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33. Sitzung - Deutscher Bundestag

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Plenarprotokoll 12/33<br />

<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong><br />

Stenographischer Bericht<br />

<strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong><br />

Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Inhalt:<br />

Verabschiedung des Direktors beim Deut<br />

schen <strong>Bundestag</strong> Dr. Joseph Bücker<br />

2547 A<br />

Bestimmung des Abg. Lothar de Maizière<br />

zum ordentlichen Mitglied im Vermittlungs<br />

ausschuß anstelle des ausgeschiedenen Abg.<br />

Ulrich Klinkert<br />

2547 C<br />

Nachträgliche Überweisungen von Vorlagen<br />

an Ausschüsse<br />

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord<br />

nung<br />

Tagesordnungspunkt 2:<br />

Überweisung im vereinfachten Verfahren:<br />

Erste Beratung des vom Bundesrat<br />

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />

zur Änderung des Waffengesetzes<br />

(Drucksache 12/471)<br />

in Verbindung mit<br />

2547 C<br />

2547 D<br />

Zusatztagesordnungspunkt 1:<br />

Beratung des Antrags der Fraktion der<br />

SPD: Ausschuß zur Kontrolle der eini-<br />

-<br />

gungsbedingten Fördermittel des Bundes<br />

für Kultureinrichtungen (Kontrolle<br />

Kulturelle Fördermittel) (Drucksache<br />

12/790) 2548 B<br />

Zusatztagesordnungspunkt 2:<br />

Beratung des Antrags der Fraktionen der<br />

CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe<br />

Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Zum KSZE-<br />

Expertentreffen über nationale Minderheiten<br />

in Genf vom 1. bis 19. Juli 1991<br />

(Drucksache 12/796)<br />

Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/<br />

CSU<br />

Freimut Duve SPD<br />

Freimut Duve SPD<br />

Ulrich Irmer FDP<br />

Angela Stachowa PDS/Linke Liste<br />

Hartmut Koschyk CDU/CSU<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />

Hartmut Koschyk CDU/CSU<br />

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU<br />

Zusatztagesordnungspunkt 3:<br />

Beratung des Antrags der Fraktionen<br />

CDU/CSU, SPD und FDP und der Gruppe<br />

Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Zur Krise in<br />

Jugoslawien (Drucksache 12/795)<br />

in Verbindung mit<br />

Zusatztagesordnungspunkt 4:<br />

Beratung des Antrags der Fraktionen der<br />

CDU/CSU, SPD und FDP: Zur Lage in<br />

Kosovo (Drucksache 12/797)<br />

in Verbindung mit<br />

Zusatztagesordnungspunkt 5:<br />

Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />

Gerd Poppe und der Gruppe Bündnis 90/<br />

DIE GRÜNEN: Zur Lage in Kosovo<br />

(Drucksache 12/780)<br />

Friedrich Vogel (Ennepetal) CDU/CSU<br />

Dr. Peter Glotz SPD<br />

2548 C<br />

2549 C<br />

2549D, 2557 C<br />

2552 B<br />

2553 B<br />

2553 D<br />

2554 B<br />

2555 C<br />

2557 A<br />

2558 B<br />

2559 D


II <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Olaf Feldmann FDP<br />

Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste<br />

Heinrich Lummer CDU/CSU<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />

Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD<br />

Tagesordnungspunkt 3:<br />

Beratung der Beschlußempfehlung und<br />

des Berichts des Auswärtigen Ausschusses<br />

zu dem Antrag der Fraktion der SPD:<br />

Einrichtung eines baltischen Informationsbüros<br />

in der Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

zu dem Antrag des Abgeordneten Gerd<br />

Poppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE<br />

GRÜNEN: Einrichtung eines baltischen<br />

Informationsbüros in der Bundesrepublik<br />

Deutschland (Drucksachen 12/164,<br />

12/166, 12/673)<br />

Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD<br />

Helmut Sauer (Salzgitter) CDU/CSU<br />

Dr. Cornelie von Teichman FDP<br />

Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste<br />

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/<br />

CSU<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />

Tagesordnungspunkt 4:<br />

Zweite und dritte Beratung des von der<br />

Abgeordneten Ursula Männle, weiterer<br />

Abgeordneter und der Fraktion der CDU/<br />

CSU sowie der Abgeordneten Dr. Eva<br />

Pohl, weiterer Abgeordneter und der<br />

Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs<br />

eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung<br />

über die weitere Verbesserung<br />

der Arbeits- und Lebensbedingungen<br />

der Familien mit Kindern (Gesetz zur<br />

Einführung von Mütterunterstützung für<br />

Nichterwerbstätige in den neuen Bundesländern)<br />

(Drucksachen 12/409,<br />

12/754, 12/755)<br />

Angelika Pfeiffer CDU/CSU<br />

Michael Habermann SPD<br />

Dr. Eva Pohl FDP<br />

Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste<br />

Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS<br />

Tagesordnungspunkt 5:<br />

— Zweite und dritte Beratung des von der<br />

Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs<br />

eines ... Gesetzes zur Änderung<br />

des Grundgesetzes (Artikel 146 GG)<br />

(Drucksachen 12/656, 12/794)<br />

-<br />

2562 C<br />

2563 A<br />

2563 C<br />

2564 B<br />

2565 A<br />

2566 B<br />

2567 C<br />

2568 B<br />

2569 A<br />

2569 C<br />

2570 C<br />

2571 D<br />

2572 C<br />

2573 D<br />

2574 C<br />

— Zweite und dritte Beratung des von der<br />

Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs<br />

eines Gesetzes über das Verfah<br />

ren zur Durchführung des Volksentscheides<br />

nach Artikel 146 Abs. 2 des<br />

Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2)<br />

(Drucksachen 12/657, 12/794, 12/801)<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD . 2576A, 2584 C<br />

Norbert Geis CDU/CSU<br />

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD<br />

Uwe Lambinus SPD<br />

2580B, 2585 A<br />

2581 C<br />

2582 A<br />

Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 2585 B<br />

Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU<br />

Norbert Geis CDU/CSU<br />

Franz Heinrich Krey CDU/CSU<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD<br />

Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste<br />

Jörg van Essen FDP<br />

2585 C<br />

2585 D<br />

2586 B<br />

2586 C<br />

2587 A<br />

2588 A<br />

Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU 2589B, 2592 A<br />

Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste (Erklä<br />

rung nach § 30 GO)<br />

Wolfgang Lüder FDP (Erklärung nach § 31<br />

GO)<br />

Namentliche Abstimmung<br />

Ergebnis<br />

Zusatztagesordnungspunkt 6:<br />

Beratung der Beschlußempfehlung des<br />

Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />

(Vermittlungsausschuß) zu dem<br />

Gesetz zur Förderung von Investitionen<br />

und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet<br />

sowie zur Änderung steuerrechtlicher<br />

und anderer Vorschriften<br />

(Steueränderungsgesetz 1991 — StÄndG<br />

1991) (Drucksachen 12/219, 12/402,<br />

12/459, 12/562, 12/698, 12/768)<br />

in Verbindung mit<br />

Zusatztagesordnungspunkt 7:<br />

Beratung der Beschlußempfehlung des<br />

Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />

(Vermittlungsausschuß) zu dem<br />

2574 D Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung<br />

der öffentlichen Haushalte sowie über<br />

strukturelle Anpassungen in dem in Artikel<br />

3 des Einigungsvertrages genannten<br />

Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz 1991 —<br />

HBeglG 1991) (Drucksachen 12/221,<br />

12/401, 12/461, 12/581, 12/697, 12/769)<br />

Dr. Peter Struck SPD<br />

2591 D<br />

2592 B<br />

2633 B<br />

2638 C<br />

2592 D


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

III<br />

Tagesordnungspunkt 6:<br />

Beratungen ohne Aussprache<br />

a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung<br />

des von der Bundesregierung<br />

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />

zu der Dritten Änderung des<br />

Übereinkommens über den Internationalen<br />

Währungsfonds (Drucksachen<br />

12/336, 12/791)<br />

b) Beratung der Beschlußempfehlung<br />

und des Berichts des Ausschusses für<br />

Verkehr<br />

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />

Mitteilung über eine Eisenbahnpolitik<br />

der Gemeinschaft:<br />

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates<br />

zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen<br />

in der Gemeinschaft<br />

Vorschlag für eine Verordnung<br />

(EWG) des Rates zur Änderung der<br />

Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 über<br />

das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei<br />

mit dem Begriff des öffentlichen<br />

Dienstes verbundenen Verpflichtungen<br />

auf dem Gebiet des Eisenbahn-,<br />

Straßen- und Binnenschiffsverkehrs<br />

Vorschlag für eine Entscheidung des<br />

Rates über die Schaffung eines Hochgeschwindigkeitsnetzes<br />

für Eisenbahnen<br />

Vorschlag für eine Richtlinie des<br />

Rates zur Änderung der Richtlinie<br />

75/130/EWG über die Festlegung gemeinsamer<br />

Regeln für bestimmte Beförderungen<br />

im kombinierten Güterverkehr<br />

zwischen Mitgliedstaaten<br />

(Drucksachen 12/210 Nr. 162, 12/701)<br />

c) Beratung der Beschlußempfehlung<br />

und des Berichts des Ausschusses für<br />

Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung<br />

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />

Vorschlag für eine Entscheidung des<br />

Rates über ein spezifisches Programm -<br />

für Forschung und technologische<br />

Entwicklung im Bereich der nuklearen<br />

Sicherheit bei der Kernspaltung<br />

(1990 bis 1994)<br />

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />

Vorschlag für eine Entscheidung des<br />

Rates zur Annahme eines spezifischen<br />

Programms für Forschung und<br />

technologische Entwicklung auf dem<br />

Gebiet der kontrollierten Kernfusion<br />

(1990 bis 1994)<br />

Vorschlag für einen Beschluß des Rates<br />

zur Billigung der Änderung der Satzung<br />

des Gemeinsamen Unternehmens Joint<br />

European Torus (JET), Joint Undertaking<br />

(Drucksachen 12/210 Nr. 176, 12/152<br />

Nr. 61, 12/702)<br />

d) Beratung der Beschlußempfehlung und<br />

des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft<br />

zu der Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Fünfzehnte Verordnung zur<br />

Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />

(Drucksachen 12/333, 12/760)<br />

e) Beratung der Beschlußempfehlung und<br />

des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft<br />

zu der Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Vierundsiebzigste Verordnung<br />

zur Änderung der Ausfuhrliste<br />

— Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung<br />

— (Drucksachen 12/334,<br />

12/761)<br />

f) Beratung der Beschlußempfehlung und<br />

des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft<br />

zu der Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Fünfundsiebzigste Verordnung<br />

zur Änderung der Ausfuhrliste —<br />

Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung<br />

— (Drucksachen 12/482, 12/762)<br />

g) Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Vierzehnte Verordnung zur<br />

Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />

(Drucksache 12/268)<br />

h) Beratung der Beschlußempfehlung des<br />

Petitionsausschusses<br />

Sammelübersicht 18 zu Petitionen<br />

(Drucksache 12/684)<br />

i) Beratung der Beschlußempfehlung des<br />

Petitionsausschusses<br />

Sammelübersicht 20 zu Petitionen<br />

(Drucksache 12/747)<br />

j) Beratung der Beschlußempfehlung des<br />

Petitionsausschusses<br />

Sammelübersicht 21 zu Petitionen<br />

(Drucksache 12/748)<br />

Tagesordnungspunkt 1:<br />

Fragestunde<br />

— Drucksachen 12/366 vom 14. Juni 1991<br />

und 12/799 vom 18. Juni 1991 —<br />

Zwangsdeportationen von in Kuwait leben<br />

den Irakern; Maßnahmen gegen die Men-<br />

2593 C


IV <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

schenrechtsverletzungen durch die kuwaitische<br />

Regierung<br />

DringlAnfr 1, 2<br />

Dr. Klaus Kübler SPD<br />

Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />

ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD<br />

ZusFr Monika Ganseforth SPD<br />

ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />

2595A, C<br />

2595B, 2596 B<br />

2595 C, 2596D<br />

2596 C<br />

Verfassungsmäßigkeit von Nahverkehrsabgaben<br />

MdlAnfr 9, 10<br />

Ingrid Walz FDP<br />

Antw PStSekr Wolfgang Gröbl FDP<br />

ZusFr Ingrid Walz FDP<br />

ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />

ZusFr Dr. Margrit Wetzel SPD<br />

ZusFr Otto Schily SPD<br />

ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos<br />

2600 A<br />

2600 C<br />

2600 D<br />

2601 B<br />

2601 C<br />

2602 D<br />

Finanzielle Hilfen für die Kommunen zur<br />

Entsorgung des Belags „Kieselrot" aus Freizeitanlagen<br />

MdlAnfr 1<br />

Karl Stockhausen CDU/CSU<br />

Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU<br />

ZusFr Karl Stockhausen CDU/CSU<br />

ZusFr Marion Caspers-Merk SPD<br />

Verwendung von Hydrauliköl auf biologischer<br />

Basis (z. B. Rapsöl) bei Bundespost,<br />

Bundesbahn, Zoll, Bundeswehr, BGS usw.<br />

MdlAnfr 2<br />

Karl Stockhausen CDU/CSU<br />

Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU<br />

ZusFr Karl Stockhausen CDU/CSU<br />

Rentenversicherung für freischaffende<br />

Künstler in den neuen Bundesländern<br />

MdlAnfr 4<br />

Angela Stachowa PDS/Linke Liste<br />

Antw PStSekr Horst Günther BMA<br />

Ausbau der Ems nach Durchführung einer<br />

Umweltverträglichkeitsprüfung; Bereitstellung<br />

von Bundesmitteln; Annahme der Unterschriftenliste<br />

zur Erhaltung des Wasser<br />

Rendsburg durch<br />

-straßen-Maschinenamts<br />

BMin Dr. Krause<br />

MdlAnfr 7, 8<br />

Ulrike Mehl SPD<br />

Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV<br />

ZusFr Ulrike Mehl SPD<br />

ZusFr Jürgen Koppelin FDP<br />

ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />

ZusFr Dr. Hermann Scheer SPD<br />

2597A<br />

2597B<br />

2597 D<br />

2598 A<br />

2598 B<br />

2598 C<br />

2599A, B<br />

2599B, C<br />

2599 D<br />

2599 D<br />

2600 A<br />

Kosten für die Asbest-Sanierung<br />

MdlAnfr 13<br />

Otto Schily SPD<br />

Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau<br />

ZusFr Otto Schily SPD<br />

ZusFr Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD<br />

Sanierung von Gastronomiebetrieben in den<br />

neuen Bundesländern<br />

MdlAnfr 14<br />

Jürgen Koppelin FDP<br />

Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau<br />

ZusFr Jürgen Koppelin FDP<br />

ZusFr Dr. Rolf Olderog CDU/CSU<br />

ZusFr Dr. Olaf Feldmann FDP<br />

ZusFr Ulrich Schmalz CDU/CSU<br />

ZusFr Klaus Brähmig CDU/CSU<br />

ZusFr Jürgen Türk FDP<br />

2602 A<br />

2602 B<br />

2602 C<br />

2602 D<br />

2603 B<br />

2603 C<br />

2603 D<br />

2604 A<br />

2604 B<br />

2604 C<br />

Bewertung von Rüstungsausgaben im Zusammenhang<br />

mit der Vergabe von Entwicklungshilfe<br />

MdlAnfr 20<br />

Jürgen Augustinowitz CDU/CSU<br />

Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2604 C<br />

ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 2605 B<br />

ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />

2605 C<br />

ZusFr Josef Grünbeck FDP<br />

2605 D<br />

ZusFr Gernot Erler SPD<br />

2606 A<br />

ZusFr Ingrid Walz FDP<br />

2606 B<br />

Entwicklungspolitische Gespräche mit chinesischen<br />

Regierungsvertretern seit Juni<br />

1989<br />

MdlAnfr 21<br />

Jürgen Augustinowitz CDU/CSU<br />

Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ 2606 C<br />

ZusFr Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 2607 A<br />

ZusFr Otto Schily SPD<br />

2607 B<br />

ZusFr Dr. Harmut Soell SPD<br />

2607 B<br />

ZusFr Gernot Erler SPD<br />

2607 C<br />

ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />

2607 D


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

V<br />

Einholung der Ermittlungsergebnisse von<br />

amnesty international über die Lage der<br />

Menschenrechte vor einer Erörterung der<br />

entwicklungspolitischen Zusammenarbeit<br />

mit Marokko und der Türkei<br />

MdlAnfr 22, 23<br />

Rudolf Bindig SPD<br />

Antw PStSekr Hans-Peter Repnik BMZ<br />

ZusFr Rudolf Bindig SPD<br />

ZusFr Dr. Ingomar Hauchler SPD<br />

