten Abend.<br />
(Heiterkeit)<br />
— Ich freue mich einfach, diesen Kollegen zu sehen,<br />
weil ich mit ihm eine Wette abgeschlossen habe. Ich<br />
weiß nur nicht, wie ich das Wort, um das es dabei geht,<br />
ausgerechnet in dieser Debatte unterbringe. Ich<br />
könnte jedoch sagen, daß der Süßfleischhund nicht zu<br />
den Leckerbissen in der Sahara, sondern in anderen<br />
Weltregionen gehört. — Jetzt habe ich es gesagt, und<br />
es wird im Protokoll vermerkt.<br />
(Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]<br />
meldet sich zu einer Zwischenfrage)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Lieber Kollege<br />
Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen<br />
Fuchtel? Es wird Ihnen selbstverständlich nicht auf<br />
Ihre Redezeit angerechnet.<br />
Ulrich Irmer (FDP): Ich gestatte selbstverständlich<br />
mit großem Vergnügen eine Zwischenfrage. Aber das<br />
ist nicht verabredet! Ich lege Wert darauf, daß das jetzt<br />
keine Inszenierung ist.<br />
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Kollege,<br />
geben Sie mir recht, daß Ihre Rede hier in etwa die<br />
Qualität hat, die mit der Zähigkeit vergleichbar ist, die<br />
ein chinesischer Süßfleischhund an den Tag zu legen<br />
pflegt, kurz bevor er geschlachtet wird?<br />
(Heiterkeit)<br />
Ulrich Irmer (FDP): Herr Kollege, um diese Tageszeit<br />
dürfen wohl alle Reden nur so gewertet werden,<br />
als ob der Redner demnächst geschlachtet würde, weil<br />
nämlich die Geduld der Kollegen überstrapaziert ist.<br />
Ansonsten lege ich Wert auf die Feststellung, daß ich<br />
weder süße Reden noch Hundereden noch Fleischreden<br />
halte, sondern einfach Reden, die Hand und Fuß<br />
haben. Deshalb möchte ich jetzt auch wieder zur Sache<br />
zurückkehren.<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Würden Sie dennoch<br />
eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Soell<br />
gestatten?<br />
Ulrich Irmer (FDP): Aber selbstverständlich.<br />
Dr. Harmut Soell (SPD) : Herr Kollege Irmer, können<br />
Sie mir sagen, was die Frage der Abstimmung über<br />
die Westsahara und deren künftiges Schicksal mit<br />
dem Kampf der Viererbande im Unter(hosen)grund<br />
von Pjöngjang zu tun hat?<br />
(Heiterkeit)<br />
Ulrich Irmer (FDP): Ich habe das rein akustisch<br />
schlecht verstanden. Sie sprachen vom Kampf der<br />
Viererbande — —<br />
(Dr. Hartmut Soell [SPD]: — — im Unter(ho<br />
sen)grund von Pjöngjang!)<br />
In Pjöngjang?<br />
(Heiterkeit)<br />
— Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie sich mit Ihrer<br />
Frage jetzt nicht ganz buchstäblich und textilisch unter<br />
der Gürtellinie befinden, aber wenn ich die Frage<br />
richtig verstanden habe, so haben Sie einen Zusammenhang<br />
zwischen der Viererbande und der Westsahara<br />
hergestellt.<br />
(Dr. Harmut Soell [SPD]: Meine Frage war,<br />
ob überhaupt ein Zusammenhang besteht! —<br />
Dr. Uwe Holtz [SPD]: Nein!)<br />
— Herr Kollege Soell, ich schätze Sie so sehr, daß ich<br />
zugeben muß, daß, wenn Sie einen derartigen Zusammenhang<br />
auch nur ahnen, ein solcher bestehen<br />
muß;<br />
(Heiterkeit)<br />
denn andernfalls müßte ich Ihnen ja die Seriosität<br />
Ihrer Fragestellung absprechen, und das wäre mir nun<br />
doch angesichts dér tiefen Wertschätzung, die ich
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2687<br />
Ulrich Irmer<br />
Ihnen gegenüber immer gehegt habe und auch weiter<br />
hegen werde, außerordentlich zuwider.<br />
(Zuruf von der SPD: Wer hat denn angefan<br />
gen!)<br />
Dr. Hartmut Soell (SPD): Es war eine rein informatorische<br />
Frage.<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Irmer,<br />
es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.<br />
Ich würde es aber ab jetzt auf die Redezeit<br />
anrechnen.<br />
Ulrich Irmer (FDP): Frau Präsidentin, ich habe eine<br />
Bitte; Fraktionsmäßig gesehen ist jetzt der Kollege<br />
Köhler mit einer Zwischenfrage eigentlich an der<br />
Reihe. Können wir das nicht noch außerhalb der Anrechnung<br />
passieren lassen? Das wäre dann die letzte<br />
Zwischenfrage.<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Also gut, die<br />
letzte.<br />
Ulrich Irmer (FDP): Ich muß nämlich noch etwas<br />
Ernsthaftes sagen; nicht, daß das hier mißverstanden<br />
wird.<br />
Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Herr<br />
Kollege Irmer, können Sie bestätigen, daß in jüngster<br />
Zeit in der Westsahara Kamele gesichtet worden sein<br />
sollen, die mit Ultrakurzwellenempfängern ausgestattet<br />
worden sind, so daß sich der vom Kollegen Professor<br />
Soell unterstellte Informationsstand dort inzwischen<br />
tatsächlich ausgebreitet hat?<br />
Ulrich Irmer (FDP): Herr Kollege Köhler, ich habe<br />
darüber Recherchen angestellt. Ich habe in der Tat<br />
Informationen darüber, daß es sich dabei um die Kamele<br />
handeln muß, die auf der Camel-Reklame plötzlich<br />
fehlen. Mir ist nämlich aufgefallen, daß es dort<br />
einen erstaunlichen Mangel an derartigen Tieren<br />
gibt.<br />
(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Ich bitte, jetzt mit dem<br />
gebotenen Ernst zum Thema zurückzukeh<br />
ren!)<br />
— Frau Präsidentin, ich muß darum bitten, das Haus<br />
zur Ordnung zu rufen.<br />
(Heiterkeit)<br />
Ich möchte jetzt nämlich wirklich noch etwas Ernsthaftes<br />
sagen. Man traut mir das jetzt vielleicht nicht<br />
mehr zu, aber ich möchte wirklich noch etwas zum<br />
-<br />
Thema sagen.<br />
Ich möchte ganz ernsthaft sagen, daß sich die Frente<br />
Polisario in den letzten 15 Jahren der internationalen<br />
Öffentlichkeit gegenüber als eine Widerstandsbewegung<br />
dargestellt hat, die dort für die Befreiung eines<br />
ganzen Volkes kämpft. Ich muß ehrlich sagen, daß ich<br />
hier gewisse Zweifel habe. Die Frente Polisario ist<br />
natürlich auch von interessierten Kräften instrumentalisiert<br />
worden. Das waren damals noch Algerien und<br />
die Sowjetunion, die dahinterstand. Es war das alte<br />
Konzept, daß man in Nordafrika eine Art Cordon<br />
schaffen wollte. Dort hat der Ostblock den Versuch<br />
gemacht, seine Interessen zu verankern und sie dort<br />
vom Osten bis an die Küsten des Atlantik — wir wis<br />
sen um die Rohstoffvorkommen dort — festzuzurren.<br />
(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Das trifft so nicht zu!<br />
Die Westsahara ist von 73 Staaten anerkannt<br />
worden, aber von keinem Ostblockland!)<br />
— Einen Augenblick! Ich sage, daß ich ein kleines<br />
Fragezeichen hinter die Eigenschaft der Frente Polisario<br />
als einer Befreiungsbewegung und hinter die Klassifizierung<br />
des blutigen Kriegs, der dort seit 16 Jahren<br />
tobt, als eines Befreiungskrieges setze.<br />
Herr Kollege Köhler hat eindrucksvoll dargestellt,<br />
daß die Verhältnisse in der Region nicht so sind, wie es<br />
hier vielleicht allgemein angenommen werden kann,<br />
und daß sie auch nicht nach solchen Maßstäben zu<br />
messen sind. Wo ist denn die Berechtigung einer<br />
Volksgruppe, verschiedener Volksstämme, nun zu sagen,<br />
daß sie als eigener Staat anerkannt werden wollen,<br />
der auch ökonomisch überhaupt nicht lebensfähig<br />
wäre?<br />
Es ist ganz klar: Es müssen dort die Menschenrechte<br />
gewahrt werden, es muß das Selbstbestimmungsrecht<br />
gewahrt werden. Das kann möglicherweise<br />
über Autonomieregelungen verschiedener Art<br />
geschehen. Wir hoffen darauf, daß der Friedensplan<br />
der Vereinten Nationen, der dort jetzt in die Tat umgesetzt<br />
wird, zu einer für alle Seiten befriedigenden Lösung<br />
führt. Wir hoffen, daß die ganze Auseinandersetzung<br />
aus dem ideologischen Streit herausgeholt werden<br />
kann.<br />
(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Es war nie ein Ost<br />
West-Konflikt!)<br />
— Lieber Uwe Holtz, ich habe nicht gesagt, daß es ein<br />
Teil des Ost-West-Konflikts war. Ich habe gesagt: Es<br />
ist von interessierten Seiten als Teil des Ost-West<br />
Konflikts instrumentalisiert worden, und das hat die<br />
Sache so problematisch gemacht.<br />
Es ist richtig: Ein blutiger Krieg hat dort getobt. Es<br />
ist unser Anliegen, jeden Krieg zu beenden, überall in<br />
der Welt dafür zu sorgen, daß die Menschen friedlich<br />
miteinander leben und friedlich miteinander umgehen<br />
können. Wenn die Vereinten Nationen jetzt diesen<br />
Plan vorgelegt haben, wenn die Polisario ihn akzeptiert<br />
hat und wenn, wie ich höre, Marokko bereit<br />
ist, diesen Plan zu akzeptieren, dann ist es unser aller<br />
Aufgabe, alles dafür zu tun, daß dieser Plan nun auch<br />
in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann, daß er<br />
realisiert wird, daß , das Referendum stattfindet, daß<br />
wir nachher, wie immer es ausgeht, das Ergebnis respektieren<br />
und daß wir dann das Unsere dazu beitragen,<br />
daß diese Region, leidgeprüft, von Krieg überzogen,<br />
wieder aufgebaut werden kann, damit auch sie in<br />
Zukunft in Frieden leben kann.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD<br />
und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir sind damit am<br />
Ende der Aussprache. *)<br />
*) Zu Protokoll gegebene Rede Anlage 11
2688 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Vizepräsidentin Renate Schmidt<br />
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den<br />
Antrag der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der<br />
Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/798?<br />
— Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen?<br />
— Damit ist dieser Antrag bei überproportionaler Beteiligung<br />
von FDP und SPD<br />
einstimmig angenommen.<br />
(Heiterkeit)<br />
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung.<br />
Ich berufe die nächste <strong>Sitzung</strong> des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />
auf morgen, Donnerstag, den 20. Juni 1991,<br />
10 Uhr ein.<br />
Ich wünsche eine gute Nacht, fröhliche Feste und<br />
auch sonst alles, was Sie sich wünschen.<br />
Die <strong>Sitzung</strong> ist geschlossen.<br />
(Schluß der <strong>Sitzung</strong>: 23.26 Uhr)
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> - 12. Wahlperiode - <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2689*<br />
Anlagen zum Stenographischen Bericht<br />
Anlage i<br />
Abgeordnete(r)<br />
Liste der entschuldigten Abgeordneten<br />
entschuldigt bis<br />
einschließlich<br />
Becker-Inglau, Ingrid SPD 19. 06. 91<br />
Berger, Johann Anton SPD 19. 06. 91<br />
Genscher, Hans-Diet rich FDP 19. 06. 91<br />
Dr. Gysi, Gregor PDS 19. 06. 91<br />
Jung (Düsseldorf), Volker SPD 19. 06. 91<br />
Kolbe, Regina SPD 19. 06. 91<br />
Lohmann (Lüdenscheid), CDU/CSU 19. 06. 91<br />
Wolfgang<br />
Mischnick, Wolfgang FDP 19. 06. 91<br />
Molnar, Thomas CDU/CSU 19. 06. 91<br />
Dr. Müller, Günther CDU/CSU 19. 06. 91 *<br />
Pfuhl, Albert SPD 19. 06. 91<br />
Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 19. 06. 91<br />
Rennebach, Renate SPD 19. 06. 91<br />
Dr. Riedl (München), CDU/CSU 19. 06. 91<br />
Erich<br />
Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 19. 06. 91<br />
Dr. Seifert, Ilja PDS 19. 06. 91<br />
Titze, Uta SPD 19. 06. 91<br />
Zierer, Benno CDU/CSU 19. 06. 91 *<br />
* für die Teilnahme an <strong>Sitzung</strong>en der Parlamentarischen Versammlung<br />
des Europarates<br />
Anlage 2<br />
Zu Protokoll gegebene Rede<br />
zu Zusatztagesordnungspunkt 2 - Antrag betr.<br />
KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten<br />
in Genf vom 1. bis 19. Juli i991 -<br />
Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Seit Jahrzehnten<br />
bemühen sich die Vereinten Nationen, ausgehend<br />
von Art. 27 des Paktes über bürgerliche und politische<br />
Rechte, um eine Konkretisierung der Rechte von Minderheiten.<br />
Trotz intensiver Anstrengungen der UN-<br />
Menschenrechtskommission sind diese Bemühungen<br />
aber bis heute nicht so recht vom Fleck gekommen.<br />
Nach wie vor geht es um Probleme wie eine umfassende<br />
und gleichzeitig akzeptable Definition des Minderheitenbegriffes<br />
und die Frage, ob eher die Stärkung<br />
des individualrechtlichen Ansatzes oder die<br />
Stärkung kollektiver Rechte im Vordergrund stehen<br />
sollten.<br />
Obwohl formal zu diesem Thema weiter als alle<br />
anderen internationalen Gremien, sind auch die Versuche<br />
des Europarates, dem Ziel einer Konvention<br />
zum Schutz von Minderheiten näher zu kommen, in<br />
den letzten Jahren ins Stocken geraten. Erst in allerjüngster<br />
Zeit gewinnen die Bemühungen des Europarates,<br />
angeregt durch die positive Entwicklung des<br />
KSZE-Prozesses, wieder an Profil.<br />
Bereits dieses Beispiel macht das aktuelle Gewicht<br />
der Minderheitendebatte im Rahmen der KSZE deutlich.<br />
Auch wir begrüßen deshalb nachdrücklich das<br />
Schlußdokument der KSZE-Konferenz von Kopenhagen.<br />
In ihm sind zur Frage der Minderheiten auf einer<br />
gesamteuropäischen Ebene erstmals Formulierungen<br />
gefunden worden, die den Weg zu einer völkerrechtlich<br />
verbindlichen Kodifizierung des Minderheitenschutzes<br />
eröffnen könnten.<br />
Auch das KSZE-Expertentreffen über nationale<br />
Minderheiten in Genf wird von uns als ein wichtiger<br />
Schritt auf diesem Wege angesehen, dessen positiver<br />
Einfluß auf die Minderheitendebatte in der UNO, im<br />
Europarat und im Europäischen Parlament sehr hoch<br />
eingeschätzt werden muß.<br />
Gleichzeitig jedoch macht bereits das Schlußdokument<br />
von Kopenhagen deutlich, wie weit wir noch von<br />
einem umfassenden Minderheitenschutz entfernt<br />
sind. Es setzt einmal einen starken Akzent auf die<br />
Festlegung von individuellen Rechten, deren weiterer<br />
Ausbau und deren gemeinsame Ausübung Gegenstand<br />
des Genfer Expertentreffens sein werden. Das<br />
begrüßen wir. Gleichzeitig beschränkt sich das<br />
Schlußdokument aber auf die Benennung allein von<br />
„nationalen" Minderheiten und gibt damit gewissermaßen<br />
der Hilflosigkeit der Kopenhagener Konferenz<br />
in bezug auf eine problemgerechtere, umfassendere<br />
Definition des Minderheitenbegriffs Ausdruck.<br />
Erfaßt werden von dieser Definition nur Staatsbürger<br />
eines Landes, die sich zu einer bestimmten Minderheit<br />
bekennen. Außen vor bleiben dagegen das<br />
Millionenheer der Arbeitsmigranten und ihrer Familien<br />
in allen Ländern Westeuropas, asylberechtigte,<br />
geduldete und illegale Flüchtlinge. Außen vor bleibt<br />
auch das Selbstbestimmungsrecht von nationalen<br />
Mehrheiten, die sich in ihnen aufgezwungenen größeren<br />
Staatsverbänden bestenfalls als Minderheiten<br />
geringeren Rechts artikulieren können; Kosovo-Albaner,<br />
die Völker im Balitikum, um nur Beispiele zu nennen.<br />
Alle diese wirklichen und aktuellen Minderheitsprobleme<br />
in Europa werden vom gegenwärtigen<br />
Stand der Minderheitendebatte auf KSZE-Ebene -<br />
noch - nicht erfaßt; und folglich auch nicht das individuelle<br />
und kollektive Elend der Betroffenen, das<br />
Ausspielen der einen Minderheit gegen die andere,<br />
die realen sozialen und menschlichen Probleme, die<br />
mit juristisch klugen und korrekten Vereinbarungen<br />
allein nicht bewältigt werden können.<br />
Wir würden uns deshalb wünschen, daß die Delegation<br />
der Bundesrepublik - über ihr auch von uns<br />
begrüßtes Verhandlungsziel des Ausbaus gemeinsamer<br />
Ausübung individueller Rechte hinaus - der Definitionsproblematik<br />
große Aufmerksamkeit widmet.<br />
Anregungen und Hilfe dazu kommen sicherlich auch
2690* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
von den Experten und Expertinnen der Nichtregierungsorganisationen,<br />
die sich in Genf erstmals an den<br />
Verhandlungen beteiligen können.<br />
Wir müssen erkennen, daß die Minderheitendebatte<br />
im europäischen Kontext trotz jahrelanger Bemühungen<br />
erst ganz am Anfang steht. Wir sehen aber<br />
auch, daß sie durch die hohe Aktualität, die sie im<br />
Rahmen des KSZE-Prozesses gewonnen hat, einen<br />
positiven, nach vorn weisenden Schub bekommen<br />
hat.<br />
Gleichwohl ist zu erwarten, daß Widerstände gegen<br />
eine weitergehende Festschreibung des Minderheitenschutzes<br />
nicht nur aus den Ländern Osteuropas<br />
kommen werden, die nach dem Ende der Ordnung<br />
von Jalta durch eine Phase ungeklärter Nationalitätenkonflikte<br />
gehen. Auch manche unserer westeuropäischen<br />
Nachbarländer haben deutlich gemacht, daß<br />
ihnen aus sehr verschiedenen Gründen bereits die in<br />
Kopenhagen vereinbarten Prinzipien zum Minderheitenschutz<br />
viel zu weit gehen.<br />
Gerade deshalb halten wir den KSZE-Prozeß, der<br />
sich bei der Durchsetzung der Menschenrechte in<br />
ganz Europa hervorragend bewährt hat, für die zur<br />
Zeit wichtigste internationale Ebene, um mit Geduld<br />
und gegenseitigem Verständnis die Bereitschaft zum<br />
gleichberechtigten Zusammenleben innerhalb der<br />
Gesellschaften Europas weiterzuentwickeln, ohne die<br />
jedes verbriefte Minderheitenstatut, sei es noch so<br />
umfassend, bloße Makulatur bliebe.<br />
Anlage 3<br />
Zu Protokoll gegebene Rede<br />
zu den Zusatztagesordnungspunkten 3, 4 und 5<br />
— Anträge betr. Krise in Jugoslawien und zur Lage in<br />
Kosovo —<br />
Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Daß die staatli<br />
che Zukunft Jugoslawiens vom Zusammenbruch der<br />
kommunistischen Herrschaft und damit des Erbes von<br />
Tito unberührt bleiben würde, glaubte spätestens<br />
nach den Entwicklungen im vorigen Jahr kaum noch<br />
einer der politischen Beobachter der dortigen Situation.<br />
Zu offensichtlich war der über 40 Jahre mühsam<br />
unterdrückte Konflikt, zu wenig überzeugend die<br />
Klammer kommunistischer Ideologie. Überraschend<br />
allerdings war die enorme Sprengkraft, die ihm innewohnt,<br />
und seine sich nur allmählich offenbarende<br />
Komplexität. Schließlich handelt es sich um eine Mischung<br />
aus historischen, ökonomischen, - kulturellen,<br />
nationalen und sozialen Problemen, die einander<br />
überlagern und beeinflussen.<br />
Lange Zeit dominierte in der Sicht westeuropäischer<br />
Politik auf die Entwicklung in Jugoslawien die<br />
Vorstellung, man könne die Entscheidung über dessen<br />
unveränderten staatlichen Zusammenhalt durch<br />
Appelle an die Aufrechterhaltung eines einzigen verbindlichen<br />
Partners in Gestalt der jugoslawischen<br />
Bundesregierung, verbunden mit der Drohung ökonomischer<br />
Sanktionen, beeinflussen. Dem lag nicht nur<br />
die Unterschätzung der Eigendynamik zugrunde, die<br />
nach der Entfernung des Deckels kommunistischer<br />
Herrschaft vom brodelnden Topf des jugoslawischen<br />
Völkergemischs einsetzte. Falsch war auch die Vorstellung,<br />
den westeuropäischen Standard grenzüberschreitender<br />
Integration von Nationen auf die Situation<br />
in Jugoslawien anwenden zu können. Dieser<br />
Standard ist im übrigen auch in dem doch so demokratischen<br />
und pluralistischen Westeuropa keineswegs<br />
erreicht, wie Beispiele von Nordirland über Belgien<br />
bis Korsika zeigen.<br />
Inzwischen hat sich längst erwiesen, daß die Realität<br />
diese Vorstellungen überholt hat. Um so begrüßenswerter<br />
ist es, daß — nicht zuletzt infolge eigener<br />
Anschauung einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses<br />
— sich auch in der Mehrheit der Parteien im<br />
<strong>Bundestag</strong> eine realitätsgerechtere Auffassung<br />
durchgesetzt hat. Ausdruck dieser veränderten Haltung<br />
zur Entwicklung in Jugoslawien ist der heute<br />
vorliegende Antrag. Hier wird konstatiert, daß „die<br />
bisherige Grundlage des Zusammenlebens nicht<br />
mehr die ausreichende Zustimmung aller Völker Jugoslawiens<br />
findet und daß es deshalb erforderlich ist,<br />
eine neue Grundlage zu vereinbaren". Betont wird<br />
dabei die Notwendigkeit rechtsstaatlicher und demokratischer<br />
Grundlagen für die Möglichkeit der Ausübung<br />
von Selbstbestimmung.<br />
Eine auf solcher Grundlage getroffene Entscheidung<br />
aller einzelnen Völker in Jugoslawien ist auch<br />
dann zu akzeptieren, wenn das Ergebnis die Aufgabe<br />
der bisherigen Föderation zugunsten einer Konföderation<br />
oder sogar noch weitergehender Souveränität<br />
ist. Daß ein solcher Umwandlungsprozeß nicht gewaltsam,<br />
sondern in einem geordneten Prozeß ablaufen<br />
sollte, der auch den Interessen der betroffenen<br />
Nationen in Jugoslawien dient, versteht sich von<br />
selbst.<br />
Wenn die Entscheidung über ihre staatliche Zukunft<br />
eine Sache der Völker in Jugoslawien ist, in die<br />
einzumischen sich verbietet, so gebieten die Behinderung<br />
des Selbstbestimmungsrechts und die Verweigerung<br />
grundlegender Menschenrechte, sich deutlich<br />
dazu zu äußern. „Die Forderung nach Achtung der<br />
Rechte nationaler Minderheiten als Teil des international<br />
anerkannten Menschenrechtsschutzes stellt<br />
keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten<br />
der Staaten dar. " So heißt es in dem heute vom <strong>Bundestag</strong><br />
beschlossenen Antrag zum KSZE-Experten<br />
treffen über nationale Minderheiten. Die Rede ist jetzt<br />
von der massiven Verletzung der Menschenrechte<br />
durch die serbische Regierung im Kosovo. Dabei ist<br />
zunächst ohne Belang, ob die Albaner eine nationale<br />
Minderheit in Serbien oder das Volk des Kosovo sind.<br />
Worum es geht und gehen muß, ist die klare Verurteilung<br />
der Serbischen Politik gegenüber der albanischen<br />
Bevölkerung. Dies betrifft die Aussetzung der<br />
Autonomie des Kosovo, die Auflösung des dortigen<br />
Parlaments, die sich steigernde Kampagne in Serbien<br />
gegen den Anspruch der Albaner auf Respektierung,<br />
vor allem und zunächst aber die kontinuierliche Verletzung<br />
elementarer Menschenrechte.<br />
Es mag sein, daß nicht jeder Bericht über jeden Vorfall<br />
im Kosovo einer objektiven Überprüfung standhielte.<br />
Wie sollte es anders sein in einem Land, in dem
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2691*<br />
Öffentlichkeit die Gestalt von Gerüchten haben muß,<br />
da die Zensur freie Berichterstattung bestraft, in dem<br />
rechtsstaatliche Ermittlungen nicht oder nur manipuliert<br />
möglich sind, in dem Verfassungen nach Belieben<br />
geändert, Gesetze erlassen, ausgesetzt, eingehalten<br />
werden ausschließlich nach machtpolitischer Interessenlage,<br />
in einem Land, in dem politische Gegner<br />
zu Tausenden inhaftiert, Menschen auf offener Straße<br />
erschossen werden?<br />
Deshalb ist die Untersuchung der Situation der<br />
Menschenrechte im Kosovo durch eine unabhängige<br />
— und das bedeutet nach Lage der Dinge durch eine<br />
internationale — Kommission erforderlich. In diesem<br />
Punkt ist dem gemeinsamen Antrag der Koalitionsparteien<br />
und der SPD zuzustimmen. In allen anderen<br />
Punkten aber trifft dieser Antrag weder die Situation<br />
im Kosovo noch reagiert er angemessen auf diese.<br />
Wenn dies selbst jemand wie Viktor Meier in der<br />
„FAZ" von gestern bemerkt, zeigt es nur, wie weit<br />
entfernt von den Realitäten die Schlußfolgerungen<br />
der Abgeordneten liegen, deren Eindrücke im Kosovo<br />
dem Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP zugrunde<br />
liegen.<br />
Unsere Schlußfolgerungen aus den vielen vorliegenden<br />
Informationen zum Thema Kosovo sind andere.<br />
Am dringlichsten ist unserer Meinung nach die<br />
Aufforderung an die serbische Regierung zur Veränderung<br />
ihrer allen demokratischen und Menschenrechtsnormen<br />
Hohn sprechenden Kosovo-Politik —<br />
nicht nur wegen der skandalösen Zustände im Kosovo,<br />
sondern auch wegen der unmittelbaren Gefahr<br />
gewaltsamer Konflikte, die dadurch permanent und<br />
zunehmend provoziert werden. Deshalb hielten wir es<br />
für nötig, einen eigenen Antrag zu stellen, der sich in<br />
dieser Zielstellung von dem der Regierungsparteien<br />
und der SPD unterscheidet. Wir können nur hoffen,<br />
daß die Mitglieder des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es genügend<br />
Problembewußtsein entwickeln, ihn gemeinsam<br />
mit uns zu beschließen.<br />
Anlage 4<br />
Zu Protokoll gegebene Rede<br />
zu Tagesordnungspunkt 3 — Anträge betr.<br />
Einrichtung eines baltischen Informationsbüros<br />
in der Bundesrepublik Deutschland —<br />
Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Der heute zur<br />
Beschlußfassung vorgelegte Entschließungsantrag<br />
hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Sie begann<br />
mit einem Antrag unserer Gruppe Ende Februar,<br />
der aber zunächst nicht einmal auf die Tagesordnung<br />
kam. Ziel und Zeitpunkt schienen der Mehrheit des<br />
Hauses nicht opportun. Vorrangig war dieser, die Ratifizierung<br />
des Zwei-plus-Vier-Abkommens durch<br />
den Obersten Sowjet der UdSSR als letzten Schritt zur<br />
Souveränität Deutschlands nicht mit unnötigen Risiken<br />
zu belasten. Hier aber sollte den Bemühungen der<br />
baltischen Republiken um Selbstbestimmung — und<br />
das hieß in diesem Zusammenhang: um Souveränität<br />
gegenüber der sowjetischen Zentralmacht — praktische<br />
Unterstützung zuteil werden. Daß es hierbei im<br />
Baltikum auch um den Versuch geht, Demokratisierung<br />
und Wirtschaftsreform gegen die Offensive der<br />
Konservativen in der Sowjetunion, den Widerstand<br />
des Partei- und Staatsapparates gegen die Perestroika<br />
und die zumindest unklare Rolle Gorbatschows dabei<br />
zu verteidigen, blieb unbeachtet oder auch unverstanden.<br />
Nicht nur wurde der Loyalität gegenüber der<br />
Moskauer Zentrale Priorität eingeräumt, sondern man<br />
überschätzte auch deren noch vorhandene Macht.<br />
Trotz derlei Bedenken bedeutete unsere Initiative<br />
einen Impuls, der zu einem in der Substanz gleichen<br />
Antrag der SPD führte und in der Folge zur Überweisung<br />
beider Anträge in den Ausschuß. Beide beriefen<br />
sich — und wie sich zu unserer Befriedigung nun herausstellt,<br />
mit Recht und mit Erfolg — auf die gemeinsame<br />
Erklärung zur Lage, mit der der <strong>Bundestag</strong> am<br />
14. Januar die baltischen Völker seiner Unterstützung<br />
versichert hatte.<br />
Informationsbüros und Goethe-Institute sind keine<br />
diplomatischen Vertretungen. Ihre Aufgaben sind anderer<br />
Art. Aber ihre Bedeutung ist wohl kaum geringer<br />
einzuschätzen. Die Konzeption, die im Baltischen<br />
Informationsbüro in Deutschland zugrunde liegt — in<br />
Anlehnung an die bereits seit längerem im Aufbau<br />
befindlichen in Kopenhagen und Stockholm — , macht<br />
dies deutlich. Neben Informationen über das aktuelle<br />
Geschehen und Entwicklungstendenzen in den baltischen<br />
Republiken sollen Institutionen, Verbänden<br />
und Organisationen, Wirtschaftsunternehmen, interessierten<br />
Menschen, kurz, der Gesellschaft in<br />
Deutschland insgesamt auch Kenntnisse über soziale<br />
und ökologische Probleme, Geschichte und Kultur,<br />
Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit und<br />
Austauschbeziehungen bis hin zum Tourismus vermittelt<br />
werden. Die potentielle Wirksamkeit derartiger<br />
Einrichtungen kann kaum unterschätzt werden.<br />
Selbstverständlich gilt dies auch umgekehrt.<br />
Darüber hinaus kann die Haltung des <strong>Bundestag</strong>es<br />
auch ein Anstoß für den weiteren Ausbau der Beziehungen<br />
zwischen Städten im Baltikum und in<br />
Deutschland sein. In diesem Zusammenhang sind Initiativen<br />
wie die des Ost-West-Forums in Bremen, einer<br />
Partnerschaft von Riga, zur Gründung eines baltischen<br />
Informationszentrums ausdrücklich zu begrüßen.<br />
Die Einrichtung eines baltischen Informationsbüros<br />
in Deutschland und eines Goethe-Instituts im Baltikum<br />
ist ein richtiger und angemessener Schritt.<br />
Gleichzeitig kann es aber auch nur ein erster Schritt<br />
sein. Worauf es ankommt, ist die kontinuierliche praktische<br />
Unterstützung nicht nur im Bereich des Kulturaustauschs.<br />
Die Erfahrungen gerade auch der Opposition<br />
in der damaligen DDR zeigen, daß es eines ist,<br />
von Demokratie und Menschenrechten zu reden, und<br />
etwas ganz anderes, sie erkämpfen zu müssen. Wir<br />
wissen nur zu genau, welche Bedeutung erlebte Solidarität<br />
hat. Der Weg zu einem gemeinsamen Europa<br />
führt auch über das Baltikum.