2608A, C<br />

2608B, D<br />

2609 A<br />

ZusFr Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . 2609 B<br />

Gerhard Neumann (Gotha) SPD<br />

Karl Stockhausen CDU/CSU<br />

Günther Friedrich Nolting FDP<br />

Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister<br />

BMVg<br />

Brigitte Schulte (Hameln) SPD<br />

Dr. Egon Jüttner CDU/CSU<br />

Manfred Opel SPD<br />

Hans Raidel CDU/CSU<br />

Thomas Kossendey CDU/CSU<br />

2618B<br />

2619 C<br />

2620 C<br />

2621 D<br />

2622 C<br />

2623 D<br />

2624 C<br />

2625 C<br />

2626 C<br />

Absicht der politischen und psychologischen<br />

Beeinflussung der ehemaligen Mitgliedstaaten<br />

des Warschauer Paktes laut Strategiepapier<br />

des Zentralkomitees der KPdSU<br />

MdlAnfr 25<br />

Ortwin Lowack fraktionslos<br />

Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />

ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos<br />

ZusFr Gernot Erler SPD<br />

Beginn - der amerikanisch-sowjetischen SNF<br />

Verhandlungen<br />

MdlAnfr 26<br />

Dr. Hermann Scheer SPD<br />

Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />

ZusFr Dr. Hermann Scheer SPD<br />

ZusFr Otto Schily SPD<br />

ZusFr Katrin Fuchs (Verl) SPD<br />

Zeitvorstellungen für den Beginn der amerikanisch-sowjetischen<br />

SNF-Verhandlungen;<br />

Überlegungen der amerikanischen Regierung<br />

zum Verzicht auf amerikanisch-sowjetische<br />

Verhandlungen<br />

MdlAnfr 27, 28<br />

Manfred Opel SPD<br />

Antw StMin Helmut Schäfer AA<br />

ZusFr Manfred Opel SPD<br />

Zusatztagesordnungspunkt 8:<br />

Aussprache zum Stationierungskonzept<br />

der Streitkräfte<br />

Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD<br />

Claire Marienfeld CDU/CSU<br />

Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />

Jürgen Koppelin FDP<br />

Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE<br />

Klaus Beckmann, Parl.<br />

BMWI<br />

2609 C<br />

2609 C<br />

2610A<br />

2610 B<br />

2610B<br />

2610 C<br />

2610 D<br />

2611 A<br />

2611 B<br />

2611D<br />

2613 A<br />

2614 A<br />

2615 A<br />

2616B<br />

Staatssekretär<br />

2617B<br />

Zusatztagesordnungspunkt 9:<br />

Aktuelle Stunde betr. Verhalten der Bundesregierung<br />

bezüglich der geplanten<br />

Einlagerung von radioaktiven Abfällen<br />

in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung<br />

der Bedenken der betroffenen<br />

Bevölkerung und der Landesregierung<br />

von Niedersachsen<br />

Jutta Braband PDS/Linke Liste 2628 B<br />

Klaus Harries CDU/CSU<br />

2629 B<br />

Arne Fuhrmann SPD<br />

2630 B<br />

Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann FDP 2631B<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2632 B<br />

Tagesordnungspunkt 7:<br />

Beratung des Berichts des Petitionsausschusses:<br />

Bitten und Beschwerden an<br />

den Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />

Die Tätigkeit des Petitionsausschusses<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es im Jahre<br />

1990 (Drucksache 12/683)<br />

Dr. Gero Pfennig CDU/CSU<br />

2633 D<br />

Horst Peter (Kassel) SPD<br />

Günther Friedrich Nolting FDP<br />

Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE<br />

Martin Göttsching CDU/CSU<br />

Lisa Seuster SPD<br />

Birgit Homburger FDP<br />

Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste<br />

Günther Friedrich Nolting FDP<br />

Gertrud Dempwolf CDU/CSU<br />

Bernd Reuter SPD<br />

Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU<br />

Steffen Kampeter CDU/CSU<br />

Tagesordnungspunkt 8:<br />

Beratung des Antrags der Fraktionen der<br />

CDU/CSU, SPD und FDP: Umsetzung der<br />

EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen<br />

Auftragswesens (Drucksache<br />

12/770)<br />

2636 A<br />

2640 C<br />

2642 C<br />

2644 A<br />

2645 A<br />

2646 D<br />

2649 B<br />

2650 D<br />

2651 A<br />

2652 A<br />

2652 C<br />

2654 A


VI <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Hermann Schwörer CDU/CSU<br />

Gabriele Iwersen SPD<br />

Dr. Heinrich L. Kolb FDP<br />

Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär<br />

BMWi<br />

Georg Brunnhuber CDU/CSU<br />

2655 D<br />

2657 A<br />

2658 D<br />

2659 D<br />

2660 C<br />

Tagesordnungspunkt 9:<br />

Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />

Claudia Nolte, weiterer Abgeordneter<br />

und der Fraktion der CDU/CSU sowie<br />

der Abgeordneten Dr. Margret Funke-<br />

Schmitt-Rink, weiterer Abgeordneter und<br />

der Fraktion der FDP: Fristverlängerung<br />

zur Antragstellung auf Aufhebung von<br />

Zwangsadoptionen (Drucksache 12/763) 2661 D<br />

Tagesordnungspunkt 11:<br />

Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe<br />

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationale<br />

und internationale Konsequenzen der<br />

ökologischen Auswirkungen des Golf<br />

Krieges (Drucksache 12/779)<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 2662 B<br />

Dr. Norbert Rieder CDU/CSU<br />

Dr. Klaus Kübler SPD<br />

Birgit Homburger FDP<br />

Dr. Klaus Kübler SPD<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär<br />

BMU<br />

-<br />

2663 D<br />

2664 B<br />

2665 D<br />

2666C, 2668 B<br />

Tagesordnungspunkt 10:<br />

Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />

Dr. Liesel Hartenstein, weiterer Abgeordneter<br />

und der Fraktion der SPD: Minderung<br />

der Ozon-Belastung — Maßnahmen<br />

zur Bekämpfung des Sommer-Smogs<br />

(Drucksache 12/772)<br />

Dr. Liesel Hartenstein SPD<br />

Dr. Peter Paziorek CDU/CSU<br />

Dr. Jürgen Starnick FDP<br />

Dr. Liesel Hartenstein SPD<br />

Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär<br />

BMU<br />

Tagesordnungspunkt 12:<br />

Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />

Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow und<br />

der Gruppe der PDS/Linke Liste: Erlassung<br />

der Schulden Nicaraguas gegenüber<br />

der DDR (Drucksache 12/427)<br />

Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste<br />

Ulrich Irmer FDP<br />

2667 D<br />

2670 D<br />

2672 C<br />

2673 D<br />

2674 B<br />

2675 B<br />

2675 D<br />

2677 C<br />

2678 A<br />

Dr. Uwe Holtz SPD<br />

Werner Zywietz FDP<br />

2678 D<br />

2679 D<br />

Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 2680 B<br />

Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste<br />

Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE<br />

Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste (Erklä<br />

rung nach § 30 GO)<br />

Werner Zywietz FDP (Erklärung nach § 30<br />

GO)<br />

2680 C<br />

2681 C<br />

2682 B<br />

2682 D<br />

Tagesordnungspunkt 13:<br />

Beratung des Antrags der Gruppe der<br />

PDS/Linke Liste: Aufnahme des grünen<br />

Pfeils in die Straßenverkehrsordnung<br />

(Drucksache 12/728)<br />

2683 A<br />

Tagesordnungspunkt 14:<br />

Erste Beratung des von der Bundesregierung<br />

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />

über die Anpassung von Dienstund<br />

Versorgungsbezügen in Bund und<br />

Ländern 1991 (Bundesbesoldungs- und<br />

-versorgungsanpassungsgesetz 1991 —<br />

BBVAnpG 91) (Drucksache 12/732) 2683 B<br />

Zusatztagesordnungspunkt 10:<br />

Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />

Dr. Walter Franz Altherr, weiterer Abgeordneter<br />

und der Fraktion der CDU/CSU<br />

sowie des Abgeordneten Dr. Uwe Holtz,<br />

weiterer Abgeordneter und der Fraktion<br />

der SPD, der Fraktion der FDP und der<br />

Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:<br />

Westsahara-Friedensplan der Vereinten<br />

Nationen (Drucksache 12/798)<br />

Dr. Uwe Holtz SPD<br />

2683 C<br />

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 2684 B<br />

Ulrich Irmer FDP<br />

Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU<br />

Dr. Hartmut Soell SPD<br />

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/<br />

CSU<br />

Nächste <strong>Sitzung</strong><br />

Anlage 1<br />

Liste der entschuldigten Abgeordneten<br />

Anlage 2<br />

Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztagesordnungspunkt<br />

2 — Antrag betr. KSZE-Expertentreffen<br />

über nationale Minderheiten in<br />

Genf vom 1. bis 19. Juli 1991 —<br />

Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE<br />

2686A<br />

2686 C<br />

2686 D<br />

2687 A<br />

2688 C<br />

2689* A<br />

2689* B


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

VII<br />

Anlage 3<br />

Zu Protokoll gegebene Rede zu den Zusatztagesordnungspunkten<br />

3, 4 und 5 — Anträge<br />

betr. Krise in Jugoslawien und zur Lage in<br />

Kosovo —<br />

Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE<br />

2690* B<br />

Anlage 7<br />

Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt<br />

11 — Antrag betr. nationale und<br />

internationale Konsequenzen der ökologischen<br />

Auswirkungen des Golf-Krieges —<br />

Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />

2702* B<br />

Anlage 4<br />

zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt<br />

3 — Anträge betr. Einrichtung<br />

eines baltischen Informationsbüros der Bundesrepublik<br />

Deutschland —<br />

Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE<br />

2691* B<br />

Anlage 5<br />

zu Protokoll gegebene Reden zu Zusatztagesordnungspunkt<br />

9 — Aktuelle Stunde —<br />

betr. Verhalten der Bundesregierung bezüglich<br />

der geplanten Einlagerung von radioaktiven<br />

Abfällen in das Zwischenlager Gorleben<br />

und Berücksichtigung der Bedenken der<br />

betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung<br />

von Niedersachsen<br />

Dr. Harald Kahl CDU/CSU<br />

2692* A<br />

Horst Kubatschka SPD<br />

2692* D<br />

Dr. Paul Laufs CDU/CSU<br />

2693* B<br />

Dietmar Schütz SPD<br />

2694* A<br />

Heinrich Seesing CDU/CSU<br />

2694* D<br />

Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD 2695* B<br />

Wolfgang Ehlers CDU/CSU<br />

2696* A<br />

Dr. Jürgen Starnick FDP<br />

2696* C<br />

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU 2697* B<br />

Anlage 6<br />

Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt<br />

9 — Antrag betr. Fristverlängerung<br />

zur Antragstellung auf Aufhebung von<br />

Zwangsadoptionen —<br />

Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 2698 * B<br />

Dr. Michael Luther CDU/CSU<br />

2698* D<br />

Dr. Eckhart Pick SPD<br />

2699* C<br />

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP 2700 * C<br />

-<br />

Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste<br />

2701* B<br />

Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ 2701 * C<br />

Anlage 8<br />

Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord<br />

nungspunkt 12 — Antrag betr. Erlassung<br />

der Schulden Nicaraguas gegenüber der<br />

DDR —<br />

Klaus Jürgen Hedrich CDU/CSU<br />

Anlage 9<br />

Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord<br />

nungspunkt 13 — Antrag betr. Aufnahme<br />

des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsord<br />

nung —<br />

Jutta Braband PDS/Linke Liste<br />

Eduard Oswald CDU/CSU<br />

Dr. Dietmar Matterne SPD<br />

Dr. Klaus Röhl FDP<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär BMV<br />

Anlage 10<br />

Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt<br />

14 — Erste Beratung zum Bundesbesoldungs-<br />

und -versorgungsanpassungsgesetz<br />

1991 —<br />

Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU<br />

Fritz Rudolf Körper SPD<br />

Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI<br />

Manfred Richter (Bremerhaven) FDP<br />

Anlage 11<br />

Zu Protokoll gegebene Rede zu Zusatztages<br />

ordnungspunkt 10 — Antrag betr. West<br />

sahara-Friedensplan der Vereinten Natio<br />

nen —<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister AA<br />

2703* B<br />

2704* A<br />

2704* C<br />

2705 * B<br />

2705* D<br />

2706* B<br />

2706* D<br />

2708* A<br />

2709* C<br />

2710* B<br />

2711* D


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2547<br />

<strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong><br />

Bonn, den 19. Juni 1991<br />

Beginn: 9.00 Uhr<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen! Die <strong>Sitzung</strong> ist eröffnet.<br />