2692* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Anlage 5<br />
Zu Protokoll gegebene Reden<br />
zu Zusatztagesordnungspunkt 9 — Aktuelle<br />
Stunde — betr. Verhalten der Bundesregierung be<br />
züglich der geplanten Einlagerung von radioaktiven<br />
Abfällen in das Zwischenlager Gorleben und Berück<br />
sichtigung der Bedenken der betroffenen Bevölke<br />
rung und der Landesregierung von Niedersachsen<br />
Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Die Gruppe PDS/Linke<br />
Liste bleibt sich treu. Sie beschäftigt den <strong>Bundestag</strong><br />
mit Anfragen, Anträgen, beantragt Aktuelle Stunden,<br />
obwohl es ihr auf Grund ihres Gruppenstatus überhaupt<br />
nicht zusteht. Aber wer selbst keine Antworten<br />
weiß, selbst nicht auf die Zerwürfnisse und den galoppierenden<br />
Zerfall in den eigenen Reihen, ergeht sich<br />
in Fragen, um von den eigenen Problemen abzulenken.<br />
Daß Sie sich aber gerade der Thematik Kernenergie,<br />
radioaktiver Abfall und Lagerung annehmen, mutet<br />
geradezu grotesk an, wenn man sich der Vergangenheit<br />
einer Partei erinnert, deren Nachfolge Sie angetreten<br />
haben.<br />
Als Abgeordneter aus Ostthüringen, aus Ronneburg,<br />
dem Zentrum des Uranbergbaus in der ehemaligen<br />
DDR, weiß ich genau, wie die SED-Führungsschicht<br />
seinerzeit mit den Anfragen zur Strahlenproblematik<br />
umgegangen ist, wie die Sorgen und Nöte<br />
der Bevölkerung negiert wurden. Echtes, weil dringend<br />
erforderliches Umweltengagement beispielsweise<br />
vom kirchlichen Umweltkreis Ronneburg<br />
wurde in eine staatsfeindliche Ecke gedrängt. Wo war<br />
denn damals Ihr Engagement? Heute spielen Sie sich<br />
in geradezu unerträglicher Art und Weise als die Saubermänner<br />
der Nation auf. Sie haben damals die Menschen<br />
für dumm verkaufen wollen und versuchen<br />
heute mit durchsichtigen Methoden Angst und Verunsicherung<br />
unter den Menschen zu säen. Sie haben<br />
zuallerletzt die Legitimation, sich als Bewahrer von<br />
Natur und Umwelt aufzuspielen.<br />
Es ist bekannt, dem Greenpeace-Zug ist der Dampf<br />
ausgegangen. Die Aktionen werden müder. Waren es<br />
1989 noch zwölf Aktionen, so zählten wir 1990 ganze<br />
fünf. Offensichtlich sind Sie auf diesen Zug aufgesprungen.<br />
Doch ich versichere Ihnen, mit Ihrer Altlast<br />
wird er noch mehr an Geschwindigkeit verlieren.<br />
Meine Damen und Herren, die Stellungnahme der<br />
Bundesregierung zu der Einlagerung radioaktiver<br />
Abfälle in Gorleben ist eindeutig. Sie lautet: Die Einlagerung<br />
der Abfälle, die aus dem belgischen Mol<br />
nach Gorleben transportiert wurden, ist Rechtens.<br />
Erstens. Auf Grund der Verwaltungsverfügungen<br />
-<br />
der Staatlichen Gewerbeaufsicht Lüneburg vom<br />
27. Mai 1990 und vom 24. Mai 1991 und in Übereinstimmung<br />
mit der Umgangsgenehmigung der Staatlichen<br />
Gewerbeaufsicht Lüneburg vom 27. Oktober<br />
1983 reicht es für das Faßlager Gorleben aus, wenn<br />
die radioaktiven Abfälle gemäß den Prüfergebnissen<br />
den genehmigten Umgangsspezifikationen entsprechen.<br />
Hierbei kommt es nicht auf eine konkrete Zuordnung,<br />
sondern auf eine Einhaltung festgelegter<br />
Eigenschaften an. Diese Eigenschaften wurden von<br />
den aus Mol kommenden Abfällen erfüllt.<br />
Zweitens. Der TÜV Hannover hat in seinem Prüfbericht<br />
keinen Zweifel daran gelassen, daß es sich bei<br />
den Abfällen um gepreßte Betriebsabfälle handelt, die<br />
aus den deutschen Kernkraftwerken Krümmel und<br />
Neckarwestheim stammen.<br />
Drittens. Seitens der Umweltministerin Niedersachsens,<br />
Frau Griefahn, als auch des Gewerbeaufsichtsamtes<br />
Lüneburg konnte kein Beweis erbracht werden,<br />
daß es sich nicht um das Material aus den beiden oben<br />
genannten Kraftwerken handelt. Frau Grief ahn<br />
mußte ihren Lagerstopp rückgängig machen.<br />
Offensichtlich sollte mit dieser Protestaktion der<br />
Versuch gemacht werden, das angekratzte Image von<br />
Greenpeace wieder aufzupolieren. In diesem Zusammenhang<br />
ist es durchaus interessant zu wissen, daß<br />
Frau Griefahn, parteilos, lange Jahre aktiv bei Greenpeace<br />
tätig war.<br />
Um so bemerkenswerter aber ist die Beurteilung<br />
ihres Mannes, Herrn Dr. Michael Braungart, der<br />
meint: Längst sei das Umweltbewußtsein der Menschen<br />
weiterentwickelt als Greenpeace selbst. Und<br />
wörtlich: „Wer sich immer noch mit Aktionen begnügt,<br />
statt konkrete Lösungen zu suchen, sei überflüssig<br />
wie eine Game Show im TV. " — „Greenpeace<br />
ist nur noch eine Ersatzreligion. Die Menschen kaufen<br />
sich für 50 DM Jahresbetrag ein gutes Gewissen. "<br />
Dem ist fast nichts hinzuzufügen.<br />
Das Anliegen der PDS/Linke Liste scheint mir vordergründig<br />
mehr dem Versuch der Selbstdarstellung<br />
zu dienen. Versuchen Sie doch bitte nicht permanent,<br />
die Menschen in Deutschland über Ihre wahren Absichten<br />
zu täuschen.<br />
So, wie sich eine Schlange noch sooft häuten mag<br />
und dennoch eine Schlange bleibt, so bleiben Sie die<br />
Sachwalter einer Gesellschaftsordnung, deren Überwindung<br />
eine Sternstunde der deutschen Geschichte<br />
war.<br />
Horst Kubatschka (SPD): Als der alte Geheimrat<br />
aus Frankfurt das Gedicht „Zauberlehrling" schrieb,<br />
hatte er da eine Vision von der Atomenergie? Zumindest<br />
hat er ein Gedicht verfaßt, daß bildhaft die Probleme<br />
der Atomenergie beschreibt. Der Besen ist aus<br />
der Ecke, er schleppt Eimer um Eimer. Sie sind nicht<br />
voller Wasser. Atommüll liegt d rin. Als Forschungspolitiker<br />
suchen wir die Zauberformel, wie der Besen in<br />
die Ecke gestellt werden kann. Wenn die Formel gefunden<br />
sein sollte, muß sie ausgesprochen werden. Es<br />
besteht noch ein großer Bedarf an Wissen. Wir brauchen<br />
ein Konzept der Atommüllbeseitigung. Es ist<br />
nicht vorhanden. Bei uns nicht, in den USA nicht, in<br />
Frankreich nicht, in der UdSSR nicht. Weltweit haben<br />
wir kein Modell, wie radioaktiver Müll beseitigt werden<br />
soll.<br />
Atommüll als Abfall zu bezeichnen ist eine Verharmlosung.<br />
Die Bezeichnung Müll ist eine Verniedlichung.<br />
Das Problem wird wie eine heiße Kartoffel weitergereicht.<br />
Wie glühende Kohlen überlassen wir es<br />
den nächsten Generationen. Wie gesagt, Forschungsbedarf<br />
ist angesagt.<br />
Nicht angesagt ist die Wiederaufbereitung. Die Forschung<br />
auf dem Gebiet der Wiederaufbereitung muß<br />
beendet werden. Die notwendigen Haushaltsanträge<br />
wurden von der SPD-Fraktion gestellt. Im Haushalt<br />
1991 sind nach wie vor 6 Millionen DM für die<br />
Wiederaufbereitungsforschung enthalten. Zusätz-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2693*<br />
lich werden 10 Millionen im Kernforschungszentrum<br />
Karlsruhe für Wiederaufbereitung verwendet. Für uns<br />
Sozialdemokraten ist direkte Endablagerung der richtige<br />
Weg.<br />
Die Entsorgung muß national organisiert werden.<br />
Jeder ist für seinen Atommüll verantwortlich. Wir<br />
brauchen daher zwei weitere Erkundungen für Endlager.<br />
Dazu sind Forschungsmittel notwendig. Wir haben<br />
die Umwidmung im Haushalt 1991 verlangt, und<br />
zwar aus Forschungsmitteln für die Wiederaufbereitung.<br />
Ich möchte aber auch klar sagen, um ein Endlager<br />
kommen wir nicht herum, auch beim Ausstieg<br />
nicht oder gerade deswegen. Außerdem sind Forschungsmittel<br />
notwendig, um die Herkunft von Atommüll<br />
aufzuklären. Der Weg des Atommülls muß festgelegt<br />
und zurückverfolgbar sein.<br />
Die beste Art Müll ist derjenige, der nicht produziert<br />
wird. Darum kurz zum Kernkraftwerk Niederaichbach.<br />
Gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung<br />
erfolgt der Abriß. Radioaktives Material muß zwischengelagert<br />
werden, und zwar in Karlsruhe. Dies ist<br />
wahrlich kein zukunftsweisendes Projekt. Unnötig<br />
wird Atommüll erzeugt. Viele fragen: Hat dies einen<br />
Sinn? Es gibt zwei Gründe: erstens wirtschaftliche<br />
Gründe und zweitens wird die Illusion geschaffen,<br />
Atomkraftwerke könnten kurzfristig abgerissen werden.<br />
Das Kernkraftwerk Niederaichbach stellt kein<br />
Modell dar. 18 Tage Vollast und der Holzweg der<br />
deutschen Kernkraftindustrie war am Ende.<br />
Wie gesagt, der beste Müll ist der, der nicht entsteht.<br />
Gefragt ist daher der geplante Ausstieg aus der<br />
Kernenergie. Weichen müssen gestellt werden, Energiesparen<br />
ist angesagt, erneuerbare Energien sind die<br />
Zukunft.<br />
Zum Schluß möchte ich noch einmal auf Geheimrat<br />
von Goethe zurückkommen: Der Besen muß in die<br />
Ecke gestellt werden. Das Abpumpen des ausgeschütteten<br />
Wassers wird uns lange Zeit genug Sorgen<br />
bereiten.<br />
Dr. Paul Laufs (CDU/CSU): Die Fakten zu den Er<br />
eignissen am Zwischenlager Gorleben sind schnell<br />
dargestellt. Drei Container mit schwach radioaktivem<br />
Material — überwiegend zusammengepreßte Putzlappen<br />
und Schutzkleidung aus deutschen Kernkraftwerken<br />
— wurden vom belgischen Mol in das Faßlager<br />
Gorleben verbracht. Der Transport wurde zunächst<br />
durch eine Straßenblockade, später durch eine<br />
Verwaltungsverfügung des Gewerbeaufsichtsamts<br />
Lüneburg in Lüchow aufgehalten; eine Verfügung,<br />
die sich weder sachlich noch rechtlich als begründet<br />
-<br />
erwies.<br />
Es kam zu massiven Blockaden durch die Anti-<br />
Atomkraft-Bewegung und schließlich zur polizeilichen<br />
Räumung der Zufahrt zum Zwischenlager. Nach<br />
Polizeiangaben wurden dabei vier Demonstranten<br />
und sechs Polizisten leicht verletzt. Neun Personen<br />
wurden vorübergehend festgenommen.<br />
Es bleibt nachzutragen, daß es in der Nacht vom 13.<br />
auf den 14. Juni zu Ungereimtheiten kam, die einen<br />
schlimmen Verdacht aufwerfen. Wir hören, daß der<br />
am 13. Juni um 21 Uhr auf den Weg geschickte Containertransport<br />
bei Sprakensehl von der Polizei übernommen<br />
und auf unterschiedlichen Wegen fortge<br />
setzt wurde. Der Lkw mit dem Mol-Container wurde<br />
durch Salzwedel in Richtung Arendsee geführt und<br />
schließlich im Wald bei Schletau abgestellt.<br />
Es liegt keine rationale Erklärung für diese Umwege<br />
vor. Die Frage ist also, ob Zeit gewonnen werden<br />
sollte, bis sich die Blockierer vor Ort gruppieren<br />
konnten.<br />
Ich entnehme einer Pressemitteilung der CDU-<br />
Landtagsfraktion in Hannover von heute ein Zitat des<br />
Grünen-Abgeordneten Kempmann, wonach er sich<br />
im Niedersächsischen Landtag ausdrücklich zu politisch<br />
motivierten Straftaten bekannt und am 12. Juni<br />
1990 erklärt haben soll, „es werde im Zusammenhang<br />
mit Atomtransporten sehr schöne Blockaden geben<br />
und werde auch zu Auseinandersetzungen und Prügeleien<br />
mit der Polizei kommen, bei denen er selbst<br />
auf der richtigen Seite stehen werde". Wir verlangen<br />
von der niedersächsischen Landesregierung, daß sie<br />
diesen höchst dubiosen Sachverhalt rückhaltlos aufklärt.<br />
Meine Damen und Herren, niemand hat jemals behauptet,<br />
daß von diesen schwach aktiven Abfällen in<br />
ihren Sicherheitsbehältern irgendwelche Gefahren<br />
für Mensch und Umwelt ausgehen. Niemand konnte<br />
gegen die Einlagerung dieser Abfälle in das dafür<br />
genehmigte Zwischenlager Gorleben fundierte rechtliche<br />
Einwände vorbringen. Auch der niedersächsische<br />
Ministerpräsident Gerhard Schröder hat seine<br />
Bedenken wegen der Herkunft der Abfälle inzwischen<br />
zurückgezogen. Gleichwohl erhebt er gegen<br />
den Bundesumweltminister — so in der heutigen<br />
Presse — den unglaublich unverschämten Vorwurf<br />
der „Kumpanei mit der Atomlobby".<br />
Laut einer dpa-Nachricht von heute morgen prüft<br />
die niedersächsische Landesregierung jetzt, ob sie<br />
über einen Verwaltungsgerichtsprozeß weitere, bereits<br />
geplante Transporte von Atommüll aus Mol nach<br />
Gorleben unterbinden könne. Das Land wolle außerdem<br />
möglicherweise Bürger bei Klagen gegen die<br />
Einlagerung in Gorleben unterstützen. Dies erhellt<br />
eine düstere Sachlage, die ich wie folgt bewerten<br />
muß. Die rot-grüne Landesregierung Niedersachsens<br />
entfernt sich demonstrativ vom Gebot der Gesetzestreue<br />
und der Bundestreue. Es ist nicht zu erkennen,<br />
daß es ihr um Sicherheit und Umweltschutz geht. Sie<br />
verfolgt rigoros ihre ideologisch begründete Antikernkraftpolitik<br />
und schürt Ängste, wo überhaupt kein<br />
Anlaß besteht. Sie fügt dem Rechtsstaat schweren<br />
Schaden zu.<br />
SPD und Grüne setzen den Hebel an der Entsorgung<br />
von radioaktiven Abfällen an, um den Ausstieg<br />
aus der Kerntechnik zu erzwingen. Dazu scheint fast<br />
jedes Mittel recht zu sein. So weit ist es gekommen.<br />
Es ist bedrückend, zu erleben, wie in der Art der von<br />
Gewalt und Nötigung gekennzeichneten Greenpeace-Aktionen<br />
das Ansehen des Industriestandorts<br />
Bundesrepublik Deutschland beschädigt wird. Dies<br />
geschieht in einem Augenblick, wo wir alle Kräfte für<br />
den Aufbau in den neuen Bundesländern einsetzen<br />
müssen, die z. B. dringend eine saubere und preiswerte<br />
Energieversorgung brauchen. Die Stromwirtschaft<br />
fordert den politischen Grundkonsens zur Ener<br />
giepolitik, ohne den sie keine großen Investitionen
2694 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
tätigen will. Ich heiße dies nicht gut, aber ich sehe, daß<br />
die schmerzlich erwarteten Investitionsentscheidungen<br />
aufgeschoben werden.<br />
Es zeichnet sich ab, daß Deutschland als Standort<br />
der Energieerzeugung verlorengeht. Dies mag der<br />
rot-grünen Zielsetzung entsprechen. Was gewinnen<br />
wir aber, wenn die Anlagen jenseits unserer Grenzen<br />
errichtet werden, ohne daß sie dort unseren höchsten<br />
sicherheitstechnischen Anforderungen genügen müssen?<br />
Wir verlieren ein Stück Zukunft. Ist sich die Opposition<br />
überhaupt bewußt, welchen ungeheuren Schaden<br />
sie anrichtet? Daß die Gruppe PDS/Linke Liste mit<br />
dieser Aktuellen Stunde noch ihr destruktives politisches<br />
Süpplein daraus kochen will, ist so kläglich, daß<br />
man darüber besser schweigt.<br />
Dietmar Schütz (SPD): Wer bei der Durchsetzung<br />
von Recht und Rechtspositionen nur noch Verletzungen<br />
und Betroffenheit hinterläßt, hat entweder selbst<br />
etwas sehr falsch gemacht, oder aber das Umfeld der<br />
Rechtsakzeptanz ist schon so aufgewühlt, daß bei der<br />
Rechtsdurchsetzung nur noch Verwundungen auf treten.<br />
Die Rückführung der konditionierten radioaktiven<br />
Abfälle aus Mol zum Zwischenlager Gorleben und<br />
deren Begleitumstände zeigen, daß beides — Art und<br />
Weise der Rechtsdurchsetzung — zu weiteren Verhärtungen<br />
geführt haben und daß das politische Umfeld<br />
der Atompolitik nicht nur in Gorleben nicht oder<br />
nicht mehr akzeptiert wird. Viele von uns haben noch<br />
die quälenden Vernehmungen im Transnuklearatomskandal-Untersuchungsausschuß<br />
in Erinnerung. Wir<br />
erinnern uns an die Schlampereien in Mol, bei deren<br />
Konditionierungsarbeiten keiner wußte, ob die Abfälle<br />
aus X tatsächlich wieder dorthin zurückgingen.<br />
Wir haben alle um die Unvermeidbarkeit von Querkontaminationen<br />
in Mol erfahren. Auf dem Hintergrund<br />
dieser Erfahrung, die monatelang die bundesdeutsche<br />
Öffentlichkeit beschäftigt hat, ist deshalb<br />
mit diesen ersten Rückführungen von Atommüll aus<br />
Mol sehr sensibel umzugehen.<br />
Zur Sache. Die noch in den letzten Tagen der Albrecht-Regierung<br />
geänderten Verwaltungsbestimmungen<br />
zu den Aufnahmebedingungen für das Faß<br />
lager Gorleben kennen zwar keine Beschränkungen<br />
der einzulagernden Abfälle auf solche aus bundesdeutschen<br />
Kernkraftwerken mehr — was ich aus Akzeptanzgründen<br />
für äußerst problematisch halte —,<br />
gleichwohl war der Antrag der Lagergesellschaft<br />
-<br />
Gorleben<br />
ausdrücklich auf die Zulassung der Zwischenlagerung<br />
von konditionierten Mischabfällen aus den<br />
Kernkraftwerken Krümmel und Neckar-Westheim<br />
gerichtet. Ich halte es deshalb — vor allem angesichts<br />
der vergangenen Diskussion um die Atommüllschiebereien<br />
und angesichts der Akzeptanzsituation vor<br />
Ort — für mehr als legitim, daß das Umweltministerium<br />
in Hannover die Frage, woher die Mischabfälle<br />
kommen, gründlich prüfen wollte, bevor die endgültige<br />
Zwischenlagerung genehmigt wurde.<br />
Diese Forderung des Umweltministeriums nach einem<br />
lückenlosen Identitätsnachweis wird am 13. Juni<br />
gestellt. Am 14. Juni wird deshalb eine bereits erteilte<br />
endgültige Genehmigung so lange zurückgenommen,<br />
bis ein Identitätsnachweis erbracht wird. Am<br />
gleichen Tag ordnet das Bundesumweltministerium<br />
dagegen eine Zulassung der Einlagerung bis zum<br />
nächsten Tag an. Durch ausdrücklich bundesaufsichtliche<br />
Weisung am Sonntag, dem 16. Juni, wird dies<br />
durchgesetzt.<br />
Dieser sehr verkürzt dargestellte Ablauf läßt für den<br />
Beobachter der Szene nur noch den Schluß zu, daß das<br />
Weisungsinstrumentarium aus Art. 85 GG hier nur<br />
noch im Muster Befehl und Gehorsam vom Feldwebel<br />
Töpfer zu den niedersächsischen Soldaten gebraucht<br />
wurde.<br />
Ist es unsinnig, darüber nachzudenken, ob es sinnvoll<br />
ist, einen Identitätsnachweis führen zu müssen,<br />
weil es eben auch sinnvoll ist, nur eigene bundesdeutsche<br />
Abfälle wieder aufzunehmen? Wäre es nicht vernünftig<br />
gewesen, eine vorläufige Unterbringung im<br />
Faßlager zu vereinbaren, um das Identitätsproblem zu<br />
erörtern und nicht nur per Verfügung miteinander<br />
umzugehen? Kann man bundesfreundliches Verhalten<br />
von Niedersachsen nachhaltig anfordern, wenn<br />
von einem länderunfreundlichen Verhalten des Bundes<br />
durch das scharfe Handhaben bundesaufsichtlicher<br />
Instrumente gesprochen werden muß?<br />
Die Art und Weise der Rechtsdurchsetzung hat<br />
überflüssige Verletzung erzeugt, die ein Rechtsstaat<br />
so nicht zufügen sollte.<br />
Von dem Umfeld der Rechtsakzeptanz habe ich<br />
noch gar nicht gesprochen. Ich frage mich, wie lange<br />
wir, wie lange unser Staat es durchhalten will, eine<br />
völlig ungeklärte Endlagersituation vor sich herzuschieben.<br />
Wie lange will er jeden Schritt, der in Beziehung<br />
zu einem Atomkraftwerk steht, mit Polizeigewalt<br />
durchsetzen?<br />
Die Akzeptanz der Atomenergie — das zeigen immer<br />
wieder die konkreten Situationen, das zeigen<br />
aber genauso die Umfrageergebnisse — ist und bleibt<br />
nicht vorhanden. Wir müssen deshalb dazu kommen,<br />
einen energiewirtschaftlichen Konsens zu erreichen,<br />
der auf der Grundlage des Ausstiegs aus der Atomenergie<br />
erreicht werden muß. Jedenfalls kann es aber<br />
keinen energiewirtschaftlichen Konsens bei Feldwebelattitüden<br />
geben. Wer den Konsens will, darf vorher<br />
nicht nur den Büttel spielen.<br />
Heinrich Seesing (CDU/CSU): Erstens. Da gibt es<br />
eine Partei, die hat einmal laut ihrer Sorge Ausdruck<br />
gegeben, daß CDU und CSU Hindernisse sein würden<br />
auf dem nun einmal notwendigen Weg, viel und sichere<br />
Energie zu schaffen. Gemeint war die Kernenergie.<br />
Gesprochen wurden solche und ähnliche<br />
Sätze im Deutschen <strong>Bundestag</strong> Ende der 50er Jahre.<br />
Die Redner gehörten der SPD-Fraktion an. Ich muß<br />
die SPD loben, die damalige SPD. Denn es ist damals<br />
gelungen, einen weitgehenden Konsens in der Energiepolitik<br />
zu finden. Eine herausragende Stellung<br />
nahm die Kernenergie ein. Wer zur Kernenergie ja<br />
sagt, hatte auch zur Wiederaufarbeitung und zur Endlagerung<br />
ja gesagt. Die tollsten Anlagen wurden mit<br />
der SPD gebaut. Viele Kernkraftwerke produzieren<br />
Strom. Hochtemperaturreaktoren und Schnelle Brüter<br />
stehen als Denkmäler dieser SPD-Ära in deutschen
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2695*<br />
Landen. Um die Abwicklung machen wir uns Sorgen,<br />
die SPD auch.<br />
Zweitens. Da gibt es eine Partei, die hat sich 1986<br />
für eine Energiepolitik ohne Atomkraft entschieden.<br />
An Gefahren und Risiken hatte sich seit 1960 nichts<br />
geändert. Nur: eine neue Generation bestimmte die<br />
Energiepolitik der SPD. Sie bewertete diese anders als<br />
diejenigen, die für mehr Energie und damit für mehr<br />
Wohlstand eingetreten waren. Wir wissen heute, daß<br />
man Wohlstand auch mit weniger Energie erreichen<br />
kann, aber nicht ohne. Ich meine auch, daß man Kernenergie<br />
nur dann verantworten kann, wenn man die<br />
Entsorgung der Kernkraftwerke gesichert hat. Und<br />
damit meine ich nicht nur die Kernbrennstäbe, sondern<br />
auch alles das, was sonst an radioaktivem Abfall<br />
anfällt. Die SPD verzichtete auf die Kernenergie, weil<br />
die Entsorgung nicht gesichert sei. Was hat sie eigentlich<br />
seit 1960 getan, um das Problem zu lösen? Ich will<br />
dabei gerne zugestehen, daß auch mein politisches<br />
Lager nicht immer den Mut und die richtige Einstellung<br />
dazu hatte.<br />
Drittens. Da gibt es eine Partei, die beschließt auf<br />
ihrem Bundesparteitag 1991 folgendes: „Der Bundesparteitag<br />
mißt der Findung und Errichtung von Endlagerstätten<br />
herausragende Bedeutung bei. Er hält es<br />
deshalb für unabdingbar, daß die sozialdemokratisch<br />
geführten Landesregierungen bei der Bundesregierung<br />
darauf drängen, daß auf der Grundlage von alternativen<br />
Standorten die umweltverträglichste und<br />
sicherste Lösung gefunden wird." Bravo, SPD! Nur,<br />
wie alternativ soll das Ganze denn noch werden? Wie<br />
lang soll die Suche noch dauern? Also doch China<br />
oder der Mond?<br />
Also bringen wir alles nach Gorleben, ins Zwischenlager,<br />
weil wir vor lauter Suchen das Ziel vergessen<br />
haben. Oder soll das Dagegenhalten, sollen die Mätzchen<br />
der Landesregierung von Niedersachsen nur ein<br />
Hilfsmittel sein, um die Kernkraftwerke abschalten zu<br />
können? Vielleicht ist ja jetzt Hamburg bereit, auf<br />
Strom aus KKW zu verzichten — und bezieht den<br />
Strom dann aus den französischen KKW!<br />
Viertens. Da gibt es einen gewissen Herrn Schröder,<br />
der hat gestern wegen der Entscheidung des Bundesumweltministers<br />
in Sachen Gorleben von der „Verfilzung<br />
der Bundesregierung mit der Atomlobby" gesprochen.<br />
Es handelt sich, man kann es kaum glauben,<br />
um den Ministerpräsidenten eines schönen und<br />
großen Bundeslandes. Ein solches Wort aus dem<br />
Munde eines Ministerpräsidenten, der Verantwortung<br />
für ein Land und die Menschen in diesem Land<br />
übernommen hat! Seine Verantwortung heißt im Falle<br />
Gorleben, Sorge tragen, daß die Dinge so schnell und<br />
so gut als möglich geregelt werden. Ein ordnungsgemäßes<br />
Lager ist der Platz dafür, nicht der Parkplatz<br />
einer Polizeikaserne. Ich finde Verhalten und Äußerung<br />
nicht mehr zu vereinbaren mit den Aufgaben<br />
eines so hohen Amtes.<br />
Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Auch der<br />
Bundesumweltminister wirbt neuerdings um einen<br />
energiepolitischen Konsens. Wer Konsens tatsächlich<br />
will, kann nicht ein derart ultimatives länderunfreundliches<br />
bundesrechtliches Weisungsverfahren<br />
praktizieren, wie es Herr Töpfer tut. Konsens gibt es<br />
nur bei Kooperationsbereitschaft, nicht bei Konfrontation.<br />
Was für eine Energiepolitik ist das, die mit Weisungen<br />
und Polizeigewalt durchgesetzt werden<br />
muß?<br />
Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern für die<br />
notwendige Entsorgung nuklearen Mülls läßt sich<br />
nicht von Bonn aus verordnen. Akzeptanz setzt Vertrauen<br />
und Offenheit voraus. Gerade die aber haben<br />
Energiewirtschaft und Bundesumweltminister in der<br />
Vergangenheit verspielt. Uns allen ist der Atommüllskandal,<br />
die Transnuklear-Affäre, noch in schlechtester<br />
Erinnerung. Radioaktive Abfälle — zum Teil<br />
falsch deklariert — wurden international hin und her<br />
geschoben. Bestechungsgelder wurden bezahlt. Nicht<br />
nur menschliches Fehlverhalten, auch die ungelöste<br />
Entsorgung des Atommülls war die Ursache dafür.<br />
Kann es Sie da wundern, daß die Menschen auch da<br />
mißtrauisch sind, wo es sich vielleicht als unbegründet<br />
herausstellt? Das jahrelange Taktieren und Verschieben<br />
in der Entsorgung holt uns ein. Die Bundesrepublik<br />
muß riesige Mengen atomaren Atommülls in den<br />
nächsten Jahren aus dem Ausland (aus Belgien, aus<br />
Frankreich, aus England) zurücknehmen. Wir alle<br />
sind gegen Mülltourismus. Bei den besonders gefährlichen<br />
Atomabfällen wurde er zum Programm gemacht.<br />
Es ist berechtigt und richtig, daß die niedersächsische<br />
Landesregierung auf dem politischen Hintergrund<br />
der Transnuklear-Affäre exakte Aufklärung<br />
über den Inhalt und die Herkunft der Atommüllfässer<br />
aus dem belgischen Mol verlangt hat. Es ist auch richtig,<br />
daß sich die niedersächsische Landesregierung<br />
dagegen wehrt, daß Land zur atomaren Müllkippe<br />
Europas werden zu lassen.<br />
Die Vorgänge um die Atommüllfässer aus dem belgischen<br />
Mol sowie die notwendige Schließung des<br />
Hanauer Atomwerkes durch den hessischen Umweltminister<br />
— eine Maßnahme, die wir ausdrücklich begrüßen<br />
— zeigen vor allem eins: Vertrauen läßt sich<br />
nur mit einer neuen Energiepolitik zurückgewinnen:<br />
Erstens. Nur wer definitiv auf Neu- und Ersatzbau<br />
von Kernkraftwerken verzichtet und die Atomenergienutzung<br />
in einem überschaubaren Zeitraum beendet,<br />
kann von der Bevölkerung Akzeptanz für notwendige<br />
Entsorgungseinrichtungen erwarten. Denn<br />
nur so kann sichergestellt werden, daß der Jahrtausende<br />
strahlende Müllberg nicht immer weiter<br />
wächst.<br />
Zweitens. Es ist zwingend notwendig, den Weg der<br />
direkten Endlagerung der atomaren Abfälle gesetzlich<br />
vorzuschreiben und auf den Weg der Wiederaufarbeitung,<br />
auch über das Ausland, zu verzichten.<br />
Drittens. Die Herstellung der sogenannten Mischoxidbrennelemente<br />
mit Plutonium, wie sie in dem Hanauer<br />
Atomwerk erfolgt, muß gesetzlich untersagt<br />
werden.<br />
Wir Sozialdemokraten sind uns unserer Verantwortung<br />
für die Entsorgung radioaktiver Abfälle bewußt.<br />
Auch unter unserer Regierungszeit sind Atomkraftwerke<br />
gebaut und in Betrieb genommen worden. Der<br />
bereits heute angefallene Atommüll muß so sicher wie<br />
irgend möglich beseitigt bzw. gelagert werden. Wir<br />
haben in unseren Forderungen die Voraussetzungen
2696* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
dafür genannt, wie mit Akzeptanz und Unterstützung<br />
der Bevölkerung die atomare Entsorgung vorangebracht<br />
werden kann.<br />
Solange die Entsorgungsstrategie der Bundesregierung<br />
unklar ist, solange sie auf Wiederaufarbeitung<br />
besteht, solange sie ihre Politik mit dem Knüppel der<br />
Weisung durchsetzen will, solange sie nicht klar und<br />
deutlich beschließt, daß sie eine dauerhafte Nutzung<br />
der Kernenergie ablehnt und auf den Zubau und Neubau<br />
von Atomkraftwerken verzichtet, solange wird sie<br />
die Akzeptanz der Bevölkerung für die notwendige<br />
Entsorgung radioaktiver Abfälle nicht gewinnen. Wer<br />
wirklich den Konsens will, wem wirklich daran gelegen<br />
ist, langfristig verläßliche Rahmenbedingungen<br />
für die Wirtschaft und für die Verbraucher zu schaffen,<br />
der muß in der Atomenergiepolitik den Weg zu Ende<br />
gehen, der in Wackersdorf und Kalkar schon eingeschlagen<br />
wurde, den Weg des Ausstiegs aus der Nutzung<br />
der Atomenergie.<br />
Wolfgang Ehlers (CDU/CSU): Eine von der Gruppe<br />
PDS/Linke Liste zu diesem Thema beantragte Aktuelle<br />
Stunde hat bei mir mehrere Fragestellungen hervorgerufen.<br />
Erstens. Warum stellt sich gerade diese Partei, die in<br />
der ehemaligen DDR vor der Wende jegliches Umweltbewußtsein<br />
vermissen ließ und sich nie ernsthaft<br />
mit den Umweltproblemen beschäftigte, jetzt in der<br />
Öffentlichkeit so dar, als wenn ohne ihr Zutun die<br />
Umwelt gefährdet würde?<br />
Zweitens. Ist die PDS nicht in der Lage, das zugegebenermaßen<br />
nicht einfache deutsche Umweltrecht<br />
erst einmal gründlich zu studieren, bevor sie der Bundesregierung<br />
ein Fehlverhalten vorwirft? Meine Fraktionskollegen<br />
haben bereits eindeutig und ausreichend<br />
dargelegt, daß der Einlagerung von schwachradioaktiven<br />
Abfällen aus dem belgischen Mol weder<br />
sachliche noch rechtliche Gründe entgegenstehen.<br />
Drittens. Oder wollte die PDS mit dieser Aktuellen<br />
Stunde auf die Mißstände innerhalb des rot-grünen<br />
Bündnisses in Hannover hinweisen? Dann jedenfalls<br />
könnte ich diese Debatte noch verstehen.<br />
Es ist in der Tat merkwürdig, wenn die jetzige Umweltministerin<br />
Niedersachsens vor einem Jahr auf einer<br />
Veranstaltung in Gorleben Hunderte von Kernkraftgegnern<br />
dazu aufrief, „das Mittel der Blockade<br />
aktiv zu nutzen" , und der grüne Landtagsabgeordnete<br />
Kempmann sich bereits auf „sehr schöne Blockaden"<br />
freute. Wurden damit nicht schon Konfliktsituationen<br />
vorprogrammiert? Da sich schon am vergangenen<br />
Freitag der grüne Umweltsstaatssekretär - und der<br />
bereits erwähnte Abgeordnete Kempmann unter die<br />
Demonstranten mischten, ist sicherlich die Frage gestattet,<br />
ob die Blockade nicht vorsorglich inszeniert<br />
worden ist.<br />
Wenn Sie, meine Damen und Herren der PDS, diese<br />
gewiß wichtigen Fragen beantwortet haben möchten,<br />
dann gebe ich Ihnen einen guten Rat: Wenden Sie<br />
sich bitte an die Regierung in Hannover.<br />
Noch einen Hinweis erlaube ich mir Ihnen zu geben,<br />
die Sie ja größtenteils aus den neuen Bundesländern<br />
kommen. Was der Bundesminister für Umwelt,<br />
Naturschutz und Reaktorsicherheit gerade für diese<br />
neuen Bundesländer geleistet bzw. eingeleitet hat<br />
— ich denke nur an das Aktionsprogramm Ökologischer<br />
Aufbau — , erreicht Größenordnungen, von denen<br />
wir, die sich bereits vor der Wende für Umwelt<br />
und Natur einsetzten, nur träumen konnten.<br />
Ich empfehle Ihnen, unterstützen Sie diesen umfangreichen<br />
Maßnahmenkatalog durch angemessene<br />
Mitarbeit, dann leisten sie einen wirklich sinnvollen<br />
Beitrag zur ökologischen Sanierung und zum Schutz<br />
der Umwelt.<br />
Dr. Jürgen Starnick (FDP): Der Bundesumweltmini<br />
ster hat erneut in einem die Kernenergie betreffenden<br />
Sachverhalt eine bundesaufsichtliche Weisung erlassen<br />
müssen, weil das Land Niedersachsen den Transport<br />
von Abfällen nach Gorleben abgelehnt hat. Diese<br />
Weisung war rechtmäßig, weil nach zutreffender Auffassung<br />
des Bundesumweltministeriums die Voraussetzungen<br />
für den Transport und die Einlagerung der<br />
deutschen radioaktiven Abfälle, die aus dem belgischen<br />
Mol wieder zurück nach Deutschland kommen,<br />
rechtmäßig sind.<br />
Es geht um deutsche Abfälle, die als Altlasten des<br />
Transnuklearskandals hinreichend bekannt sind. Wie<br />
auch die Arbeit des Transnuklear-Untersuchungsausschusses<br />
im Deutschen <strong>Bundestag</strong> gezeigt hat, ist dieser<br />
Hanauer Nuklearskandal im einzelnen aufgearbeitet<br />
worden. Das trifft für den Deutschen <strong>Bundestag</strong>,<br />
aber auch für die Bundesregierung zu, die umfassende<br />
Konsequenzen gezogen hat — wie Entflechtung<br />
der deutschen Nuklearindustrie. Zur Lösung der<br />
Probleme, die aus diesem Skandal entstanden sind,<br />
gehört auch die Rücknahme deutscher radioaktiver<br />
Abfälle, die seinerzeit nach Belgien gelangt sind und<br />
von dort auch wieder in das Ursprungsland zurückkehren<br />
müssen. Der Grundsatz, daß Abfälle möglichst<br />
dort entsorgt werden, wo sie entstanden sind, gilt auch<br />
für die Bundesrepublik Deutschland gegenüber anderen<br />
Staaten.<br />
Für die Behauptung Niedersachsens, daß der lükkenlose<br />
Nachweis dafür, daß die Abfälle nicht aus<br />
Deutschland stammen, nicht erbracht sei, gibt es<br />
keine ernst zu nehmenden Hinweise. Der TÜV-Bericht<br />
verweist vielmehr ausdrücklich darauf, daß diese<br />
Abfälle kundenspezifisch in Mol gelagert wurden und<br />
ihre Sortierung getrennt erfolgte.<br />
Da die BRD für die deutschen Abfälle die volle Verantwortung<br />
trägt, erwarte ich von dem Bundesland<br />
Niedersachsen, daß es nicht nur, wie jetzt geschehen,<br />
der Weisung des Bundesumweltministers zur Aufhebung<br />
des Einlagerungsstopps für die radioaktiven Abfälle<br />
aus Mol folgt, sondern daß auch künftig die Landesregierung<br />
Niedersachsens den ihr nach Recht und<br />
Gesetz obliegenden Verpflichtungen insoweit nachkommt.<br />
Erneut drängt sich der Eindruck auf, daß hinter dem<br />
hier ausgetragenen Streit zwischen der Bundesregierung<br />
und der niedersächsischen Landesregierung das<br />
Kernproblem der unterschiedlichen Auffassung zum<br />
Einsatz der Kernenergie steht. Abermals agiert dabei<br />
eine rot-grüne Koalition etwas abseits der Rechtsstaatlichkeit.<br />
Ausstieg aus der Kernenergie rechtfertigt<br />
nicht jedes Mittel. Jedenfalls ist es rechtsstaatlich
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2697*<br />
äußerst bedenklich, wenn sich Frau Griefahn wie folgt<br />
einläßt: „Außerdem sei es (verdeckt) geboten, politische<br />
und juristische Schritte in einem Gleichklang zu<br />
initiieren, um die Erreichung eines bestimmten Zieles<br />
auch im Prozeßwege zu begünstigen. Dies sei z. B. bei<br />
der Prozeßführung dadurch sicherzustellen, daß in<br />
dem zulässigen Maße und in dem gebotenen Umfang<br />
das Ministerium mit Bürgerinitiativen und Nachbarn<br />
zusammenarbeite. "<br />
Unabhängig davon, ob man die weitere Nutzung<br />
der Kernenergie mittel- und langfristig bejaht oder<br />
einen Ausstieg fordert, so steht jedenfalls fest, daß für<br />
die schon vorhandenen radioaktiven Abfälle eine<br />
möglichst sichere Entsorgung vorgenommen werden<br />
muß. Ich habe kein Verständnis für diese letztlich<br />
nicht rechtlich, sondern politisch motivierte Weigerung<br />
Niedersachsens, diese Abfälle abzulagern. Ich<br />
appelliere an die Landesregierung von Niedersachsen,<br />
auch in Fragen des Atom- und Strahlenschutzrechts<br />
zu rechtsstaatlichem Verhalten zurückzukehren.<br />
Wir brauchen einen Energiekonsens, der die nukleare<br />
Entsorgung einschließt.<br />
Ich fordere deshalb Bund und Länder auf, alles zu<br />
unternehmen, um wieder zu einem Grundkonsens in<br />
Energie- und auch Kernenergieentsorgungsfragen zu<br />
kommen. Die Zukunft des Industriestandorts BRD<br />
hängt entscheidend davon ab, ob wir neben der Versorgungsinfrastruktur<br />
über eine modernsten Anforderungen<br />
entsprechende Entsorgungsinfrastruktur<br />
— und zwar für alle Arten von Abfällen — verfügen.<br />
Jedenfalls sollte die Bundesrepublik Deutschland ihre<br />
eigenen Entsorgungsprobleme nicht auf dem Rücken<br />
anderer Staaten austragen, sondern für ihre Abfälle,<br />
einschließlich der radioaktiven Abfälle, die Verantwortung<br />
selbst übernehmen.<br />
Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na<br />
turschutz und Reaktorsicherheit: Mit ihrer Untersagungsverfügung<br />
vom 14. Juni 1991, für die es einer<br />
Weisung des Niedersächsischen Umweltministeriums<br />
an das Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg bedurfte, hat<br />
die Niedersächsische Landesregierung eindeutig<br />
rechtswidrig gehandelt. Es war daher meine mir durch<br />
Verfassung zugewiesene Pflicht, nachdem sich das<br />
Land weigerte, die rechtswidrige Verfügung aufzuheben,<br />
durch eine bundesaufsichtliche Weisung den<br />
rechtgemäßen Zustand wiederherzustellen.<br />
Offenkundig hat die Landesregierung versucht, mit<br />
dem Mittel des Rechtsbruchs ihre Koalitionsabsprache<br />
durchzusetzen. Die rechtlichen Argumente waren<br />
so fadenscheinig, daß dieses Spiel für jedermann, der<br />
-<br />
sich damit etwas näher beschäftigte, durchschaubar<br />
war.<br />
Die ausschließlich polemische, unsachliche und mit<br />
keinen Fakten versehene hemmungslose Kritik des<br />
Niedersächsischen Ministerpräsidenten entlarvt ihn<br />
selbst. Wenn ein Verfassungsorgan so handelt, argumentiert<br />
und polemisiert, dann muß man sich nicht<br />
wundern, wenn das Vertrauen vieler Menschen in<br />
unseren Rechtsstaat erschüttert wird. Da wird hemmungslos<br />
mit Unterstellungen gearbeitet, wider besseres<br />
Wissen vorhandene Information abgestritten —<br />
mit einem Wort: Es wird alles getan, um die politische<br />
Entscheidung in Koalitionsvereinbarung und Regie<br />
rungserklärung auch am bestehenden Recht vorbei<br />
durchzusetzen.<br />
Wie sind die Fakten?<br />
Die Herkunft dieser Abfälle ist durch ein TÜV-Gutachten<br />
und durch die Arbeiten der deutsch-belgischen<br />
Experten-Kommission eindeutig nachgewiesen.<br />
Die Genehmigungslage für das Faßlager und die<br />
Beförderung ist eindeutig. Die Genehmigungsvoraussetzungen<br />
sind gegeben. Die Erfüllung der Einlagerungsbedingungen<br />
ist nach Qualität und Umfang der<br />
Abfälle in einem von Bund und Land einvernehmlich<br />
festgelegten Prüfverfahren für diese Abfälle eindeutig<br />
nachgewiesen worden.<br />
Die Niedersächsische Landesregierung ist bei diesem<br />
Vorgang ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden:<br />
— Sie hat eine rechtswidrige Weisung erlassen in dem<br />
klaren Bewußtsein, daß die Bundesaufsicht weisen<br />
wird. Sie hat diese Weisung provoziert, um sich selbst<br />
aus der Verantwortung zu stehlen und ihre politische<br />
Vorabentscheidung zu bestätigen. Sie sollte sich nicht<br />
der Hoffnung hingeben, daß die Öffentlichkeit dies<br />
nicht durchschaut.<br />
Ich fordere die Niedersächsische Landesregierung<br />
auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden.<br />
— Wenn die Landesregierung künftig Abfälle deutscher<br />
Herkunft aus Belgien nicht abnehmen will, heißt<br />
dies nichts anderes als endgültiger Export deutschen<br />
radioaktiven Abfalls. Mit anderen Worten: Die Niedersächsische<br />
Landesregierung will deutschen radioaktiven<br />
Abfall im Ausland endlagern. Dies ist nicht<br />
hinnehmbar. Dies wäre eine Europäisierung der Abfallpolitik<br />
— nicht das, was wir verantwortungsvoll<br />
tun.<br />
— Ich bin mit der Transnuklear-Affäre konfrontiert<br />
worden. Ich habe gehandelt, um diese Affäre aufzuklären<br />
und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.<br />
Dies waren tiefe Schnitte. Wir haben Transnuklear<br />
und NUKEM Genehmigungen entzogen. Wir hab<br />
en die westdeutsche Nuklearwirtschaft entflochten.<br />
Wir haben das Schienenkonzept für den Transport<br />
radioaktiven Mate rials mit der Bahn durchgesetzt. Wir<br />
haben eine Abfallkontrollrichtlinie — gemeinsam mit<br />
den Ländern — erlassen, um jederzeit eine lückenlose<br />
Kontrolle auch der schwach- und mittelaktiven Abfälle<br />
zu haben. Und wir haben gemeinsam mit Belgien<br />
eine deutsch-belgische Expertenkommission unter<br />
Beteiligung der Länder — stellvertretend waren dies<br />
Hessen und Nordrhein-Westfalen — eingesetzt, um<br />
die Abfälle in Mol den Abfallverursachern zuzuordnen.<br />
Der 2. Untersuchungsausschuß des Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong>es hat in der letzten Legislaturperiode die<br />
Richtigkeit und Konsequenz meiner Maßnahmen bestätigt.<br />
Die Länder waren hierüber stets voll informiert.<br />
Ihnen war bekannt, daß die Abfälle in die Bundesrepublik<br />
Deutschland zurückgenommen werden<br />
würden. Noch vor wenigen Wochen hat die Niedersächsische<br />
Landesregierung gegenüber Baden-Württemberg<br />
schriftlich bestätigt, daß flüssige Abfälle aus<br />
Mol, die im Kernforschungszentrum Mol konditioniert<br />
wurden im Faßlager Gorleben zwischengelagert wer-
2698* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
den dürfen. Heute will sie sich ihrer Verantwortung<br />
entziehen.<br />
Vor diesem Hintergrund ist es schon bezeichnend,<br />
daß der Antrag für die Aktuelle Stunde von der PDS<br />
und nicht von der SPD gestellt worden ist.<br />
Wie immer man zu Fragen der friedlichen Nutzung<br />
der Kernenergie stehen mag: Das Problem der Entsorgung<br />
radioaktiver Abfälle aus unseren Anlagen ist zu<br />
lösen. Dies ist unser gesetzlicher Auftrag, nicht nur<br />
des Bundes, sondern auch der Länder. Hierzu gehört<br />
auch die Lösung der Entsorgung des deutschen Verursachern<br />
zuzuordnenden Abfalls aus Mol. Ich werde<br />
die Niedersächsische Landesregierung aus ihrer<br />
Pflicht nicht entlassen und, wenn es sein muß, auch<br />
künftig durch bundesaufsichtliche Weisung zu deren<br />
Erfüllung anhalten.<br />
Ich fordere die Niedersächsische Landesregierung<br />
auf, endlich das Recht über die Koalitionsvereinbarung<br />
zu setzen und ihren verantwortungslosen Umgang<br />
mit rechtsstaatlichen Grundsätzen aufzugeben.<br />
Wir müssen einen politischen Konsens in der Entsorgungsfrage<br />
finden. Der Staatssekretärs-Ausschuß,<br />
der hierzu auf Initiative der Bundesregierung und<br />
Nordrhein-Westfalens eingesetzt worden ist und bereits<br />
gute Arbeit geleistet hat, ist hierfür der richtige<br />
Weg. Auf diesem Weg sollten wir fortfahren.<br />
Anlage 6<br />
Zu Protokoll gegebene Reden<br />
zu Tagesordnungspunkt 9 — Antrag betr. Fristver<br />
längerung zur Antragstellung auf Aufhebung von<br />
Zwangsadoptionen —<br />
Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie<br />
und Senioren: Die jüngst aufgefundenen Akten über<br />
Zwangsadoptionen sowie erste öffentliche Stellungnahmen<br />
von Betroffenen haben ein erschütterndes<br />
Kapitel der Unmenschlichkeit der SED-Herrschaft in<br />
der ehemaligen DDR offenbart. Das ganze menschliche<br />
und rechtliche Ausmaß dieser Adoptionspraxis,<br />
die zwangsweise vollständige Familien auseinander<br />
gerissen hat, läßt sich noch nicht übersehen. Der demokratische<br />
Rechtsstaat, wir politisch Verantwortlichen<br />
dürfen und wollen über diese Mißachtung der<br />
Menschenwürde und insbesondere des Elternrechts<br />
nicht hinweggehen.<br />
-<br />
Dieser tiefe Eingriff in die natürlichen Rechte der<br />
Familie, in das Zusammenleben von Eltern mit ihren<br />
Kindern drängt mich als Familienministerin, mitzuhelfen,<br />
daß das bittere Unrecht wiedergutgemacht<br />
werden kann. Wir müssen hierbei allen Beteiligten<br />
gerecht werden: den Eltern, die ihre Kinder verloren<br />
haben, den Kindern, die zwangsvermittelt wurden,<br />
und den die Kinder annehmenden Eltern. In vielen<br />
Fällen sind die Beteiligten auch die Opfer.<br />
Gemäß dem Einigungsvertrag kann die Aufhebung<br />
der Adoptionen ohne die sonst erforderliche Einwilligung<br />
der Beteiligten innerhalb eines Jahres, also bis<br />
zum 2. Oktober 1991, beantragt werden. Nach dem,<br />
was wir bisher wissen, wird diese Einjahresfrist in der<br />
Regel nicht einzuhalten sein. Denn es hängt nicht nur<br />
von dem Willen der Betroffenen ab, eine Änderung<br />
anzustreben; vielmehr fehlt es häufig an den tatsächlichen<br />
Voraussetzungen.<br />
Zum einen müssen wir in jedem Einzelfall prüfen,<br />
ob tatsächlich eine unrechtmäßige Zwangsadoption<br />
vorliegt oder ob — angesichts der vorgefundenen sozialen<br />
und familiären Verhältnisse — auch bundesdeutsches<br />
Recht dem Verbleib des Kindes bei seinen<br />
leiblichen Eltern widersprochen hätte. Zugleich muß<br />
mit Eltern gerechnet werden, die im nachhinein bedauern,<br />
früher einer Adoption zugestimmt zu haben,<br />
jetzt also die Gunst der Stunde nutzen wollen, um<br />
ihren Schritt rückgängig zu machen.<br />
Die Überprüfung jedes beantragten Einzelfalls muß<br />
unser Ziel sein, nicht etwa die generelle Aufhebung<br />
aller, auch der in unserem Sinne rechtmäßigen Adoptionen.<br />
Daher dürfen den wirklich Betroffenen keine<br />
bürokratisch unüberwindbaren Hürden auferlegt<br />
werden. Dazu gehören die F rist des 2. Oktober und<br />
auch die Vorgabe, wonach Anträge nur vom jeweils<br />
zuständigen Vormundschaftsgericht entgegengenommen<br />
werden. Es wird also entscheidend auf die<br />
Mithilfe der Jugendämter ankommen. Hier jedoch<br />
sind möglicherweise noch Angestellte tätig, die an<br />
Zwangsadoptionen selbst mitgewirkt haben. Außerdem<br />
ist nicht sicher, ob die Vormundschaftsgerichte<br />
schon wieder vollständig und funktionstüchtig eingerichtet<br />
sind.<br />
Um den gesamten Problemkreis einmal umfassend<br />
und gründlich aufzuarbeiten, werde ich im Spätsommer<br />
hierzu eine Fachkonferenz in Ber lin mit Vertretern<br />
der Bundes- und Landesro essrts sowie mit Experten<br />
aus der Wissenschaft und den Fachorganisationen<br />
durchführen. Die Tagung mit einem begrenzten Teilnehmerkreis<br />
soll dazu dienen, die Probleme transparent<br />
zu machen und — wenn möglich — auch Lösungsmöglichkeiten<br />
aufzuzeigen, die den zuständigen<br />
Behörden und Ge richten eine Hilfe sein können.<br />
Unabhängig davon unterstütze ich intensiv den vorliegenden<br />
Antrag, die F rist des Art. 234 § 13 EGBGB<br />
mindestens zu verlängern, wenn nicht gänzlich aufzuheben.<br />
Unser Bemühen muß darin liegen, eine Brücke zwischen<br />
allen Beteiligten, den leiblichen Eltern, den<br />
Adoptiveltern und den betroffenen Kindern zu schlagen.<br />
Wir werden ihnen allen Gerechtigkeit nur widerfahren<br />
lassen können, wenn wir die bekanntgewordenen<br />
Fälle und die, die noch bekannt werden können,<br />
äußerst behutsam behandeln. Hier sind Familien in<br />
ihren existentiellen Rechten betroffen. Wir müssen<br />
ihnen als Staat — hier stehen wir in der Verpflichtung<br />
unseres Grundgesetzes — Genugtuung verschaffen<br />
und ihnen zu ihrem Recht verhelfen.<br />
Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Wenn sich heute<br />
der Deutsche <strong>Bundestag</strong> mit dem Thema der Zwangsadoption<br />
in der ehemaligen DDR beschäftigen muß,<br />
dann zeigt das deutlich, wie notwendig es ist, die Aufarbeitung<br />
von 40 Jahren DDR zu forcieren.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2699*<br />
Der Unrechtsstaat legte alle Dokumente seines<br />
Handelns zu den Akten: vom Schießbefehl bis zu den<br />
Stasi-Akten.<br />
In einem dunklen Keller des Bezirksamtes Berlin<br />
Mitte fand sich penibel niedergeschrieben wieder,<br />
was das DDR-Ministerium für Volksbildung einst als<br />
real-sozialistische Jugendhilfe diktiert hatte: die Geschichte<br />
der Zwangsadoption. Kinder, deren Eltern<br />
Fluchtversuche unternommen hatten, wurden in<br />
Heime gesteckt, die schließlich neue, regimetreue Eltern<br />
zuwiesen. Das ist real existierender Sozialismus,<br />
wo die Partei der Garant für die Kinder ist.<br />
Heute ist es amtlich, was für Garanten das waren:<br />
Kidnapper, die den Eltern wegen Republikflucht die<br />
leiblichen Kinder wegnahmen. Zwangsadoptionen<br />
nannten die Genossen den kriminellen Kinderklau,<br />
exakt von den Nazis übernommen. Und das Schlimmste:<br />
Es ist nicht auszuschließen, daß die Täter heute in<br />
den Talkshows, in den Ämtern oder sogar im <strong>Bundestag</strong><br />
sitzen.<br />
Bekannt ist dieses Problem schon seit langem. Der<br />
vom schwarzen Kanal und seinem Macher gehaßte<br />
und oft zitierte Gerd Löwenthal wurde in seinem<br />
„ZDF-Magazin" nicht müde, dieses Verbrechen anzuprangern.<br />
Doch das schien den Honecker Tourismus<br />
von Bonner Politikern aller Coleur zu stören.<br />
Der Einigungsvertrag erlaubt die Stellung von Anträgen<br />
auf Aufhebung solcher Adoptionen, aber nur<br />
bis 1 Jahr nach der Wiedervereinigung. Diese F rist ist<br />
gewählt worden, um möglichst schnell auf diesem<br />
höchst sensiblen Gebiet Rechtssicherheit zu schaffen.<br />
Das Wohl des Kindes fordert eine kurzfristige Klärung<br />
seiner künftigen persönlichen Bindungen.<br />
Das Problem ist schwieriger, als zuerst angenommen:<br />
Erstens. Da gab es neben der Zwangsadoption den<br />
Zwangsentzug des Sorgerechts, der bei Republikflucht<br />
oder bei versuchter Republikflucht relativ an<br />
der Tagesordnung war.<br />
Zweitens. Wieviel Fälle von Zwangsadoption es<br />
gab, kann heute niemand sagen. Die Recherchen sind<br />
schwierig angesichts unvollständiger oder gefälschter<br />
Akten.<br />
Drittens. Ein weiterer schlimmer Fakt sind die<br />
Adoptiveltern selbst. Sicher waren es Regimetreue,<br />
aber es waren Eltern ohne Kinder. Wer Eltern kennt,<br />
die von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind,<br />
weiß, welche psychologischen Krisen sie durchleben.<br />
Oft ist dann die Adoption die letzte Möglichkeit, ein<br />
Kind in der Familie zu erziehen.<br />
-<br />
Doch darf dieses Problem nicht im Rahmen stehen<br />
bleiben. Der Rechtsstaat würde dadurch schreiendes<br />
Unrecht des SED-Regimes im nachhinein anerkennen.<br />
Die Eltern brauchen Zeit für die Suche, und für das<br />
vernünftige Überlegen, was für sie und was für das<br />
Kind die richtige Entscheidung ist. Die Justiz braucht<br />
Zeit, um die Akten aufzuarbeiten.<br />
Bisher waren nur wenige Fälle bekannt. So wurden<br />
in den 70er Jahren einige echte Fälle mit dem Berliner<br />
Rechtsanwalt Vogel gelöst. In der letzten Zeit wurden<br />
nur wenig neue Zwangsadoptionen festgestellt. Der<br />
jüngste Aktenfund in einem Bezirksamt von Berlin<br />
läßt heute die Frage nach der Zahl der Fälle offen.<br />
Die Justiz braucht vor allem Zeit, weil nicht garantiert<br />
werden kann, daß der Antrag auf Überprüfung<br />
einer Adoption fristgemäß beim zuständigen Gericht,<br />
d. h. am Wohnsitz der Annehmenden gestellt wird.<br />
Die Personenstandsbücher beim Vormundschaftsgericht<br />
sind nicht da, unvollständig oder falsch, und der<br />
momentane Stand der Arbeitsfähigkeit der Ge richte<br />
ist hinlänglich bekannt.<br />
Die Frist muß verlängert werden, das ist die im<br />
Raum stehende Forderung und der Inhalt des Antrages.<br />
Um wieviel, das muß der <strong>Bundestag</strong> beurteilen.<br />
Dabei stehen die betroffenen Kinder in der Mitte, weil<br />
die Menge des menschlichen Leids durch eine unsichere<br />
Lage nicht besser wird.<br />
Gleichzeitig fordere ich aber hier eine strafrechtliche<br />
Aufarbeitung. Voran für Frau Honecker, die mit<br />
freundlichem Lächeln diese grausamen Anweisungen<br />
gab.<br />
Aber auch die Vollstreckung ist auf ihre juristische<br />
Legitimität zu prüfen. Es ist meiner Meinung nach<br />
nicht einzusehen, daß es nach DDR-Recht zulässig<br />
war, etwa aus einer Republikflucht zu schließen, daß<br />
Eltern nicht in der Lage seien, ihre Kinder zu erziehen.<br />
Deshalb müssen auch die Vollstrecker solcher<br />
Zwangsadoptionen mit zu den Verantwortlichen dieses<br />
Unrechts gezählt werden.<br />
Dr. Eckhart Pick (SPD): Die Öffentlichkeit ist zu<br />
Recht empört über die in der ehemaligen DDR von<br />
Staats wegen praktizierten Zwangsadoptionen, wobei<br />
„Adoption" ein verharmlosender Ausdruck ist.<br />
Zwangsadoption ist nämlich untrennbar verbunden<br />
mit der Zerstörung einer natürlichen Eltern-Kind-Beziehung<br />
durch einen Unrechtsspruch des Staates. Der<br />
Staat hat sich damit angemaßt, Familienbeziehungen<br />
einerseits aufzuheben und andererseits neue zu begründen.<br />
Als ob es im Belieben der Obrigkeit läge,<br />
darüber zu entscheiden.<br />
Wir sind uns einig in der Bewertung dieser Vorgänge,<br />
die zwangsweise Aufhebung von Familienbeziehungen<br />
aus politischen Gründen war unmenschlich<br />
und widersprach dem (Völker-)Recht. Sie sind<br />
und waren das unfreiwillige Eingeständnis eines Unrechtsstaates,<br />
daß man mit dem Problem des Widerstands<br />
und der Flucht aus diesem Staat nicht mit<br />
rechtsstaatlichen Mitteln, geschweige Toleranz, fertig<br />
wurde.<br />
Nach unserem Verständnis ist Adoption die freiwillige<br />
Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses, es<br />
entspringt dem freien Willen der Beteiligten und hat<br />
dann dieselben Konsequenzen wie das natürliche<br />
Eltern-Kind-Verhältnis.<br />
Der Einigungsvertrag hat in seinem Art. 234 einerseits<br />
das bundesdeutsche Recht der Adoption, so wie<br />
es das Bürgerliche Gesetzbuch enthält, grundsätzlich<br />
eingeführt.<br />
Er hat zweitens das bisherige Adoptionsrecht des<br />
Familiengesetzbuchs der DDR und die auf seiner<br />
Grundlage erfolgten Adoptionen anerkannt. Für sie
2700* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
gelten jetzt ebenfalls die Regeln des Adoptionsrechts<br />
im BGB.<br />
Andererseits hat der Einigungsvertrag die Problematik<br />
von Adoptionen ohne Zustimmung der Betroffenen<br />
und auch ausgesprochene Zwangsadoptionen<br />
im Blick gehabt. Wir müssen deshalb sehr unterschiedlich<br />
gelagerte Fälle unterscheiden.<br />
Einige Fälle weisen darauf hin, daß das Erziehungsrecht<br />
wegen angeblicher „Asozialität" entzogen<br />
wurde. In solchen Fällen wurde den Eltern, weil sie<br />
z. B. ihre Pflicht zur Arbeit verletzten, während der<br />
Haftzeit das Erziehungsrecht entzogen. Im übrigen<br />
kann der Entzug des Erziehungsrechts auf ein Versagen<br />
der Eltern (z. B. mangelnde Versorgung, Kindesmißhandlung)<br />
zurückzuführen sein.<br />
Der Antrag der Koalition meint offenbar diese Fälle<br />
nicht, denn er spricht in der Überschrift von Zwangsadoptionen.<br />
Er ist allerdings im Antragstext nicht präzise<br />
genug, denn es geht ja wohl um politisch motivierte<br />
Zwangsadoptionen. In § 13 sind aber Tatbestände<br />
mit unterschiedlichem Fristverlauf aufgeführt.<br />
Ich gehe davon aus, daß hier der Fall des § 13 Abs. 5<br />
gemeint ist, in dem Eltern das Erziehungsrecht entzogen<br />
war. Hier kann das Annahmeverhältnis auf Antrag<br />
eines Elternteils innerhalb eines Jahres aufgehoben<br />
werden.<br />
Trotz aller Empörung über das auch in dieser Hinsicht<br />
begangene staatliche Unrecht formuliert der Einigungsvertrag<br />
eine differenzierte Lösung. Er knüpft<br />
zum einen die Wiedergutmachung an eine einjährige<br />
Ausschlußfrist, mit der Erwägung, daß baldmöglichst<br />
eine Klärung darüber herbeigeführt werden muß, ob<br />
eine Aufhebung von Zwangsadoptionen erfolgen soll.<br />
Nach Ablauf der Jahresfrist soll ein für allemal klar<br />
sein, ob solche Adoptionen Bestand haben sollen oder<br />
nicht.<br />
Zum anderen erfolgt auch die Überprüfung von<br />
Zwangsadoptionen auf Antrag durch das Vormundschaftsgericht<br />
im Einzelfall, bei dem gerichtlich überprüft<br />
wird, ob eine Rückgängigmachung der Adoption<br />
vertretbar ist. Entscheidend ist dabei das Wohl des<br />
Kindes. Dieses Kriterium kann auch bedeuten, daß<br />
eine Zwangsadoption im Einzelfall nicht rückgängig<br />
gemacht wird, weil innerhalb von 15 oder mehr Jahren<br />
zwischen den Kindern und den Adoptiveltern eine<br />
schützenswerte und vorrangige Eltern-Kind-Beziehung<br />
entstanden ist. D. h. in jedem Fall muß das Gericht<br />
das Kindeswohl in den Vordergrund stellen und<br />
eine Abwägung treffen. Also keine Automatik. Früheres<br />
Unrecht kann nicht durch neues Unrecht kompensiert<br />
werden, so schmerzlich dies im Einzelfall sein<br />
kann. Es wird im übrigen sehr stark davon - abhängen,<br />
wie sich die Kinder in der neuen Situation verhalten.<br />
Noch ein Gesichtspunkt verdient eine entsprechende<br />
Beachtung. In der Mehrzahl der Fälle geht es<br />
den Eltern auch um die eigene Rehabilitierung und<br />
darum, Kontakt zu den Kindern herzustellen. Dafür<br />
spricht, daß Aufhebungsanträge von den Eltern bisher<br />
nicht gestellt wurden. In diesem sensiblen Bereich ist<br />
es auch angezeigt, auf eine außergerichtliche Klärung<br />
hinzuwirken. In solchen Fällen könnte eine Verlängerung<br />
der Antragsfrist sinnvoll sein.<br />
Wir würden einer Änderung der Antragsfrist zunächst<br />
eine intensive Aufklärung durch die Bundesre<br />
gierung und die zuständigen Behörden vorziehen. Es<br />
sollten alle diejenigen auf den Ablauf der F rist hingewiesen<br />
werden, die davon betroffen sein können. Die<br />
Zahl der Fälle ist nicht bekannt. Es sind nicht viele.<br />
Aber ich glaube, daß diejenigen, die von der Zwangsadoption<br />
betroffen sind und diese rückgängig machen<br />
wollen, schon jetzt nicht ruhen werden, bis darüber<br />
entschieden ist.<br />
Eine Aufhebung der Antragsfrist ist für uns aus<br />
Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens<br />
nicht zu verantworten. Auch eine Fristverlängerung<br />
bedarf sorgfältiger Abwägung. Der Gegenbeweis,<br />
daß eine Verlängerung erforderlich ist, wäre noch zu<br />
führen.<br />
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Ein<br />
dunkles Kapitel in der Familienpolitik der ehemaligen<br />
DDR zwingt uns zu der heutigen Beratung. Die letzten<br />
Wochen haben es auf Grund einer ausführlichen Berichterstattung<br />
in den Medien an die Öffentlichkeit<br />
gebracht; Eltern wurde das Erziehungsrecht für ihre<br />
Kinder entzogen, und diese wurden dann zur Adoption<br />
freigegeben und von Dritten adoptiert. Nach den<br />
bisher bekanntgewordenen Fällen lag der Entziehung<br />
des Erziehungsrechts aber nicht das Wohl des Kindes<br />
zugrunde, sondern ausschlaggebend soll in einer derzeit<br />
noch nicht zu überblickenden Anzahl von Fällen<br />
politisch unerwünschtes und mißliebiges Verhalten<br />
der Eltern gewesen sein.<br />
Was das alles umfassen konnte und wie weit dies je<br />
nach Gutdünken und Absicht ausgelegt werden<br />
konnte, wird uns fast täglich im Zusammenhang mit<br />
der Beschäftigung mit Rehabilitierungsfragen und der<br />
Aufarbeitung der Stasi-Altlasten vor Augen geführt.<br />
Von politisch kritischen bzw. unerwünschten Äußerungen<br />
bis zu Fluchtversuchen waren diese Handlungen<br />
und Verzweiflungstaten anscheinend Anlaß genug,<br />
Eltern das Erziehungsrecht wegzunehmen und<br />
mit dem vorgeschobenen perfiden Argument, dies geschehe<br />
zum Wohl des Kindes, eine Adoption zu vermitteln.<br />
Der Verdacht solcher politisch motivierter Zwangsadoptionen<br />
erhärtert sich immer mehr. Die beim Berliner<br />
Senator für Jugend eingerichtete Clearingstelle<br />
zur Aufklärung von Einzelschicksalen arbeitet auf<br />
Hochtouren: Rund 50 Anfragen von Eltern und Kin<br />
dern sind bisher eingegangen, in möglicherweise<br />
sechs Fällen liegt dringender Verdacht auf Zwangsadoption<br />
vor.<br />
Ohne wahrscheinlich diese das Wohl des Kindes<br />
und das Recht der Eltern mißachtenden Praktiken in<br />
vollem Umfang zu kennen bzw. kennen zu können,<br />
sind im Einigungsvertrag gleichwohl vorausschauend<br />
Regelungen getroffen worden, die die Möglichkeit<br />
eröffnen, die Adoptionen gerichtlich überprüfen zu<br />
lassen. Maßstab der Überprüfung ist das bisher in den<br />
alten Bundesländern und seit dem 3. Oktober auch in<br />
den neuen Bundesländern geltende BGB. Zuständig<br />
für die Entscheidung ist jeweils das örtliche Vormundschaftsgericht.<br />
Nach dem Einigungsvertrag läuft die Frist zur Stellung<br />
eines Antrags auf Aufhebung der Adoption am<br />
2. Oktober 1991 — also ein Jahr nach der deutschen<br />
Einheit — ab. Inzwischen ist deutlich geworden, daß<br />
auf Grund der sehr unübersichtlichen Aktenlage, des
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2701*<br />
Nichtauffindens von Personenstandsbüchern, der erst<br />
im Aufbau sich befindenden Gerichte und damit der<br />
Schwierigkeiten, das zuständige Gericht zu finden,<br />
diese Frist nicht ausreicht. Um jegliche Rechtsunsicherheiten<br />
zu vermeiden, ist deshalb diese Frist auf<br />
mindestens drei Jahre zu verlängern.<br />
Dies ist die nüchterne rechtliche Betrachtungsweise.<br />
Viel schwerer wiegen die großen menschlichen<br />
Probleme. Durch die Zwangsadoptionen ist zwischen<br />
adoptiertem Kind und der annehmenden Familie eine<br />
über viele Jahre gewachsene Familienbindung entstanden,<br />
eine Eingewöhnung in das neue soziale Umfeld<br />
erfolgt und damit auch eine subjektive Identifikation<br />
mit den Adoptiveltern. Die Bindung zu den leiblichen<br />
Eltern ist sehr locker geworden, wenn nicht<br />
sogar in vielen Fällen abhängig vom Zeitablauf vollkommen<br />
abgerissen. Wunden werden mit einer Überprüfung<br />
wieder neu aufbrechen, im Vordergrund bei<br />
einer Überprüfung eines fehlerhaft begründeten Annahmeverhältnisses<br />
muß das Kindeswohl stehen. Aus<br />
diesen Gründen sollte die Antragsfrist nicht generell<br />
aufgehoben, sondern auf eine angemessene Frist verlängert<br />
werden.<br />
Dieses den leiblichen Eltern und dem Kind zugefügte<br />
Leid, die Zerstörung von Familienbanden und<br />
damit möglicherweise die Zerstörung von Lebensglück<br />
und einer glücklichen, zufriedenen Kindheit<br />
können weder rückgängig noch wiedergutgemacht<br />
werden. An diesem Beispiel offenbart sich die Unmenschlichkeit<br />
des früheren SED-Regimes.<br />
Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Die Aufhebung<br />
von Adoptionen, die unberechtigt, gegen den Willen<br />
der Eltern vorgenommen wurden, berührt sowohl die<br />
Identitiät als auch die elementarsten familiären Bindungen<br />
von Menschen. Wenn es gilt, zugunsten der<br />
Wahrung und Wiederherstellung individueller Identität<br />
und familiärer Bindung von Adoptierten eine Kurzschlüssigkeit<br />
des Einigungsvertrages zu beseitigen,<br />
dann sollten wir das tun und die dort gesetzte Frist<br />
aufheben. Allerdings sollten wir dafür Sorge tragen,<br />
daß die Lösung dieser zutiefst mit menschlichen Konflikten<br />
beladenen Situation für die Betroffenen nicht<br />
zum kaukasischen Kreidekreis wird.<br />
Meiner Ansicht nach ist es notwendig, die Interessen<br />
und Wünsche aller betroffenen Menschen angemessen<br />
zu berücksichtigen:<br />
Erstens sollten die leiblichen Eltern in jedem Fall —<br />
auch wenn sie es bisher versäumt haben, einen solchen<br />
Antrag zu stellen — die Möglichkeit - erhalten,<br />
über den bisherigen Termin hinaus ihre Elternrechte<br />
geltend zu machen.<br />
Zweitens sollten Adoptierte unabhängig von ihrem<br />
Alter nicht als bloße Rechtsobjekte behandelt, sondern<br />
nach ihren Wünschen befragt werden, welcher<br />
Familie sie sich verbunden fühlen und in welcher Familie<br />
sie fortan leben wollen. Es geht mir darum, vor<br />
allem Kinder und Jugendliche, die bei ihren Adoptiveltern<br />
feste soziale Verwurzelungen gefunden haben,<br />
nicht gegen ihren Willen aus diesen Familien herauszulösen<br />
und in tiefste psychische Konflikte zu stürzen.<br />
Drittens sollten die Interessen der Adoptiveltern<br />
nicht außen vor bleiben. Diese ursprünglich kinderlosen<br />
Paare haben in der berechtigten Hoffnung, mit<br />
einem Kind leben zu können, den Antrag auf Annahme<br />
eines Kindes gestellt. Da ihrem Handeln (in<br />
der Regel) zutiefst humanistische Motive zugrunde<br />
liegen und sie keinen Einblick in die soziale Situation<br />
des zu adoptierenden Kindes hatten, müssen ihre Interessen<br />
ohne jegliche Form der Kriminalisierung<br />
ebenso respektiert werden. Sie dürfen jetzt nicht für<br />
ihr humanes Handeln bestraft werden.<br />
Um begründet über diese vielschichtigen Zusammenhänge<br />
urteilen zu können, fordere ich namens<br />
der PDS/Linke Liste von der Bundesregierung zum<br />
schnellstmöglichen Termin einen Be richt über die Anzahl,<br />
die konkreten Ursachen und Umstände der<br />
staatlich vorgenommenen Adoptionen in der ehemaligen<br />
DDR sowie hinsichtlich der vorliegenden Anträge<br />
auf Aufhebung von Adoptionen.<br />
Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi<br />
nister der Justiz: Jeder von uns war erschrocken, als<br />
wir Gewißheit bekamen, daß die SED-Machthaber<br />
selbst vor der persönlichsten Beziehung, die sich denken<br />
läßt, nicht haltgemacht haben: der Eltern-Kind-<br />
Beziehung. Mitte der 70er Jahre erreichten uns Berichte,<br />
daß man politisch mißliebigen Eltern die Kinder<br />
weggenommen hatte. Als Vorwand reichte aus,<br />
daß die Eltern die DDR zu verlassen und damit dem<br />
Unrecht zu entkommen suchten. Über die Kinder<br />
wurde bürokratisch entschieden. Sie mußten sich mit<br />
fremden Adoptiveltern abfinden, die sie nicht ausgesucht<br />
hatten und die sie nicht wollten.<br />
Genaueres über diese menschenverachtende Praxis<br />
ließ sich nicht feststellen. Die Verantwortlichen in der<br />
DDR verweigerten jede Auskunft und stellten<br />
Zwangsadoptionen entrüstet in Abrede. Selbst die<br />
Machthaber der SED hatten ein schlechtes Gewissen.<br />
Wir haben diesen Beteuerungen niemals geglaubt<br />
und deshalb in den Einigungsvertrag eine Regelung<br />
der Zwangsadoption aufgenommen. Jetzt sind neue<br />
Fälle ans Licht gekommen. Leider machen wir überall<br />
die gleiche traurige Erfahrung: Das ganze Ausmaß<br />
des Unrechts wird erst jetzt offenbar. Unsere Befürchtungen<br />
werden durch die Wirklichkeit regelmäßig<br />
noch übertroffen.<br />
Es ist deshalb gar keine Frage, daß wir die Jahresfrist<br />
des Einigungsvertrages verlängern müssen. Im<br />
Bundesministerium der Justiz liegt bereits ein ausformulierter<br />
Gesetzesvorschlag vor, den ich in den nächsten<br />
Tagen in der Koalition abstimmen werde. Der<br />
Entwurf schlägt vor, die Antragsfrist des Einigungsvertrages<br />
um zwei auf drei Jahre zu verlängern. Diese<br />
Verlängerung gibt den Eltern genügend Zeit.<br />
Eine generelle Aufhebung der Frist würde nicht nur<br />
über dieses Ziel hinausschießen. Sie wäre auch mit<br />
den Grundgedanken unseres Adoptionsrechts kaum<br />
zu vereinbaren. Jede Adoption — auch die fehlerhafte,<br />
gegen elementare Elternrechte verstoßende —<br />
begründet ein Eltern-Kind-Verhältnis, das sich im<br />
Laufe der Zeit zur gelebten Familie verdichtet. Diesen<br />
Gegebenheiten trägt das geltende, „normale" Adoptionsrecht<br />
mit einer dreijährigen Ausschlußfrist Rech-
2702* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
nung. Sie beginnt mit der Begründung des Adoptionsverhältnisses<br />
und schließt jede spätere Berufung auf<br />
Willensmängel aus.<br />
Eltern, denen die SED ihr Kind weggenommen hat,<br />
können deshalb diese Zwangsadoptionen auch künftig<br />
durch das zuständige Vormundschaftsgericht<br />
überprüfen lassen. Maßstab sind die bewährten Regelungen<br />
des Bürgerlichen Gesetzbuchs.<br />
Entscheidend ist aber der Einzelfall; einen Automatismus<br />
gibt es nicht. Die Adoptionen liegen zum Teil<br />
Jahrzehnte zurück. Die adoptierten Kinder sind inzwischen<br />
erwachsen und es ist durchaus vorstellbar, daß<br />
eine Rückgängigmachung der Adoption neues Leid<br />
schaffen würde, statt altes zu heilen. Entscheidend ist<br />
allein — wie auch sonst in unserem Familienrecht —<br />
das Wohl des Kindes. Es kommt allein darauf an, was<br />
für die betroffenen Kinder am besten ist.<br />
Die Täter — das ist mir ganz wichtig — dürfen nicht<br />
ungeschoren bleiben. Sollten sie sich strafbar gemacht<br />
haben, müssen Ermittlungsverfahren eingeleitet<br />
werden. Die entsprechenden Prüfungen laufen in<br />
den Ländern. Auch bei den Zwangsadoptionen sind<br />
die politischen Machthaber in die konkreten Vorgänge<br />
verwickelt. Die Rolle, die Frau Honecker gespielt<br />
hat, muß genau aufgeklärt werden. Mir wird<br />
immer mehr klar, daß die Regierungskriminalität ein<br />
Schlüssel bei der Bewältigung des SED-Unrechts ist.<br />
Ich weiß sehr wohl, daß es bei der menschlichen<br />
Bewältigung der Zwangsadoptionen noch viele Probleme<br />
geben wird. Wir können sie den Betroffenen<br />
leider nicht abnehmen. Eltern und Kinder können<br />
aber sicher sein, daß ihnen jede Unterstützung und<br />
jede Hilfe gewährt wird, die nur möglich ist.<br />
Anlage 7<br />
Zu Protokoll gegebene Rede<br />
zu Tagesordnungspunkt 11<br />
— Antrag betr. nationale und internationale<br />
Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen<br />
des Golf-Krieges —<br />
Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Der hier vorlie<br />
gende Antrag des Abgeordneten Dr. Feige und der<br />
Gruppe Bündnis 90/GRÜNE zieht in einer Weise Konsequenzen<br />
aus dem Golfkrieg und seinen katastrophalen<br />
Folgen, die diesem Hause, wenn es sich denn<br />
als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger - dieses<br />
Landes begreifen würde, sehr wohl angemessen<br />
wäre. Leider ist zu vermuten — die Redebeiträge aus<br />
der Koalition sowohl zum Krieg selbst wie auch allgemein<br />
zu Fragen von Abrüstung und Frieden und die<br />
heutige Aktuelle Stunde zu den Polizeieinsätzen in<br />
Gorleben gegen Atomkraftgegner und -gegnerinnen<br />
zeigen es — , daß ein Umdenken von dieser Koalition<br />
nicht zu erwarten ist.<br />
Nichtsdestotrotz werden die Abgeordneten der<br />
PDS/LL diesem Antrag zustimmen, um mitzuhelfen,<br />
daß das Bewußtsein für die einzig mögliche Alternative<br />
zu Krieg, Ausbeutung der Dritte-Welt-Länder,<br />
massiver Zerstörung unser aller Lebensgrundlage und<br />
Abbau der sozialen und demokratischen Rechte der<br />
Menschen auch dieses Landes wachsen kann. Diese<br />
einzig mögliche Alternative liegt in der Anerkenntnis<br />
begründet, daß niemand das Recht hat, seine Vorstellungen<br />
und Überzeugungen mit militärischer Gewalt<br />
durchzusetzen, und daß eine Lösung aller Probleme<br />
allein durch solidarisches Handeln erreicht werden<br />
kann. Immer wieder ist auch in diesem Hause die<br />
Rede davon, wie doch die veränderten Bedingungen<br />
in der Welt — gemeint ist damit der Zusammenbruch<br />
der Politbürokratien Osteuropas — auch eine veränderte<br />
Politik dieses Landes ermöglichen. Praktische<br />
Konsequenzen werden nicht gezogen: Der Versuch,<br />
schnelle Eingreiftruppen zu installieren — und ich<br />
frage, wo die eingesetzt werden sollen — , die Weigerung,<br />
sich konstruktiv mit der Forderung sehr vieler<br />
Menschen nach Ausstieg aus der Atomenergie auseinanderzusetzen,<br />
die Plattwalzpolitik in Ostdeutschland<br />
sind deutliche Hinweise darauf, daß die Regierenden<br />
dieses Landes offenbar keine Veranlassung<br />
sehen, etwa einen neuen Ansatz für ihre Politik zu<br />
suchen.<br />
Nun zu dem Antrag: Hier wird — ich hoffe, in auch<br />
für die Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition<br />
verständlicher Form — dargelegt, wie durch<br />
Nachsorgepolitik und völkerrechtliche Vereinbarungen<br />
allein die ökologische Bedrohung der Menschheit<br />
durch Kriege nicht beseitigt werden kann, sondern<br />
daß es um die Beseitigung der Kriegsursachen gehen<br />
muß. Und ich füge hinzu, solange nicht mögliche<br />
Kriegsursachen wie Hunger, Unterdrückung, Machtgier,<br />
aber auch Gewinnsucht und Hegemoniebestrebungen<br />
für immer beseitigt sind, muß es eine Verständigung<br />
darüber geben, daß Krieg eben nicht mehr die<br />
legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln<br />
sein kann. Der Golfkrieg mit all seinen Folgen ist immer<br />
noch das aktuelle Beispiel dafür, wie Milliarden<br />
Mark dafür vernutzt wurden, im Namen der Freiheit<br />
Hunderttausende Menschen zu töten, ein Land in<br />
Schutt und Asche zu legen, Weltkulturgüter zu vernichten<br />
und ökologische Schäden anzurichten, deren<br />
Behebung wiederum Milliarden Mark verschlingen<br />
wird: der vorhersehbare sinnlose Kreislauf, der nur<br />
die Taschen derjenigen füllt, die Kriegsmaterial herstellen,<br />
das ja schließlich „verbraucht" wurde, und die<br />
Leistung derjenigen abzieht, deren Potenz und Kenntnisse<br />
dringend für die Beseitigung von Umweltschäden,<br />
die „nur" durch unsere exzessive Produktionsund<br />
Konsumtionsweise entstehen, gebraucht werden.<br />
Nötig ist hier neben der Hilfe bei der Ölbrandbekämpfung<br />
und anderen umwelttechnischen Maßnahmen<br />
die Lieferung von Hilfsgütern aller Art sowie die Unterstützung<br />
bei der Lösung der langfristigen Probleme<br />
dieser Region. Die gravierendsten Probleme, die der<br />
Krieg zum Teil verschärft — wie die Autonomieforderungen<br />
verschiedener Völkergruppen — oder erst<br />
hervorgerufen hat — wie die mangelhafte Versorgung<br />
mit Wasser und Nahrungsmitteln — können nur<br />
durch internationale Unterstützung der politischen<br />
Forderungen und durch Hilfsprogramme gelöst werden.<br />
Wir teilen die Auffassung, daß völkerrechtliche<br />
Konsequenzen aus diesem Krieg gezogen werden<br />
müssen. Vor allem unterstützen wir die Forderung<br />
nach Einsetzung eines internationalen Untersu-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2703*<br />
chungsausschusses, der sich mit den am Golf eingesetzten<br />
Kriegsführungsmethoden gegen Zivilbevölkerung<br />
und Umwelt auseinandersetzt.<br />
Nun zu den innenpolitischen Folgerungen: Hier legen<br />
wir besonderen Wert auf die Feststellung, daß es<br />
dringend erforderlich ist, gerade in der Energiepo litik<br />
mit dem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie eine<br />
grundsätzliche Wende zu vollziehen und statt auf forcierten<br />
Energieverbrauch auf eine neue Energiepolitik<br />
der Einsparung und der Umstellung auf erneuerbare<br />
Energien zu setzen. Die PDS/LL unterstützt<br />
nachdrücklich die Forderung nach Annulierung des<br />
Stromvertrages der Energieversorgungsunternehmen<br />
Westdeutschlands, der nicht einfach nur die Rechte<br />
der Kommunen in der ehemaligen DDR beseitigt,<br />
sondern auch verhindert, daß dort mit Stadtwerken<br />
ein strukturell effizientes Energiesystem aufgebaut<br />
wird.<br />
Zu den innenpolitisch notwendigen Folgerungen<br />
gehören für die PDS/LL ebenso Konsequenzen für den<br />
Verkehrsbereich: Neben der vorrangigen Vermeidung<br />
von Verkehr kann nur der flächendeckend betriebene<br />
Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und<br />
der generelle Vorrang der Schiene vor der Straße im<br />
Güterverkehr gravierende Verringerungen im Treib<br />
stoffverbrauch und bei den Emissionen erreichen.<br />
Tempo 100 gehört für uns genauso zu den längst überfälligen<br />
Maßnahme wie ein Mineralölabgabengesetz.<br />
Als Mitglied der Völkergemeinschaft ist die BRD<br />
gefordert, sich für eine umfassende Schuldenstreichung<br />
der Länder Afrikas, Asiens, Osteuropas und<br />
Süd- und Lateinamerikas einzusetzen. Dieser Schuldenerlaß<br />
ist die Voraussetzung dafür, daß die betreffenden<br />
Länder überhaupt in der Lage sind, Verhältnisse<br />
zu schaffen, die für alle Menschen sozial und<br />
ökologisch vertretbar sind und z. B. die soziale Klimakatastrophe,<br />
die dort durch Armut droht, verhindern<br />
können.<br />
Ich hoffe, daß die inhaltliche Auseinandersetzung<br />
mit diesem umfangreichen Antrag nicht nur dazu führen<br />
wird, daß umweltpolitische Positionen revidiert<br />
werden, sondern daß auch solche Vorschläge wie die<br />
Befreiung von der Militärsteuer, deren Ablehnung<br />
noch einmal deutlich gemacht hat, wie bestimmte Politiker<br />
und Politikerinnen nicht zum Umdenken bereit<br />
sind, erneut auf die Tagesordnung kommen.<br />
Anlage 8<br />
Zu Protokoll gegebene Rede<br />
zu Tagesordnungspunkt 12 — Antrag betr. Erlassung<br />
der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR —<br />
Klaus Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Die Streichung<br />
von Altschulden Nicaraguas gegenüber der ehemali<br />
gen DDR halten wir aus entwicklungspolitischer Sicht<br />
für berechtigt, ja notwendig. Allerdings darf die Pro<br />
-<br />
blematik von DDR-Schuldnern nicht auf ein Land reduziert<br />
werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung<br />
auf, ein Gesamtkonzept vorzulegen.<br />
Völlig unakzeptabel wäre allerdings eine Lösung,<br />
die zu Lasten des BMZ-Etats ginge.<br />
Einlassungen von Regierungsvertretern, der Erlaß<br />
von Schulden könnte mit erheblichen zusätzlichen<br />
Belastungen des Bundeshaushaltes verbunden sein,<br />
da die Betriebe und Banken ihre Forderungen an Entwicklungsländer<br />
durch eigene Mittelaufnahme refinanziert<br />
haben und diese Mittelaufnahme im Falle<br />
eines Forderungsverzichts abzulösen wäre, gehen an<br />
der Wirklichkeit vorbei. Glaubt jemand im BMF allen<br />
Ernstes, daß wir von den betroffenen Entwicklungsländern<br />
größere Beträge zurückerhalten? Beispiel<br />
Syrien: Die Gesamtschulden belaufen sich auf<br />
650,4 Millionen. Es scheint mir schon ein gewisser<br />
Widerspruch darin zu liegen, wenn man einerseits<br />
Rückzahlungen erwartet, andererseits aber seitens<br />
der Bundesregierung ein neuer Zweihundert-Millionen-Scheck<br />
überreicht wird.<br />
Der Antrag der PDS ist allerdings nicht ohne Ironie.<br />
Es ist für mich überhaupt nicht hinnehmbar, wenn<br />
hier gerade diese Gruppierung, die mit die Verantwortung<br />
für vierzig Jahre Unterdrückung in der ehemaligen<br />
DDR und Unterstützung eines Unterdrükkungssystems<br />
in Nicaragua trägt, nun den Eindruck<br />
demokratischer Glaubwürdigkeit erwecken will.<br />
Erstens. Der demokratische Neuanfang dieses leidgeprüften<br />
Landes darf nicht durch die sandinistische<br />
Erblast zerstört werden. Die Sandinisten hatten zwar<br />
auch von Somoza schon erhebliche Schulden übernommen.<br />
Mit der Welle der Hilfsbereitschaft ab 1979<br />
hätten sie ihr Land aber auf den Weg eines zweiten<br />
Costa Rica bringen können. Statt dessen provozierten<br />
sie Bürgerkrieg, Massenflucht, Zerstörung von Infrastruktur<br />
und Ernährungsbasis. Frau Chamorro erbte<br />
daher einen noch größeren Schuldenberg und eine<br />
völlig zerrüttete Wirtschaft sowie galoppierende Inflation<br />
mit wahrhaft astronomischen Werten.<br />
Derart gefesselt kann der Sprung zur Reform nicht<br />
gelingen.<br />
Zweitens. Die Sandinisten haben tatsächlich alles<br />
vor der Machtübergabe abgeräumt, was beweglich<br />
war. Sie haben sich bis Ap ril 1990 ihre schamlose<br />
Selbstbedienung mit ihrer Mehrheit legalisiert. Die<br />
Parallelen zur DDR, als sie in ihren letzten Zügen lag,<br />
sind unverkennbar.<br />
Drittens. Nicaragua erfüllt zur Zeit alle Voraussetzungen<br />
eines Least Developed Country. Angeblich<br />
verhindert die relativ hohe Alphabetisierungsrate<br />
eine derartige Einstufung. So bedeutend war die Alphabetisierungskampagne<br />
der Sandinisten aber nicht<br />
und vor allem auch nicht nachhaltig. Wir sollten nicht<br />
die Propaganda der Sandinisten glauben und das<br />
neue demokratische Nicaragua dafür büßen lassen.<br />
Die Vereinten Nationen gewähren über ihre Unterorganisationen<br />
dem Land die gleichen Konditionen wie<br />
einem LDC. Es sind auch die VN, die den LDC-Status<br />
zuteilen. Es gibt keinen Grund für uns, bei Nicaragua<br />
vom üblichen Verfahren abzuweichen.