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte<br />

ich einige Worte an den Direktor beim Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>, Herrn Dr. Joseph Bäcker, richten, der mit<br />

dem Ablauf dieses Monats seine aktive Dienstzeit beenden<br />

wird.<br />

Sie haben, Herr Dr. Bücker, 33 Jahre dem Parlament<br />

gedient, darunter viele Jahre als Sekretär des<br />

Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung,<br />

als Leiter des Fachbereichs Parlamentsrecht,<br />

als Abteilungsleiter Parlamentarische<br />

Dienste und dann sieben Jahre als Direktor.<br />

Es war ohne jeden Zweifel ein engagierter und nicht<br />

selten auch anstrengender Dienst. Denn die <strong>Bundestag</strong>sverwaltung<br />

war gerade in den letzten Jahren vor<br />

ungeheure Herausforderungen gestellt.<br />

(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wohl<br />

wahr!)<br />

Da gab es beispielsweise große technologische Umbrüche,<br />

den Abriß des alten Plenarsaals, den Bezug<br />

des Ersatzplenarsaals und den Neubau unseres Plenarsaals,<br />

große und leidenschaftlich umstrittene Gesetzesvorhaben<br />

und schließlich das große Werk der<br />

Wiederherstellung der deutschen Einheit mit den Aufgaben<br />

für insbesondere die Abgeordneten aus den<br />

neuen Bundesländern. Hier waren alle Kräfte für eine<br />

Aufgabe gefordert, die sicher den Höhepunkt Ihres<br />

beruflichen Lebens ausmachte.<br />

Sie haben sich, Herr Dr. Bäcker, Verdienste um unsere<br />

Arbeit und um das Parlament insgesamt erworben.<br />

Dafür danken wir Ihnen mit dem Wunsch für<br />

viele weitere gesunde und erfüllte Lebensjahre.<br />

(Anhaltender Beifall — Die Abgeordneten<br />

erheben sich — Zahlreiche Abgeordnete begeben<br />

sich zu Direktor Dr. Bücker, um ihm<br />

Dank und gute Wünsche auszusprechen)<br />

Ich komme zu den amtlichen Mitteilungen zur Verlesung.<br />

Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2<br />

des Grundgesetzes scheidet Herr Kollege Klinkert als<br />

ordentliches Mitglied aus. Die CDU/CSU-Fraktion<br />

schlägt als seinen Nachfolger Herrn Kollegen de Maizière<br />

vor.<br />

Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? —<br />

Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Abgeordnete<br />

de Maizière als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß<br />

bestimmt.<br />

Der Antrag der Fraktion der SPD „Mehr Arbeit<br />

durch mehr Umweltschutz in den neuen Bundesländern"<br />

auf Drucksache 12/676 soll nachträglich dem<br />

Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.<br />

Das von den Koalitionsfraktionen eingebrachte<br />

„Flächenstillegungsgesetz 1991 " auf Drucksache<br />

12/721 soll nachträglich dem Haushaltsausschuß gemäß<br />

§ 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden.<br />

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die<br />

verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die<br />

Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste<br />

aufgeführt:<br />

1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Ausschuß zur<br />

Kontrolle der einigungsbedingten Fördermittel des Bundes<br />

für Kultureinrichtungen (Kontrolle Kulturelle Fördermittel)<br />

— Drucksache 12/790 —<br />

2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD<br />

und FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zum<br />

KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten in<br />

Genf vom 1. bis 19. Juli 1991 — Drucksache 12/796 —<br />

3. Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD und<br />

FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur<br />

Krise in Jugoslawien — Drucksache 12/795 —<br />

4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD<br />

und FDP: Zur Lage in Kosovo — Drucksache 12/797 —<br />

5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerd Poppe und<br />

der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur Lage in Kosovo<br />

— Drucksache 12/780 —<br />

6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach<br />

Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu<br />

dem Gesetz zur Förderung von Investitionen und Schaffung<br />

von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung<br />

steuerrechtlicher und anderer Vorschriften (Steueränderungsgesetz<br />

1991 — StÄndG 1991) — Drucksachen 12/219,<br />

12/402, 12/459, 12/562, 12/698, 12/768 —<br />

7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach<br />

Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu<br />

dem Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentli-


2548 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth<br />

chen Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen in<br />

dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet<br />

(Haushaltsbegleitgesetz 1991 — HBeglG 1991) — Drucksachen<br />

12/221, 12/401, 12/461, 12/581, 12/697, 12/769 —<br />

8. Stationierungskonzept Aussprache zum der Streitkräfte<br />

8. Aktuelle Stunde: Verhalten der Bundesregierung bezüglich<br />

der geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen<br />

in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung der<br />

Bedenken der betroffenen Bevölkerung und der Landesregierung<br />

von Niedersachsen<br />

9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Walter Franz<br />

Altherr, Hans-Dirk Bierling, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),<br />

weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie<br />

der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Norbert Gansel, Rudolf<br />

Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der<br />

SPD, der Fraktion der FDP und der Gruppe BÜNDNIS 90/<br />

DIE GRÜNEN: Westsahara-Friedensplan der Vereinten<br />

Nationen — Drucksache 12/798 —<br />

11. Aktuelle Stunde: Hunger und Bürgerkrieg im Sudan<br />

12.<br />

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten<br />

Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten<br />

und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten<br />

Ulrich Heinrich, Günther Bredehorn, Johann<br />

Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP<br />

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Förderung<br />

einer einjährigen Flächenstillegung im Wirtschaftsjahr<br />

1991/1992 (Flächenstillegungsgesetz 1991) — Drucksache<br />

12/721 (neu)<br />

—Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für<br />

den Beginn der Beratung abgewichen werden.<br />

Sind Sie mit den genannten Ergänzungen einverstanden?<br />

— Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.<br />

Dann möchte ich Ihnen mitteilen, daß sich die Fraktionen<br />

darauf verständigt haben, die heutige <strong>Sitzung</strong><br />

von 16.30 Uhr bis 18.00 Uhr zu unterbrechen, um noch<br />

einmal Gelegenheit zur Beratung über den Parlaments-<br />

und Regierungssitz in den Fraktionen zu haben.<br />

Um 18.00 Uhr wird die <strong>Sitzung</strong> mit der namentlichen<br />

Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung<br />

des Grundgesetzes fortgesetzt.<br />

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 2 und den Zusatzpunkt<br />

1 auf:<br />

2. Überweisung im vereinfachten Verfahren<br />

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten<br />

Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des<br />

Waffengesetzes<br />

—Drucksache 12/471 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Innenausschuß (federführend)<br />