2704* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Anlage 9<br />
Zu Protokoll gegebene Reden<br />
zu Tagesordnungspunkt 13 —<br />
Antrag betr. Aufnahme des grünen Pfeils<br />
in die Straßenverkehrsordnung —<br />
Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Die Diskussion<br />
um den grünen Pfeil, um das Für und Wider dieser<br />
Regelung für das Rechtsabbiegen bei „Rot" an ampelgeregelten<br />
Kreuzungen in der ehemaligen DDR bewegt<br />
inzwischen seit Monaten Bürgerinnen und Bürger<br />
vor allem in den neuen Bundesländern. Sie<br />
schließt den Streit verantwortlicher Politiker, Stellungnahmen<br />
von Verkehrsverbänden und Verkehrsexperten<br />
ein. Es wurden regelrechte Kopfstände vollführt,<br />
der Pfeil demontiert und wieder montiert.<br />
Die letztlich getroffene Kompromißlösung, die<br />
Rechtsabbiegeregelung in den neuen Bundesländern<br />
bis zum 31. Dezember 1991 beizubehalten, sollte sicher<br />
auch den wachsenden Unmut von Bürgern der<br />
ehemaligen DDR dämpfen. Die ja damit eingeschlossene<br />
Liquidierung dieser nützlichen Verkehrsregelung<br />
zum Jahresende sehen viele Menschen in den<br />
neuen Bundesländern als Bestandteil einer Politik,<br />
nach der alles, was nicht in eingefahrene Gleise der<br />
Alt-BRD paßt, auch nichts in der Gesetzgebung zu<br />
suchen hat.<br />
Mit unserem Antrag zur Änderung der Straßenverkehrsordnung<br />
hinsichtlich der Übernahme des grünen<br />
Pfeils soll Bewährtes als eine vernünftige Regelung<br />
in ganz Deutschland gesetzt werden. Wenn ich<br />
entsprechende Meldungen richtig deute, steht ja auch<br />
der Bundesverkehrsminister Günther Krause mit seinen<br />
Erfahrungen als Verkehrsteilnehmer in der ehemaligen<br />
DDR dieser Regelung aufgeschlossen gegenüber.<br />
Wortmeldungen des Berliner Senators Elmar<br />
Pieroth verdeutlichen, daß er auch ohne diese Erfahrungen<br />
für den Pfeil im deutschen Straßenverkehr<br />
ist.<br />
Mit unserem Antrag plädieren wir für Vernunft, für<br />
die Verbesserung des Verkehrsflusses für Fußgänger,<br />
Radfahrer und Kraftfahrer an Kreuzungen. Die Entscheidung,<br />
welche größeren ampelgeregelten Kreuzungen<br />
mit dem Abbiegepfeil für Rechtsabbiegen bei<br />
„Rot" ausgerüstet werden, ist dabei eine rein kommunale<br />
Sache.<br />
Verstopfte Straßen, starke Abgasemissionen, Verkehrschaos<br />
nicht nur zu Spitzenzeiten sind bestimmend<br />
für das Bild in den Städten. Nun ist der „grüne<br />
Pfeil" nicht die Lösung — diese bedarf einer völlig<br />
neuen Verkehrspolitik — , aber ein Mittel für eine gewisse<br />
Entschärfung an stark frequentierten Kreuzungen.<br />
Unübersehbar ist, die in den neuen Bundesländern<br />
anstehenden Verkehrsprobleme wurden und werden<br />
durch die Demontage der grünen Pfeile an den Ampeln<br />
der Kreuzungen für das Rechtsabbiegen bei<br />
„Rot" zusätzlich verschärft. Der grüne Pfeil war wesentliches<br />
Element des fließenden Verkehrs in den<br />
Kreuzungsbereichen. Seine ersatzlose Demontage im<br />
Rahmen der Straßenverkehrsordnung der alten Bundesländer<br />
führt zum Anwachsen und Entstehen von<br />
neuen Staus und belastet dadurch die Luft in den<br />
Städten zusätzlich. Was das Argument zur Verringerung<br />
der Verkehrssicherheit für Fußgänger durch die<br />
Möglichkeit des Rechtsabbiegens bei „Rot" bet rifft, so<br />
war in der früheren DDR nach Einführung dieses<br />
Pfeils keine Unfallzunahme — aus ebendiesen Gründen<br />
— zu verzeichnen.<br />
Alle sachlichen Gründe sprechen für die Aufnahme<br />
des „grünen Pfeils" in die Straßenverkehrsordnung<br />
der BRD. Dagegen spricht nur die Nichtakzeptanz der<br />
Übernahme früheren DDR-Rechts in die Gesetze der<br />
BRD.<br />
Eduard Oswald (CDU/CSU): Unser gemeinsames<br />
Ziel muß die Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer<br />
auf und an unseren Straßen sein. Ohne jetzt Pro und<br />
Kontra zu beleuchten, muß man objektiv feststellen:<br />
Ein sachgerechter Abbau der Grünpfeile und eine<br />
Umstellung auf die nach der Straßenverkehrsordnung<br />
zulässigen Möglichkeiten — wie grüner Lichtpfeil<br />
oder gesonderte Abbiegespur mit negativen Vorfahrtszeichen<br />
— wird bis zum Ablauf der vorgesehenen<br />
Übergangsfrist nicht möglich sein. Es ist deshalb<br />
eine Verlängerung dieser Frist durch eine neue Verordnung<br />
zur Änderung der Straßenverkehrsordnung<br />
anzustreben.<br />
Es ist keine Frage, daß es Kreuzungsbereiche gibt,<br />
in denen es im Interesse der Leistungsfähigkeit der<br />
Kreuzung und damit der Verbesserung des Verkehrsflusses<br />
dem Kraftfahrzeugverkehr ermöglicht werden<br />
muß, nach rechts abbiegen zu dürfen, wenn dem Geradeaus-<br />
oder dem Linksabbiegeverkehr die Weiterfahrt<br />
durch Rotlicht einer Lichtzeichenanlage untersagt<br />
ist. Dies gilt ganz sicher gleichermaßen für die<br />
neuen wie für die alten Bundesländer.<br />
Ich will jetzt nicht auf die Entstehungsgeschichte<br />
der Grünen-Pfeil-Regelung eingehen. Das entscheidende<br />
Argument für die Beibehaltung und Einführung<br />
einer solchen Regelung ist der Verkehrsfluß. Die<br />
Frage wird sein, ob die für den Verkehrsfluß positive<br />
Wirkung des Grün-Pfeils die mit dem wachsenden<br />
Verkehr auftretenden Verkehrsprobleme lösen kann.<br />
Ich glaube, gerade in den Kreuzungsbereichen, besonders<br />
in den größeren Städten, wird man den starken<br />
Verkehrszuwächsen nur mit der Nutzung der<br />
Möglichkeiten der modernen Lichtsignaltechnik und<br />
einer entsprechenden Ampelschaltung gerecht werden<br />
können.<br />
Auch wenn ich das Thema jetzt problematisiere, bin<br />
ich der Meinung, daß eine endgültige Entscheidung<br />
zur Aufnahme oder Nichtaufnahme des Grünen Pfeils<br />
in die Straßenverkehrsordnung erst dann getroffen<br />
werden kann, wenn uns eindeutige Analysen auf der<br />
Basis der Verkehrskonflikttechnik vorliegen. Ich kann<br />
nur begrüßen, daß der Bundesminister für Verkehr die<br />
Bundesanstalt für das Straßenwesen — und hier die<br />
Außenstelle Berlin — beauftragt hat, gemeinsam mit<br />
der Hochschule für Verkehr in Dresden ein Gutachten<br />
zu erstellen.<br />
Wir werden dann im Herbst im Verkehrsausschuß<br />
auf der Grundlage dieser Ergebnisse Vor- und Nachteile<br />
der Grünen-Pfeil-Regelung abzuwägen haben.<br />
Dabei gelten drei entscheidende Punkte:<br />
1. Die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer,<br />
2. die Leistungsfähigkeit lichtsignalgesteuerter Knotenpunkte,
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2705*<br />
3. die Auswirkung auf den Verkehrsablauf, auf Emission<br />
und weitere Probleme auf der Basis der Verkehrskonflikttechnik.<br />
Wir werden dann auch sehr sorgfältig die Auswirkungen<br />
auf alle Verkehrsteilnehmer zu überprüfen<br />
haben, auf den Fußgänger ebenso wie auf den Radfahrer.<br />
Denn der Schutz des schwächeren Verkehrsteilnehmers,<br />
unserer Kinder, der älteren Menschen,<br />
muß sehr sensibel diskutiert werden. Es ist keine<br />
Frage, daß durch den zunehmenden Verkehr sich die<br />
Probleme für den Fußgänger verstärken.<br />
Ich will jetzt nicht die Frage prüfen, ob der Abbau<br />
der Grünpfeile in erster Linie ursächlich für Verkehrsstauungen<br />
in einzelnen Städten ist. Es muß geprüft<br />
werden, ob die bisherigen Ampelschaltungen den<br />
starken Verkehrszuwächsen nicht mehr gewachsen<br />
sind. Abhilfe kann insoweit nur die verkehrsgerechte<br />
Umstellung der Ampel schaffen.<br />
Bei diesen nun anstehenden Untersuchungen bitte<br />
ich, auch die Ergebnisse aus den USA mit einzubeziehen,<br />
wo eine Regelung das Abbiegen, besser: Einbiegen,<br />
bei Rot gestattet.<br />
Ferner ist sicher zu überprüfen, inwieweit die<br />
Grüne-Pfeil-Regelung mit dem „Wiener-Übereinkommen<br />
über die Verkehrszeichen" vereinbar ist. Wir<br />
müssen die Frage einer einheitlichen europäischen<br />
Regelung ebenfalls im Auge behalten. Wir sind europäisches<br />
Durchgangsland, und es muß überprüft werden,<br />
was es bedeutet, wenn Verkehr aus dem Ausland,<br />
wo die Grüne-Pfeil-Regelung nicht praktiziert<br />
wird, hinzukommt.<br />
Wenn ich jetzt bei der Beurteilung des Antrags kritische<br />
Fragen formuliert habe, so ist dies keine abschließende<br />
Bewertung. Wichtig scheint mir auch zu<br />
sein, daß die Mittel des kommunalen Straßenbaus, die<br />
ja erheblich verstärkt wurden, auch dafür verwendet<br />
werden, einen zügigen Umbau der Straßenkreuzungen<br />
vorzunehmen, wo die Verkehrssicherheit dies erfordert,<br />
um Verkehrsfluß und Sicherheit gleichermaßen<br />
zu verbessern.<br />
Nehmen wir uns nach Vorliegen der Gutachten für<br />
eine objektive Beurteilung auch aller internationalen<br />
und rechtlichen Fragen dann die Zeit, dieses Thema<br />
im Verkehrsausschuß eingehend zu erörtern!<br />
Dr. Dietmar Matterne (SPD): Die DDR gibt es nicht<br />
mehr, und mit ihr sind viele Symbole und Zeichen<br />
vergangen. Hammer und Sichel sind unter Mitwirkung<br />
und Beifall des Volkes entfernt worden. Anders<br />
sieht es mit dem unscheinbaren kleinen grünen - Pfeil<br />
aus, einem verkehrsorganisatorischen Hinweis, bewährt<br />
und voll akzeptiert im Alltag der Autofahrer des<br />
Ostens. Sein Verschwinden wird sehr bedauert.<br />
Die Entscheidung für und wider diese Regelung hat<br />
sich zum Politikum mit Symbolcharakter entwickelt.<br />
Wir wollten im Osten die Einigung, das Grundgesetz,<br />
eine demokratische Staatsordnung. Wir wollten dies<br />
allerdings nicht durch einseitiges konsequentes Überstülpen<br />
der westdeutschen Ordnung; das wenige<br />
Brauchbare sollte sorgfältig geprüft werden, ob es<br />
nicht auch für das geeinigte Deutschland geeignet<br />
ist!<br />
Die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung sollen<br />
darauf hinzielen, die Sicherheit im Straßenverkehr<br />
zu gewährleisten. 11 000 Verkehrstote im Jahr mahnen<br />
dies dringend an. In Ostdeutschland ist die Zahl<br />
der Verkehrstoten im vergangenen Jahr um 80 % (!)<br />
gestiegen. Wesentlich dazu beigetragen haben Aggressionen<br />
im dichten Straßenverkehr. Dem muß<br />
durch bessere Regelungen entgegengetreten werden.<br />
Neben dem Problem der Verkehrssicherheit stellt sich<br />
zudem die Frage, inwieweit die Umweltbeeinträchtigung<br />
— Lärm und Kraftstoffverbrauch — gemindert<br />
werden können.<br />
Die übliche Reihenfolge bei der Einführung neuer<br />
Regelungen ist: 1. die gutachtliche Bewertung der geplanten<br />
Maßnahme; 2. die experimentelle Phase, in<br />
der Regel durch einen Großfeldversuch.<br />
Mit dem grünen Pfeil ist es nun umgekehrt. Der<br />
Großfeldversuch hat — als geltendes Straßenverkehrsrecht<br />
der DDR — jahrelang stattgefunden. Das<br />
von Bundesverkehrsminister Krause in Auftrag gegebene<br />
Gutachten wird mit Optimismus erwartet.<br />
Entsprechend der Verkehrsbelastung sind für Kreuzungen<br />
unterschiedliche Maßnahmen erforderlich; an<br />
einfachen, übersichtlichen Straßenschnittpunkten genügen<br />
Verkehrszeichen, an komplizierten sind aufwendige<br />
Ampelanlagen u. a. erforderlich. Möglich ist,<br />
daß der grüne Pfeil im mittleren Bereich eine Lücke<br />
schließen und mit zu einem reibungslosen Verkehrsablauf<br />
beitragen kann. Sehr gut vorstellen könnte ich<br />
mir dies z. B. für den Bereich des <strong>Bundestag</strong>s in<br />
Bonn.<br />
Die SPD-Fraktion wird sich abschließend erst nach<br />
Vorlage des genannten Gutachtens äußern und<br />
schlägt Überweisung vor.<br />
Dr. Klaus Röhl (FDP): Es entbehrt nicht einer gewis<br />
sen Delikatesse, nicht einer besonderen Ironie, daß<br />
gerade die Gruppe PDS/Linke Liste beantragt, daß<br />
man bei einem roten Sperrsignal, komplettiert durch<br />
einen grünen Pfeil, nach rechts abbiegen darf. —<br />
Dies nur zur Aufmunterung in dieser späten Stunde.<br />
Der grüne Pfeil an der Verkehrsampel ist eines der<br />
wenigen, von der verflossenen DDR auf uns überkommenen<br />
Dinge, über deren weitere Existenz sich nachzudenken<br />
lohnt. Seine Funktion, seine Wirkungsweise<br />
vor Ort ist hinreichend bekannt. Trotzdem<br />
möchte ich in diesem Zusammenhang auf zwei wichtige<br />
Fakten hinweisen, die in der Regel nicht auffallen,<br />
daher nicht beachtet werden, aber in der Praxis<br />
wichtig sind.<br />
1. In gleicher Fahrtrichtung geradeausfahrende<br />
Radfahrer werden durch die Rechtsabbieger nicht gefährdet,<br />
denn sie müssen ja bei Ampel „rot" stehenbleiben.<br />
2. In gleicher Richtung geradeauslaufende Fußgänger<br />
werden durch den Rechtsabbiegerverkehr ebenfalls<br />
nicht gefährdet, denn auch für sie gilt das Signal<br />
Ampel „rot" , also müssen auch sie stehenbleiben.<br />
Allen anderen Verkehrsteilnehmern in der grünen<br />
freigegebenen Richtung ist der Vorbeimarsch oder die<br />
Vorfahrt zu gewähren.<br />
Der große Nutzen dieses kleinen Ampelaccessoires<br />
für den Verkehr liegt in der Tatsache, daß es zügiges
2706* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Kreuzungsräumen ermöglicht, damit den Rückstau<br />
erheblich vermindert, und daß es ausgesprochen<br />
preiswert ist und aufwendige Ampelausstattung erspart.<br />
Natürlich sollte es, wie bei allen preiswerten<br />
Accessoires, nur an solchen Stellen zur Anwendung<br />
gelangen, wo seine Regelwirkung gut ist, wo es nicht<br />
überfordert wird, kurz, wo es nützlich ist. Solche Stellen<br />
sind aber in unseren Straßen in überreichlicher<br />
Zahl vorhanden. Seine Anwendung hat sich in den<br />
jetzigen, nun neuen Bundesländern seit vielen Jahren<br />
bewährt.<br />
Mehr noch in einem unbeabsichtigten, aber beeindruckenden<br />
mehrwöchigen Feldversuch hat der ehemalige<br />
Berliner Verkehrssenator Wagner bewiesen,<br />
daß mit dem Entfernen dieses kleinen Helfers sich<br />
hervorragend kilometerlange Staus mit dem zugehörigen<br />
Verkehrschaos und Belastungen für die Menschen<br />
hervorrufen lassen. Das hatte die Wirkung, daß<br />
der konkurrierende Bausenator und der nachfolgende<br />
Verkehrssenator die kleinen Pfeile wieder anmontieren<br />
ließen, wofür ihnen die Berliner noch heute, trotz<br />
der doppelten Kosten, dankbar sind. Der Landtag von<br />
Sachsen hat übrigens beschlossen, die grünen Pfeile<br />
erhalten zu wollen.<br />
Noch ein Hinweis: In den USA kommt man sogar<br />
bei gleicher Verfahrensweise an den Ampeln ohne<br />
grüne Pfeile aus, aber vielleicht ist dort grün nicht<br />
besonders populär.<br />
Wie ist nun heute die Sachlage bei uns?<br />
Der Herr Verkehrsminister hat sich, in diesem Falle<br />
in dankenswerter Weise, schon öffentlich positiv für<br />
dieses Verkehrszeichen ausgesprochen.<br />
In den neuen Bundesländern bleibt dieser Pfeil vorerst,<br />
d. h. bis Ende 1991 erhalten. Eine Verlängerung<br />
dieser Frist ist vorgesehen. Seine Einführung in den<br />
alten Bundesländern wird erwogen, insbesondere da<br />
sich herausgestellt hat, daß entgegen früheren Aussagen<br />
die Wiener Konvention dieses Verkehrszeichen<br />
zuläßt, es also nicht ausdrücklich verbietet.<br />
Zur Zeit wird durch das Bundesamt für Straßenwesen<br />
zusammen mit der Hochschule für Verkehr in<br />
Dresden ein Gutachten zur Anwendbarkeit des grünen<br />
Pfeils erarbeitet. Dieses Gutachten, das für Juli<br />
1991 avisiert ist, sollte abgewartet werden. Wir empfehlen<br />
daher, den vorliegenden Antrag zur weiteren<br />
Bearbeitung an den Verkehrsausschuß und natürlich<br />
auch an den Haushaltsausschuß zu überweisen.<br />
Noch ein Wort zum Abschluß. Wir haben hier mit<br />
diesem kleinen Verkehrsregelzeichen ein besonders<br />
gutes Beispiel, wie man eine Regelungsangelegenheit<br />
vertrauensvoll in die Hände der verantwortungsbe-<br />
-<br />
wußten Bürger legen kann, und das mit bewiesenem<br />
Erfolg.<br />
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundes<br />
minister für Verkehr: Die Grün-Pfeil-Regelung wurde<br />
1977 in die Straßenverkehrs-Ordnung der damaligen<br />
DDR aufgenommen; zuvor war das Rechtsabbiegen<br />
bei Rot generell erlaubt. In der Begründung zur Grün-<br />
Pfeil-Regelung heißt es: ,,... in Übereinstimmung mit<br />
der Wiener Konvention wurde das Rechtsabbiegen<br />
bei Rot verboten, in Ausnahmefällen soll diese an sich<br />
bewährte Form des nichtkonfliktfreien Rechtsabbiegens<br />
jedoch noch zugelassen werden, ..."<br />
In der Praxis wurde dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis<br />
jedoch umgekehrt, der grüne Pfeil wurde an 70<br />
bis 80 % der Kreuzungen in der bisherigen DDR installiert.<br />
Die Bundesregierung hat auf Probleme beim Abbau<br />
des grünen Pfeils rasch reagiert.<br />
Der Abbau des grünen Pfeils brachte spürbare Behinderungen<br />
im Verkehrsfluß in den neuen Ländern.<br />
Daher hat das Bundesverkehrsministerium bereits<br />
Ende 1990 mit einer Übergangsregelung (3. Ausnahmeverordnung<br />
zur Straßenverkehrsordnung vom<br />
11. Dezember 1990) die weitere Verwendung des grünen<br />
Pfeils in den neuen Ländern bis zum 31. Dezember<br />
1991 zugelassen. Der Bundesregierung ist bekannt,<br />
daß ein sachgerechter Abbau der Grünpfeile<br />
und eine Umstellung auf die nach der Straßenverkehrs-Ordnung<br />
zulässigen Möglichkeiten — wie grüner<br />
Lichtpfeil oder gesonderte Abbiegespur mit negativem<br />
Vorfahrtszeichen — bis zum Ablauf dieser<br />
Übergangsfrist nicht möglich sein wird. Wir streben<br />
daher eine Verlängerung der Übergangsfrist durch<br />
eine neue Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung<br />
an. Insofern dürften die in dem Antrag<br />
zum Ausdruck gebrachten Bedenken gegen einen sofortigen<br />
Abbau des grünen Pfeils ausgeräumt sein.<br />
Zur weiteren Zukunft der Grün-Pfeil-Regelung:<br />
Um in der Zukunft eine endgültige Entscheidung<br />
zur Aufnahme/Nichtaufnahme des grünen Pfeils in<br />
die Straßenverkehrs-Ordnung treffen zu können, hat<br />
der Bundesminister für Verkehr die Bundesanstalt für<br />
Straßenwesen (Außenstelle Berlin) beauftragt, gemeinsam<br />
mit der Hochschule für Verkehr in Dresden<br />
eine Analyse auf der Basis der Verkehrskonflikttechnik<br />
zu erstellen. Die Vorlage des Gutachtens wird für<br />
Juli dieses Jahres erwartet. Dann wird zu prüfen sein,<br />
ob und gegebenenfalls wie die Regelung über den<br />
grünen Pfeil umgesetzt werden kann. Hierbei wird<br />
auch eine Rolle spielen, inwieweit eine solche Regelung<br />
mit dem Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen<br />
vereinbar ist.<br />
Die in Aussicht stehende weitere Verlängerung der<br />
Übergangsfrist für die Grün-Pfeil-Regelung wird es<br />
nicht zu akuten Problemen kommen lassen und bietet<br />
genügend Zeit auch für bauliche Veränderungen im<br />
Kreuzungsbereich; über die Zukunft der Grün-Pfeil-<br />
Regelung und deren eventuelle Übernahme in die<br />
Straßenverkehrs-Ordnung kann somit in Ruhe entschieden<br />
werden.<br />
Anlage 10<br />
Zu Protokoll gegebene Reden<br />
zu Tagesordnungspunkt 14<br />
— Erste Beratung zum Bundesbesoldungsund<br />
-versorgungsanpassungsgesetz 1991 —<br />
Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Der Ihnen<br />
vorliegende Entwurf des Besoldungs- und Versor<br />
gungsanpassungsgesetzes 1991 setzt die erfolgreiche
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2707*<br />
Dienstrechtspolitik der Koalitionsfraktionen fort.<br />
Diese Politik bleibt auf absehbare Zeit von zwei Zielen<br />
bestimmt, die wir gleichzeitig anstreben:<br />
Erstens. In den neuen Bundesländern ist eine<br />
rechtsstaatliche, effiziente Verwaltung aufzubauen,<br />
und zwar so schnell wie möglich.<br />
Zweitens. In den alten Bundesländern müssen wir<br />
eine bewährte, leistungsfähige Verwaltung auch in<br />
Konkurrenz zu Wirtschaft und Industrie neuen Anforderungen<br />
anpassen.<br />
Unstreitig ist inzwischen selbst für notorische Kritiker<br />
des öffentlichen Dienstes, daß eine hochentwikkelte,<br />
arbeitsteilige Volkswirtschaft ohne die Infrastrukturleistungen<br />
einer öffentlichen Verwaltung<br />
nicht erfolgreich arbeiten kann. Unstreitig ist auch,<br />
daß Wirtschaft und Indust rie in den alten Bundesländern<br />
erfolgreich arbeiten — auch dank des öffentlichen<br />
Dienstes. Aber: Dieser öffentliche Dienst muß im<br />
Wettbewerb um qualifizierten Nachwuchs mit der im<br />
Westen auf Hochtouren laufenden Wirtschaft Schritt<br />
halten. In vielen Bereichen, besonders in technischen<br />
Verwaltungen, aber auch in der Steuerverwaltung<br />
mehren sich die Anzeichen, daß Bewerber nur noch<br />
sehr schwer zu gewinnen sind oder daß qualifizierte<br />
Beamte den öffentlichen Dienst verlassen. In Ballungsgebieten<br />
gilt dies ganz besonders. Es ist deshalb<br />
richtig, mit dem jetzt zur Beratung anstehenden Besoldungs-<br />
und Versorgungsanpassungsgesetz 1991 den<br />
6 %-Tarifabschluß für die Arbeitnehmer im öffentlichen<br />
Dienst voll auf die aktiven und die ehemaligen<br />
Beamten zu übertragen. Daß diese Besoldungs- und<br />
Versorgungserhöhung statt zum 1. Januar 1991 zum<br />
1. März 1991 in Kraft treten wird, ist kein Sonderopfer,<br />
sondern ein Solidarbeitrag der Beamten zu den Kosten<br />
der Angleichung der Lebensverhältnisse im vereinten<br />
Deutschland, die auch Arbeitnehmer im öffentlichen<br />
Dienst aufgrund der gestiegenen Abgaben zur<br />
Arbeitslosenversicherung tragen müssen.<br />
Auch für die Versorgungsempfänger, also die Ruhestandsbeamten<br />
gilt als Zeitpunkt des Inkrafttretens<br />
der Versorgungsanpassung der 1. März 1991. Das ist,<br />
wie ich zugebe, im Vergleich zu den Rentnern nicht<br />
unproblematisch, entspricht aber dem gesetzlichen<br />
Gebot, Besoldung und Versorgung gleichzubehandeln.<br />
Meine Fraktion hat im Vorfeld der Erarbeitung<br />
des Gesetzentwurfs angeregt, für einen Ausgleich des<br />
späteren Inkrafttretens zu sorgen. Dem wurde entsprochen.<br />
Für die Versorgungsempfänger wird ab<br />
1993 der Versorgungsanpassungszuschlag wieder<br />
eingeführt; dies stellt sicher, daß ehemalige Beamte - —<br />
wie Rentner — an allen Einkommensverbesserungen<br />
der aktiven Beamten partizipieren. Sozusagen im Vorgriff<br />
werden die Versorgungsempfänger bereits 1991<br />
eine um 0,4 % höhere Versorgung erhalten. Wir lassen<br />
die Ruhestandsbeamten nicht im Stich!<br />
Bei der Beratung des Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes<br />
werden wir prüfen, wo<br />
weitere gezielte Verbesserungen notwendig und<br />
möglich sind, damit der öffentliche Dienst in die allgemeine<br />
Wirtschaftsentwicklung einbezogen bleibt<br />
und nicht personell ausblutet. Ich denke z. B. daran,<br />
daß auch die Feuerwehrbeamten in die Regelung für<br />
die Schicht- und Wechselschichtzulage einbezogen<br />
werden. Für Beamte in technischen Verwaltungen<br />
und in der Steuerverwaltung müssen nach meiner<br />
Auffassung die Stellenplanobergrenzen verbessert<br />
werden, damit diese Verwaltungsbereiche den Abwerbungsversuchen<br />
der Wirtschaft standhalten können.<br />
Wir werden auch sorgfältig untersuchen, inwieweit<br />
die für Angestellte und Arbeiter im öffentlichen<br />
Dienst neben der linearen Gehaltssteigerung von 6 %<br />
vereinbarten Tarifregelungen auf den Besoldungsbereich<br />
übertragen wurden und inwieweit noch Ergänzungen<br />
erforderlich sind.<br />
Auf Grund der ab 1. Juli 1991 in den neuen Bundesländern<br />
geltenden 2. Besoldungsüberleitungsverordnung<br />
erhalten die Beamten dort 60 % der Besoldung<br />
in den alten Bundesländern; auch diese Beamten haben<br />
also Anteil an den Besoldungsverbesserungen.<br />
Das ist ein weiterer Schritt, die Einkommensverhältnisse<br />
im öffentlichen Dienst in den alten und den<br />
neuen Bundesländern einander anzugleichen. In die<br />
sem Zusammenhang ein Wort zum Aufbau von Verwaltung<br />
und Justiz in den neuen Bundesländern:<br />
Wenn es des Beweises bedurft hätte: Die ehemalige<br />
DDR hat mit ihrem auf Unterdrückung und Mängelverwaltung<br />
ausgerichteten Staatsapparat auf Kosten<br />
unserer Landsleute den fatalen Beweis erbracht, wie<br />
unabdingbar eine auf Recht und Gesetz verpflichtete<br />
demokratische Verwaltung für das Wohl der Bürger<br />
ist. Diese Verwaltung gilt es mit aller Entschiedenheit<br />
und schnell aufzubauen. Dafür sind — ich betone: für<br />
eine Übergangszeit — westdeutsche Fachleute erforderlich.<br />
Ich brauche das nicht näher zu begründen.<br />
Festhalten aber will ich: Die Maßnahmen der Bundesregierung<br />
und das vom Deutschen <strong>Bundestag</strong> auf Initiative<br />
- der Koalitionsfraktionen beschlossene 10<br />
Punkte-Programm greifen. Die Bereitschaft zum<br />
Wechsel in die neuen Bundesländer ist hoch; für<br />
Zwangsversetzungen bestand und besteht nach unseren<br />
derzeitigen Erfahrungen überhaupt kein Anlaß.<br />
Mehr als 10 000 Mitarbeiter aus dem Westen helfen<br />
bereits in den neuen Bundesländern beim Aufbau von<br />
Verwaltung und Justiz. Dennoch lasse ich offen, ob<br />
dies in Zukunft ausreicht. Wenn nötig, werden wir<br />
unsere Anreize weiter verbessern und verfeinern.<br />
Nach der Sommerpause werden wir eine konkrete<br />
Zwischenbilanz ziehen.<br />
Die insgesamt bis jetzt positive Entwicklung darf<br />
uns nicht den Blick auf — nach meiner Auffassung —<br />
unverzeihliches Fehlverhalten einzelner verstellen. In<br />
vielen Fällen, die mir und meinen Kollegen geschildert<br />
werden, geht die Personalvermittlung nur schleppend<br />
vonstatten, weil Behördenleiter eine Personalabgabe<br />
absichtsvoll verzögern oder gar verhindern.<br />
Dafür darf es — von begründeten Ausnahmen abgesehen<br />
— kein Verständnis geben. Jetzt ist nicht die<br />
Zeit für kleinkarierten Behördenegoismus. Helfen ist<br />
angesagt! Wir danken ausdrücklich den Beamten und<br />
Angestellten, die in den neuen Bundesländern tatkräftig<br />
helfen, im vereinten Deutschland einheitliche<br />
Lebensverhältnisse herzustellen.<br />
Noch eine Anmerkung zu der Blockade-Haltung<br />
mancher Behörden: Bevor jemand über nicht zu erledigende<br />
Arbeiten klagt, muß er prüfen, ob diese überhaupt<br />
erforderlich sind. Arbeitsverdichtung, die ich
2708* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
nicht grundsätzlich bestreiten will, kann und muß als<br />
ein Mittel zur Rationalisierung beg riffen werden, als<br />
Anlaß für innerbehördliche Vorschriftenentsorgung.<br />
Zeit- und Aufgabendruck schärfen den Blick für das<br />
Wesentliche.<br />
Die Verwaltungen in den neuen Bundesländern,<br />
besonders die Gemeinden, fordere ich auf, die angebotenen<br />
Personal- und Finanzhilfen zum Verwaltungsaufbau<br />
unverzüglich anzunehmen. Die Mitarbeiter<br />
westdeutscher Verwaltungen kommen nicht,<br />
wie es die PDS zum Schutz ihrer Seilschaften darzustellen<br />
versucht, als „Besatzer" , sondern als Menschen,<br />
die aus nationaler Solidarität helfen wollen.<br />
Den offenbar unvermeidlichen Kritikern des Finanzaufwandes<br />
für die Personalhilfen hier im Westen sage<br />
ich: Diese Finanzhilfen sind keine verlorenen Kosten,<br />
sondern Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft,<br />
die wir vor allem den Menschen in den neuen Bundesländern<br />
schulden.<br />
Fritz Rudolf Körper (SPD): Unter der Drucksache<br />
12/732 liegt uns der Entwurf eines Gesetzes über die<br />
Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in<br />
Bund und Ländern für das Jahr 1991 vor. Dieser Gesetzentwurf<br />
ist von der Bundesregierung eingebracht<br />
worden. Er hat in erster Linie die Anpassung der Bezüge<br />
der Beamten, Richter und Soldaten sowie der<br />
Versorgungsempfänger des Bundes, der Länder und<br />
Gemeinden entsprechend der allgemeinen wirtschaftlichen<br />
Verhältnisse unter Berücksichtigung des<br />
Tarifabschlusses für den Arbeitnehmerbereich des öffentlichen<br />
Dienstes vom 16. März 1991 zur Grundlage.<br />
Der Vorschlag wird gemacht, die Bezüge linear<br />
um 6 Prozent zum 1. März 1991 anzuheben.<br />
Dazu bleibt festzustellen: Die Beschäftigten des öffentlichen<br />
Dienstes haben Anspruch auf Teilnahme<br />
an der allgemeinen Einkommensentwicklung. Dabei<br />
hat sich in der Vergangenheit das Verfahren bewährt,<br />
die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst auch auf<br />
den Beamtenbereich zu übertragen. Davon sollte auch<br />
in diesem Jahr keine Ausnahme gemacht werden.<br />
Dies bedeutet nach unseren Vorstellungen, daß man<br />
die Anpassung zum 1. Januar 1991 vornehmen<br />
sollte.<br />
Ich bin überzeugt, daß auch die Beamtinnen und<br />
Beamten bereit sind, ihren Beitrag zur Finanzierung<br />
der deutschen Einheit zu leisten. Eine inhaltliche Abkoppelung<br />
der Beamtenbesoldung vom Tarifergebnis<br />
ist aber nicht der richtige Weg, dies zu gewährleisten.<br />
Eine gerechte Verteilung der Lasten kann nur über<br />
Steuern und die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe<br />
erreicht werden.<br />
Wie fragwürdig das von der Bundesregierung vorgeschlagene<br />
Verfahren ist, wird insbesondere im Versorgungsbereich<br />
deutlich. Die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge<br />
und die entsprechende<br />
Belastung der aktiven Beamten haben gleichzeitig<br />
Auswirkungen auf die Versorgungsempfänger. Diesen<br />
wird damit wie den aktiven Beschäftigten ein<br />
Opfer zugemutet, ohne danach zu fragen, ob sie es in<br />
gleicher Weise wie die aktiven Beschäftigten verkraften<br />
können.<br />
Wir von der SPD-<strong>Bundestag</strong>sfraktion bleiben dabei:<br />
Die Arbeitsmarktabgabe für alle — ich betone: für<br />
alle — Erwerbstätigen wäre die bessere, gerechtere<br />
Lösung. Die SPD-<strong>Bundestag</strong>sfraktion hat wiederholt<br />
die Bundesregierung dazu aufgefordert, eine Arbeitsmarktabgabe<br />
zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit<br />
einzuführen. Die Beratung zu diesem Gesetzentwurf<br />
wäre eine gute Gelegenheit, unsere Vorschläge<br />
von seiten der Bundesregierung noch einmal<br />
neu zu überdenken.<br />
Auch müssen die Strukturverbesserungen des Tarifbereiches<br />
auf den Beamtenbereich übertragen werden.<br />
Dies gilt u. a. für die Zulagenregelung bei<br />
Schicht- und Wechselschicht. Benachteiligt werden<br />
offensichtlich nach diesem Entwurf beispielsweise<br />
Feuerwehrbeamte, da ihnen die Zulage vorenthalten<br />
wird, Polizeibeamte, Justizvollzugsbeamte sowie Beamte<br />
der Krankenpflege, da ihnen die Zulage nur zur<br />
Hälfte zugestanden wird. Die Zulagenregelung wird<br />
den Schichtsystemen, insbesondere bei Bahn, Post<br />
und Polizei, offensichtlich nicht gerecht.<br />
Bei den Fragen nach diesen Strukturverbesserungen<br />
sollte der Bund eine enge Absprache mit den<br />
betroffenen Ländern und Gemeinden pflegen. Wir<br />
müssen in den parlamentarischen Beratungen, insbesondere<br />
im Innenausschuß, diesen Komplex sorgfältig<br />
prüfen und uns auch dabei mit den gewerkschaftlichen<br />
Vorschlägen auseinandersetzen.<br />
In diesem Zusammenhang sei mir eine Anmerkung<br />
zum Beteiligungsrecht der gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen<br />
bei der Vorbereitung beamtenrechtlicher<br />
Vorhaben erlaubt. Wir von der SPD-<strong>Bundestag</strong>sfraktion<br />
sind der Auffassung, daß dieses Beteiligungsverfahren<br />
bei den parlamentarischen und Regierungsentscheidungen<br />
im Sinne einer größeren<br />
Einflußmöglichkeit der Gewerkschaften verändert<br />
werden sollte. Die Praxis des gegenwärtigen Beteiligungsverfahrens<br />
bei der Erarbeitung von Entwürfen<br />
der Bundesregierung, bei der häufig nicht einmal die<br />
Mindestfrist für Stellungnahmen eingehalten wird,<br />
gibt jedenfalls Anlaß zur Kritik und muß grundsätzlich<br />
verbessert werden.<br />
Es ist schon bedenklich, wenn uns berichtet wird,<br />
daß nunmehr der 23. Fall in Folge vorliegt, in dem der<br />
Bundesminister des Innern seit Sommer 1989 das gesetzlich<br />
zwingend vorgeschriebene Beteiligungsverfahren<br />
der gewerkschaftlichen Spitzenorganisation<br />
mißachtet hat. Nach den mir vorliegenden Informationen<br />
hat es seit Amtsantritt des amtierenden Bundesinnenministers<br />
kein Beteiligungsverfahren von Relevanz<br />
mehr gegeben, bei dem die von mir schon angesprochene<br />
Mindestfrist von sechs Wochen zur Abgabe<br />
von Stellungnahmen eingehalten wurde. Auch diesen<br />
Problemkreis wollen wir bei den anstehenden Ausschußberatungen<br />
ansprechen.<br />
Darüber hinaus wird unsererseits sorgfältig geprüft<br />
werden, wie die Tarifergebnisse auf den Beamtenbereich<br />
übertragen werden. Es geht selbstverständlich<br />
nicht an, daß mit besoldungsrechtlichen Regelungen<br />
in die Tarifautonomie eingegriffen wird. Aus diesem<br />
Blickwinkel werden wir den Gesetzentwurf sorgfältig<br />
prüfen und bei Verstößen gegen den Grundsatz nachdrücklich<br />
Korrekturen vorschlagen.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2709*<br />
- Bei strukturellen Verbesserungen im Besoldungs<br />
und Versorgungsrecht fehlt es nach unserer Auffassung<br />
seit langem an einem Gesamtkonzept. Der von<br />
der Bundesregierung in der vergangenen Wahlperiode<br />
vorgelegte Bericht zur strukturellen Entwicklung<br />
des öffentlichen Dienstrechtes verdient diesen<br />
Namen eigentlich nicht. Er beschränkt sich auf einige<br />
punktuelle Maßnahmen und klammert wesentliche<br />
Probleme aus.<br />
Selbstverständlich muß anerkannt werden, daß im<br />
Augenblick zweifellos der Aufbau leistungsfähiger öffentlicher<br />
Verwaltungen in den neuen Bundesländern<br />
und in den Gemeinden stark im Vordergrund steht.<br />
Dies kann aber wiederum nicht bedeuten, daß wir die<br />
notwendige sachgerechte Fortentwicklung der Strukturen<br />
des öffentlichen Dienstes in den alten Ländern<br />
vernachlässigen dürfen. Beide Aufgaben — die Entwicklung<br />
des öffentlichen Dienstes in Ost und West —<br />
müssen im Zusammenhang gesehen werden. Deshalb<br />
erscheint es mir sinnvoll, daß die Bundesregierung in<br />
einem Bericht die gegenwärtige Situation des öffentlichen<br />
Dienstes einmal umfassend darstellt.<br />
Darüber hinaus muß der Strukturbericht mit Vorschlägen<br />
zur Fortentwicklung des öffentlichen Dienstrechtes<br />
in dieser Wahlperiode fortgeschrieben werden.<br />
Nach unserer Auffassung muß das Bezahlungs<br />
-<br />
und Laufbahnrecht im Rahmen eines Gesamtkonzeptes<br />
anforderungs- und funktionsgerechter ausgestaltet<br />
und die Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen<br />
Dienstes im Vergleich zur Wirtschaft, die heute vielfach<br />
nicht mehr gewährleistet ist, hergestellt werden.<br />
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einmal<br />
das Stichwort Wettbewerbsfähigkeit aufgreifen und<br />
ein Problem ansprechen, was offensichtlich einen<br />
dringenden Handlungsbedarf aufzeigt. In den sogenannten<br />
Ballungsräumen scheint es immer schwieriger<br />
zu werden, Bedienstete für den öffentlichen<br />
Dienst zu bekommen und damit auch dem Sicherstellungsauftrag<br />
gerecht zu werden. Die öffentliche Seite<br />
ist zunehmend in Gefahr, ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />
auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere in den von mir<br />
angesprochenen Ballungsräumen, zu verlieren.<br />
Ich bin mir darüber im klaren, daß eine Schwierigkeit<br />
darin liegt, den Begriff Ballungsraum korrekt und<br />
eingrenzend zu definieren. Allerdings denke ich, sollten<br />
wir trotzdem vor diesen Herausforderungen nicht<br />
die Augen verschließen und uns gemeinsam bemühen,<br />
in diesem Bereich Lösungsvorschläge zu erarbeiten.<br />
Selbstverständlich kann dies nicht ungeachtet der<br />
Tatsache geschehen, daß hier insbesondere mit den<br />
betroffenen Ländern und Gemeinden eine Absprache -<br />
gefunden werden muß, zumal damit ein erheblicher<br />
finanzieller Aufwand auch für sie verbunden wäre.<br />
Wir sollten den öffentlichen Dienst als Dienst für<br />
den Bürger durch den Bürger künftig stärker im öffentlichen<br />
Bewußtsein verankern. Wie gerade ein<br />
Blick in die neuen Länder zeigt, hängen der Wohlstand<br />
der Bürger und die Qualität ihres Lebens heute<br />
ebenso von Gemeinschaftseinrichtungen ab wie von<br />
privaten Einkommen und Konsum. Nicht ein anonymer<br />
Staat hat Bedürfnisse, sondern die Bürgerinnen<br />
und Bürger. Sie und die Beschäftigten im öffentlichen<br />
Dienst können erwarten, daß sich Regierungen und<br />
politische Parteien zu ihrer Verantwortung für den<br />
öffentlichen Dienst bekennen.<br />
Viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes tun oftmals<br />
mehr als ihre Pflicht. Der öffentliche Dienst sollte<br />
nicht zum Prügelknaben der Nation gemacht werden.<br />
Den Beschäftigten gebührt unser Dank. Mehr noch:<br />
sie können erwarten, daß wir uns um ihre Probleme<br />
kümmern. Das wollen wir auch bei den Beratungen<br />
des anstehenden Gesetzentwurfes tun.<br />
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes<br />
minister des Innern: Mit dem Entwurf des Bundesbesoldungs-<br />
und -versorgungsanpassungsgesetzes<br />
1991 legt die Bundesregierung dem Hohen Haus die<br />
notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur<br />
Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge in<br />
Bund und Ländern vor.<br />
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung übernimmt<br />
für die Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger<br />
das Ergebnis der Tarifverhandlungen<br />
vom 16. März 1991 mit demselben Erhöhungssatz<br />
von 6 v. H. Neben den auch bisher in die Linearanpassung<br />
einbezogenen Bezügebestandteilen sind diesmal,<br />
den Absichtserklärungen auch dieses Hauses<br />
entsprechend, bestimmte Stellenzulagen mit erhöht<br />
worden. Ich nenne insbesondere die allgemeine Stellenzulage,<br />
die Polizei- und Feuerwehrzulage sowie<br />
die Sicherheitszulagen.<br />
Die vorgeschlagene Anhebung um 6 % kann sich —<br />
auch im Verhältnis zur gewerblichen Wirtschaft —<br />
durchaus sehen lassen. Sie ist angesichts der Gesamtentwicklung<br />
als solide und bef riedigend anzusehen.<br />
Gemessen an der zu erwartenden Preissteigerungsrate<br />
ergibt sich für die Mitarbeiter des öffentlichen<br />
Dienstes ein deutlicher realer Einkommenszuwachs.<br />
Der öffentliche Dienst hält damit Anschluß an die positive<br />
allgemeine Entwicklung und wird nicht abgekoppelt.<br />
Die Linearanpassung berücksichtigt aber auch<br />
gleichzeitig die Situation der öffentlichen Haushalte<br />
besonders mit Blick auf den Wiederaufbau in den<br />
neuen Bundesländern. Nach dem Gesetzentwurf treten<br />
die Erhöhungen für Beamte, Richter, Soldaten und<br />
Versorgungsempfänger zwei Monate später, als es<br />
der Tarifabschluß für Arbeiter und Angestellte vorsieht,<br />
in Kraft, also nicht zum 1. Januar 1991, sondern<br />
zum 1. März 1991. Dieser Einsparungsbeitrag berücksichtigt,<br />
daß Arbeiter und Angestellte mit ähnlicher<br />
Wirkung durch die Veränderungen der Beitragssätze<br />
zur Sozialversicherung betroffen sind. Mit der zweimonatigen<br />
Verschiebung der Anpassung wird der<br />
Handlungsspielraum der öffentlichen Haushalte um<br />
weit mehr als 1 Milliarde DM erweitert. Beamte, Richter,<br />
Soldaten und Versorgungsempfänger leisten damit<br />
einen eigenständigen Beitrag für den wirtschaftlichen<br />
Aufbau in den neuen Bundesländern. Dies wird<br />
in den nächsten Jahren zu berücksichtigen sein.<br />
Mit dieser Lösung bleibt das bisherige Verhältnis<br />
der aktiven Nettoeinkommen im Besoldungs- und Tarifbereich<br />
grundsätzlich unverändert; Beamte und Arbeitnehmer<br />
werden also nicht auseinanderdividiert.<br />
Dadurch, daß Beamte bei den Nettozuwächsen nicht<br />
schlechter und nicht besser als Angestellte und Arbei-
2710* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
ter im öffentlichen Dienst gestellt werden, bleibt der<br />
Gleichklang zwischen Ta rif und Besoldung gewahrt;<br />
das ist wichtig für die Einheit des öffentlichen<br />
Dienstes. Dies ist verantwortungsvolle und zukunftsorientierte<br />
Besoldungspolitik. Die Bundesregierung<br />
wird auch weiterhin auf Ausgewogenheit und Gerechtigkeit<br />
der Verbesserungen und Belastungen im<br />
öffentlichen Dienst und im Verhältnis zur gewerblichen<br />
Wirtschaft achten. Weil die Bundesregierung<br />
diese Verpflichtung besonders ernst nimmt, enthält<br />
der Gesetzentwurf Vorschriften über die Beteiligung<br />
der Versorgungsempfänger an strukturellen Veränderungen<br />
im Besoldungsbereich durch einen pauschalierenden<br />
Anpassungszuschlag. Hiernach werden<br />
die Versorgungsempfänger ab 1. Januar 1993 an<br />
den strukturellen Maßnahmen im Besoldungsbereich<br />
dadurch beteiligt, daß ihnen solche Veränderungen in<br />
Form eines durchschnittlichen Vomhundertsatzes<br />
zeitversetzt zu den den Versorgungsbezügen zugrunde<br />
liegenden ruhegehaltfähigen Dienstbezügen<br />
gewährt werden. Als Vorwegmaßnahme ist ein Strukturausgleich<br />
von 0,4 v. H. der ruhegehaltfähigen<br />
Dienstbezüge ab 1. März 1991 vorgesehen.<br />
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Streichung der<br />
Wiedereinführung des Anpassungszuschlags für Versorgungsempfänger<br />
lehnt die Bundesregierung ab.<br />
Die Bundesregierung hält an ihrem Grundsatz fest,<br />
keine Sonderopfer von einzelnen Gruppen zu verlangen.<br />
Was für den Aktivbereich Geltung hat, muß<br />
ebenso für Versorgungsempfänger gelten. Der<br />
Gleichklang zwischen aktiven Beamten und Versorgungsempfängern<br />
bei der Bezügeentwicklung muß<br />
gewahrt bleiben.<br />
Neben den Regelungen zur Linearanpassung sieht<br />
der Gesetzentwurf eine möglichst gleichwertige<br />
Übertragung der im Tarifbereich vereinbarten strukturellen<br />
Verbesserungen vor. Dies sind vor allem Regelungen<br />
über die Verbesserung der Beförderungsmöglichkeiten<br />
für Beamte des einfachen Dienstes<br />
durch Erweiterung des höchstzulässigen Anteils der<br />
Planstellen im Spitzenamt A 5 plus Amtszulage, ferner<br />
Bezahlungsverbesserungen für Beamte des mittleren<br />
technischen und gehobenen technischen<br />
Dienstes durch Festsetzung günstigerer Stellenobergrenzen,<br />
Ermächtigung zur Schaffung günstigerer<br />
Stellen und damit Beförderungsverhältnisse für beamtete<br />
Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sowie die<br />
Einführung allgemeiner Wechselschichtzulagen und<br />
Schichtzulagen.<br />
Den hierzu vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen,<br />
die sehr unterschiedliche Einzel- und Detailfragen<br />
betreffen, hat die Bundesregierung meist zugestimmt,<br />
im übrigen Prüfung im weiteren Verfahren<br />
zugesagt. Damit ist eine zügige Beratung und Verabschiedung<br />
des Gesetzentwurfs nach der Sommerpause<br />
möglich.<br />
Manfred Richter (Bremerhaven) (FDP): Bei diesem<br />
Gesetzentwurf geht es uns nicht anders als bei vielen<br />
anderen vergleichbaren Besoldungsmaßnahmen für<br />
den öffentlichen Dienst: Den einen ist es zuwenig, den<br />
anderen ist es zuviel.<br />
Den Letztgenannten will ich folgendes sagen: Wer<br />
einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst haben will,<br />
muß ihn auch anständig, daß heißt leistungsgerecht,<br />
bezahlen.<br />
Dabei kann es keinen Unterschied geben zwischen<br />
Angestellten, Arbeitern oder Beamten.<br />
Ich kann diejenigen, die da meinen, der öffentliche<br />
Dienst könne vorübergehend oder noch am besten auf<br />
Dauer mit geringeren Steigerungsraten in der Einkommensentwicklung<br />
als sonst in der Bundesrepublik<br />
Deutschland auskommen, nur nachdrücklich warnen:<br />
Wir haben in den verschiedensten Bereichen, besonders<br />
in den technischen Laufbahnen, Nachwuchsgewinnungsprobleme<br />
spürbarer und zum Teil schon beklemmender<br />
Art. Nachwuchssorgen macht uns mittlerweile<br />
auch schon der nichttechnische Dienst; auch<br />
dort dürfen keine Qualitätseinbußen hingenommen<br />
werden.<br />
Was den üblichen Hinweis auf die sogenannten Beamtenprivilegien<br />
anbetrifft, gilt nach wie vor zweierlei:<br />
Erstens gibt es diese Beamtenprivilegien nicht, sondern<br />
es gibt nur ein ausgewogenes besonderes Treue-<br />
Loyalitäts- und Pflichtenverhältnis.<br />
Zweitens können diese Besonderheiten gegen eine<br />
vernünftige Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung<br />
nicht gegengerechnet werden.<br />
Sonst wäre die notwendige Schlußfolgerung, Beamte<br />
hätten ihre besonderen Pflichten, eine zusätzliche Alimentation<br />
durch Gehalt brauchten sie eigentlich gar<br />
nicht.<br />
Zum Gesetzentwurf selber. Wir stimmen mit der<br />
Bundesregierung darin überein, wie für den Tarifbereich<br />
des öffentlichen Dienstes vereinbart auch die<br />
Beamtengehälter um linear 6 % zu erhöhen.<br />
Wir stimmen mit der Bundesregierung ferner darin<br />
überein, die Strukturtarifverträge, die im Vorfeld der<br />
Besoldungsrunde 1991 ausgehandelt worden sind, in<br />
gleicher Weise, soweit das irgend geht, auf den Beamtenbereich<br />
zu übertragen. Seit Jahren setzt sich die<br />
FDP für das nahtlose Übertragen der Tarifverträge für<br />
den öffentlichen Dienst auf die Beamtenschaft ein.<br />
Für diesen Gleichklang von Ta rif und Besoldung<br />
kann es keinen Unterschied machen, ob es sich um<br />
lineare Anpassung oder um Strukturverbesserungen<br />
handelt. Ich weiß, daß an dieser Stelle in diesem Jahr<br />
die Argumentation brüchig ist, weil — anders als die<br />
lineare Erhöhung bei Angestellten und Arbeitnehmern<br />
— wir die lineare Erhöhung der Besoldung der<br />
Beamten erst zum 1. März 1991 wollen. Diese zeitliche<br />
Verschiebung des Inkrafttretens hat nichts mit einer<br />
Hilfe für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern<br />
zu tun. Aus unserer Sicht ist die zeitliche Verschiebung<br />
begründet, weil Bund, Länder und Gemeinden<br />
durch die deutsche Einheit bereits mit erheblichen<br />
Haushaltsproblemen zu kämpfen haben.<br />
Das ist der Grund für die Besoldungsverschiebung.<br />
Die Auswirkungen der zeitlichen Verschiebungen<br />
der Beamtenbesoldung sind, prozentual gesehen, höher<br />
als die Belastungen der Arbeitnehmereinkommen<br />
im Tarifbereich durch die Veränderungen der Beitragssätze<br />
in den gesetzlichen Sozialversicherungen.<br />
Aber das ist kein Grund, in irgendeiner Weise die Verschiebung<br />
der Anpassung der Beamtenbesoldung
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2711*<br />
und Versorgung um zwei Monate mit den Bedürfnissen<br />
des Arbeitsmarkts in den neuen Bundesländern<br />
zu rechtfertigen.<br />
Was die Versorgungsempfänger anbetrifft, wird sichergestellt<br />
werden, daß sie bei der diesjährigen Besoldungs-<br />
und Versorgungsanpassung nicht wie in<br />
den vergangenen Jahren leer ausgehen. Eine der<br />
denkbaren Möglichkeiten wäre gewesen — wofür ich<br />
mich öffentlich eingesetzt hatte — , sie von der allgemeinen<br />
Verschiebung der Anpassung um zwei Monate<br />
auszunehmen.<br />
Der jetzt von der Bundesregierung gemachte Vorschlag<br />
der Wiedereinführung des Versorgungsanpassungszuschlages<br />
hätte uns allein nicht ausgereicht,<br />
weil er erst 1993 wirksam geworden wäre.<br />
Mit der Vorabgewährung eines Anpassungszuschlages<br />
von 0,4 % bereits in diesem Jahr wegen der<br />
Strukturverbesserungen des Jahres 1990 läßt sich<br />
möglicherweise auskommen.<br />
Insgesamt ist die Wiedereinführung des Versorgungsanpassungszuschlages<br />
— in welcher Form auch<br />
immer — zu begrüßen.<br />
Grob gesagt handelt es sich um die Rentenformel im<br />
Versorgungsrecht.<br />
Der Anpassungszuschlag stellt sicher, daß die Pensionäre,<br />
wenn sie einmal aus dem aktiven Beamtenleben<br />
ausgeschieden sind, und ihre Familien nicht auf<br />
ihrer Versorgung sitzenbleiben und von der übrigen<br />
Sozialentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland<br />
abgekoppelt sind. Auch wenn der Anpassungszuschlag<br />
in Mark und Pfennig in diesem Jahr weniger<br />
sein sollte, als wenn die Versorgung schon zum 1. Januar<br />
erhöht würde — auf Dauer gesehen ist der Versorgungsanpassungszuschlag<br />
vernünftiger, weil gerechter<br />
und sozialorientiert.<br />
Was den weiteren Beratungsgang anbetrifft, bekunde<br />
ich hier den festen Willen der FDP-Fraktion,<br />
die bisherigen Vorschläge der Bundesregierung zu<br />
überprüfen und gegebenenfalls dort, wo es nötig ist,<br />
mit zusätzlichen strukturellen Maßnahmen anzureichern.<br />
Das beginnt mit dem Problemfeld, daß bislang die<br />
Übertragung der Strukturtarifverträge im vollen Umfang<br />
auf die Beamtenbesoldung noch nicht gelungen<br />
ist. Das setzt sich fort über die Lösung bei verschiedenen<br />
mittlerweile aufgekommenen Strukturfragen bei<br />
den Zulagen, insbesondere bei den durch den Tarif<br />
vorgegebenen Wechselschichtdienstzulagen.<br />
Ich könnte eine ganze Menge weiterer Stichworte<br />
aufzählen, beginnend beispielsweise bei Einzelheiten<br />
der Verbesserungen für den gehobenen technischen<br />
Dienst, bei Überlegungen für die Ausweitung des<br />
Spitzenamtes A 13 plus Zulage im gehobenen Dienst.<br />
Ich möchte mir das ersparen. Das sind Dinge für die<br />
Einzelberatungen, die wir unmittelbar nach der Sommerpause<br />
aufnehmen werden.<br />
Wir haben eine interessante Entwicklung beobachtet<br />
bei den Beratungen im Bundesrat. Dort war plötzlich<br />
das Problem aufgetaucht, daß manche der tariflichen<br />
Fortschritte in dem Spezialbereich der gesetzlichen<br />
Krankenkassen unterlaufen werden sollten<br />
durch gesetzgeberische Maßnahmen. Für die FDP<br />
kommt ein Eingriff in die Tarifautonomie durch die<br />
Hintertür nicht in Frage.<br />
Wir müssen natürlich bei allen Maßnahmen klar<br />
sehen, daß die Zeit für große Sprünge nicht reif ist. Die<br />
Zeit ist eigentlich, weil es um die Besoldung von Beamten<br />
geht, nie gut für großzügige und weitgeplante<br />
Strukturverbesserungen.<br />
Jetzt geht es natürlich neben der Anpassung und<br />
Verbesserung der Besoldung in den westlichen Bundesländern<br />
um die Angleichung der Lebensverhältnisse<br />
in den östlichen Bundesländern an das sonst geltende<br />
Niveau, und das natürlich auch bei der Beamtenbesoldung<br />
und der Versorgung.<br />
Gleichwohl bleibt eine vernünftige Strukturpolitik<br />
im Bereich des öffentlichen Dienstes, eine Besoldungsstrukturpolitik<br />
mit Augenmaß, das fernere Anliegen,<br />
dem wir uns immer wieder widmen werden.<br />
Dazu gehört auch, manche Überlegungen und Vorstellungen<br />
aus der alten Dienstrechtsreform wieder<br />
aufzugreifen und erneut zu überprüfen. So können<br />
wir uns beispielsweise auch eine gewisse Flexibilisierung<br />
des Besoldungsrechts denken, eines Gebiets, auf<br />
dem wir in absehbarer Zeit über erste Erfahrungen<br />
aus dem Bereich der Deutschen Bundespost verfügen<br />
können, soweit es um Leistungszulagen und andere<br />
spezielle Instrumente des Besoldungsrechts geht.<br />
Wir werden umgekehrt auch ganz bestimmte Nachwuchsgewinnungsmaßnahmen,<br />
beispielsweise in den<br />
Sonderzuschlagsverordnungen daraufhin überprüfen,<br />
ob sie sich bewährt haben, wo sie verbesserungswürdig<br />
sind, ob sich eine vorsichtige und begrenzte<br />
Ausweitung solcher Personalsteuerungsinstrumente<br />
empfiehlt, um im öffentlichen Dienst Leistungsbereitschaft<br />
und Leitungsfähigkeit, Motivation und Effizienz<br />
des Personals zu steigern. Dem sind wir, nicht<br />
zuletzt auch im Interesse des Ansehens der Beamtenschaft<br />
in der öffentlichen Meinung, verpflichtet.<br />
Anlage 11<br />
Zu Protokoll gegebene Rede<br />
zu Zusatztagesordnungspunkt 10 —<br />
Antrag betr. Westsahara-Friedensplan<br />
der Vereinten Nationen —<br />
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />
Amt: Die Bundesregierung begrüßt den von allen im<br />
<strong>Bundestag</strong> vertretenen Fraktionen einschließlich der<br />
Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN getragenen Entschließungsantrag<br />
des Kollegen Dr. Franz Altherr und<br />
anderer, mit dem die Unterstützung der VN-Friedensmission<br />
für die West-Sahara (MINURSO) gefordert<br />
wird. Wir teilen die positive Einschätzung der jüngsten<br />
Friedensmission der Vereinten Nationen und halten<br />
eine Entschließung des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es,<br />
die das zum Ausdruck bringt, für richtig.<br />
Schon seit langem fordert Bundesaußenminister<br />
Genscher, daß die Rolle der Vereinten Nationen gestärkt<br />
wird. Wir wollen entsprechend dem Auftrag<br />
unseres Grundgesetzes die Vereinten Nationen in die
2712* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Lage versetzen, daß sie ihren umfassenden Friedensauftrag<br />
erfüllen können. Der Wegfall des Ost-West<br />
Gegensatzes und die Auflösung des dadurch bedingten<br />
Patts in der Weltorganisation haben hierfür günstige<br />
Voraussetzungen geschaffen. Es gilt auch, die<br />
durch die Lösung des Golfkonflikts neu gewonnene<br />
Autorität der Vereinten Nationen zu nutzen.<br />
Uns liegt vor allem an einer Stärkung der Stellung<br />
des Generalsekretärs. Er soll das Instrumentarium erhalten<br />
und benutzen, um Krisen, wo immer sie in der<br />
Welt entstehen, nicht erst dann zu begegnen, wenn<br />
sie sich zu einem bewaffneten Konflikt ausgeweitet<br />
haben, sondern möglichst schon im Vorfeld solcher<br />
Konflikte regelnd und friedenstiftend einzugreifen.<br />
Der vom VN-Generalsekretär entworfene und vom<br />
Sicherheitsrat am 29. Ap ril 1991 beschlossene Friedensplan<br />
für die ehemalige spanische Kolonie West<br />
Sahara eröffnet einen Weg, den seit Jahren schwelenden<br />
und von der Weltöffentlichkeit fast verdrängten<br />
Konflikt in diesem Gebiet zu beenden und die Voraussetzungen<br />
für eine dauerhafte und stabile Friedensordnung<br />
zu schaffen. Die „Mission der Vereinten Nationen<br />
für die Organisation eines Referendums in der<br />
West-Sahara" (MINURSO) stellt in diesem Sinne einen<br />
neuen Typ der VN-Friedensmissionen dar. Während<br />
sich in der Vergangenheit die Friedensmissionen<br />
weitgehend darauf beschränkten, mit Hilfe von<br />
„Blauhelmen" die Einhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen<br />
zwischen Konfliktparteien zu überwachen,<br />
haben die Vereinten Nationen mit der Überwachung<br />
der ersten freien Wahlen in Namibia (UN-<br />
TAG) Neuland betreten. Neben den klassischen Militärbeobachtern<br />
(Blauhelme) wurden erstmals ziviles<br />
Personal und Polizeibeamte zur Überwachung einer<br />
demokratischen Parlamentswahl entsandt. Die UNO<br />
hat damit entscheidende Hilfe bei der Erlangung der<br />
Unabhängigkeit des ehemaligen Mandatsgebiets geleistet.<br />
Dieses Instrument wurde bei den Missionen in<br />
Zentralamerika (ONUCA) und speziell in Nicaragua<br />
(ONUVEN) fortentwickelt. Bei der bevorstehenden<br />
Mission in der West-Sahara (MINURSO) übernehmen<br />
die Vereinten Nationen erstmals auch die Organisation<br />
und ordnungsgemäße Durchführung eines Referendums,<br />
bei dem die Bevölkerung frei über ihr künftiges<br />
Schicksal — Unabhängigkeit oder Zugehörigkeit<br />
zum Königreich Marokko — entscheiden soll. Das<br />
ist aktive und unmittelbare Hilfe zur Förderung der<br />
Demokratisierung in einem Land der Dritten Welt.<br />
Wir begrüßen den Trend zur Ausweitung der VN-<br />
Aktivitäten in dieser Richtung. Es ist genau das, was<br />
Bundesminister Genscher meinte, als er in der Haushaltsdebatte<br />
im Deutschen <strong>Bundestag</strong> am 13. März<br />
1991 forderte, die Fähigkeit der UNO-Organe, des<br />
Generalsekretärs und des Sicherheitsrates im Sinne<br />
des Ausbaus der politischen Konfliktlösung zu verstärken.<br />
Die Bundesregierung wird die Friedensmission in<br />
der West-Sahara finanziell unterstützen. Sobald weitere<br />
Einzelheiten über den Einsatz der bei der Operation<br />
benötigten internationalen Polizeibeamten geklärt<br />
sind, wird die Bundesregierung zudem prüfen,<br />
ob sich Deutschland auch durch die Entsendung eines<br />
kleineren Kontingents von BGS-Beamten — und, so<br />
vorhanden, Beamtinnen — personell an dieser wichtigen<br />
Initiative beteiligen kann.<br />
Wir begrüßen daher den heute eingebrachten Entschließungsantrag,<br />
der mit der Politik der Bundesregierung<br />
übereinstimmt.<br />
-
Nachtrag zum Plenarprotokoll 12/33<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong><br />
Nachtrag zum<br />
Stenographischen Bericht<br />
<strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong><br />
Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Inhalt:<br />
Anlage 12<br />
Verkehrsberuhigung auf der B 7 zwischen<br />
Kassel und Eisenach, z. B. durch Umleitung<br />
und Nachtfahrverbot für den Straßengüterverkehr<br />
MdlAnfr 5, 6 — Drs 12/766 —<br />
Joachim Tappe SPD<br />
SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV<br />
Anlage 13<br />
Auszahlung der Liquiditätshilfen aus dem<br />
Fonds „Deutsche Einheit" an die Wohnungsunternehmen<br />
in den neuen Bundesländern,<br />
insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern<br />
MdlAnfr 11, 12 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Christine Lucyga SPD<br />
SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach<br />
BMBau<br />
Anlage 14<br />
Umsetzung der aus Mitteln des BMFT geförderten<br />
Abfallvermeidungs- und Abfallverwertungstechniken<br />
von der Entwicklung bis<br />
zur Anwendung im großtechnischen Maßstab<br />
MdlAnfr 15, 16 — Drs 12/766 —<br />
Ursula Burchardt SPD<br />
2713* A<br />
2713* B<br />
SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMFT 2713* D<br />
Anlage 15<br />
Kürzung der Forschungsmittel in den alten<br />
Bundesländern; Abschluß von Sozialplänen<br />
bei einzelnen Großforschungseinrichtungen<br />
MdlAnfr 17, 18 — Drs 12/766 —<br />
Edelgard Bulmahn SPD<br />
SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMFT 2714* B<br />
Anlage 16<br />
Verhandlungen zwischen dem BMZ und<br />
China über die Einrichtung verschiedener<br />
Fabriken<br />
MdlAnfr 19 — Drs 12/766 —<br />
Dietrich Austermann CDU/CSU<br />
SchrAntw PStSekr Hans -Peter Repnik BMZ 2714* D<br />
Anlage 17<br />
Begünstigung der israelischen Kriegführung<br />
im Südlibanon durch die deutschen Finanzzuweisungen<br />
MdlAnfr 24 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU<br />
SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2715* B<br />
Anlage 18<br />
Stand der bündnisinternen Beratungen über<br />
die amerikanisch-sowjetischen SNF-Verhandlungen;<br />
Einbeziehung der luftgestützten<br />
Short-Nuclear-Forces-Systeme in die<br />
Verhandlungen<br />
MdlAnfr 29, 30 — Drs 12/766 —<br />
Katrin Fuchs (Verl) SPD<br />
SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2315* C
II <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Anlage 19<br />
Bemühungen der Bundesregierung um<br />
Rückführung der ca. 2 Millionen Flüchtlinge<br />
aus Ruanda in ihre Heimat<br />
MdlAnfr 31, 32 — Drs 12/766 —<br />
Horst Sielaff SPD<br />
SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA<br />
Anlage 20<br />
Sowjetische Erklärungen über Lagerung und<br />
Abzug von Atomwaffen und Trägersystemen<br />
aus dem Gebiet der früheren DDR<br />
MdlAnfr 33 — Drs 12/766 —<br />
Norbert Gansel SPD<br />
SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA<br />
Anlage 21<br />
Verhinderung der Diskriminierung von Bewerbern<br />
und Bewerberinnen aus anderen<br />
EG-Staaten um die Anstellung im Lehramt;<br />
Änderung dés Lehrerstatus zur Ermöglichung<br />
des Zugangs von Lehrern und Lehrerinnen<br />
aus anderen EG-Staaten zum öffentlichen<br />
Dienst<br />
MdlAnfr 3, 34 — Drs 12/766 —<br />
Eckart Kuhlwein SPD<br />
SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />
Anlage 22<br />
Anpassung der Vergütungsordnung für<br />
Krankenpflegepersonal an die Lohn- und<br />
Gehaltsentwicklung anderer Berufe<br />
MdlAnfr 35, 36 — Drs 12/766 —<br />
Uta Würfel FDP<br />
SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />
Anlage 23<br />
Zentrale Unterbringung neuer Asylbewerber<br />
und unmittelbare Abschiebung bei unbegründeten<br />
Asylanträgen gemäß dem Vorschlag<br />
des Bundesinnenministers; Harmonisierung<br />
des Asylrechts in Europa<br />
MdlAnfr 37, 38 — Drs 12/766 —<br />
Meinrad Belle CDU/CSU<br />
SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />
Anlage 24<br />
Anzahl der wegen mangelhafter Ausweisepapiere<br />
nicht abschiebbaren Asylbewerber;<br />
Lösung dieses Problems<br />
MdlAnfr 39, 40 — Drs 12/766 —<br />
Bärbel Sothmann CDU/CSU<br />
SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />
2715* D<br />
2716* B<br />
2716* C<br />
2717* A<br />
2717* C<br />
2718* A<br />
Anlage 25<br />
Gespräche über die Rückgabe von Beständen<br />
der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin<br />
durch die polnische Universitätsbibliothek in<br />
Krakau<br />
MdlAnfr 42 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD<br />
SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />
Anlage 26<br />
Förderung des Behindertensports in den<br />
neuen Bundesländern; Aufbau eines zweiten<br />
zentralen Bundesleistungszentrums für den<br />
Behindertensport in der Sportschule Lindow<br />
(Brandenburg)<br />
MdlAnfr 43, 44 — Drs 12/766 —<br />
Friedhelm Julius Beucher SPD<br />
SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />
Anlage 27<br />
Abwicklung der Zonenrandförderung im<br />
Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung<br />
MdlAnfr 45 — Drs 12/766 —<br />
Ludwig Stiegler SPD<br />
SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />
Anlage 28<br />
Einführung eines Straftatbestandes „Geldwäsche"<br />
im Strafgesetzbuch zur Vermeidung<br />
von Geldanlagen aus dem internationalen<br />
Drogenhandel und anderen Bereichen<br />
der organisierten Kriminalität in der Bundesrepublik<br />
Deutschland<br />
MdlAnfr 46, 47 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD<br />
2718* D<br />
2719* A<br />
2719* C<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Reinhard Göhner<br />
BMJ<br />
2719* D<br />
Anlage 29<br />
Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu den<br />
Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR<br />
MdlAnfr 48 — Drs 12/766 —<br />
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Reinhard Göhner<br />
BMJ<br />
Anlage 30<br />
Vereinfachung der Subventionsregelungen<br />
und Förderungsprogramme in den neuen<br />
Bundesländern<br />
MdlAnfr 49 — Drs 12/766 —<br />
Klaus Harries CDU/CSU<br />
2720* C<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />
BMF<br />
2321* A
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
III<br />
Anlage 31<br />
Anstieg des sowjetischen Militärhaushalts<br />
um über 20 % nach den deutschen Zahlungen<br />
an die Sowjetunion<br />
MdlAnfr 50 — Drs 12/766 —<br />
Ortwin Lowack fraktionslos<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />
BMF<br />
2721* B<br />
Anlage 32<br />
Zeitpunkt der Auswirkungen des beabsichtigten<br />
Subventionsabbaus<br />
MdlAnfr 51 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Otto Schily SPD<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />
BMF<br />
2721* D<br />
Anlage 33<br />
Verwendung von Mitteln aus dem Gemeinschaftswerk<br />
Aufschwung Ost für den kommunalen<br />
Straßenbau<br />
MdlAnfr 52 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Margrit Wetzel SPD<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />
BMF<br />
2722* A<br />
Anlage 34<br />
Erweiterung des Privatisierungsauftrags der<br />
Treuhandanstalt im Bereich Tourismus; Zentralisierung<br />
der touristischen Objekte bei der<br />
Treuhandanstalt<br />
MdlAnfr 53, 54 — Drs 12/766 —<br />
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />
BMF<br />
2722* B<br />
Anlage 35<br />
Personelle Verstärkung der Grenzübergänge<br />
Waidhaus und Furth i. W.<br />
MdlAnfr 55 — Drs 12/766 —<br />
Ludwig Stiegler SPD<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />
BMF<br />
2722* C<br />
Anlage 36<br />
Bereitstellung ehemaliger Kasernen für Studentenheime;<br />
Auflagen für den britischen<br />
Käufer<br />
MdlAnfr 56, 57 — Drs 12/766 —<br />
Dietmar Schütz SPD<br />
SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />
BMF<br />
2723* A<br />
Anlage 37<br />
Erschließung neuer Märkte für Unternehmen<br />
mit ausschließlicher Kohleförderung<br />
und -verwertung<br />
MdlAnfr 66 — Drs 12/766 —<br />
Wolfgang Meckelburg CDU/CSU<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2723* C<br />
Anlage 38<br />
Verhinderung der Entstehung negativer Folgen<br />
für die gewachsenen Wirtschafts- und<br />
Handelsbeziehungen zwischen den osteuropäischen<br />
Ländern und der Sowjetunion<br />
durch die deutschen Hilfen<br />
MdlAnfr 67, 68 — Drs 12/766 —<br />
Gernot Erler SPD<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2723* D<br />
Anlage 39<br />
Unterstützung touristischer Pilotprojekte,<br />
z. B. für den Spreewald; Anerkennung von<br />
Kur- und Badeorten<br />
MdlAnfr 69, 70 — Drs 12/766 —<br />
Jürgen Türk FDP<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2724* C<br />
Anlage 40<br />
Erschließung kultureller Wegstrecken in den<br />
neuen Bundesländern, z. B. die Sächsische<br />
Silberstraße, für den Tourismus<br />
MdlAnfr 71 — Drs 12/766 —<br />
Jürgen Koppelin FDP<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* A<br />
Anlage 41<br />
Stärkung des Tourismus im Rahmen des Gemeinschaftswerks<br />
Aufschwung Ost; Berücksichtigung<br />
gastronomischer Gepflogenheiten<br />
bei der Vergabe der Mittel<br />
MdlAnfr 72, 73 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Sigrid Semper FDP<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* A<br />
Anlage 42<br />
Kritik an den Übersichten über die Fördermittel<br />
für den Tourismus in den neuen Bundesländern<br />
MdlAnfr 74 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Gisela Babel FDP<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* C
IV <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Anlage 43<br />
Verbesserung der Infrastruktur aus dem Gemeinschaftswerk<br />
Aufschwung Ost für den<br />
Tourismus; Auswirkungen der günstigen<br />
Wechselkurse für West-Touristen bei Reisen<br />
nach Osteuropa auf den deutschen Tourismus,<br />
insbesondere in den neuen Bundesländern<br />
MdlAnfr 75, 76 — Drs 12/766 —<br />
Josef Grünbeck FDP<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* D<br />
Anlage 44<br />
Unterstützung der neuen Bundesländer beim<br />
Aufbau des Tourismus<br />
MdlAnfr 77, 78 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Olaf Feldmann FDP<br />
SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2726* B<br />
Anlage 45<br />
Wettbewerbsnachteile für die Kartoffelwirtschaft<br />
in den neuen Bundesländern durch die<br />
staatliche Förderung des Kartoffeltransports<br />
aus den alten Bundesländern nach Berlin<br />
MdlAnfr 81, 82 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Gerald Thalheim SPD<br />
SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2726* D<br />
Anlage 46<br />
Zusammenhang zwischen dem Schafsterben<br />
und der PCB-Belastung im Raum Kehl<br />
MdlAnfr 83, 84 — Drs 12/766 —<br />
Harald B. Schäfer SPD<br />
SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2727* A<br />
Anlage 49<br />
Weitere Entwicklung der Bundeswehrhochschulen<br />
MdlAnfr 89 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Egon Jüttner CDU/CSU<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />
Anlage 50<br />
Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland<br />
lagernden Atomsprengköpfe; Entwicklung<br />
von als nukleare Abstandswaffen in Europa<br />
im Rahmen der NATO einsetzbaren Systemen<br />
in den USA<br />
MdlAnfr 90, 91 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Hartmut Soell SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />
Anlage 51<br />
Änderung des nuklearen Waffenbestands in<br />
der Bundesrepublik Deutschland unabhängig<br />
von amerikanisch-sowjetischen SNF<br />
-<br />
Verhandlungen<br />
MdlAnfr 92, 93 — Drs 12/766 —<br />
Walter Kolbow SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />
Anlage 52<br />
Notwendigkeit der Ausrüstung der NATO<br />
mit nuklearen Abstandswaffen; Stationierung<br />
dieser Waffen auf deutschem Boden<br />
MdlAnfr 94, 95 — Drs 12/766 —<br />
Uta Zapf SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />
. 2728* A<br />
. 2728* B<br />
. 2728* C<br />
. 2728* D<br />
Anlage 47<br />
Zusammenhang zwischen der PCB-Belastung<br />
und dem Schafsterben im Raum Kehl;<br />
Senkung der PCB-Werte<br />
MdlAnfr 85, 86 — Drs 12/766 —<br />
Marion Caspers-Merk SPD<br />
SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2727* B<br />
Anlage 53<br />
NATO-Pläne zur Stationierung nuklearer<br />
Abstandswaffen in Europa und insbesondere<br />
in der Bundesrepublik Deutschland<br />
MdlAnfr 96, 97 — Drs 12/766 —<br />
Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />
. 2729* A<br />
Anlage 48<br />
Begründung für den VIP-Service für den<br />
ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet<br />
im Frankfurter Flughafen<br />
MdlAnfr 87, 88 — Drs 12/766 —<br />
Ursula Schmidt (Aachen) SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2727* C<br />
Anlage 54<br />
Nukleare Abdeckung der auf der NATO-<br />
Tagung beschlossenen schnellen Eingreiftruppe<br />
MdlAnfr 98 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Hermann Scheer SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />
. 2729* B
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
V<br />
Anlage 55<br />
Fähigkeit der Sowjetunion zu einem Überraschungsschlag<br />
gegen den Westen; Einstellung<br />
sowjetischer Tiefflüge<br />
MdlAnfr 99, 100 — Drs 12/766 —<br />
Hans Wallow SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* C<br />
Anlage 56<br />
Gründe für die vermehrten Tiefflüge über<br />
der Pfalz<br />
MdlAnfr 101, 102 — Drs 12/766 —<br />
Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* D<br />
Anlage 57<br />
Anteil der verbündeten Streitkräfte an den<br />
Tiefflügen über der Bundesrepublik<br />
Deutschland, insbesondere über der Pfalz<br />
MdlAnfr 103, 104 — Drs 12/766 —<br />
Lydia Westrich SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2730* B<br />
Anlage 61<br />
Erkenntnisse über die Zunahme von Aids<br />
und des Drogenkonsums in den Großstädten<br />
der neuen Bundesländer<br />
MdlAnfr 110, 111 — Drs 12/766 —<br />
Antje -Marie Steen SPD<br />
SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann<br />
Pohl BMG<br />
Anlage 62<br />
Verbesserung der Anspruchsvoraussetzungen<br />
für die Gewährung von Leistungen bei<br />
Schwerpflegebedürftigkeit im Rahmen des<br />
Gesundheits-Reformgesetzes<br />
MdlAnfr 112, 113 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup CDU/CSU<br />
SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann<br />
Pohl BMG<br />
2731* D<br />
2733* A<br />
Anlage 58<br />
Vereinbarkeit -<br />
der Übernahme von SS-23<br />
Flugkörpern durch die Bundeswehr mit dem<br />
INF-Vertrag<br />
MdlAnfr 105 — Drs 12/766 —<br />
Norbert Gansel SPD<br />
SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2730* C<br />
Anlage 59<br />
Verbesserung der finanziellen Lage der<br />
freien Wohlfahrtsverbände in den neuen<br />
Bundesländern<br />
MdlAnfr 106, 107 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Helga Otto SPD<br />
SchrAntw PStSekrin Roswitha Verhülsdonk<br />
BMFuS<br />
2730* D<br />
Anlage 60<br />
Einheitliche Regelung der Anrechnung des<br />
Krankenkassen-Pflegegeldes auf das Pflegegeld<br />
nach § 69 Bundessozialhilfegesetz<br />
MdlAnfr 108, 109 — Drs 12/766 —<br />
Adolf Ostertag SPD<br />
-<br />
SchrAntw PStSekrin Roswitha Verhülsdonk<br />
BMFuS<br />
2731* B<br />
Anlage 63<br />
Verhinderung der Zweckentfremdung von<br />
Investitionsmitteln in den neuen Bundesländern,<br />
insbesondere der Mittel für soziale Einrichtungen<br />
für den Straßenbau<br />
MdlAnfr 114, 115 — Drs 12/766 —<br />
Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU<br />
SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann-<br />
Pohl BMG<br />
Anlage 64<br />
Aufhebung der Beschränkungen bei der<br />
Krankenversicherung von in den neuen Bundesländern<br />
tätigen westdeutschen Arbeitnehmern<br />
mit einem Einkommen von unter<br />
2 250 DM (§ 311 Abs. 1, Buchst. c SGB V)<br />
MdlAnfr 116 — Drs 12/766 —<br />
Verena Wohlleben SPD<br />
2733* B<br />
SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann<br />
Pohl BMG<br />
2733* C
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2713*<br />
Anlagen zum Stenographischen Bericht<br />
Anlage 12<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Joachim Tappe (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 5 und 6) :<br />
Ist die Bundesregierung im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit<br />
bereit, im Verlauf der nordhessischen Streckenabschnitte der<br />
A 4/A 7 ein Autobahngebot für den Güterfernverkehr auszusprechen,<br />
um die LKW im Ost-West-Verkehr zu zwingen, den<br />
zumutbaren Umweg über das Kirchheimer Dreieck zu wählen,<br />
um so die hohe Zahl von täglich mehr als 3 500 LKW im Strekkenverlauf<br />
der B 7/B 27 spürbar herunterzufahren?<br />
Sieht die Bundesregierung eine realistische Möglichkeit, als<br />
ersten Schritt zur Entlastung der leidgeprüften Menschen in den<br />
Anliegergemeinden an der B 7 zwischen Kassel und Eisenach,<br />
die täglich mehr als 20 000 KFZ-Fahrbewegungen ertragen<br />
müssen, ein Nachtfahrverbot für LKW auf der B 7 im oben genannten<br />
Streckenabschnitt auszusprechen, wie es bereits für die<br />
B 27 zwischen Fulda und Göttingen gilt?<br />
Zu Frage 5:<br />
Die Straßenverkehrsordnung eröffnet keine Möglichkeit,<br />
ein Autobahngebot für Lkw anzuordnen.<br />
Lkw können von bestimmten Straßen oder Straßenstrecken<br />
nur ferngehalten werden, wenn diese Straßen<br />
oder Straßenstrecken hierfür gesperrt wurden<br />
(Zeichen 253). Die Anordnung solcher Verbote ist<br />
nach der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung<br />
Sache der Bundesländer, deren Verkehrsbehörden<br />
vor allem auch in Kenntnis der Örtlichkeit entscheiden.<br />
In der Abwägung über die Sachgerechtheit des<br />
Verbots ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß<br />
Bundesfernstraßen eine überörtliche Funktion haben<br />
und dem weiträumigen Verkehr dienen (§ 1 Bundesfernstraßengesetz).<br />
Zu Frage 6:<br />
Für die Anordnung eines Nachtfahrverbotes für<br />
Lkw sind ebenfalls die Länder zuständig.<br />
Auch hier gilt es aber, die Interessen der Anlieger<br />
mit der Erhaltung der verkehrlichen Funktion der<br />
Bundesfernstraßen abzuwägen.<br />
Anlage 13<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die<br />
Fragen der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 11 und 12):<br />
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die vom Bund bereitgestellten<br />
Liquiditätshilfen zur Wohnungsbewirtschaftung bis<br />
Ende Mai 1991 in Mecklenburg-Vorpommern nicht zur Auszahlung<br />
gekommen sind, und welche Gründe gibt es dafür?<br />
Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um<br />
die u. a. in einem Brief des Bundesministeriums für Raumordnung,<br />
Bauwesen und Städtebau vom 24. April 1991 angekündigten<br />
Soforthilfen zur Liquiditätssicherung aus dem Fonds<br />
„Deutsche Einheit" den Wohnungsbaugesellschaften und anderen<br />
Vermietern zugänglich zu machen?<br />
Zu Frage 11:<br />
Nach der grundgesetzlichen Aufgabenteilung zwischen<br />
Bund und Ländern sind die Länder für die Zahlung<br />
von Verbrauchersubventionen (dazu gehören<br />
auch Subventionen für Mieten) zuständig. Die Länder<br />
regeln deshalb auch in eigener Verantwortung die<br />
Zahlung von Bewirtschaftungshilfen an die Wohnungswirtschaft.<br />
Soweit der Bundesregierung bekannt,<br />
sind inzwischen überall die notwendigen Entscheidungen<br />
gefallen, so daß die entsprechenden Anträge<br />
gestellt werden können. Über den Stand der<br />
Bewilligungen und Auszahlungen ist die Bundesregierung<br />
aber nicht informiert.<br />
Zu Frage 12:<br />
In dem zitierten Brief des Bundesbauministeriums<br />
wurde die grundsätzliche Haltung der Bundesregierung<br />
dargelegt. Insbesondere wurde auf den Beitrag<br />
des Bundes zur Verbesserung der Finanzsituation der<br />
neuen Bundesländer hingewiesen. Dazu zählen u. a.<br />
auch die Soforthilfen aus dem Fonds „Deutsche Einheit".<br />
Wegen der bereits erwähnten Zuständigkeit der<br />
Länder für Verbrauchersubventionen hat der Bund<br />
allerdings keinen Einfluß darauf, wann und wie die<br />
Länder ihrerseits Finanzmittel für Hilfen an die Wohnungswirtschaft<br />
bereitstellen.<br />
Anlage 14<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Ursula Burchardt (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 15 und 16) :<br />
Wie lange dauert in der Regel nach neuesten Erkenntnissen<br />
der Bundesregierung die Umsetzung der aus Mitteln des Bundesministeriums<br />
für Forschung und Technologie geförderten<br />
Abfallvermeidungs- und Abfallverwertungstechniken von der<br />
Entwicklung bis zur Anwendung im großtechnischen Maßstab?<br />
Welche Hemmnisse sind der Bundesregierung bekannt, die<br />
die Umsetzung verzögern?<br />
Zu Frage 15:<br />
Im Rahmen einer Studie „Umsetzung/Nutzen der<br />
BMFT-Förderung Umwelttechnik" ließ der BMFT von<br />
1985 bis 1988 die Umsetzung der Ergebnisse aus Forschung<br />
und Entwicklung zur Umwelttechnologie untersuchen.<br />
In dem betrachteten Zeitraum wurden 249 Projekte<br />
mit 228 Mio. DM Gesamtfördervolumen abgeschlossen.<br />
Hieraus wurden 57 repräsentativ ausgewählte<br />
Projekte mit 101 Mio. DM Fördermitteln untersucht.