Rechtsausschuß<br />

ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion<br />

-<br />

der SPD<br />

Ausschuß zur Kontrolle der einigungsbedingten<br />

Fördermittel des Bundes für Kultureinrichtungen<br />

(Kontrolle Kulturelle Fördermittel)<br />

—Drucksache 12/790 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Ältestenrat (federführend)<br />

Innenausschuß<br />

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen<br />

an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse<br />

zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge?<br />

— Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.<br />

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:<br />

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />

CSU, SPD und FDP und der Gruppe Bündnis<br />

90/DIE GRÜNEN<br />

Zum KSZE-Expertentreffen über nationale<br />

Minderheiten in Genf vom 1. bis 19. Juli<br />

1991<br />

— Drucksache 12/796 —<br />

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die<br />

Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. —<br />

Dazu sehe ich keinen Widerspruch.<br />

Ich eröffne die Ausprache. Als erster spricht der<br />

Abgeordnete Reinhard von Schorlemer.<br />

Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU):<br />

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und<br />

Herren! Ich möchte zunächst auch im Namen der<br />

CDU/CSU-<strong>Bundestag</strong>sfraktion dem langjährigen Direktor<br />

Dr. Bäcker ganz herzlich danken. Der Direktor<br />

hat viele Freunde in der Fraktion; das wollte ich hiermit<br />

noch einmal zum Ausdruck bringen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU)<br />

Lassen Sie mich zu unserem Antrag für das KSZE-<br />

Expertentreffen über nationale Minderheiten mit einem<br />

guten Beispiel beginnen. Die ungarische Regierung<br />

arbeitet an einem Gesetzentwurf zum Schutz der<br />

Rechte und Interessen der in Ungarn lebenden Minderheiten.<br />

Vertreter dieser Minderheiten wirken an<br />

der Formulierung des Gesetzes mit. Ich halte diesen<br />

Vorgang für nachahmenswert.<br />

Der Schutz der Rechte nationaler Minderheiten ist<br />

kein Problem, das allein Ungarn angeht. Minderheiten<br />

treffen wir in nahezu allen europäischen Staaten:<br />

Flamen, Bretonen, Korsen, Basken, Elsaß-Lothringer<br />

in Frankreich, Slowenen, Friulaner, Deutsche und La<br />

diner in Italien, Lappen und Samen in Schweden und<br />

Finnland, Deutsche in Dänemark, Dänen und Sorben<br />

bei uns. Diese Aufzählung könnte man beliebig verlängern,<br />

und man brauchte dabei auch keinen europäischen<br />

Staat auszulassen.<br />

Die Minderheiten tragen erheblich zur Pluralität<br />

und zur kulturellen Vielfalt unseres Kontinentes bei.<br />

Hierzu gehört auch die Anmerkung, daß die CDU/<br />

CSU-<strong>Bundestag</strong>sfraktion stolz ist, eine Sorbin als stellvertretende<br />

Fraktionsvorsitzende zu haben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Die Minderheitengruppen haben das Recht, gemeinsam<br />

mit anderen Angehörigen ihrer Gruppen ihr<br />

eigenes kulturelles Leben zu pflegen, sich zu ihrer<br />

eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben<br />

oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Kein<br />

Staat mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen<br />

Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten<br />

diese Rechte vorenthalten. Dies sind keine neuen<br />

Formulierungen. Der Artikel 27 des Internationalen<br />

Paktes über bürgerliche und politische Rechte wurde<br />

schon vor 25 Jahren abgeschlossen.<br />

Warum steht nun dieser Antrag heute auf der Tagesordnung?<br />

Weil die Rechte nationaler Minderheiten<br />

immer noch nicht allgemein anerkannt und ausreichend<br />

geschützt werden. Dies ist nicht nur meine persönliche<br />

Auffassung. Es waren immerhin die Staats-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2549<br />