2714* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Bezüglich der Umsetzungszeiträume kommt die<br />
Studie zu folgendem Ergebnis:<br />
„Für die Entwicklung und Umsetzung von neuen<br />
Verfahren der Umwelttechnik ist mit unterschiedlichen<br />
Zeiträumen zu rechnen. Deren Kenntnis ist wesentlich<br />
für zukünftige Planungen.<br />
Der zeitliche Aufwand für die Entwicklung und Umsetzung<br />
von neuen Verfahren liegt im Bereich von<br />
2 bis 10 Jahren, wobei dies den Zeitraum zwischen<br />
dem Beginn der Förderung der Unternehmen durch<br />
das BMFT und dem Beginn der Umsetzung, d. h. der<br />
Inbetriebnahme der entsprechenden Anlage, betrifft.<br />
Je nach Art des Verfahrens ergeben sich deutliche<br />
Zeitunterschiede. Während nachgeschaltete Maßnahmen<br />
durchweg in 2 bis 4 Jahren entwickelt und umgesetzt<br />
werden konnten, erforderte die Einführung integrierter<br />
Maßnahmen 6 bis 10 Jahren. "<br />
Zu Frage 16:<br />
Zur Frage von Innovationshemmnissen bei der Umsetzung<br />
von F + E-Ergebnissen im Bereich Abfallwirtschaft<br />
hat der BMFT auf Grund einer kleinen Anfrage<br />
(BT-Drucksache 11/5986) ausführlich Stellung genommen<br />
(BT-Drucksache 11/6194 vom 4. 1. 1990).<br />
Danach sind Innovationshemmnisse in Form einzelner<br />
rechtlicher Regelungen nicht festzustellen.<br />
Dennoch ergeben sich erhebliche Unsicherheiten<br />
bei den Unternehmen der Abfallwirtschaft, die sich als<br />
gravierende Innovationshemmnisse erweisen. Als Ursachen<br />
wurden insbesondere die Summenwirkung<br />
komplexer rechtlicher Regelungen und daraus abgeleitete<br />
Sondergenehmigungsverfahren von bis zu<br />
10 Jahren sowie fehlende öffentliche Akzeptanz genannt.<br />
Der BMFT versucht bei seiner Förderung z. B. durch<br />
Verbundvorhaben zwischen Hochschule und Industrie<br />
zumindest die Hemmnisse beim Wissenstransfer<br />
zwischen Entwickler und Anwender zu minimieren.<br />
Daneben hat die Bundesregierung für Anlagen, die<br />
der Entwicklung und Erprobung dienen, auch im Abfallrecht<br />
eine Regelung analog der Regelung im Bundesimmissionsschutzgesetz<br />
eingeführt, die rasche Genehmigungsverfahren<br />
ermöglicht.<br />
Anlage 15<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Edelgard Bulmahn (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 17 und 18) :<br />
Trifft der Be richt der „Welt" vom 14. Juni 1991 zu, daß die<br />
Forschungseinrichtungen in den alten Bundesländern in den<br />
kommenden Jahren mit erheblichen Mittelkürzungen seitens<br />
des Bundesministers für Forschung und Technologie rechnen<br />
müssen und daß hinsichtlich der Großforschungseinrichtungen<br />
sogar darüber nachgedacht werde, die einzelnen Großforschungseinrichtungen<br />
zum Abschluß von Sozialplänen zu ermächtigen?<br />
Mit welcher Zielsetzung und anhand welcher Kriterien will<br />
die Bundesregierung die Forschungslandschaft neuordnen?<br />
Zu Frage 17:<br />
Die Gestaltung einer neuen gesamtdeutschen Forschungslandschaft<br />
ist eine der herausragenden forschungspolitischen<br />
Aufgaben der vor uns liegenden<br />
Jahre. Wir werden die Chancen, die darin liegen, nur<br />
dann verantwortlich nutzen, wenn wir auch im bisherigen<br />
Bundesgebiet die bestehenden Kapazitäten hinsichtlich<br />
Aufgabenspektrum und Umfang überprüfen.<br />
Dabei werden alle Förderbereiche einzubeziehen<br />
sein.<br />
Es wird zu Verlagerungen in der Projektförderung<br />
in die Neuen Bundesländer kommen müssen. Hiervon<br />
werden Wirtschaft und Hochschulen, aber auch<br />
Fraunhofer-Gesellschaft und Max-Planck-Institute<br />
betroffen sein. Die Großforschungseinrichtungen in<br />
den alten Bundesländern sind der mit über 2,3 Milliarden<br />
DM bei weitem größte institutionelle Bereich im<br />
Haushalt des Bundesministers für Forschung und<br />
Technologie (BMFT). Es versteht sich deshalb von<br />
selbst, daß ihre Finanzplanung nicht unverändert<br />
bleiben kann. Ihre Grundfinanzierung soll aber nicht,<br />
wie die „Welt" schreibt, ab 1993 erheblich reduziert<br />
werden. Allerdings führen wir mit den GFE Gespräche,<br />
wie im Hinblick auf die knapper werdenden Mittel<br />
durch Straffungen, Vermeidung von Doppelkapazitäten<br />
und Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben<br />
Einsparungen erreicht werden können. Dabei<br />
werden wir differenziert nach forschungspolitischen<br />
Grundsätzen, die den Abgeordneten des FTTA-Ausschusses<br />
zugeleitet werden, vorgehen.<br />
Die betroffenen Länder sind entsprechend informiert<br />
worden. Die Einrichtungen erarbeiten derzeit<br />
Konzepte. Der BMFT wird bemüht sein, die nötigen<br />
Instrumentarien für eine Umsetzung solcher Konzepte<br />
zu schaffen.<br />
Zu Frage 18:<br />
Die Forschungslandschaft der Bundesrepublik<br />
Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten in<br />
den alten Bundesländern erfolgreich entwickelt. Es<br />
steht deshalb keine Neuordnung an, vielmehr geht es<br />
gerade darum, die in den alten Ländern bewährten<br />
Methoden und Programme der Forschungsförderung<br />
und die institutionelle Differenzierung auch in den<br />
neuen Bundesländern einzuführen. Dies ist die Zielsetzung<br />
von Art. 38 des Einigungsvertrages.<br />
Die GFE sind ein tragendes Element unserer Forschungslandschaft,<br />
sie werden auch in der künftigen<br />
gesamtdeutschen Forschungslandschaft eine zentrale<br />
Rolle spielen. Es wird deshalb auch in den neuen Ländern<br />
GFE geben: DLR und DESY z. B. werden Standorte<br />
in Brandenburg und Berlin/Adlershof bekommen.<br />
Selbständige GFE sind zu Medizin, Geologie<br />
und Umwelt sehr ernsthaft im Gespräch. Die Anfang<br />
Juli zu erwartenden Empfehlungen des Wissenschaftsrates<br />
sollen hier wesentliche Weichen stellen.<br />
Anlage 16<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Hans-Peter Repnik auf die<br />
Frage des Abgeordneten Dietrich Austermann (CDU/<br />
CSU) (Drucksache 12/766 Frage 19):
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2715*<br />
Ist es zutreffend, daß — trotz anderslautender Beschlüsse und<br />
Stellungnahmen in Gremien des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es —<br />
vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
Vereinbarungen mit der Volksrepublik China außerhalb des<br />
Umweltbereiches, der Armutsbeseitigung und der Wirtschaftsreform<br />
abgeschlossen oder vorbereitet werden, um die Einrichtung<br />
einer Ammoniakfabrik, einer LKW-Fabrik und einer Reifenfabrik<br />
mit deutscher Unterstützung zu ermöglichen?<br />
Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> hat am 30. Oktober 1990<br />
die Bundesregierung aufgefordert, „künftig die entwicklungspolitische<br />
Zusammenarbeit mit der Volksrepublik<br />
China auch auf neue Maßnahmen auszudehnen,<br />
soweit sie unmittelbar der Bevölkerung bzw. dem<br />
Schutz und der Erhaltung der Umwelt dienen sowie<br />
zur Reform der chinesischen Wirtschaft beitragen" .<br />
Die Bundesregierung beachtet diese Entschließung<br />
bei der Gestaltung der Zusammenarbeit mit China<br />
konsequent.<br />
Die in der Frage genannten Projekte der Ammoniak-Fabrik,<br />
der LKW-Fabrik und der Reifenfabrik<br />
wurden bei den Regierungsverhandlungen 1988 bzw.<br />
1989 mit der chinesischen Regierung vereinbart, also<br />
vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung<br />
im Juni 1989 und den darauf folgenden Beschlüssen<br />
des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es, die eine wesentliche<br />
Einschränkung der Zusammenarbeit vorsahen. Es<br />
handelt sich insofern um Altprojekte. Der <strong>Bundestag</strong><br />
ist im übrigen über die Durchführung dieser drei Projekte<br />
mehrfach unterrichtet worden, so z. B. der AwZ<br />
in seiner <strong>Sitzung</strong> am 6. September 1990 mit dem sog.<br />
Soll-Ist-Vergleich für das Jahr 1989 und über den<br />
Durchführungsauftrag über die Ammoniak-Fabrik<br />
Dalian am 3. April 1991.<br />
Anlage 18<br />
Antwort<br />
des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen der<br />
Abgeordneten Katrin Fuchs (Verl) (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 29 und 30):<br />
Wie ist der Stand der bündnisinternen Beratungen über amerikanisch-sowjetische<br />
SNF-Verhandlungen hinsichtlich ihrer<br />
Gegenstände, Zielstellungen und des Geltungsbereiches des<br />
angestrebten Abkommens?<br />
Hält es die Bundesregierung für erforderlich, bei den amerikanisch-sowjetischen<br />
SNF-Verhandlungen nicht nur über die<br />
Beseitigung der landgestützten SNF-Systeme, sondern auch<br />
über die luftgestützten SNF-Systeme zu verhandeln, und wenn<br />
ja, mit welchem Ziel?<br />
Zu Frage 29:<br />
Die zur Ausarbeitung eines westlichen SNF-Rüstungskontrollansatzes<br />
des Bündnisses eingesetzte<br />
Besondere Beratungsgruppe (Special Consultative<br />
Group) hat bisher wesentliche Fragen einer westlichen<br />
Verhandlungsposition erörtert. Sie hat aber noch<br />
keine gemeinsamen Festlegungen getroffen. Auf der<br />
NATO-Außenministertagung am 6./7. Juni 1991 in<br />
Kopenhagen hat der SCG-Vorsitzende einen Fortschrittsbericht<br />
vorgelegt.<br />
Zu Frage 30:<br />
Die Vorgabe der Londoner Erklärung für SNF-Rüstungskontrolle,<br />
von der die gegenwärtigen Bündnisberatungen<br />
ausgehen, bezieht sich auf landgestützte<br />
nukleare Raketensysteme unter 500 km Reichweite<br />
und nukleare Artilleriemunition. Die Bundesregierung<br />
ist der Auffassung, daß grundsätzlich auch luftgestützte<br />
Nuklearwaffen in Verhandlungen einbezogen<br />
werden sollten. Über Zielsetzung und Modalitäten<br />
wird zu gegebener Zeit entschieden werden.<br />
Anlage 17<br />
Antwort<br />
des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des<br />
Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 24):<br />
Hält es die Bundesregierung für denkbar, daß durch die Finanzzuweisungen<br />
der Bundesrepublik Deutschland an den<br />
Staat Israel im Zusammenhang mit dem Golfkrieg die derzeitige<br />
intensive Kriegführung des Staates Israel im Südlibanon begünstigt<br />
wird?<br />
Bei der Finanzzuweisung der Bundesrepublik<br />
Deutschland an den Staat Israel handelt es sich um<br />
eine humanitäre Hilfe, die im Zusammenhang mit den<br />
durch den Golfkrieg entstandenen Schäden gewährt<br />
worden ist. Die Vereinbarung sieht ausdrücklich vor,<br />
daß durch diese Mittel die Schäden, die durch die<br />
Scud-Angriffe entstanden sind, beseitigt werden sollen.<br />
Eine Verwendung für andere Zwecke, insbesondere<br />
militärische Ausrüstung oder Maßnahmen, ist<br />
ausgeschlossen. Der Bundesregierung liegen keine<br />
Hinweise vor, daß durch die Zahlung militärische Aktionen<br />
im Südlibanon begünstigt worden sind.<br />
Anlage 19<br />
Antwort<br />
des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des<br />
Abgeordneten Horst Sielaff (SPD) (Drucksache 12/<br />
766 Fragen 31 und 32):<br />
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in der Vergangenheit<br />
ergriffen, um zu erreichen, daß den ca. 2 Millionen<br />
Flüchtlingen aus Ruanda von der dortigen Regierung ermöglicht<br />
wird, in ihre Heimat zurückzukehren, und was gedenkt die Bundesregierung<br />
in Zukunft zu tun, um diesem Ziel näherzukommen?<br />
In welchem Umfang wird Ruanda mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt<br />
unterstützt?<br />
Zu Frage 31:<br />
Zunächst eine Richtigstellung: Die in der Frage behauptete<br />
Zahl von 2 Millionen Flüchtlingen aus Ruanda<br />
ist bei weitem zu hoch angesetzt. Nach den jüngsten<br />
Erhebungen des UNHCR (November 1990) gibt<br />
es insgesamt etwa 500 000 ruandische Flüchtlinge in<br />
der Region.<br />
Das Flüchtlingsproblem, das 1959 durch die erfolgreiche<br />
Revolution der unterdrückten Hutu-Mehrheit<br />
gegen die Herrschaft der Tutsi-Minderheit ausgelöst<br />
wurde, war über drei Jahrzehnte lang nicht virulent.<br />
Erst mit dem bewaffneten Einfall in Uganda lebender<br />
Tutsi-Flüchtlinge nach Ruanda (Oktober 1990), die
2716* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
sich zur Front Patriotique Rwandaise (FPR) zusammengeschlossen<br />
hatten, wurde die Flüchtlingsfrage<br />
Gegenstand regionaler und internationaler Lösungsbemühungen.<br />
Erfreulicherweise haben sich die betroffenen Regionalstaaten<br />
ihrer Verantwortung für die Lösung des<br />
Flüchtlingsproblems gestellt. In einer regionalen<br />
Staatschef-Konferenz am 19. Februar 1990 in Daressalam<br />
erkannte Ruanda das Rückkehrrecht für alle<br />
Tutsi-Flüchtlinge förmlich an und stellte für sie eine<br />
Amnestie in Aussicht. Der ruandische Staatspräsident<br />
Habyarimana hat diese Verpflichtung zuletzt beim<br />
OAE-Gipfel in Abuja (Nigeria) Anfang Juni 1991 bestätigt.<br />
Der UNHCR wurde von den afrikanischen Regionalstaaten<br />
beauftragt, ein umfassendes Konzept für<br />
die Reintegration rückkehrwilliger Flüchtlinge auszuarbeiten.<br />
Hauptproblem hierfür ist die schon jetzt bestehende<br />
erhebliche Überbevölkerung Ruandas.<br />
Die Bundesregierung und ihre europäischen Partner<br />
haben die afrikanischen Bemühungen um eine<br />
Lösung des Flüchtlingsproblems und um eine Beendigung<br />
der damit in Zusammenhang stehenden Kampfhandlungen<br />
zwischen FPR und ruandischer Armee<br />
politisch mit Nachdruck unterstützt. Wir haben in diesem<br />
Sinne mehrfach bilateral und gemeinsam mit den<br />
EG-Staaten in Ruanda und in den betroffenen Nachbarländern<br />
demarchiert. Nach Vorlage eines vom<br />
UNHCR und den Regionalstaaten entwickelten Konzepts<br />
für Rückkehr der Flüchtlinge nach Ruanda wird<br />
die Bundesregierung Möglichkeiten der finanziellen<br />
Unterstützung eines solchen Programms prüfen.<br />
Zu Frage 32:<br />
Für den zweijährigen Zusagerahmen 1989/90 erhielt<br />
Ruanda 50 Millionen DM aus Mitteln der Finanziellen<br />
Zusammenarbeit und 38 Millionen DM aus<br />
Mitteln der Technischen Zusammenarbeit. Im September<br />
1991 finden in Ruanda die nächsten Regierungsverhandlungen<br />
über entwicklungspolitische<br />
Zusammenarbeit in den Jahren 1991/92 statt. Es ist<br />
damit zu rechnen, daß sich das Fördervolumen im<br />
ähnlichen Rahmen wie im vorigen Zusagezeitraum<br />
bewegen wird. Schwerpunkte der Zusammenarbeit<br />
sind die landwirtschaftliche Entwicklung, Infrastrukturvorhaben<br />
und das Erziehungswesen.<br />
Anlage 20<br />
Antwort<br />
des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des<br />
Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Frage 33):<br />
Welche Erklärungen haben sowjetische Stellen über Lagerung<br />
und Abzug von sowjetischen Atomwaffen und Trägersystemen<br />
auf dem Gebiet der früheren DDR abgegeben, und welche<br />
Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Glaubwürdigkeit<br />
dieser Erklärungen?<br />
Der sowjetische Außenminister Bessmertnych hat<br />
anläßlich seines Besuches am 12./13. Juni in Bonn<br />
klargestellt, es gebe noch einige Atomwaffen auf dem<br />
Gebiet der ehemaligen DDR, welche nach einem Abzugsplan<br />
ziemlich rasch abgezogen würden. Nach deren<br />
Abzug werde die Bundesregierung entsprechend<br />
unterrichtet.<br />
Die Bundesregierung sieht keinen Grund, an der<br />
Glaubwürdigkeit der am 13. Juni 1991 abgegebenen<br />
klarstellenden Erklärung des sowjetischen Außenministers<br />
zu zweifeln.<br />
Anlage 21<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Eckart Kuhlwein (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 3 und 34):<br />
Trifft es zu, daß die EG-Kommission die Bundesregierung<br />
schriftlich aufgefordert hat, durch eine entsprechende Gesetzesänderung<br />
sicherzustellen, daß Bewerber und Bewerberinnen<br />
aus anderen Staaten der EG um die Anstellung im Lehramt nicht<br />
diskriminiert werden, wenn sie die erforderliche Ausbildungsqualifikation<br />
besitzen?<br />
Welche Änderungen des Status der Lehrer hält die Bundesregierung<br />
für erforderlich, um der Rechtsprechung des Europäischen<br />
Gerichtshofs zu entsprechen, nach der die Beschränkung<br />
des Zugangs zum öffentlichen Dienst der Mitgliedsländer (Artikel<br />
48 Abs. 4 EWG-Vertrag) nur bei „hoheitlichen Aufgaben",<br />
nicht jedoch für das Lehramt an staatlichen Schulen gilt?<br />
Aus Gründen des Sachzusammenhanges möchte<br />
ich beide Fragen zusammen beantworten.<br />
Die Bundesregierung hat sich in ihrer mit den Ländern<br />
abgestimmten Stellungnahme von Ap ril 1990 zu<br />
der sog. „systematischen Aktion" der EG-Kommission<br />
zu den Fragen des Zugangs von EG-Mitbürgern zum<br />
deutschen öffentlichen Dienst eingehend geäußert.<br />
Dabei hat die Bundesregierung gegenüber der EG-<br />
Kommission ausdrücklich ihre Bereitschaft zu einem<br />
konstruktiven Dialog über alle Möglichkeiten der<br />
Verbesserung der Freizügigkeit für Angehörige der<br />
Mitgliedstaaten der EG innerhalb der öffentlichen<br />
Verwaltung erklärt.<br />
Die Kommission hat dieses Angebot bisher nicht<br />
aufgegriffen. Vielmehr hat sie im Rahmen von Verfahren<br />
nach Art. 169 EWG-Vertrag mit Schreiben vom<br />
April 1991 die Bundesregierung aufgefordert, sich zu<br />
angeblichen Verstößen gegen Artikel 48 des Vertrags<br />
im Zusammenhang mit der Beschäftigung von EG-<br />
Staatsangehörigen in verschiedenen Bereichen der<br />
deutschen öffentlichen Verwaltung (u. a. Personal der<br />
staatlichen Bildungseinrichtungen, Bedienstete von<br />
Bundespost und Bundesbahn, Personal im Bereich der<br />
Wasserversorgung) zu äußern.<br />
Die Äußerung der Kommission wird geprüft und in<br />
Abstimmung mit den Ländern eine Stellungnahme<br />
erarbeitet.<br />
Im übrigen hat die Bundesregierung bereits Anfang<br />
des Jahres eine gesetzliche Neuregelung in Aussicht<br />
gestellt, um die Berufung von EG-Mitbürgern in das<br />
Beamtenverhältnis generell zu erleichtern.<br />
Der Status der Lehrer in der Bundesrepublik entspricht<br />
den Vorgaben der Verfassung, er hat sich bewährt.<br />
Weder der EWG-Vertrag noch der Prozeß der
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2717*<br />
europäischen Integration erfordern hier Änderungen.<br />
Anlage 22<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Uta Würfel (FDP) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 35 und 36):<br />
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß 1974<br />
eine Unterrichtsschwester mit der Eingruppierung nach Krankenhaustarif<br />
Kr VII über der Beitragsbemessungsgrenze lag<br />
und dieselbe nun leitende Unterrichtsschwester, eingruppiert<br />
nach Kr IX und 17 Jahre älter, heute nicht mit ihrem Gehalt die<br />
Beitragsbemessungsgrenze der Krankenkasse erreicht?<br />
Zu welchem Handeln veranlaßt die Bundesregierung die Tatsache,<br />
daß das Gehalt der Krankenpflegepersonen weit hinter<br />
der Lohn- und Gehaltsentwicklung anderer Berufe zurückgeblieben<br />
ist?<br />
Zu Frage 35:<br />
Aus dem in Ihrer Frage beschriebenen Beispiel der<br />
Einkommensentwicklung einer Unterrichtsschwester<br />
von 1974 bis 1991 lassen sich keine Folgerungen für<br />
eine verzögerte Einkommensentwicklung im Bereich<br />
des Krankenpflegepersonals bzw. der Unterrichtsschwestern<br />
treffen. Mit diesem Beispiel meinen Sie<br />
eine Unterrichtsschwester, deren Vergütung 1974<br />
wohl nur knapp über der damals geltenden Beitragsbemessungsgrenze<br />
für die gesetzliche Krankenversicherung<br />
in Höhe von 1 875, — DM gelegen hat und<br />
deren Vergütung heute in der Vergütungsgruppe<br />
Kr. IX nur dann knapp unter der derzeit geltenden<br />
Grenze von 4 875, — DM liegt, wenn sie ledig oder<br />
verheiratet ohne Kinder ist. Ebenso läßt sich umgekehrt<br />
ein Beispiel für eine Unterrichtsschwester bilden,<br />
die 1974 unterhalb und 1991 oberhalb der jeweils<br />
geltenden Beitragsbemessungsgrenze vergütet wird.<br />
Das von Ihnen herangezogene Beispiel ist auch deshalb<br />
für allgemeine Schlußfolgerungen ungeeignet,<br />
weil es nur auf ein ganz bestimmtes Basisjahr abstellt,<br />
nämlich das Jahr 1974, in dem bekanntlich eine besonders<br />
starke Anhebung der Einkommen im öffentlichen<br />
Dienst stattfand und deshalb die Bemessungsgrenze<br />
auch in vielen Fällen erreicht und überschritten<br />
wurde. Wenn man z. B. ein früheres oder ein späteres<br />
Bezugsjahr zugrundelegt, gäbe es auch andere<br />
Ergebnisse.<br />
Ferner muß beachtet werden, daß sich die individuelle<br />
Gehaltsentwicklung nach dem Bezahlungssystem<br />
des öffentlichen Dienstes auch nach der Entwicklung<br />
des Familienstandes und der Zahl der Kinder<br />
sowie danach richtet, ob man noch in den Altersstufen<br />
aufsteigt oder schon die Endvergütung erhält.<br />
Zu Frage 36:<br />
Die Bundesregierung kann — wie auch in meiner<br />
Antwort auf Ihre vorhergehende Frage aufgezeigt —<br />
nicht bestätigen, daß das Gehalt der Krankenpflegepersonen<br />
weit hinter der Lohn- und Gehaltsentwicklung<br />
anderer Berufe zurückgeblieben ist. Vielmehr<br />
umfassen gerade die Tarifverträge aus jüngster Zeit<br />
vom Juni 1989 und März 1991 eine Reihe von strukturellen<br />
Maßnahmen — z. B. die Einführung von Bewährungsaufstiegen<br />
und die Erhöhung von Zulagen<br />
für besonders belastende Dienste —, die zu erheblichen<br />
Verbesserungen der Vergütung von Krankenpflegepersonen<br />
führten.<br />
Im übrigen sieht die Bundesregierung davon ab, die<br />
tarifliche Eingruppierung und Vergütung für einzelne<br />
Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes allgemein zu<br />
werten, da es sich hierbei um eine Angelegenheit der<br />
Tarifvertragsparteien handelt.<br />
Anlage 23<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Meinrad Belle (CDU/CSU)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 37 und 38):<br />
Wie ist der derzeitige Sachstand der Gespräche zwischen dem<br />
Bund und den einzelnen Bundesländern über den Vorschlag des<br />
Bundesministers des Innern, neu einreisende Asylbewerber<br />
zentral unterzubringen und nach Prüfung bei offensichtlich unbegründetem<br />
Asylantrag von dort unmittelbar abzuschieben?<br />
Wie ist der Stand der Gespräche zur Vereinheitlichung des<br />
Asylrechts im Rahmen der Verhandlungen zur Realisierung des<br />
Schengener Abkommens, und wann wird mit den Gesprächen<br />
zur Harmonisierung des Asylrechts in Europa im Rahmen der<br />
Europäischen Gemeinschaft begonnen?<br />
Zu Frage 37:<br />
Der Bundesminister des Innern hat die Innenminister<br />
und Senatoren für Inneres der Länder eindringlich<br />
gebeten, die Möglichkeit des § 23 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz<br />
, Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften<br />
unterzubringen, konsequenter als bisher zu<br />
nutzen, weil die zentrale Unterbringung von ganz<br />
wesentlicher Bedeutung für die von allen Beteiligten<br />
geforderte Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren<br />
ist, wenn sich die Anträge als unbeachtlich<br />
oder offensichtlich unbegründet erweisen und deshalb<br />
in einem vereinfachten Verfahren beschieden<br />
werden können.<br />
Die Länder sehen das im wesentlichen ebenso. Sie<br />
haben durch Errichtung zentraler Ausländerbehörden<br />
die Möglichkeit geschaffen, daß die vom Bundesamt<br />
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eingerichteten<br />
Außenstellen mit den örtlichen Behörden<br />
eng zusammenarbeiten können und die Asylbewerber<br />
kurzfristig erreichbar sind. Es zeigt sich aber auch,<br />
daß es den Ländern derzeit nicht möglich ist, alle neu<br />
hinzukommenden Asylbewerber in zentralen Sammellagern<br />
unterzubringen. Hier sieht der Bundesminister<br />
des Innern bei den Ländern noch Handlungsbedarf.<br />
Denn bei zentraler Unterbringung kann die Ausreiseverpflichtung<br />
derjenigen abgelehnten Asylbewerber<br />
konsequenter durchgesetzt werden, bei denen<br />
Abschiebungshindernisse nicht entgegenstehen. Dadurch<br />
würde insbesondere den Gemeinden, die auch<br />
für die Unterbringung der abgelehnten Asylbewerber<br />
zuständig sind, ganz wesentlich geholfen werden<br />
können. Der Bundesminister des Innern wird deshalb<br />
dieses Anliegen gerade auch im Interesse der kleineren<br />
Gemeinden mit Nachdruck weiter verfolgen.
2718* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Zu Frage 38:<br />
Im Schengener Rahmen ist unter deutschem Vorsitz<br />
eine Arbeitsgruppe „Asyl" eingesetzt worden, die<br />
sich mit einem Vergleich der Asylrechtssysteme der<br />
Schengen-Staaten befaßt. Die Arbeiten werden im<br />
2. Halbjahr unter italienischem Vorsitz fortgesetzt.<br />
Die Einwanderungsminister der EG-Mitgliedstaaten<br />
haben auf ihrer <strong>Sitzung</strong> am 13. Juni 1991 die adhoc-Arbeitsgruppe<br />
„Einwanderung" gebeten, bis<br />
Ende dieses Jahres die für eine Harmonisierung des<br />
Asylrechts zu prüfenden Problemfelder aufzulisten<br />
und für die Prüfung einen Zeitplan zu erstellen.<br />
Die EG selbst hat bisher auf dem Gebiet des Asylrechts<br />
keine Kompetenz. Fragen einer Kompetenz der<br />
EG auf dem Gebiet des Asylrechts sind derzeit Gegenstand<br />
der Erörterungen in der Regierungskonferenz<br />
zur Europäischen Politischen Union.<br />
Anlage 24<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Bärbel Sothmann (CDU/CSU)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 39 und 40):<br />
Ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch die Zahl der nicht<br />
anerkannten und nach dem Ausländergesetz abzuschiebenden<br />
Asylbewerber ist, die allein aus dem Grund nicht in ihre Heimatländer<br />
zurückgeschickt werden können, weil sie keine oder<br />
zweifelhafte Ausweispapiere besitzen?<br />
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Zahl<br />
der aus oben genanntem Grund nicht abschiebbaren Asylbewerber<br />
zu vermindern bzw. welche unterstützenden Maßnahmen<br />
kann und wird die Bundesregierung — angesichts der Länderkompetenz<br />
beim Vollzug des Ausländergesetzes — zur Lösung<br />
dieses Problems ergreifen?<br />
Zu Frage 39:<br />
Nach den Erfahrungen der Länder stellt die Paßlosigkeit<br />
nicht in jedem Einzelfall ein dauerhaftes Abschiebehindernis<br />
dar. In der überwiegenden Zahl der<br />
Fälle kommt es lediglich zu Verzögerungen bei der<br />
Abschiebung. Deshalb werden diese Fälle von den<br />
Ausländerbehörden in der bundeseinheitlichen Statistik<br />
über den Zugang und den Verbleib (ehemaliger)<br />
Asylbewerber nicht besonders erfaßt. Soweit in einzelnen<br />
Ländern eine genauere statistische Erfassung<br />
erfolgt, wird zum Teil auch nur die Zahl der aktuell<br />
erfolglosen Abschiebeversuche festgehalten. In Folge<br />
dessen hat die Bundesregierung kein einheitliches<br />
Bild über die Anzahl vorübergehender und dauerhafter<br />
Abschiebehindernisse.<br />
Aufzeichnungen darüber, wie lange in Einzelfällen<br />
die Paßlosigkeit eine Abschiebung verhindert, werden<br />
von den Ländern ebenfalls nicht geführt.<br />
Zu Frage 40:<br />
Der Verhinderung solcher Fälle dienen zum einen<br />
die Vorschriften im Ausländergesetz und im Asylverfahrensgesetz<br />
über die Verwahrung der Pässe von<br />
ausreisepflichtigen Ausländern und von Asylbewerbern<br />
bei der Ausländerbehörde. Zum anderen enthält<br />
das Ausländergesetz in § 41 die erforderliche und ausreichende<br />
Rechtsgrundlage, um bei Ausländern, die<br />
nicht im Besitz eines Passes sind, alle erforderlichen<br />
Maßnahmen einschließlich erkennungsdienstlicher<br />
Maßnahmen zur Feststellung der Identität und der<br />
Staatsangehörigkeit zu treffen. Bei der Auswertung<br />
der erkennungsdienstlichen Unterlagen leistet das<br />
Bundeskriminalamt nach § 78 Ausländergesetz Amtshilfe;<br />
dort werden Unterlagen zentral aufbewahrt. Dadurch<br />
können insbesondere die Fälle aufgedeckt werden,<br />
in denen Ausländer früher bereits mit Identitätspapieren<br />
einen Asylantrag im Bundesgebiet gestellt<br />
haben.<br />
Wenn die Staatsangehörigkeit ermittelt ist, kann bei<br />
der Auslandsvertretung des Herkunftsstaates im Bundesgebiet<br />
die Ausstellung eines Passes oder Heimreisescheines<br />
beantragt werden. Jeder Staat ist völkerrechtlich<br />
anderen Staaten gegenüber grundsätzlich<br />
zur Rücknahme der eigenen Staatsangehörigen verpflichtet.<br />
Soweit ein Herkunftsstaat die Ausstellung<br />
der von ihm für die Einreise geforderten Papiere verweigert,<br />
drängt die Bundesregierung mit Nachdruck<br />
auf diplomatischem Wege auf die Erfüllung dieser völkerrechtlichen<br />
diplomatischen Verpflichtung.<br />
Die Bundesregierung erwartet, daß auch durch die<br />
engere Zusammenarbeit mit den anderen EG-Staaten,<br />
insbesondere den Partnerstaaten des Schengener<br />
Übereinkommens, die Möglichkeiten erleichtert und<br />
erweitert werden, den Aufenthalt von Ausländern<br />
ohne Paß zu beenden. Gerade in den Fällen, in denen<br />
der Drittstaatsangehörige sich zunächst in einem anderen<br />
EG-Staat aufgehalten hatte, lassen sich dort<br />
möglicherweise Unterlagen über seine Identität und<br />
seine Staatsangehörigkeit finden. Zum anderen kann<br />
in den Fällen, in denen Herkunftsstaaten nur zögerlich<br />
zur Paßausstellung bereit sind, durch ein gemeinsames<br />
Vorgehen der EG- bzw. Schengen-Staaten<br />
eher Abhilfe geschaffen werden.<br />
Anlage 25<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage<br />
des Abgeordneten Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 42):<br />
Trifft es zu, daß gegen Ende des Zweiten Weltkrieges große<br />
Teile des Bestandes der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin<br />
(Unter den Linden) ausgelagert und heute in Krakau/Polen in<br />
die dortige Universitätsbibliothek eingegliedert sind, und gibt es<br />
bereits Gespräche über eine mögliche Rückgabe dieser Bestände,<br />
analog der Lage bei den Kunstschätzen, die in der Sowjetunion<br />
lagern?<br />
Es trifft zu, daß Teilbestände der ehemaligen Preußischen<br />
Staatsbibliothek im 2. Weltkrieg nach Schlesien<br />
in die Abtei Grüssau ausgelagert worden sind<br />
und sich heute in der Universitätsbibliothek Krakau<br />
befinden. Dort sind sie der wissenschaftlichen Benutzung<br />
zugänglich. Es handelt sich um Handschriften,<br />
Autographen, Musikautographen und Druckschriften.<br />
Gemäß Artikel 28 Abs. 3 des am 17. Juni 1991 unterzeichneten<br />
Vertrages zwischen der Bundesrepublik<br />
Deutschland und der Republik Polen über gute<br />
Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenar-
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2719*<br />
beit werden die Vertragsparteien bestrebt sein, die<br />
Probleme der verlagerten Kulturgüter, beginnend mit<br />
Einzelfällen, zu lösen. Die Bundesregierung wird nach<br />
Inkrafttreten des Vertrages Gespräche mit der polnischen<br />
Regierung über die Rückführung von Kulturgütern<br />
aufnehmen. Einer der zu behandelnden Einzelfälle<br />
wird der in Krakau gelagerte Bestand der ehemaligen<br />
Preußischen Staatsbibliothek sein.<br />
Anlage 26<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 43 und 44):<br />
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung getroffen, um<br />
die Verpflichtungen aus dem Artikel 39 Abs. 3 des Einigungsvertrages<br />
— „für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1992<br />
unterstützt der Bund den Behindertensport" — zu erfüllen?<br />
Wie steht die Bundesregierung zur Forderung des Landessportbundes<br />
Brandenburg nach einem zweiten zentralen Bundesleistungszentrum<br />
für den Behindertensport in der Sportschule<br />
Lindow?<br />
Zu Frage 43:<br />
Für die Unterstützung des Breitensports der Behinderten<br />
in den neuen Bundesländern sollen 1991<br />
900 000 DM zur Verfügung gestellt werden. Abschlagszahlungen<br />
sind bereits geleistet worden. Die<br />
Mittel sind vorgesehen für<br />
— Personalkostenzuschüsse für je einen Bediensteten<br />
der Landesverbände der Behinderten und der<br />
Gehörlosen,<br />
— Zuwendungen zu Breitensportmaßnahmen der<br />
Landesverbände der Behinderten und der Gehörlosen<br />
(insbesondere für Sportveranstaltungen auf<br />
regionaler Ebene; Tagungen/Schulungen von<br />
Vereinsvorsitzenden, Schatzmeistern, Organisations-<br />
und Übungsleitern sowie Trainern, Kosten<br />
der Geschäftsstellen der Landesverbände).<br />
Für 1992 sind nach gegenwärtigem Stand der Haushaltsberatungen<br />
für diese Zwecke 1 200 000 DM vorgesehen.<br />
Zu Frage 44:<br />
Die von Ihnen erwähnte Forderung des Landessportbundes<br />
Brandenburg ist der Bundesregierung<br />
-<br />
nicht bekannt.<br />
Der Deutsche Behinderten-Sportverband wurde im<br />
Zusammenhang mit der Errichtung des im Bau befindlichen<br />
Leistungszentrums für den Behindertensport<br />
in Duisburg im Dezember 1990 gebeten, ein<br />
Konzept für die Errichtung von Leistungszentren für<br />
den Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland<br />
zu erstellen. Dieses Konzept liegt bisher noch<br />
nicht vor. Ich gehe davon aus, daß der Deutsche Behinderten-Sportverband<br />
die Forderung des Landessportbundes<br />
Brandenburg in seine Überlegungen einbeziehen<br />
wird.<br />
Anlage 27<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage<br />
des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Frage 45) :<br />
Wie stellt sich die Bundesregierung die Abwicklung der kulturellen<br />
und sozialen Zonenrandförderung im Zeitraum der mittelfristigen<br />
Finanzplanung vor, und welche Beträge sind nach<br />
der Ressortplanung bisher dafür in den kommenden Haushaltsjahren<br />
eingesetzt?<br />
Für das bis 1994 auslaufende kulturelle und soziale<br />
Zonenrandprogramm ist ein Plafond von 270 Millionen<br />
DM vorgesehen, der wie folgt zur Verfügung stehen<br />
soll:<br />
1991 120 Millionen DM<br />
1992 100 Millionen DM<br />
1993 30 Millionen DM<br />
1994 20 Millionen DM<br />
Dieser Gesamtplafond ist vorrangig dazu bestimmt,<br />
solche kulturellen und sozialen Maßnahmen und Einrichtungen<br />
im ehemaligen Zonenrandgebiet abzuwickeln,<br />
— für die in den Vorjahren verbindliche Zuwendungszusagen<br />
vorgelegen haben<br />
— die in Vorjahren bereits mit Bundesmitteln an<br />
finanziert worden sind oder<br />
— bei denen die Bundesländer in Kenntnis des Bedarfes<br />
an Bundesmitteln den vorzeitigen Maßnahmebeginn<br />
gemäß Nr. 1.3 der vorl. VV zu §§ 44, 44 a<br />
BHO genehmigt haben.<br />
Außerdem soll dieser Gesamtbetrag den laufenden<br />
Unterhalt der großen bis mittleren Kulturträger des<br />
ehemaligen Zonenrandgebietes (Theater, Orchester,<br />
Festspiele und Bildungseinrichtungen) bis einschließlich<br />
1992 garantieren. Damit soll den Ländern Bayern,<br />
Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ausreichend<br />
Zeit für eine Umstrukturierung ihrer Haushalte<br />
zur Übernahme der künftig ausfallenden Bundesförderung<br />
verschafft werden.<br />
Der bisher für die Verteilung von Bundesmitteln<br />
maßgebende Schlüssel von<br />
Bayern 33,96 %<br />
Hessen 13,35 %<br />
Niedersachsen 28,33 %<br />
Schleswig-Holstein 24,36<br />
bleibt hierbei unverändert bestehen.<br />
Anlage 28<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Reinhard Göhner auf die<br />
Fragen des Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer (Ulm)<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 46 und 47):<br />
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß nach der Einführung<br />
eines Straftatbestandes der „Geldwäscherei" in der<br />
Schweiz (Artikel 305 schweizerisches StGB) und in anderen<br />
westeuropäischen Ländern im Jahre 1990 die Gefahr besteht,<br />
daß vermehrt Gelder aus dem internationalen Drogenhandel<br />
und anderen Bereichen der organisierten Kriminalität in der<br />
Bundesrepublik Deutschland angelegt werden, wo es bisher<br />
keinen entsprechenden Straftatbestand gibt?
2720* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Beabsichtigt die Bundesregierung, daraus Konsequenzen zu<br />
ziehen und die Verpflichtungen aus den von ihr getragenen<br />
Übereinkommen, Empfehlungen und Richtlinien der UNO, des<br />
Europarates, der Europäischen Kommission und der EG trotz der<br />
Bedenken des Kreditgewerbes endlich zu erfüllen?<br />
Zu Frage 46:<br />
Die Entscheidung der einschlägigen Täter darüber,<br />
wo der Versuch unternommen wird, die Gewinne aus<br />
der Organisierten Kriminalität zu „waschen", dürfte<br />
von einer Reihe von Faktoren abhängen. Das jeweils<br />
geltende Strafrecht ist nur einer dieser Faktoren. Die<br />
in der Frage angesprochene Gefahr könnte sich auf<br />
Dauer nur dann ergeben, wenn die Geldwäsche in<br />
Deutschland straflos bliebe. Aus meiner Antwort zu<br />
der nächsten Frage wird sich aber ergeben, daß dieser<br />
Fall nicht eintreten wird. Die angesprochene Gefahr<br />
sehe ich daher nicht.<br />
verständlich bemüht, die Richtlinie so zügig wie möglich<br />
umzusetzen.<br />
Soweit in der Frage auch noch der Europarat angesprochen<br />
ist, möchte ich darauf hinweisen, daß die<br />
Bundesregierung selbstverständlich auch das Übereinkommen<br />
des Europarates über das Waschen, das<br />
Aufspüren, die Beschlagnahme und die Einziehung<br />
von Erträgen aus Straftaten, zu dessen Erstzeichnern<br />
die Bundesrepublik Deutschland gehört hat, so<br />
schnell wie möglich zur Ratifizierung vorlegen wird,<br />
wenn die innerstaatlichen Voraussetzungen dafür geschaffen<br />
werden. Wie Sie aus meinen vorausgegangenen<br />
Ausführungen entnehmen konnten, wird hieran<br />
mit Nachdruck gearbeitet.<br />
Zu Frage 47:<br />
Die in der Frage angesprochenen Konsequenzen<br />
beziehen sich im Grunde auf zwei verschiedene Bereiche,<br />
auf eine Strafvorschrift über Geldwäsche und<br />
auf eine Regelung zur Aufspürung der Gewinne aus<br />
schweren Straftaten.<br />
Zur Geldwäsche habe ich in der Fragestunde vom<br />
17. April 1991 auf eine Frage des Herrn Kollegen Singer<br />
ausgeführt, daß die Bundesregierung bereits in<br />
der Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates<br />
zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels<br />
und anderer Erscheinungsformen der Organisierten<br />
Kriminalität einen eigenen Vorschlag für eine neue<br />
Strafvorschrift im vergangenen Jahr dem Deutschen<br />
<strong>Bundestag</strong> unterbreitet hat. Eine ergänzte, mit den<br />
beteiligten Bundesressorts zwischenzeitlich abgestimmte<br />
Fassung soll in das Ausführungsgesetz zu<br />
dem Vertragsgesetz zur Wiener Drogenkonvention<br />
von 1988 eingestellt werden. Die Bundesregierung<br />
hält am Ziel einer möglichst schnellen Ratifizierung<br />
dieses Übereinkommens durch den Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />
noch vor Jahresende 1991 fest und ist dementsprechend<br />
auch um eine schnelle Einbringung des<br />
Ausführungsgesetzes dazu bemüht.<br />
Unabhängig hiervon hat der Bundesrat am 26. April<br />
1991 beschlossen, in seinem Gesetzentwurf zur Bekämpfung<br />
des illegalen Rauschgifthandels und anderer<br />
Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität<br />
einen Geldwäschetatbestand aufzunehmen, der in<br />
seiner Ausgestaltung weitgehend der im Bundesministerium<br />
der Justiz ausgearbeiteten Formulierung entspricht.<br />
Damit ist sichergestellt, daß die Pönalisierung<br />
der Geldwäsche auch im Rahmen der Gesetzgebung<br />
zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität<br />
-<br />
weiter<br />
verfolgt wird. Je nachdem, welches der beiden<br />
Gesetzgebungsvorhaben schneller läuft, wird die Regelung<br />
also entweder in dem einen oder in dem anderen<br />
Gesetz verabschiedet werden. Zum Gewinnaufspürungsgesetz<br />
ist darauf hinzuweisen, daß die Richtlinie<br />
der EG zur Verhinderung der Nutzung des<br />
Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche erst am<br />
10. Juni 1991, also in der vorigen Woche, in Brüssel<br />
beschlossen worden ist. Die Forderung, die Richtlinie<br />
„endlich" umzusetzen, ist deshalb nicht verständlich.<br />
Die Richtlinie schreibt eine Umsetzung bis zum 1. Januar<br />
1993 vor. Die Bundesregierung ist jedoch selbst<br />
Anlage 29<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Reinhard Göhner auf die<br />
Frage des Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt)<br />
(FDP) (Drucksache 12/766 Frage 48) :<br />
Ist der Bundesregierung bekannt, ob im Hinblick auf die<br />
durch Aktenfunde belegten Zwangsadoptionen in der ehemaligen<br />
DDR staatsanwaltschaftliche Ermittlungen eingeleitet wurden,<br />
und denkt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund<br />
gesetzliche Maßnahmen einzuleiten?<br />
Die Nachfrage bei den betroffenen Landesjustizverwaltungen<br />
hat ergeben, daß in Berlin und Brandenburg<br />
im Zusammenhang mit dem Verdacht von<br />
„Zwangsadoptionen" staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren<br />
bisher nicht eingeleitet worden sind.<br />
In diesen Ländern soll nach Auswertung der Verdachtsfälle<br />
durch die Senatsverwaltung für Jugend in<br />
Berlin entschieden werden, ob Anlaß zu strafrechtlichen<br />
Ermittlungen besteht. Im Lande Sachsen-Anhalt<br />
ist bei der Staatsanwaltschaft Halle auf Grund der<br />
Strafanzeige eines Rechtsanwalts ein Ermittlungsverfahren<br />
zu dem angesprochenen Fragenkomplex eingeleitet<br />
worden. Erkenntnise über weitere staatsanwaltschaftliche<br />
Ermittlungen haben sich in der Kürze<br />
der zur Beantwortung der Frage zur Verfügung stehenden<br />
Zeit nicht gewinnen lassen.<br />
Aus strafrechtlicher Sicht sind bisher keine gesetzlichen<br />
Maßnahmen angezeigt. Es ist Aufgabe der<br />
Strafverfolgungsorgane der Länder und letztlich der<br />
unabhängigen Ge richte zu beurteilen, ob sich jemand<br />
im Zusammenhang mit dem angesprochenen Fragenkomplex<br />
nach den zur Tatzeit geltenden Gesetzen<br />
strafbar gemacht hat. Soweit dies nicht der Fall sein<br />
sollte, kann eine Strafbarkeit nicht nachträglich begründet<br />
werden. Dies ist durch das in Artikel 103<br />
Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot<br />
ausgeschlossen.<br />
Zur Erforderlichkeit gesetzgeberischer Maßnahmen<br />
im Bereich des Familienrechts, namentlich einer<br />
Verlängerung der Antragsfrist zur Überprüfung der<br />
nach dem Recht der ehemaligen DDR ohne Einwilligung<br />
der leiblichen Eltern erfolgten Adoptionen wird
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — 33, <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2721*<br />
Herr Bundesminister Dr. Kinkel heute abend vor dem<br />
<strong>Bundestag</strong> die Auffassung der Bundesregierung vortragen.<br />
Anlage 30<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />
die Frage des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/<br />
CSU) (Drucksache 12/766 Frage 49):<br />
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, die Vielzahl von<br />
Subventionen und Förderungsprogrammen in den neuen Bundesländern,<br />
die insbesondere für die Städte, Kreise und Gemeinden<br />
unübersichtlich bis verwirrend sind, baldmöglichst zu straffen<br />
und zu vereinfachen?<br />
Um den Kommunen einen Überblick über alle bestehenden<br />
Bundesprogramme zu geben, hat der Bundesminister<br />
der Finanzen in Zusammenarbeit mit den<br />
anderen Bundesressorts die Broschüre „Finanzierungshilfen<br />
der Bundesregierung 1991" zusammengestellt.<br />
In dieser Informationsschrift sind ausführlich<br />
die Förderprogramme dargestellt, die Adressen der<br />
Antragsstellen angeben sowie — soweit möglich —<br />
Musteranträge beigefügt. Die Broschüre ist inzwischen<br />
an alle Gemeinden und Kreise in den neuen<br />
Bundesländern versandt worden.<br />
Die Bundesregierung ist sich durchaus bewußt, daß<br />
die Vielzahl der Förderprogramme die Übersichtlichkeit<br />
verringert. Unter anderem auch aus diesem<br />
Grunde hat sie deshalb im Rahmen des Gemeinschaftswerkes<br />
„Aufschwung Ost" und unter Beachtung<br />
der Eigenverantwortung von Ländern und Gemeinden<br />
5 Milliarden DM den Kommunen in den<br />
neuen Ländern als Investitionspauschale für Instandsetzungen<br />
insbesondere von Schulen, Krankenhäusern<br />
und Altersheimen zur Verfügung gestellt. Damit<br />
konnten ohne bürokratische Verzögerungen unverzüglich<br />
Aufträge an die heimische Wirtschaft vergeben<br />
und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen<br />
werden.<br />
Im übrigen sieht die Bundesregierung derzeit keine<br />
Möglichkeiten, die Vielzahl von Subventionen und<br />
Förderprogrammen in den neuen Bundesländern zu<br />
straffen und zu vereinfachen, da die Mischfinanzierungs-<br />
und Subventionstatbestände vielfältiger Art<br />
sind und auch unterschiedlichen Sachgesetzlichkeiten<br />
unterliegen.<br />
Anlage 31<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />
die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 50):<br />
Treffen Mitteilungen zu, wonach der Militärhaushalt der Sowjetunion<br />
in diesem Jahr um über 20 % ansteigt, und wie läßt<br />
sich gegebenenfalls diese Tatsache mit den deutschen Zahlungen<br />
an die Sowjetunion vereinbaren, die in diesem Jahr eine<br />
Größenordnung von voraussichtlich 70 Milliarden DM erreichen<br />
werden?<br />
Es trifft nach den Informationen der Bundesregierung<br />
zu, daß der sowjetische Militärhaushalt 1991 um<br />
über 20 % gegenüber 1990 steigt. Dabei handelt es<br />
sich allerdings um eine Nominalzahl, die im Zusammenhang<br />
mit der offiziell mit 24 % angegebenen, aber<br />
von sowjetischen und ausländischen Ökonomen für<br />
1991 auf bis zu 200 % geschätzten Inflationsrate zu<br />
sehen ist. Zwar ist der Bundesregierung nicht bekannt,<br />
inwieweit die sowjetischen Militärkosten von<br />
den Preissteigerungen betroffen sind. Es ist aber nicht<br />
auszuschließen, daß es real zumindest nicht zu einer<br />
Steigerung der Militärausgaben kommt.<br />
Die in der Frage genannte Zahl von 70 Milliarden<br />
DM für angeblich deutsche Zahlungen an die UdSSR<br />
ist nicht nur überhöht; sie umfaßt auch Leistungen<br />
unterschiedlicher Natur und verschiedener Zeiträume.<br />
So betragen die Zahlungen aus dem Bundeshaushalt<br />
in 1991 etwa ein Viertel der nach dem<br />
deutsch-sowjetischen Überleitungsabkommen zu erbringenden<br />
und auf vier Jahre verteilten Leistungen<br />
in Höhe von insgesamt rund 12 Milliarden DM, also<br />
rund 3 Milliarden DM. Daneben werden unter anderem<br />
deutschen Exporteuren zu kommerziellen Bedingungen<br />
Ausfuhrgarantien für Exporte in die UdSSR<br />
gewährt, wobei zugunsten der Exporte aus dem Beitrittsgebiet<br />
bestimmte Sonderkonditionen gelten. Dabei<br />
bleibt es aber bei der Verzinsung zu Marktkonditionen<br />
und der Rückzahlbarkeit.<br />
Weder die Leistungen nach dem Überleitungsabkommen<br />
noch die Exportbürgschaften eignen sich als<br />
Ansatzpunkte, um die UdSSR zur Verringerung ihrer<br />
Rüstungsausgaben zu bewegen.<br />
In dem inzwischen beiderseits ratifizierten Überleitungsabkommen<br />
hat sich die Bundesregierung völkerrechtlich<br />
verbindlich verpflichtet. Die Zahlungen<br />
dienen dazu, den termingerechten Abzug der sowjetischen<br />
Truppen aus Deutschland zu sichern.<br />
Die Exportbürgschaften dienen zumindest auch der<br />
Sicherung der Beschäftigung, insbesondere in den<br />
neuen Bundesländern. Ein politisches Junktim würde<br />
den ohnehin stockenden Handelsaustausch gefährden,<br />
womit keiner Seite gedient wäre. Im Rahmen<br />
ihrer außenpolitischen Bemühungen strebt die Bundesregierung<br />
eine nachhaltige und dauerhafte Abrüstung<br />
an.<br />
Anlage 32<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />
die Frage des Abgeordneten Otto Schily (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 51):<br />
Zu welchem Zeitpunkt will die Bundesregierung den beabsichtigten<br />
Subventionsabbau von 10 Milliarden DM „kassenwirksam"<br />
werden lassen?<br />
Von dem vereinbarten Subventionsabbau sind im<br />
Bundeshaushalt 1991 rund 0,5 Milliarden DM kassenwirksam.<br />
Dieser Betrag steigt auf 1,5 Milliarden DM<br />
im Jahr 1994 an und ist im Finanzplan berücksichtigt.<br />
Der weitere Abbau von Finanzhilfen wird noch in<br />
einer Arbeitsgruppe beraten. Zum Abbau zusätzlicher
2722* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
steuerlicher Vergünstigungen sind bereits Vorschläge<br />
erarbeitet worden. Das Gesamtpaket wird dem Bundeskabinett<br />
am 10. Juli 1991 vorliegen. Vorher lassen<br />
sich Aussagen weder über Einzelmaßnahmen, noch<br />
über deren kassenmäßigen Auswirkungen machen.<br />
Anlage 33<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />
die Frage der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Frage 52):<br />
In welcher Höhe wurden aus dem Etat Kommunales Investitionsprogramm<br />
(insbesondere Schulen, Krankenhäuser, Altenheime)<br />
„Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost" in Höhe von<br />
5 Mrd. DM Mittel für den kommunalen Straßenbau verwendet?<br />
Den Kommunen und Kreisen in den neuen Bundesländern<br />
sind im Rahmen des Gemeinschaftswerks<br />
„Aufschwung Ost" vom Bund fünf Milliarden DM als<br />
Investitionspauschale über die Verwaltungen der<br />
neuen Bundesländer zur Verfügung gestellt worden.<br />
Eine ausschließliche Verwendung der Mittel für Investitionen<br />
in soziale Einrichtungen — dies muß betont<br />
werden — ist in der zwischen Bund und Ländern<br />
geschlossenen Verwaltungsvereinbarung zur Investitionspauschale<br />
nicht vorgesehen. Vielmehr können<br />
bei entsprechendem Bedarf investive Maßnahmen für<br />
die Kommunale Infrastruktur insgesamt, also auch<br />
zum Beispiel für kommunale Gebäude und sonstige<br />
Anlagen allgemein, gefördert werden, mithin auch<br />
kommunale Straßen.<br />
Wie sich die Investitionsvorhaben bei den Kommunen<br />
aufgliedern, ist im Augenblick noch nicht zu sagen,<br />
da sich die neuen Länder zu einer entsprechenden<br />
Berichterstattung an den Bund bisher nicht in der<br />
Lage sehen.<br />
Anlage 34<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />
die Fragen der Abgeordneten Sabine Leutheusser<br />
-<br />
Schnarrenberger (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen<br />
53 und 54):<br />
Ist die Bundesregierung bereit, den Privatisierungsauftrag der<br />
Treuhand im Bereich Fremdenverkehr auf die Ferienheime der<br />
Betriebe der NVA und der verschiedenen Sondervermögen sowie<br />
die Gästehäuser des Ministerrates der ehemaligen DDR zu<br />
erweitern?<br />
Ist die Bundesregierung bereit, innerhalb der Treuhand die<br />
Zuständigkeit für die Privatisierung aller touristischen Objekte<br />
zu zentralisieren — und zwar möglichst beim Koordinator Fremdenverkehr<br />
— und dessen Stellung innerhalb der Treuhand<br />
durch Zuordnung eines adäquaten Mitarbeiterstabes zu stärken?<br />
Zu Frage 53:<br />
Die in der Frage angesprochenen Einrichtungen<br />
sind teils der Treuhandanstalt zur Verwaltung und<br />
Verwertung übertragen, teils stehen sie unmittelbar<br />
im Eigentum des Bundes. Diese Aufteilung ist durch<br />
Gesetz geregelt.<br />
Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, hieran etwas<br />
zu ändern.<br />
Zu Frage 54:<br />
Die Trauhandanstalt ist mittlerweile personell und<br />
organisatorisch in der Lage, ihrer Aufgabe voll gerecht<br />
zu werden. So ist zukünftig der Koordinator für<br />
Fremdenverkehr und Tourismus der alleinige Ansprechpartner<br />
für die Privatisierung von Hotels und<br />
Ferienheimen, soweit sie der Verwaltung der Treuhandanstalt<br />
unterliegen. Auch von daher sieht die<br />
Bundesregierung keinen Anlaß, Einfluß auf die Organisationsstruktur<br />
der Treuhandanstalt zu nehmen.<br />
Anlage 35<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />
die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 55):<br />
Welche zusätzlichen personellen Möglichkeiten für die<br />
Grenzübergänge Waldhaus und Furth im Wald sieht die Bundesregierung<br />
auf der Grundlage des verabschiedeten Bundeshaushalts,<br />
und welche Chancen eröffnet er, den Beförderungsstau<br />
dort aufzulösen?<br />
Zur Anpassung an die allgemeine Verkehrsentwicklung<br />
ist der Personalbestand der in Bayern an der<br />
Grenze zur Tschechoslowakei gelegenen Zolldienststellen<br />
um insgesamt über 200 Beamte, die bisher an<br />
der innerdeutschen Grenze eingesetzt waren, erhöht<br />
worden. In Kürze werden den Zollämtern Waidhaus<br />
und Furth im Wald insgesamt mehr als 40 weitere<br />
Beamte auf Dauer zugeführt.<br />
Im Bundeshaushalt 1991 sind die notwendigen Personalverstärkungen<br />
an der deutsch-tschechoslowakischen<br />
Grenze berücksichtigt worden. Sie führen aber<br />
insgesamt nicht zu Stellenvermehrungen, weil gleichzeitig<br />
im Zusammenhang mit dem Wegfall von Aufgaben<br />
der Zollverwaltung an der ehemaligen innerdeutschen<br />
Grenze noch Stellenüberhänge abzubauen<br />
sind.<br />
Die Einführung der neuen Funktionsgruppe<br />
„Grenzzolldienst" eröffnet für die in diesem Bereich<br />
eingesetzten Beamten eine Vielzahl von Beförderungsmöglichkeiten.<br />
Zu den konkreten Beförderungsaussichten<br />
der Beschäftigten der Zollämter<br />
Waidhaus und Furth im Wald läßt sich jedoch keine<br />
Aussage machen, da die Beamten der Zollverwaltung<br />
— unabhängig von der Dienststelle, der sie angehören<br />
— bundeseinheitlich nach einer mit der Personalvertretung<br />
abgestimmten Reihenfolge befördert werden.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2723*<br />
Anlage 36<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />
die Fragen des Abgeordneten Dietmar Schütz (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 56 und 57):<br />
Steht die Bundesregierung jetzt nicht mehr zu ihrer mit den<br />
Regierungschefs der Länder getroffenen Übereinkunft vom<br />
12. Dezember 1989 — die vor Ort durch den damaligen Bundesminister<br />
für Bildung und Wissenschaft, Jürgen W. Möllemann,<br />
bekräftigt wurde — Studentenwerken ehemalige Kasernen zu<br />
günstigen Konditionen zur Verfügung zu stellen?<br />
Wie soll im Kaufvertrag mit dem britischen Investor sichergestellt<br />
werden (z. B. durch Begrenzung der Höchstmiete etc.), daß<br />
der Investor — wie in der Presse angekündigt — dort 270 Studentenwohnungen<br />
bauen wird?<br />
Zu Frage 56:<br />
Die in dem Protokoll der Ministerpräsidentenkonferenz<br />
vom 21. Dezember 1989 enthaltene Forderung<br />
der Länder, der Bund solle geeignete bundeseigene<br />
Baugrundstücke „zu einem symbolischen Preis" zur<br />
Schaffung von Wohnraum für Studenten bereitstellen,<br />
ist im Rahmen der Besprechung des Bundeskanzlers<br />
mit den Regierungschefs der Länder in die „gemeinsame<br />
Erklärung der Regierungschefs von Bund und<br />
Ländern zu grundsätzlichen Fragen der Bildungs- und<br />
Forschungspolitik" nicht aufgenommen worden.<br />
In der Ministerpräsidentenkonferenz am 21. Dezember<br />
1989 ist deshalb keine Übereinkunft getroffen<br />
worden.<br />
Zu Frage 57:<br />
Es geht bei Ihrer Frage offenbar um die Pferdemarkt-Kaserne<br />
in Oldenburg.<br />
Der meistbietende Kaufinteressent, ein britischer<br />
Staatsangehöriger, beabsichtigt nach Angaben des<br />
ihn vertretenden Anwalts, die beiden unteren Stockwerke<br />
des Hauptgebäudes der Pferdemarkt-Kaserne<br />
einer gewerblichen Nutzung zuzuführen (beispielsweise<br />
Praxen für Ärzte und Anwälte) und in den beiden<br />
oberen Stockwerken Studentenwohnraum zu<br />
schaffen.<br />
In den Kaufvertrag sollen folgende Forderungen<br />
des Bundes aufgenommen werden:<br />
— Die Herrichtung zu Studentenwohnungen ist in<br />
spätestens 5 Jahren nach Eigentumsübertragung<br />
abgeschlossen. Die Nutzung als Studentenwohnungen<br />
wird für mindestens 10 Jahre nach Abschluß<br />
der Baumaßnahmen aufrechterhalten.<br />
— Der Mietzins beträgt höchstens 8, — DM/m 2. Er ist<br />
für die Dauer von einem Jahr nach Erstvermietung<br />
unveränderlich. Nach diesem Zeitraum ist eine<br />
Steigerung im Verhältnis der Steigerung der Mietzinsen<br />
im öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau<br />
zulässig.<br />
— Der Bund hat sich im Kaufvertrag das Recht des<br />
Wiederkaufs für den Fall vorzubehalten, daß das<br />
Grundstück nicht vertragsgemäß verwendet<br />
wird.<br />
Zur Sicherung dieses Rechts ist eine Vormerkung<br />
für den Bund an dem Kaufgrundstück zu bestellen<br />
und an erster Rangstelle einzutragen.<br />
Im übrigen hat der Bund vom Kaufinteressenten<br />
gefordert, daß auch im Nebengebäude (rd. 660 m 2 )<br />
Studentenwohnungen einzurichten sind.<br />
Anlage 37<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die<br />
Frage des Abgeordneten Wolfgang Meckelburg<br />
(CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Frage 66):<br />
Wie verhält sich die Bundesregierung zu Vorschlägen, Unternehmen,<br />
die bisher in der reinen Kohleförderung und -verwertung<br />
tätig sind, bei deren Bemühen zu fördern, wie andere Energiekonzerne<br />
auch neue Märkte in anderen Bereichen zu erschließen,<br />
und ist sie bereit, rechtliche und praktische Hindernisse,<br />
die dabei im Wege stehen, umgehend zu beseitigen?<br />
Die Unternehmen des deutschen Steinkohlenbergbaus<br />
unterscheiden sich von anderen Energiekonzernen<br />
u. a. dadurch, daß sie in hohem Maße von öffentlichen<br />
Hilfen abhängig sind.<br />
Von den heute im Prinzip nur noch drei selbständigen<br />
Bergbauunternehmen verfügt vor allem die Ruhrkohle<br />
AG bereits über einen umfangreichen Beteiligungsbereich.<br />
Dort erzielt sie rd. ein Drittel ihres Konzernumsatzes.<br />
Einer begrenzten und wirtschaftlich<br />
vernünftigen Ausweitung dieses Bereichs hat die<br />
Bundesregierung nichts in den Weg gelegt; die aus<br />
bürgschaftsrechtlichen Gründen erforderliche Zustimmung<br />
der öffentlichen Hand zum Erwerb von Beteiligungen<br />
ist in aller Regel erteilt worden.<br />
Eine Förderung der Bergbauunternehmen aus den<br />
Kohlehilfen zur Erschließung neuer Märkte, in denen<br />
sie im Wettbewerb mit anderen Unternehmen stehen,<br />
kann nicht in Betracht kommen. Die den Bergbauunternehmen<br />
gewährten Kohlehilfen sind zweckgebunden<br />
zur Erhaltung des politisch gewollten Versorgungsbeitrages<br />
der deutschen Steinkohle. Die Kohlehilfen<br />
können auch nur in dem Umfang gewährt werden,<br />
wie die Unternehmen alle eigenen Möglichkeiten<br />
der Finanzierung und zur Rationalisierung ausgeschöpft<br />
haben; Gewinne aus Beteiligungen sind<br />
grundsätzlich zur Verringerung der Kohlehilfen zu<br />
verwenden.<br />
Die bereits erfolgte Diversifizierung trägt auch zur<br />
Beschleunigung des Strukturwandels und zur Bewältigung<br />
des Personalüberhangs bei. Als Instrument zur<br />
Schaffung neuer Arbeitsplätze im Nichtmontanbereich<br />
stehen in den Bergbauregionen Hilfen aus der<br />
Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen<br />
Wirtschaftsstruktur und anderen Förderprogrammen<br />
zur Verfügung.<br />
Anlage 38<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 67 und 68) :
2724* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Von welchen Ländern sind der Bundesregierung gegenüber<br />
Klagen über Folgen der westlichen Sowjetunion-Hilfe für die<br />
eigenen Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion geäußert<br />
worden?<br />
Welche Konzepte verfolgt die Bundesregierung, damit durch<br />
ihre Hilfen an die Sowjetunion keine negativen Folgen für die<br />
gewachsenen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen<br />
den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion entstehen<br />
können?<br />
Im übrigen ist die Bundesregierung bemüht, bei<br />
ihren Hilfen die mittel- und osteuropäischen Staaten<br />
und die Sowjetunion möglichst gleichgewichtig zu<br />
behandeln.<br />
Zu Frage 67:<br />
An die Bundesregierung sind bisher keine offziellen<br />
Klagen anderer Staaten über negative Auswirkungen<br />
der Hilfen für die UdSSR auf ihre Handelsbeziehungen<br />
mit der UdSSR herangetragen worden.<br />
Der Bundesregierung ist jedoch bekannt, daß sich<br />
Vertreter Polens, Ungarns und der CSFR bei verschiedenen<br />
Anlässen besorgt über Beeinträchtigungen<br />
ihrer Agrarausfuhren in die UdSSR durch die westlichen<br />
Nahrungsmittellieferungen zu Vorzugskonditionen<br />
äußerten.<br />
Die Befürchtungen dieser Staaten werden von der<br />
Bundesregierung ernst genommen. In diesem Zusammenhang<br />
ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Handel<br />
der ehemaligen RGW-Staaten seit dem 1. Januar<br />
1991 auf der Basis konvertibler Währungen abgewikkelt<br />
wird. Diese Umstellung dürfte wegen der Devisenknappheit<br />
der UdSSR den Agrarhandel dieser<br />
Länder stärker tangiert haben als die Nahrungsmittellieferungen<br />
der westlichen Länder.<br />
Zu Frage 68:<br />
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß mit<br />
den deutschen Wirtschafts- und Finanzhilfen an die<br />
UdSSR ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der<br />
Volkswirtschaft dieses Landes geleistet wird. Die<br />
Stärkung der Wirtschaftskraft der UdSSR ist eine wesentliche<br />
Voraussetzung für die Aufrechterhaltung<br />
ihrer gewachsenen Handelsbeziehungen mit dem<br />
mittel- und osteuropäischen Staaten. Die Hilfen für<br />
die Sowjetunion kommen auf diese Weise mittelbar<br />
auch den anderen ehemaligen RGW-Staaten zugute.<br />
Die aus humanitären Motiven geleisteten Unterstützungen<br />
zur Erleichterung von akuten Versorgungsengpässen<br />
in der UdSSR bei Nahrungsmitteln<br />
im Winter 1990/1991, nämlich vor allem die Spende<br />
von Vorräten aus der Auflösung der Berlin-Reserve,<br />
hat traditionelle Einkäufe der UdSSR in anderen Ländern<br />
nach unserem Wissen nicht tangiert, - denn die<br />
Sowjetunion war aufgrund ihrer Devisenschwäche<br />
nicht in der Lage, diese Engpässe durch zusätzliche<br />
Käufe am Weltmarkt zu überbrücken.<br />
Von den Sonderkonditionen bei der Hermes-Absicherung,<br />
die die Bundesregierung der UdSSR zur Erleichterung<br />
der Einkäufe in den fünf neuen Bundesländern<br />
für 1991 eingeräumt hat, gehen ebenfalls<br />
keine Effekte aus, die Handelsströme umlenken.<br />
Denn sie betreffen ein Volumen, das nur einen Teil<br />
der früheren langjährigen Wirtschaftsbeziehungen<br />
zwischen Bet rieben der ehemaligen DDR und sowjetischen<br />
Abnehmern abdeckt.<br />
Anlage 39<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Jürgen Türk (FDP) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 69 und 70):<br />
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, z. B. für den Spreewald,<br />
im Rahmen von Pilotprojekten ein auch touristisch konzipiertes,<br />
umweltverträgliches, traditionsgebundenes und den<br />
Mittelstand förderndes, wirtschaftlich attraktives Leistungsangebot<br />
zu initiieren und sowohl finanziell als auch ideell zu unterstützen?<br />
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Anerkennungen<br />
von Kur- und Badeorten und die damit verbundenen<br />
Investitionen wie z. B. den Ausbau der Übernachtungskapazitäten<br />
und der Infrastruktur möglichst schnell umzusetzen, und in<br />
welchem Rahmen ist sie bereit, diese zu unterstützen?<br />
Zu Frage 69:<br />
Der Spreewald als einzigartige Niederungslandschaft<br />
in Mitteleuropa ist eine Region von besonderer<br />
touristischer Attraktivität. Dementsprechend groß ist<br />
das öffentliche Interesse. So gibt es bereits mehrere<br />
Studien mit konzeptionellen Vorstellungen für die<br />
Entwicklung dieser Region, u. a. von der Universität<br />
Trier.<br />
Über diese Unterstützung hinaus steht für konkrete<br />
Investitionsprojekte das differenzierte Förderinstrumentarium<br />
zur Verfügung, das im wesentlichen vom<br />
Land verwaltet wird. Die Bundesregierung geht davon<br />
aus, daß das Land sich bei den finanziellen Zusagen<br />
— insbesondere aus der Gemeinschaftsaufgabe<br />
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" —<br />
an diesen Entwicklungskonzepten orientiert. Die<br />
Konzepte berücksichtigen die in der Frage erwähnten<br />
Kriterien.<br />
Zu Frage 70:<br />
Die Situation im Kur- und Bäderbereich der neuen<br />
Länder ist noch schwierig, da die überwiegende Zahl<br />
der Erholungsorte, in denen sich Kureinrichtungen<br />
befanden, die ehrgeizigen Kriterien zur Kurortanerkennung<br />
im alten Bundesgebiet nicht erfüllen kann.<br />
Daher wird es notwendig sein, eine Auswahl von geeigneten<br />
Kurorten für die Anerkennung zu treffen,<br />
denen eine gewisse Schonzeit von mehreren Jahren<br />
zuzusichern ist und denen verstärkte Förderhilfen<br />
durch die Landesregierung zu geben sind.<br />
Zur Unterstützung des Kur- und Bäderbereiches<br />
prüft das Bundesministerium für Wirtschaft einen Untersuchungsauftrag<br />
zur Erstellung eines Marketing<br />
Konzepts unter besonderer Berücksichtigung der Situation<br />
der neuen Länder.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2725*<br />
Anlage 40<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die<br />
Frage des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 71):<br />
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, besondere<br />
kulturelle Wegstrecken wie z. B. die Sächsische Silberstraße<br />
überregional bekanntzumachen und für den Tourismus zu erschließen?<br />
Die Profilierung derartiger touristischer Straßen<br />
muß in erster Linie von den Bürgern und Verantwortlichen<br />
vor Ort mitgetragen werden. Eine enge Zusammenarbeit<br />
der beteiligten Gemeinden ist ebenfalls<br />
vorauszusetzen. Zur Unterstützung entsprechender<br />
Initiativen können die verschiedenen Möglichkeiten<br />
der wirtschaftlichen Förderung durch die Landesregierung<br />
eingesetzt werden.<br />
Eine überregionale, internationale Beachtung kann<br />
bei geeigneten Projekten durch die Deutsche Zentrale<br />
für Tourismus im Rahmen ihrer Tourismuswerbung<br />
erzielt werden.<br />
Anlage 41<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Dr. Sigrid Semper (FDP)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 72 und 73):<br />
Welche Maßnahmen sind bei der regionalen Wirtschaftsförderung<br />
im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost"<br />
zur Stärkung der Fremdenverkehrsbranche vorgesehen, und<br />
wie verteilen sich diese Maßnahmen auf die einzelnen Bundesländer?<br />
In welchem Umfang werden bei der Investitionsmittelvergabe<br />
die traditionellen gastronomischen Gepflogenheiten der Region<br />
berücksichtigt bzw. ein enger landsmannschaftlicher und kultureller<br />
Bezug sichergestellt?<br />
Zu Frage 72:<br />
Auch für das Sonderprogramm „regionale Wirtschaftsförderung"<br />
im Rahmen des Gemeinschaftswerks<br />
„Aufschwung-Ost" bleibt es den Ländern überlassen,<br />
regionale und sektorale Schwerpunkte der<br />
Förderung zu bestimmen.<br />
Die Aufteilung der insgesamt 2,4 Milliarden<br />
D-Mark auf die einzelnen Länder ergibt sich wie<br />
folgt:<br />
Brandenburg<br />
360 Millionen D-Mark<br />
Mecklenburg-Vorpommern 300 Millionen D-Mark<br />
Sachsen-Anhalt<br />
400 Millionen D-Mark<br />
Sachsen<br />
720 Millionen D-Mark<br />
Thüringen<br />
440 Millionen D-Mark<br />
Berlin-Ost<br />
180 Millionen D-Mark.<br />
Zu Frage 73:<br />
Eine Bindung der Fördermittelvergabe an spezielle<br />
gastronomische Ausstattungsformen im Sinne einer<br />
staatlichen Vorgabe erfolgt nicht. Die Wahl des Leistungsprofils<br />
einer Gaststätte unterliegt der freien unternehmerischen<br />
Entscheidung und muß sich am<br />
Markt orientieren. Es wird allerdings häufig im Interesse<br />
des Investors liegen, sein Angebot in Anknüpfung<br />
an regionale Traditionen zu gestalten.<br />
Anlage 42<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die<br />
Frage der Abgeordneten Dr. Gisela Babel (FDP)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 74):<br />
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die vorhandenen<br />
Übersichten über die bereitgestellten Fördermittel den Anforderungen<br />
der Existenzgründer und Investoren gerecht werden,<br />
und welche Konsequenzen zieht sie aus vorgetragener Kritik<br />
wie z. B. im Rahmen der internen Anhörung der Fraktion der<br />
FDP „Fremdenverkehrstag Aufschwung-Ost"?<br />
Die Bundesregierung ist ständig bemüht, die vorhandenen<br />
Informationsmaterialien für Existenzgründer<br />
und potentielle Investoren zu verbessern. Ende<br />
Mai 1991 wurde eine neue Broschüre des Bundesministers<br />
für Wirtschaft aufgelegt mit dem Titel „Wirtschaftliche<br />
Förderung in den neuen Bundesländern" .<br />
Diese Broschüre gibt viele praktische Hinweise für<br />
potentielle Existenzgründer und Investoren. Naturgemäß<br />
gibt es im konkreten Einzelfall weitergehenden<br />
Beratungsbedarf, der seit 7. Juni 1991 u. a. auch durch<br />
die Benutzung des Bürgertelefons gedeckt werden<br />
kann, das bei der Außenstelle des Bundesministeriums<br />
für Wirtschaft eingerichtet wurde.<br />
In Regionalkonferenzen und Fachveranstaltungen<br />
vor Ort bemüht sich das Bundesministerium für Wirtschaft,<br />
zusätzliche Beratung weiterzugeben. In zunehmendem<br />
Maße sind auch die Wirtschaftsministerien<br />
der Länder, die Indust rie- und Handelskammern<br />
und zahlreiche Fachverbände inzwischen in der Lage,<br />
Beratung vor Ort und im konkreten Einzelfall zu erteilen.<br />
Die Bundesregierung bleibt weiter bemüht, das vorhandene<br />
Informationsangebot zu verbessern.<br />
Anlage 43<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Josef Grünbeck (FDP) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 75 und 76):<br />
Welche Maßnahmen sind bei der beschleunigten Verbesserung<br />
der Verkehrsinfrastruktur im Rahmen des Gemeinschaftswerkes<br />
„Aufschwung-Ost" für einen umweltfreundlichen Tourismus<br />
vorgesehen, und auf welcher Höhe belaufen sich die<br />
Investitionen, bezogen auf jedes einzelne neue Bundesland?<br />
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der extrem<br />
günstigen Wechselkurse und damit verbundenen Kaufkraftvorteile<br />
für West-Touristen bei Reisen in die benachbarten<br />
osteuropäischen Länder für den deutschen Tourismus, insbesondere<br />
in den neuen Bundesländern?<br />
Zu Frage 75:<br />
Welche Maßnahmen von den insgesamt vom Bund<br />
bereitgestellten 5,6 Milliarden DM im einzelnen finanziert<br />
werden, hängt im wesentlichen von den Länderverwaltungen<br />
ab. Die Maßnahmen dienen der<br />
Verbesserung der Mobilität und kommen damit generell<br />
dem Tourismus zugute. Soweit die Investitionen<br />
einem flüssigeren Verkehrsablauf oder einer Entlastung<br />
von Ortsdurchfahrten dienen, kann davon ausgegangen<br />
werden, daß sie besonders positive Umwelteffekte<br />
haben werden.
2726* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Von den für die Bundesfernstraßen vorgesehenen<br />
400 Millionen DM in 1991 entfallen auf die Länder<br />
folgende Beträge:<br />
Brandenburg<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Sachsen<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Thüringen<br />
Berlin-Ost<br />
116,8 Millionen DM<br />
52,8 Millionen DM<br />
100,8 Millionen DM<br />
64,0 Millionen DM<br />
61,2 Millionen DM<br />
4,4 Millionen DM.<br />
Die entsprechende Aufteilung im kommunalen<br />
Straßenbau:<br />
Brandenburg<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Sachsen<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Thüringen<br />
Berlin-Ost<br />
93,0 Millionen DM<br />
66,0 Millionen DM<br />
163,2 Millionen DM<br />
90,6 Millionen DM<br />
80,4 Millionen DM<br />
106,8 Millionen DM.<br />
Die Länderaufteilung im Bereich öffentlicher Personennahverkehr<br />
wird zur Zeit mit den Ländern beraten.<br />
Die für Investitionsvorhaben der deutschen Reichsbahn<br />
vorgesehenen Mittel werden sich erst nach<br />
Durchführung der Maßnahmen aufgliedern lassen.<br />
Zu Frage 76:<br />
Seitdem die Bürger der neuen Länder über eine<br />
harte Währung verfügen, sind Reisen in die osteuropäischen<br />
Nachbarländer attraktiver geworden. Eng<br />
begrenzte Aufnahmekapazitäten lassen allerdings<br />
keine quantitativ bedeutsamen touristischen Bewegungen<br />
— abgesehen von Tagesausflügen — erwarten.<br />
Für die Bürger der alten Bundesländer, bei denen<br />
das Interesse an Osteuropa tendenziell zunimmt,<br />
dürfte das Preisniveau nur eines unter mehreren Motiven<br />
für die Reisezielwahl sein.<br />
Anlage 44<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann (FDP)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 77 und 78):<br />
In welcher Weise ist die Bundesregierung aktiv an Bemühungen<br />
beteiligt, den Aufbau einer touristischen Infrastruktur in<br />
den neuen Bundesländern zwischen den einzelnen Landesregierungen<br />
zu koordinieren, und inwieweit wird dabei der Erstellung<br />
flächendeckender Landschaftspläne sowie länderübergreifender<br />
Tourismusentwicklungspläne Rechnung getragen?<br />
Mit welchen Maßnahmen unterstützt die Bundesregierung<br />
die Regierungen der neuen Länder beim Aufbau von Fremdenverkehrsreferaten<br />
sowie bei der Erstellung touristischer Entwicklungspläne?<br />
Zu Frage 77:<br />
Die Bemühungen der Bundesregierung sind zunächst<br />
darauf gerichtet, den einzelnen Regionen und<br />
Ländern beim Aufbau einer touristischen Infrastruktur<br />
Hilfe zu leitsen. Als Beitrag zur Erstellung regionaler<br />
Landschaftspläne dient das Förderinstrumtent<br />
„Projektteams zur Beratung von ausgewählten Regionen<br />
in den neuen Bundesländern beim Aufbau wirtschaftsnaher<br />
Infrastruktur" .<br />
Abgesehen von dem Bereich der Verkehrsinfrastruktur<br />
konzentrieren sich die Planungen der Länder<br />
beim touristischen Angebot auf die örtliche und regionale<br />
Ebene. Bei diesen kleinräumigeren Planungen<br />
tritt in der Regel noch kein weitergehender Koordinierungsbedarf<br />
auf. Dringlich erscheint aus touristischer<br />
Sicht eine entsprechende Abstimmung zwischen den<br />
Ländern Berlin und Brandenburg.<br />
Zu Frage 78:<br />
Das Bundeswirtschaftsministerium bemüht sich,<br />
auch durch seine Außenstelle in Berlin, mit ideeller<br />
Unterstützung, insbesondere durch laufenden Erfahrungsaustausch<br />
und Know-how-Transfer, den neuen<br />
Ländern beim Aufbau von Tourismusreferaten behilflich<br />
zu sein.<br />
Landesweite oder länderübergreifende Entwicklungspläne<br />
könnten eine wichtige Hilfe für einen rascheren<br />
Aus- und Aufbau des touristischen Angebotes<br />
darstellen; Fördermittel des Bundes stehen hierfür im<br />
Haushalt 1991 nicht zur Verfügung.<br />
Anlage 45<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Gottfried Haschke auf die<br />
Fragen des Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 81 und 82):<br />
Trifft es zu, daß auch nach Herstellung der deutschen Einigung<br />
der Kartoffeltransport (sowohl der Speisekartoffeln als<br />
auch der weiterverarbeiteten Produkte) nach Berlin staatlich<br />
gefördert wird, und wenn ja, in welcher Höhe bzw. auf welchen<br />
Berechnungsgrundlagen erfolgen die Bezuschussungen?<br />
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, daß eine Transportbegünstigung<br />
der Kartoffellieferungen aus den alten Bundesländern<br />
nach Berlin zu Wettbewerbsbenachteiligungen der<br />
Kartoffelwirtschaft in den neuen Bundesländern führt, vor allem,<br />
wenn man die ohnehin bestehenden Absatzschwierigkeiten der<br />
neuen Bundesländer berücksichtigt?<br />
Zu Frage 81:<br />
Eine Transportförderung von Kartoffeln und Kartoffelerzeugnissen<br />
nach Berlin findet aus Bundesmitteln<br />
nicht statt.<br />
Zu Frage 82:<br />
Die Bundesregierung teilt die Einschätzung, daß<br />
einseitige Förderungen für derartige Transporte aus<br />
den alten Bundesländern nach Berlin zu Wettbewerbsnachteilen<br />
für Kartoffeln und Kartoffelerzeugnisse<br />
aus den neuen Bundesländern führen würden.<br />
Da Transportvergünstigungen nicht gewährt werden,<br />
entstehen auch keine Wettbewerbsnachteile für derartige<br />
Waren aus den neuen Bundesländern.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2727<br />
Anlage 46<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Gottfried Haschke auf die<br />
Fragen des Abgeordneten Harald B. Schäfer (Offenbach)<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 83 und 84).<br />
Treffen Pressemeldungen zu, wonach im Raum Kehl<br />
18 Schafe mit bis zu 30fach erhöhten PCB-Werten verendet<br />
sind?<br />
Besteht nach Auffassung der Bundesregierung ein Zusammenhang<br />
zwischen dem Schafsterben und der PCB-Belastung,<br />
und sind der Bundesregierung ähnliche Fälle von Tiersterben<br />
bekannt?<br />
Zu Frage 83:<br />
Pressemeldungen, wonach im Raum Kehl 18 Schafe<br />
mit dem Nachweis erhöhter PCB-Werte verendet sind<br />
bzw. getötet wurden, treffen zu. Untersuchungen einer<br />
Anzahl von gestorbenen bzw. getöteten Tieren<br />
haben bei einem Tier einen 30fach erhöhten PCB-<br />
Wert ergeben. Bei den übrigen Tieren wurden Werte<br />
ermittelt, die über denen liegen, die in der Schadstoffhöchstmengenverordnung<br />
festgelegt sind.<br />
Zu Frage 84:<br />
Nach Auffassung der Bundesregierung kann eine<br />
gesundheitliche Beeinträchtigung der Schafe vermutet<br />
werden; es gibt allerdings keine gesicherten Erkenntnisse<br />
über einen alleinigen Zusammenhang<br />
zwischen der Erkrankung der Tiere und der PCB-<br />
Belastung. Ähnliche Fälle von Tiersterben sind der<br />
Bundesregierung nicht bekannt.<br />
Anlage 47<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Gottf ried Haschke auf die<br />
Fragen der Abgeordneten Marion Caspers-Merk<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 85 und 86):<br />
Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die beim Kehler<br />
Schafsterben verendeten Tiere in der Abluftzone der Straßburger<br />
Giftmüllverbrennungsanlage TREDI, der Straßburger Klärschlammverbrennungsanlage<br />
und der Badischen Stahlwerke<br />
geweidet haben, und sieht die Bundesregierung einen möglichen<br />
Zusammenhang zwischen diesem Umstand und der Ursache<br />
des Schafsterbens?<br />
Wird sich die Bundesregierung daran beteiligen, den möglichen<br />
Ursachenzusammenhang zwischen der PCB-Anreicherung<br />
in Tieren und der Abluft von Emittenten zu klären, und sich<br />
auf internationaler Ebene dafür einsetzen, die PCB-Werte zu<br />
senken?<br />
Die Bundesregierung kann — nach Rückfrage bei<br />
dem Minister für Ländlichen Raum, Ernährung, Landwirtschaft<br />
und Forsten des Landes Baden-Württemberg<br />
— bestätigen, daß die betroffene Schafherde im<br />
Einwirkungsbereich der Straßburger Müllverbrennungsanlage<br />
und der Badischen Stahlwerke weidete.<br />
Bisher untersuchte Aufwuchs- und Bodenproben der<br />
Schafkoppel erbrachten keine erhöhten PCB-Werte.<br />
Gleichwohl wird in Baden-Württemberg intensiv an<br />
der Ursachenermittlung gearbeitet. Die Tatsache, daß<br />
Aufwuchs- und Bodenproben keine erhöhten PCB-<br />
Werte, das Fleisch der erkrankten Schafe jedoch überhöhte<br />
PCB-Werte aufwies, läßt nach Auffassung der<br />
Bundesregierung den Schluß zu, daß in diesem Fall<br />
nicht die Abluft der genannten Anlagen, sondern andere<br />
PCB-Quellen eine Rolle spielen müssen.<br />
Anlage 48<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Ursula Schmidt (Aachen) (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 87 und 88) :<br />
Trifft es zu, daß der Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte<br />
und ehemalige Diktator Chiles, General Augusto Pinochet,<br />
am 23. Mai 1991 zwei Stunden den VIP-Service im Frankfurter<br />
Flughafen auf Kosten des Bundesministers der Verteidigung<br />
genoß?<br />
Wenn ja, welche Begründung führt die Bundesregierung für<br />
diese zuvorkommende Behandlung eines Gewaltherrschers an<br />
— vor allem im Hinblick darauf, daß andere demokratische Staaten<br />
Europas Pinochet die Einreise verweigert haben?<br />
Zu Frage 87:<br />
1. Am 23. Mai 1991 wurde das Protokoll BMVg vom<br />
Auswärtigen Amt, Protokoll, sehr kurzfristig, telefonisch<br />
darum ersucht, General Pinochet und dessen<br />
Begleitung während eines gut zweistündigen Transitaufenthaltes<br />
in Frankfurt/Main protokollarisch wahrzunehmen.<br />
Ankunft: 20.15 Uhr aus Lissabon kommend<br />
Weiterflug: 22.35 Uhr nach Santiago de Chile.<br />
Vom Protokoll BMVg wurden telefonisch folgende<br />
Maßnahmen getroffen:<br />
Reservierung und Bezahlung des VIP-Raumes über<br />
die Fluggastsonderbetreuung.<br />
Auftrag an Chef des Stabes WBK IV, Mainz, den<br />
General P. auf dem Flughafen wahrzunehmen.<br />
Am 24. Mai 1991 meldete Chef des Stabes WBK IV<br />
die Durchführung.<br />
Die o. g. Maßnahmen entsprechen dem üblichen<br />
Verfahren, wenn auf Bitten des Auswärtigen Amtes<br />
oder der jeweiligen Botschaft um protokollarische<br />
Wahrnehmung wegen des Aufenthaltes bzw. Transits<br />
eines hohen ausländischen Militärs oder Verteidigungsministers<br />
das Protokoll im BMVg tätig wird.<br />
2. Mit Schreiben vom 14. Juni 1991 hat der stellvertretende<br />
Chef des Protokolls des Auswärtigen Amtes<br />
BMVg überraschend wissen lassen, daß das BMVg im<br />
Falle des Generals Pinochet nicht auf Ersuchen oder<br />
Bitte des Auswärtigen Amtes oder in Amtshilfe gehandelt<br />
habe.<br />
Zu Frage 88:<br />
Erst nach dem 23. Mai 1991 wurde dem Bundesministerium<br />
der Verteidigung bekannt, daß General<br />
Pinochet bereits am 10. Mai 1991 auf Veranlassung<br />
des Auswärtigen Amtes durch den Bundesminister<br />
des Innern mit der Maßnahme 3 (ZURÜCKWEISUNG)<br />
ausgeschrieben worden war.<br />
Unter diesen Umständen hätte sich — nach Ansicht<br />
BMVg — eine protokollarische Wahrnehmung verboten,<br />
auch wenn, wie geschehen, General Pinochet sich<br />
ausschließlich im Transitbereich des Flughafens auf-
2728* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
hielt und somit nicht in das Bundesgebiet eingereist<br />
ist.<br />
Anlage 49<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage<br />
des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 89) :<br />
Wie stellt sich die Bundesregierung die weitere Entwicklung<br />
der Universitäten der Bundeswehr unter den Bedingungen der<br />
neuen Struktur der Bundeswehr vor?<br />
Die bisherigen Überlegungen zur zukünftigen<br />
Struktur basieren auf den Zahlen des Personalstrukturmodells<br />
370. Danach wird für längerdienende Offiziere<br />
ein Bedarf ausgewiesen, der die Nutzung der<br />
vollen Kapazität der Universitäten der Bundeswehr<br />
auch in Zukunft notwendig macht. Da das in die Ausbildung<br />
zum Offizier integrierte Studium an den Universitäten<br />
der Bundeswehr mehr denn je ausschlaggebender<br />
Faktor für die Berufswahl der Offiziersbewerber<br />
ist, wird angestrebt, das Studienangebot in<br />
vollem Umfang zu erhalten. Einschnitte in quantitativer<br />
und qualitativer Hinsicht sollen vermieden werden.<br />
Zukünftige Änderungen des Personalstrukturmodells<br />
370 müßten zu einer Neubewertung der weiteren<br />
Entwicklung der Universitäten der Bundeswehr<br />
führen.<br />
Anlage 50<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Dr. Hartmut Soell (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 90 und 91) :<br />
Wie viele Atomsprengköpfe der nuklearen Artillerie, nuklearer<br />
Kurzstreckenraketen bzw. luftgestützter Systeme lagern<br />
zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland?<br />
Welche Systeme, die für einen Einsatz als nukleare Abstandswaffen<br />
in Europa im Rahmen der NATO geeignet sind, werden<br />
zur Zeit in den USA entwickelt, und wieweit ist diese Entwicklung<br />
fortgeschritten?<br />
Zu Frage 90:<br />
Die Bundesregierung vertritt unverändert die Position,<br />
daß Angaben über Art, Umfang und<br />
-<br />
Lagerung<br />
des nuklearen Potentials der NATO der Geheimhaltung<br />
unterliegen und nicht öffentlich bekanntgemacht<br />
werden.<br />
Über die Anzahl der Nuklearwaffen, die die sowjetischen<br />
Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland<br />
lagern, liegen der Bundesregierung keine Informationen<br />
vor.<br />
Zu Frage 91:<br />
Die Bundesregierung nimmt zu nationalen Planungen<br />
und Entwicklungen bezüglich neuer Waffensysteme<br />
von Bündnispartnern nicht Stellung.<br />
Anlage 51<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Walter Kolbow (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 92 und 93):<br />
Existieren Planungen der NATO oder der USA, den Nuklearwaffenbestand<br />
in der Bundesrepublik Deutschland unabhängig<br />
von amerikanisch-sowjetischen SNF(Short Nuclear Forces)-<br />
Verhandlungen zu verändern?<br />
Sollen die landgestützten Nuklearwaffenbestände in der Bundesrepublik<br />
Deutschland auch unabhängig von amerikanisch<br />
sowjetischen SNF-Verhandlungen verringert oder beseitigt<br />
werden?<br />
Zu Frage 92:<br />
In ihrer Londoner Erklärung haben die Staats- und<br />
Regierungschefs ausgeführt:<br />
„Neue Verhandlungen über die Reduzierung nuklearer<br />
Mittel kürzerer Reichweite zwischen den<br />
Vereinigten Staaten und der Sowjetunion sollten<br />
kurz nach Unterzeichnung eines KSE-Abkommens<br />
beginnen. Die betroffenen Bündnispartner<br />
werden einen Rahmen für diese Rüstungskontrollverhandlungen<br />
entwickeln, der ihren Bedarf<br />
an weit weniger Nuklearwaffen sowie das verringerte<br />
Erfordernis für substrategische Nuklearsysteme<br />
kürzester Reichweite berücksichtigt."<br />
„... Sie haben konkret beschlossen, daß das<br />
Bündnis gleich nach Beginn von Verhandlungen<br />
über nukleare Mittel kürzerer Reichweite vorschlagen<br />
wird, alle seine nuklearen Artilleriegeschosse<br />
in Europa im Gegenzug zu einem<br />
gleichartigen Vorgehen der Sowjetunion zu beseitigen.<br />
"<br />
— Im Bündnis finden zur Unterstützung dieser Absichten<br />
zur Zeit Beratungen zur Vorbereitung von<br />
Verhandlungspositionen für die Rüstungskontrollverhandlungen<br />
zwischen den Vereinigten Staaten<br />
und der Sowjetunion statt. Diese sind noch nicht<br />
abgeschlossen.<br />
— Davon unabhängige Planungen oder Absichten<br />
bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung<br />
nicht.<br />
Anlage 52<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Uta Zapf (SPD) (Drucksache 12/766<br />
Fragen 94 und 95):<br />
Hält es die Bundesregierung für erforderlich, daß die NATO<br />
über nukleare Abstandswaffen verfügt?<br />
Hält es die Bundesregierung für erforderlich, nukleare Abstandswaffen<br />
in der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren?<br />
Die Staats- und Regierungschefs der NATO — wie<br />
auch die Verteidigungsminister haben erklärt:<br />
„Zur Wahrung des Friedens muß das Bündnis für<br />
die vorhersehbare Zukunft eine geeignete Zusammensetzung<br />
nuklearer und konventioneller<br />
Streitkräfte beibehalten, die in Europa stationiert<br />
sind und auf dem gebotenen Stand gehalten werden,<br />
wo dies erforderlich ist."
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2729*<br />
Entscheidungen zur Umsetzung sind nicht getroffen.<br />
Anlage 53<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 96 und 97):<br />
Wann sollen nach den Planungen der NATO nukleare Abstandswaffen<br />
in der Bundesrepublik Deutschland stationiert<br />
werden, bzw. wann soll über eine mögliche Stationierung solcher<br />
nuklearen Abstandswaffen in der Bundesrepublik<br />
Deutschland entschieden werden?<br />
Wie weit ist innerhalb der NATO der Planungsprozeß bezüglich<br />
der Stationierung nuklearer Abstandswaffen in Europa fortgeschritten?<br />
Zu Frage 96:<br />
Entscheidungen über evtl. Stationierungen nuklearer<br />
Abstandswaffen stehen nicht an.<br />
Zu Frage 97:<br />
Es gibt keinen Planungsprozeß bezüglich einer Stationierung<br />
nuklearer Abstandswaffen innerhalb der<br />
NATO.<br />
Hält die Bundesregierung die Sowjetunion jetzt oder in absehbarer<br />
Zeit für fähig und willens, einen Überraschungsschlag<br />
gegen die Bundesrepublik Deutschland oder den Westen zu<br />
führen?<br />
Gibt es oder gab es mit der Sowjetunion Gespräche darüber,<br />
die Tiefflugübungen simultan einzustellen?<br />
Zu Frage 99:<br />
Die Sowjetunion ist eine nukleare Supermacht,<br />
weltweit stärkste konventionelle Landmacht und<br />
zweitstärkste Seemacht sowie zweitstärkste Weltraummacht.<br />
Sie ist aufgrund der geostrategischen<br />
Nähe für die Sicherheit Deutschlands weiterhin von<br />
maßgeblicher Bedeutung. Es gibt derzeit keinen Hinweis<br />
auf feindliche Absichten in der sowjetischen Politik.<br />
Ein „Überraschungsschlag" mit nuklearen Mitteln<br />
wäre grundsätzlich führbar. Er wird als jetzige oder<br />
künftige Absicht der Sowjetunion nicht angenommen.<br />
Zu Frage 100:<br />
Die Bundesregierung erklärt, daß Gespräche mit<br />
der Sowjetunion mit dem Ziel, „die Tiefflugübungen<br />
simultan einzustellen", weder geführt wurden noch<br />
geführt werden. Es ist auch nicht beabsichtigt, mit der<br />
Sowjetunion Gespräche über dieses Thema aufzunehmen.<br />
Anlage 54<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage<br />
des Abgeordneten Dr. Hermann Scheer (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Frage 98):<br />
Bedarf die auf der jüngsten Tagung der NATO-Verteidigungsminister<br />
beschlossene „Rapid Reaction Force" einer nuklearen<br />
Abdeckung, und wenn ja, mit welchen Mitteln soll diese<br />
gewährleistet werden?<br />
Nuklearwaffen haben auch künftig eine wesentliche<br />
Rolle in der Gesamtstrategie des Bündnisses zur<br />
Kriegsverhütung. Sie stellen sicher, daß nie eine Lage<br />
entsteht, in der nicht mit nuklearer Vergeltung als<br />
Reaktion auf militärisches Vorgehen gerechnet werden<br />
müßte.<br />
Als politische Waffen der Kriegsverhütung sind Nuklearwaffen<br />
nicht isoliert ausgerichtet auf bestimmte<br />
Einsatzoptionen oder zur Unterstützung einzelner<br />
Großverbände. Die Zusammensetzung der „Rapid Reaction<br />
Force" sieht von daher auch keine nuklearen<br />
Anteile vor.<br />
Anlage 55<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 99 und 100) :<br />
Anlage 56<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
des Abgeordneten Albrecht Müller (Pleisweiler)<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 101 und 102):<br />
Was sind die Gründe dafür, daß über weiten Teilen der Pfalz in<br />
den letzten zehn Tagen in unerträglichem Maß und bis in die<br />
Nacht hinein wieder militärischer Tiefflug geübt wird — übrigens<br />
auch über der Stadt Ludwigshafen, wie Augenzeugen berichten?<br />
Gibt es Anzeichen dafür, daß eine Bedrohungssituation vorliegt,<br />
die die Tiefflugvorbereitung auf einen Überraschungsschlag<br />
des Ostens und für ein tiefes Eindringen in den Raum des<br />
(nicht mehr vorhandenen) Warschauer Pakts nötig macht?<br />
Zu Frage 101:<br />
Die Bundesregierung erklärt, daß der angesprochene<br />
Flugbetrieb „über weiten Teilen der Pfalz in<br />
den letzten Tagen", was die 24. Kalenderwoche anbetrifft,<br />
mit der NATO-Luftwaffenübung „Central Enterprise"<br />
in Zusammenhang stand.<br />
Diese jährlich stattfindende Übung dient insbesondere<br />
dazu, die Zusammenarbeit der NATO-Luftstreitkräfte<br />
in Mitteleuropa bei taktischen Luftoperationen<br />
zu überprüfen und zu erproben. Das Übungsgebiet<br />
umfaßte den Luftraum über den Benelux-Staaten, Dänemark<br />
sowie der Bundesrepublik Deutschland mit<br />
Ausnahme der neuen Bundesländer.<br />
Insgesamt gesehen, verursachte die Übung „Central<br />
Enterprise" kein zusätzliches Flugaufkommen.<br />
Die seit dem 17. 9. 1990 grundsätzlich bestehende<br />
Tiefflugmindesthöhe vom 1 000 Fuß (300 m) wurde<br />
beibehalten.
2730* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Für die 23. Kalenderwoche liegen keine Hinweise<br />
auf Verdichtungen des Flugbetriebs in der Pfalz vor.<br />
Auch auf Tiefflugübungen über der Stadt Ludwigshafen<br />
liegen keine Anhaltspunkte vor. Das aus der<br />
Luft erkennbar zum Stadtkern gehörende Siedlungsgebiet<br />
von Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern<br />
darf nicht unterhalb von 2 000 Fuß (ca. 600 m) überflogen<br />
werden.<br />
Zu Frage 102:<br />
Es gibt keine Anzeichen dafür, daß eine Bedrohungssituation<br />
vorliegt, die auf einen möglichen<br />
Überraschungsschlag „des Ostens" hindeutet.<br />
Bezüglich der Tiefflugübungen weist die Bundesregierung<br />
allerdings darauf hin, daß Streitkräfte auch<br />
weiterhin ihren Auftrag nur dann erfüllen können,<br />
wenn sie bereits im Frieden die hierfür erforderliche<br />
Ausbildung erhalten. Für die Luftstreitkräfte bedeutet<br />
dies, daß den fliegenden Besatzungen angemessene<br />
Übungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden<br />
müssen, ohne die die Befähigung zum auftragsgemäßen<br />
und sicheren Führen eines Luftfahrzeuges nicht<br />
erhalten werden kann.<br />
Anlage 57<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />
der Abgeordneten Lydia Westrich (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Fragen 103 und 104):<br />
Welchen Anteil haben die Alliierten zur Zeit an den Tiefflugübungen<br />
über der Pfalz und über der Bundesrepublik Deutschland<br />
insgesamt?<br />
Wie begründen die Alliierten gegenüber der Bundesregierung<br />
die Fortsetzung ihrer Tiefflugübungen, und wie kontrolliert<br />
die Bundesrepublik Deutschland die Einhaltung der 300 m<br />
Grenze?<br />
Zu Frage 103:<br />
Der Anteil der Alliierten am Tiefflug beträgt ca.<br />
65 % des Gesamtumfanges.<br />
Statistiken über die Tiefflugbelastung einzelner<br />
Bundesländer werden nicht geführt.<br />
Zu Frage 104:<br />
Gemäß Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut<br />
§ 46 Abs. 1 haben die Alliierten das Recht, im Luftraum<br />
der Bundesrepublik Deutschland zu fliegen. Die<br />
Untergrenze von 300 m wird von ihnen - beachtet.<br />
- Der Führungsstab der Luftwaffe setzt SKYGUARD<br />
Geräte ein, um die Einhaltung der Tiefflugmindesthöhe<br />
zu überwachen.<br />
Anlage 58<br />
Antwort<br />
des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage<br />
des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache<br />
12/766 Frage 105):<br />
Warum hat die Bundesregierung einer Feststellung im Gemeinsamen<br />
Kommuniqué des Verteidigungsplanungsausschusses<br />
und der nuklearen Planungsgruppe der NATO vom<br />
28./29. Mai 1991 zugestimmt, nach der „die endgültige Vernichtung<br />
der im INF-Vertrag erfaßten amerikanischen und sowjetischen<br />
Flugkörper nunmehr vollzogen wurde", obwohl 24 vom<br />
INF-Vertrag erfaßte SS 23-Flugkörper sowjetischer Herkunft<br />
seit dem Tage der deutschen Einheit der Verfügungsgewalt der<br />
Bundesregierung unterliegen und bis heute nicht vernichtet<br />
worden sind?<br />
Die Bundesregierung hat diesem Kommuniqué zugestimmt,<br />
weil die darin getroffene Aussage den Tatsachen<br />
entspricht. Die Bundesregierung stützt sich<br />
dabei wie alle anderen Verbündeten auf Erklärungen<br />
der beiden INF-Vertragsstaaten, der Sowjetunion und<br />
der Vereinigten Staaten, daß die Vernichtung der vom<br />
INF-Vertrag erfaßten Systeme beider Staaten wie im<br />
Vertrag vorgesehen abgeschlossen ist. Die Eliminierung<br />
dieser Systeme ist in beiderseitigen Inspektionen<br />
überprüft und nachgewiesen worden. Die Bundesrepublik<br />
Deutschland ist nicht Vertragspartner des INF-<br />
Vertrages. Aus diesem Vertrag ist daher für die Bundesrepublik<br />
Deutschland keine Verpflichtung zur<br />
Vernichtung der von der ehemaligen NVA übernommenen<br />
SS-23-Flugkörper abzuleiten. Gleichwohl hat<br />
die Bundesregierung alle Vorbereitungen getroffen,<br />
um diese Systeme so bald wie möglich zu vernichten.<br />
Anlage 59<br />
Antwort<br />
der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf<br />
die Fragen der Abgeordneten Dr. Helga Otto (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 106 und 107):<br />
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die finanzielle<br />
Lage der Träger der Freien Wohlfahrtsverbände in den<br />
neuen Bundesländern zu verbessern — besonders auch unter<br />
dem Blickwinkel der Notwendigkeit, sie in die Lage zu versetzen,<br />
die Kindergärten und Kinderkrippen zu erhalten — und die<br />
katastrophale Situation in diesen Einrichtungen in den neuen<br />
Bundesländern zu verbessern?<br />
Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die Bank für<br />
Sozialwirtschaft mit finanziellen Mitteln auszustatten, so daß sie<br />
in die Lage versetzt wird, den freien Wohlfahrtsverbänden der<br />
neuen Bundesländer Kredite zu gewähren?<br />
Zu Frage 106:<br />
Die Freie Wohlfahrtspflege ist ein unverzichtbarer<br />
Faktor des modernen Sozialstaates. Dies ist auch im<br />
Einigungsvertrag gewürdigt worden.<br />
In den alten Ländern, verfügt die Freie Wohlfahrtspflege<br />
in mehr als 64 000 Einrichtungen über ca.<br />
2,5 Mio Betten und Plätze und beschäftigt rd. 750 000<br />
hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.<br />
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung der<br />
Freien Wohlfahrtspflege bewußt.<br />
Daher wurde der Titel für die zentralen und internationalen<br />
Aufgaben einschließlich der Fortbildung in<br />
1991 auf 68 Mio DM von 30 Mio DM in 1990 erhöht.<br />
Der größte Teil der zusätzlichen Summe soll für den<br />
Aufbau der Freien Wohlfahrtspflege in den neuen<br />
Bundesländern eingesetzt werden, damit die einzelnen<br />
sozialen Einrichtungen auch ein Wirkungsoptimum<br />
erreichen.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2731*<br />
Für diese Einrichtungen ist grundsätzlich eine Länderzuständigkeit<br />
gegeben. Angesichts der Situation<br />
der Länderverwaltungen und der Finanzsituation sind<br />
eine Reihe von Programmen und Instrumente entwikkelt<br />
worden, um die Freien Träger zu unterstützen.<br />
Im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost"<br />
ist eine kommunale Investitionspauschale<br />
in Höhe von 5 Mrd DM vorgesehen. Aus dieser<br />
Investitionspauschale können auch Freie Träger Mittel<br />
erhalten.<br />
Die Bundesregierung hat bereits 1990 im Rahmen<br />
des Soforthilfe-Programms für die Spitzenverbände<br />
der Freien Wohlfahrtspflege 20 Mio DM zum Aufbau<br />
ambulanter Dienste in den neuen Bundesländern zur<br />
Verfügung gestellt.<br />
Das Soforthilfe-Programm für besondere Maßnahmen<br />
zugunsten von Familien und älteren Menschen in<br />
den neuen Bundesländern wird 1991 mit 50 Mio DM<br />
fortgesetzt. Zur Zeit werden Gespräche mit den Spitzenverbänden<br />
über den weiteren Aufbau ambulanter<br />
Dienste geführt. Darüber hinaus sollen die Mittel des<br />
Soforthilfe-Programms auch für Maßnahmen in stationären<br />
Einrichtungen, die sich in der Trägerschaft der<br />
Verbände befinden, eingesetzt werden.<br />
Nach Art. 31 Abs. 3 des Einigungsvertrages beteiligt<br />
sich der Bund bis zum 30. Juni 1991 an den Kosten<br />
für die Tageseinrichtungen für die Kinder, um ihre<br />
Weiterführung zu gewährleisten. An diesen Mitteln<br />
partizipieren gleichberechtigt die Tageseinrichtungen<br />
in freier Trägerschaft. Aus dem Gemeinschaftswerk<br />
Aufschwung-Ost können für freie Träger von<br />
Tageseinrichtungen Mittel aus der Investitionspauschale<br />
von 5 Mrd DM und aus dem ABM-Programm<br />
eingesetzt werden.<br />
Den Kirchen werden im Jahre 1991 70 Mio DM für<br />
die Förderung von kirchlichen und caritativen Hilfsmaßnahmen<br />
aus Bundesmitteln zur Verfügung gestellt.<br />
Schließlich ist auf Mittel zu verweisen, die freie<br />
Träger von Tageseinrichtungen von Ländern und<br />
Kommunen erhalten.<br />
Zu Frage 107:<br />
Die Bundesregierung stockt in den nächsten vier<br />
Jahren den Revolvingfonds um insgesamt 100 Mio<br />
DM auf, die vollständig für Einrichtungen in den<br />
neuen Ländern zur Verfügung stehen.<br />
Anlage 60<br />
Antwort<br />
der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf<br />
die Fragen des Abgeordneten Adolf Ostertag (SPD)<br />
(Drucksache 12/766 Fragen 108 und 109) :<br />
Wann gedenkt die Bundesregierung hinsichtlich der immer<br />
drängender werdenden Problematik der Anrechnung der häuslichen<br />
Pflegehilfe der Krankenkassen auf das Pflegegeld nach<br />
§ 69 BSHG endlich im Rahmen einer Gesetzesänderung Rechtsklarheit<br />
zu schaffen mit dem Ziel, daß die Träger der Sozialhilfe<br />
im Interesse der Betroffenen, die dringend auf die ihnen zustehende<br />
gesetzliche Hilfe angewiesen sind, bundeseinheitlich<br />
verfahren können, und wie bewertet sie die derzeitige Anrechnungspraxis<br />
unter dem Gesichtspunkt, daß die neue Pflegehilfe<br />
-<br />
nach dem SGB V §§ 53 his 57 von ihr selbst immer als ergänzend<br />
gekennzeichnet wurde, was sich auch im Text des § 55 SGB V<br />
niederschlägt?<br />
Über welche Informationen verfügt die Bundesregierung bezüglich<br />
der Anzahl der Klageverfahren hinsichtlich der Anrechnung<br />
des Krankenkassen-Pflegegeldes auf das Pflegegeld nach<br />
dem Bundessozialhilfegesetz, getrennt nach Bundesländern?<br />
Zu Frage 108:<br />
Maßgebend für die Anrechnung der Geldleistung<br />
nach § 57 Abs. 1 SGB V auf das Pflegegeld in der<br />
Sozialhilfe ist § 69 Abs. 3 Satz 3 BSHG. Nach dieser<br />
Bestimmung wird ein Pflegegeld nicht gewährt, soweit<br />
der Pflegebedürftige gleichartige Leistungen<br />
nach anderen Rechtsvorschriften erhält. Auf diese<br />
Regelung ist in der Begründung zum Gesundheits<br />
Reformgesetz hingewiesen worden (BT-Drucks.<br />
11/2237, Art. 40 — Bundessozialhilfegesetz, zu Nr. 4,<br />
S. 267). Die Sozialämter verfahren zur Zeit unterschiedlich<br />
und rechnen die Geldleistung von 400 DM<br />
ganz oder nur zum Teil auf das Pflegegeld in der Sozialhilfe<br />
an.<br />
Um diese für die Betroffenen außerordentlich unbefriedigende<br />
Anrechnungspraxis möglichst bald zu beenden<br />
und um die auf die Förderung der häuslichen<br />
Pflegebereitschaft ausgerichtete Zielrichtung der gesetzlichen<br />
Pflegeleistungen für den häuslichen Bereich<br />
zu unterstützen, habe ich den Sozialressorts in<br />
den Bundesländern, den beteiligten Bundesministerien<br />
sowie den Kommunalen Spitzenverbänden mit<br />
Schreiben vom 6. Mai 1991 eine Gesetzesänderung<br />
vorgeschlagen. Sie sieht die Nichtanrechnung der<br />
Hälfte der Geldleistung nach § 57 SGB V auf das Pflegegeld<br />
in der Sozialhilfe vor. Die hierzu erbetenen<br />
Stellungnahmen stehen noch aus.<br />
Zu Frage 109:<br />
Das Bundesministerium für Familie und Senioren<br />
hat die Sozialressorts der Länder und die Kommunalen<br />
Spitzenverbände mit Schreiben vom 6. Mai 1991<br />
auch gebeten, die ihnen bekannten gerichtlichen Entscheidungen<br />
mitzuteilen. Eine Übersicht über die Anzahl<br />
der Klageverfahren ließe sich nur mit einer gezielten<br />
Umfrage bei den Sozialressorts der Länder erreichen,<br />
die ihrerseits alle Sozialämter befragen müßten.<br />
Ich gehe aber davon aus, daß in den süd- und<br />
ostdeutschen Bundesländern, in denen man weitgehend<br />
den Empfehlungen des Deutschen Vereins für<br />
öffentliche und private Fürsorge folgt und die Geldleistung<br />
der Krankenkassen nur zur Hälfte auf das Pflegegeld<br />
in der Sozialhilfe anrechnet, kaum Klagen anhängig<br />
sind.<br />
Anlage 61<br />
Antwort<br />
der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />
auf die Fragen der Abgeordneten Antje -Marie Steen<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 110 und 111):<br />
Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob, vor allem<br />
durch den grenzüberschreitenden Verkehr, die AIDS -Erkrankungen<br />
und der Drogenkonsum in Großstädten wie Frankfurt/<br />
Oder, Leipzig, Berlin, Rostock oder Dresden zugenommen haben?
2732* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Was unternimmt die Bundesregierung über die üblichen finanziellen<br />
Hilfen hinaus, um den betroffenen Ländern in der<br />
Arbeit von Prävention und Aufklärung zu helfen und durch<br />
besondere Maßnahmen zu unterstützen?<br />
Zu Frage 110:<br />
Zum 31. Mai 1991 lagen dem AIDS-Zentrum Meldungen<br />
über 31 AIDS-Erkrankungen und 167 HIV-<br />
Infektionen in den neuen Bundesländern einschließlich<br />
Berlin (Ost) vor. Ein überproportionaler Anstieg<br />
von AIDS-Fällen ist aufgrund der langen Inkubationszeit<br />
in der kurzen Beobachtungszeit nicht zu erwarten.<br />
Es liegen außerdem keine Anzeichen für eine<br />
erhebliche Zunahme von HIV-Infektionen in den<br />
neuen Bundesländern vor. Die nachgewiesenen HIV-<br />
Infektionen entsprechen dem Muster in den alten<br />
Bundesländern, d. h. es sind hauptsächlich Homosexuelle<br />
betroffen. Bezüglich weiterer Einzelheiten wird<br />
auf die Presseerklärung des BMG Nr. 39 vom 12. Juni<br />
1991 verwiesen.<br />
Verläßliche Daten über eine Zunahme von Drogenkonsum<br />
bzw. eine Etablierung entsprechender Szenen<br />
von iv. Drogenabhängigen in den neuen Bundesländern<br />
liegen bisher nicht vor.<br />
Zu Frage 111:<br />
Bereits 1990 wurden die damalige DDR und später<br />
die neuen Bundesländer in die Verteilung von Printund<br />
audiovisuellen Medien der Bundeszentrale für<br />
gesundheitliche Aufklärung einbezogen. Der Umfang<br />
dieser Verteilung hat stetig zugenommen. Vertreter<br />
der neuen Länder arbeiten seit Mai dieses Jahres im<br />
- Bund-Länder-Gremium zur Koordinierung der AIDS<br />
Aufklärung mit. Die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />
Aufklärung führt im 1. Halbjahr 1991 im Rahmen<br />
der personalen Kommunikation etwa 30 % ihrer Aktivitäten<br />
in den neuen Bundesländern durch. Eine Ausweitung<br />
auf 50 % und ggf. 60 % ist beabsichtigt. Ebenfalls<br />
personalkommunikativen Charakter hat ein Projektantrag<br />
der Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung<br />
e. V., der gegenwärtig mit positiver Tendenz<br />
geprüft wird. Er sieht vor, durch Multiplikatorenschulung<br />
insbesondere im verbandlichen Bereich die<br />
AIDS-Prävention in den neuen Ländern zu stärken<br />
und leistet damit zugleich einen Beitrag zum Aufbau<br />
der Gesundheitserziehung insgesamt. Vom AIDS-<br />
Zentrum des Bundesgesundheitsamtes wurden bisher<br />
präventionsorientierte Fortbildungsveranstaltungen<br />
in Ziegenhals bei Berlin, Erfurt, Magdeburg und<br />
Schwerin durchgeführt. Angesprochen als Multiplikatoren<br />
waren hier vor allem Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter<br />
und Lehrer. Entsprechende Veranstaltungen<br />
für die Länder Brandenburg und Sachsen sind in<br />
Vorbereitung.<br />
Um die AIDS-Aufklärung insgesamt möglichst<br />
frühzeitig weiten Kreisen der Gesamtbevölkerung<br />
vorzustellen, ist als massenmediales Eröffnungsangebot<br />
in den neuen Ländern eine Anzeigenschaltung in<br />
den Tageszeitungen vorgesehen. Sie soll auf die Gefahren<br />
von AIDS/HIV sowie die verschiedenen Präventionsmedien<br />
hinweisen und die Anforderung dieser<br />
Medien erleichtern.<br />
Speziell für den Einsatz in Präventionsschwerpunkten<br />
der neuen Länder wurden der Deutschen AIDS-<br />
Hilfe 5 Stellen für „Streetworker" bewilligt. Für jedes<br />
dieser Länder ist zudem die Förderung eines interdisziplinär<br />
angelegten Projekt-Teams zur AIDS-Prävention<br />
vorgesehen, das jeweils 5 Personen/Land umfassen<br />
und die Entwicklung einer zielgruppenspezifischen<br />
AIDS-Beratung und -Aufklärung vorantreiben<br />
soll. Für den Ostteil von Berlin schließlich ist beabsichtigt,<br />
im Bereich der Prävention arbeitende Dienste<br />
und Einrichtungen mit zusätzlichen, aus Bundesmitteln<br />
geförderten Stellen zu verstärken. Zwei zum Aufbau<br />
einer wirkungsvollen AIDS-Beratung dort geförderte<br />
Stellen stehen bereits seit Mai 1990 zur Verfügung.<br />
Als erste drogenpolitische Aufgabe in den neuen<br />
Bundesländern ist die Verstärkung der Prävention anzusehen.<br />
Dazu bietet sich an, das im Zuge der Umsetzung<br />
des Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes<br />
1990 angelaufene Modellprogramm „Mobile Drogenprävention"<br />
in die neuen Bundesländer auszudehnen.<br />
Wie in den alten Bundesländern soll auch in den<br />
neuen Ländern die Deutsche Hauptstelle gegen die<br />
Suchtgefahren (DHS) Koordination und Begleitung<br />
des Programms übernehmen. Sie verfügt bereits über<br />
tragfähige Kontakte mit entsprechenden Einrichtungen<br />
und Trägern in den neuen Ländern. Es ist vorgesehen,<br />
in Berlin, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg<br />
und Mecklenburg-Vorpommern je 2 und in<br />
Sachsen wegen der deutlich höheren Gesamtbevölkerung<br />
3 Präventionsstellen einzurichten.<br />
Im Unterschied zu den alten Bundesländern, wo die<br />
im Programm tätigen Präventionsfachkräfte in Verbindung<br />
mit einer erfahrenen Drogenberatungsstelle<br />
eingesetzt werden, sollen in den neuen Ländern durch<br />
den zusätzlichen Einsatz von ABM-Kräften die Bildung<br />
von „Zweier-Teams" ermöglicht werden, um<br />
die in den neuen Ländern besonders problematische<br />
„Einzelkämpfer-Situation" zu vermeiden und um<br />
gleichzeitig möglichen künftigen Mitarbeitern in der<br />
Präventionsarbeit der Länder eine entsprechende Erfahrungsbildung<br />
zu ermöglichen. Das Programm soll<br />
von Mitte 1991 an zunächst eine Laufzeit von 3 Jahren<br />
haben.<br />
Darüber hinaus finden in den neuen Ländern Aktionswochen<br />
unter dem Motto „Bewußter leben —<br />
Möglichkeiten und Methoden der Gesundheitsförderung"<br />
statt. Diese Aktionswochen umfassen Ausstellungen<br />
und Präsentationen, Informationsveranstaltungen<br />
sowie Seminare zu Themen der Gesundheitserziehung<br />
und -förderung, die schwerpunktmäßig<br />
auch den Suchtbereich beinhalten. Angesprochen<br />
werden Multiplikatoren/innen aus dem schulischen<br />
und außerschulischen Bereich. Veranstalter dieser<br />
Aktionen ist die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />
Aufklärung. Auch die Deutsche Hauptstelle gegen die<br />
Suchtgefahren informiert im Rahmen dieser Veranstaltungen<br />
über ihre Arbeit.<br />
Die Resonanz der ersten Aktionswochen, die vom<br />
4. Mai bis 1. Juni 1991 im Hygiene-Museum in Dresden<br />
stattfanden, war gut. Es ist geplant, die o. a. Aktion<br />
in allen fünf östlichen Bundesländern durchzuführen.
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2733*<br />
Anlage 62<br />
Antwort<br />
der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />
auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Reinhard<br />
Meyer zu Bentrup (CDU/CSU) (Drucksache 12/766<br />
Fragen 112 und 113):<br />
Welche Erfahrungen liegen der Bundesregierung in bezug auf<br />
die Erfüllung der Vorversicherungszeiten zur Gewährung von<br />
Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit im Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes<br />
vor?<br />
Beabsichtigt die Bundesregierung auf Grund der gemachten<br />
Erfahrungen, die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung<br />
von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne<br />
der Betroffenen zu verbessern?<br />
Die Leistungen der Krankenkassen bei Schwerpflegebedürftigkeit<br />
setzen zum Schutz der Beitragszahler<br />
Vorversicherungszeiten voraus. Danach muß der Versicherte<br />
u. a. seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit<br />
bis zur Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit<br />
mindestens 9/10 der zweiten Hälfte dieses<br />
Zeitraums versichert gewesen sein. Die Erfahrungen<br />
haben gezeigt, daß gerade in der zweiten Hälfte<br />
des Arbeitslebens Unterbrechungen bei sonst langjähriger<br />
Mitgliedschaft auftreten. Für selbständige<br />
Landwirte und ehemalige Landwirte, die zum Zeitpunkt<br />
des Eintritts der Schwerpflegebedürftigkeit in<br />
der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung<br />
versichert sind, ergibt sich zudem eine andere gesetzliche<br />
Behandlung als für Landwirte, die im Zeitpunkt<br />
des Eintritts der Schwerpflegebedürftigkeit nach dem<br />
erst im Jahre 1972 wirksam gewordenen Gesetz über<br />
die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG)<br />
pflichtversichert sind.<br />
Die Regierungskoalition prüft im Rahmen der Weiterentwicklung<br />
des Gesundheits-Reformgesetzes, ob<br />
und welche Änderungen möglich sind, um langjährig<br />
Versicherte unabhängig von der geltenden 9/10-Regelung<br />
in den Kreis der Begünstigten einzubeziehen. Als<br />
Lösung kommt in Betracht, neben der 9/10-Regelung<br />
eine bestimmte Anzahl von Versicherungsjahren —<br />
zum Beispiel 18 oder 20 Jahre — ausreichen zu lassen,<br />
um die Vorversicherungszeiten als erfüllt anzusehen.<br />
Auf das Erfordernis einer Vorversicherungszeit insgesamt<br />
kann bereits aus finanziellen Gründen nicht<br />
verzichtet werden.<br />
Anlage 63<br />
Antwort<br />
der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />
auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo<br />
(CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Fragen 114 und<br />
115):<br />
Welche Beweise hat die Bundesministerin für Gesundheit,<br />
Gerda Hasselfeldt, für die von ihr wiedergegebene Beobachtung,<br />
daß von den (doch wohl öffentlichen?) Geldern für Investitionen<br />
für Schulen, Altenheime und Krankenhäuser nur 25 %<br />
in diese Einrichtungen fließen und der Rest im Straßenbau, auf<br />
Festgeldkonten oder anderswo landet?<br />
Welche Maßnahmen sind inzwischen getroffen worden, um<br />
zweck- und pflichtwidrige Verwendungen von öffentlichen Investitionsgeldern<br />
der genannten Art unverzüglich zu korrigieren?<br />
Aufgrund gezielter Einzelnachfragen des Bundesministeriums<br />
für Gesundheit in den neuen Bundesländern<br />
hat sich eine durchschnittliche Inanspruchnahme<br />
von ca. 25 % für die Bereiche Krankenhäuser,<br />
Alteneinrichtungen und Schulen ergeben (Stand Mai<br />
1991).<br />
Um einen exakten Überblick zu erhalten, sind zwischenzeitlich<br />
alle Kreise und kreisfreien Städte gebeten<br />
worden, ihren Vergabeanteil mitzuteilen. Ergebnisse<br />
der Umfrage werden für Anfang Juli erwartet.<br />
Von pflichtwidrigen Verwendungen kann nicht gesprochen<br />
werden, da die Förderschwerpunkte zwar<br />
genannt, aber für die kommunalen Entscheidungsträger<br />
nicht verpflichtend sind.<br />
Anlage 64<br />
Antwort<br />
der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />
auf die Frage der Abgeordneten Verena Wohlleben<br />
(SPD) (Drucksache 12/766 Frage 116):<br />
Wie weit ist die Bundesregierung in ihren Vorbereitungen zur<br />
Änderung des § 311 Abs. 1 Buchstabe c SGB V, womit Beschränkungen<br />
bei der Krankenversicherung von Arbeitnehmern<br />
aus den alten Bundesländern, die in den neuen Bundesländern<br />
einer Beschäftigung nachgehen und unter 2 250 DM<br />
verdienen, aufgehoben werden sollen, damit diese Regelung,<br />
wie in der Fragestunde am 27. Februar 1991 angekündigt, zum<br />
1. Juli 1991 in Kraft treten kann?<br />
Für Arbeitnehmer und ihre Familien aus den alten<br />
Bundesländern können bei Aufnahme einer Beschäftigung<br />
in den neuen Bundesländern Nachteile im<br />
- Krankenversicherungsschutz entstehen. Die vertrags<br />
und vergütungsrechtlichen Beschränkungen des für<br />
Versicherte im Beitrittsgebiet geltenden § 311 Abs. 1<br />
Buchst. c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch können<br />
insbesondere bei den Angehörigen zu Zuzahlungen<br />
führen, wenn sie Kassenleistungen im bisherigen<br />
Bundesgebiet in Anspruch nehmen.<br />
Um diese Nachteile zu vermeiden, hat die Bundesregierung<br />
in Artikel 6 Nr. 4 des Entwurfs eines Gesetzes<br />
zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen<br />
Renten- und Unfallversicherung — Rentenüberleitungsgesetz<br />
— am 9. April 1991 eine gesetzliche<br />
Regelung beschlossen. Die Neuregelung sieht für<br />
die betroffenen Arbeitnehmer das Recht vor, bei<br />
der Krankenkasse im bisherigen Bundesgebiet Mitglied<br />
zu bleiben, bei der sie zuletzt versichert<br />
waren.<br />
Diese Regelung, die gegenwärtig in den parlamentarischen<br />
Gremien beraten wird, soll am Tag nach der<br />
Verkündung des Gesetzes in Kraft treten. Z. Z. läßt<br />
sich nicht absehen, ob die ursprüngliche Zeitplanung<br />
für die parlamentarischen Beratungen, die am 5. Juli<br />
1991 abgeschlossen sein sollten, eingehalten werden<br />
kann.