Reinhard Freiherr von Schorlemer<br />

und Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten, die dieses<br />

Expertentreffen vorgeschlagen und einberufen haben<br />

im — ich zitiere — „Bewußtsein der dringenden Notwendigkeit,<br />

im Hinblick auf nationale Minderheiten<br />

die Zusammenarbeit zu verstärken und diesen Schutz<br />

zu verbessern".<br />

Das Kopenhagener Treffen der KSZE über die<br />

Menschliche Dimension der KSZE vom Juni 1990 ist<br />

auf diesem Wege entschieden vorangeschritten. Das<br />

Kopenhagener Dokument markiert mit seinen Formulierungen<br />

zur Frage der nationalen Minderheiten<br />

einen entscheidenden Durchbruch. Es wirkt tief in die<br />

rechtlichen und politischen Strukturen der KSZE-Teilnehmerstaaten<br />

ein. Und dies ist gut so.<br />

Zwei Tage nach Unterzeichnung des Vertrages mit<br />

Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche<br />

Zusammenarbeit, der für mich einer der bedeutsamsten<br />

Verträge ist, die die Bundesrepublik Deutschland<br />

in den letzten Jahren abgeschlossen hat, ist festzustellen,<br />

daß der Standard der in dem Vertrag erreichten<br />

Regelung der Rechte der deutschen Minderheit in<br />

Polen ohne Kopenhagen wohl kaum zu erreichen gewesen<br />

wäre.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Freimut Duve<br />

[SPD]: Sehr richtig!)<br />

Daß Polen die deutsche Minderheit erstmalig förmlich<br />

anerkannt hat, daß sie ihr Recht, einzeln oder in<br />

Gemeinschaft mit anderen Gruppen ihre ethnische,<br />

kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zum<br />

Ausdruck zu bringen, vertraglich gesichert weiß, daß<br />

zu ihren Rechten zählt, sich privat und in der Öffentlichkeit<br />

ihrer Muttersprache frei zu bedienen, in ihr<br />

Informationen zu verbreiten, eigene Bildungs-, Kultur-<br />

und Religionseinrichtungen zu unterhalten, sich<br />

zu ihrer Religion zu bekennen und diese auch in ihrer<br />

eigenen Muttersprache durchzuführen, stellt unsere<br />

Beziehung zu Polen auf eine neue Grundlage. Die<br />

Forderung des Kopenhagener Dokuments findet damit<br />

Aufnahme in einem völkerrechtlichen Vertrag.<br />

Wir Deutsche haben daher allen Grund, mit Befriedigung<br />

auf dieses Dokument zu verweisen.<br />

Ich möchte in diesem Zusammenhang dem Bundeskanzler<br />

danken, der den Abschluß des Vertrages zu<br />

seinem persönlichen Anliegen gemacht hat. Der Bundeskanzler<br />

hat, als er den hohen Stand der erreichten<br />

Minderheitenrechte würdigte, diese Rechte als entscheidend<br />

zur Gewinnung des inneren Friedens in<br />

Deutschland und Polen hervorgehoben.<br />

Wir dürfen dabei nicht vergessen, auch der Arbeit<br />

der Vertriebenen unsere Anerkennung auszudrükken.<br />

-<br />

(Beifall bei der CDU/CSU)<br />

Die Vertriebenen haben auf die Bestätigung der Minderheitenrechte<br />

unerschütterlich und zäh hingewirkt.<br />

Sie haben in den vergangenen Jahren oft Anlaß gehabt,<br />

sich in ihrer Arbeit mißverstanden, belächelt<br />

oder allein gelassen zu fühlen.<br />

(Freimut Duve [SPD]: Es gab manches, was<br />

nicht mißzuverstehen war!)<br />

Das Parlament, das eben, Herr Kollege Duve, die Un<br />

terzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages leb<br />

haft begrüßt hat, sollte bereit sein, auch den Einsatz<br />

der Vertriebenen für eine Aussöhnung zwischen dem<br />

deutschen und dem polnischen Volk auf gesicherter<br />

vertraglicher Grundlage zu würdigen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter<br />

Schorlemer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />

Duve?<br />

Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU): Ja,<br />

bitte.<br />

Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Schorlemer, wir<br />

freuen uns, wenn wir gemeinsam diesen deutsch-polnischen<br />

Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag<br />

würdigen können. Aber sind Sie bereit, die Sorge zu<br />

teilen, die man haben muß, wenn man weiß, daß der<br />

Vorsitzende des von Ihnen eben genannten Verbandes<br />

bis heute nicht bereit ist, die Grenze als endgültig<br />

anzuerkennen?<br />

Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU):<br />

Herr Kollege Duve, ich habe von den Vertriebenen<br />

gesprochen. Ich glaube, die Aussagen, die gerade in<br />

den letzten Wochen und Monaten zu diesem Vertrag<br />

und auch zur Sicherstellung der Minderheitenrechte<br />

gemacht worden sind, bringen zum Ausdruck, daß die<br />

Vertriebenen dieses Werk positiv unterstützen. Das<br />

möchte ich zum Ausdruck gebracht haben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU)<br />

Für manche unserer Partner stellt der Kopenhagener<br />

Katalog der Rechte von Angehörigen nationaler<br />

Minderheiten das Maximum des Wünschbaren und<br />

des Vertretbaren dar. Dennoch sollte sich die Bundesregierung<br />

verpflichtet fühlen, den Schutz der Rechte<br />

nationaler Minderheiten weiter voranzutreiben. Dies<br />

soll mit dem vorliegenden Antrag erreicht werden.<br />

Vor der Vereinigung war Deutschland auf Grund<br />

seiner exponierten Lage häufig genug zur besonderen<br />

Zurückhaltung gezwungen. Das vereinte Deutschland<br />

sollte, gerade wenn es um den Schutz von Menschen-<br />

und Minderheitenrechten geht, diese Zurückhaltung<br />

aufgeben. Der Einsatz für Freiheit und Demokratie,<br />

für Menschenrechte und Minderheitenrechte<br />

liegt im wohlverstandenen deutschen Interesse. Die<br />

Gestaltung des größeren Europa, in dem alle Länder<br />

und Völker unseres Kontinents in Stabilität und Frieden<br />

zusammen leben und auch zusammen leben wollen,<br />

ist dauerhaft nur durch den Schutz und Ausbau<br />

der Rechte nationaler Minderheiten, die Freiheitsrechte<br />

sind, zu garantieren.<br />

Ich bedanke mich.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />

Abgeordnete Herr Duve das Wort.<br />

Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen<br />

und Herren! Ich denke, es fügt sich gut, daß<br />

heute morgen, just zu dieser Stunde, die Außenminister<br />

der KSZE zum ersten Mal in Berlin zur KSZE-<br />

Tagung zusammentreten. Wir begrüßen dies. Es ist für<br />

uns in Deutschland ein besonderer Tag.<br />

(Beifall bei der SPD)


2550 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Freimut Duve<br />

Es wäre gut, wenn sich diese Konferenz auch mit<br />

der Situation in Jugoslawien befassen würde. Es ist zu<br />

begrüßen, daß die Außenminister baltischer Staaten<br />

in Berlin anwesend sind.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Sie nehmen nicht offiziell teil. Aber dennoch ist dies<br />

ein Schritt, der zeigt, wie offen dieser KSZE-Prozeß<br />

inzwischen geworden ist.<br />

Ich will in diesem Zusammenhang an ein Wort des<br />

Philosophen Karl Jaspers erinnern. Vor genau 25 Jahren<br />

hat er geschrieben:<br />

Das Mögliche und Wünschenswerte wäre zukünftig<br />

ein Gewebe von Verträgen, das die<br />

Menschheit zu einer faktisch friedlichen Einheit<br />

in einem dann immer noch labilen Zustand verbände.<br />

In seinem Text schließt Japsers aus, daß es zu einer<br />

Weltgesellschaft oder zu einem Weltstaat kommen<br />

würde. Nein, meint er, es würden viele kleine Staaten<br />

sein, aber sie müßten durch solche Vertragssysteme<br />

zusammengehalten werden.<br />

Dieses Gewebe vieler Verträge existiert heute in<br />

Europa. Die Gefahr eines großen Konflikts, den man<br />

Weltkrieg nennen könnte, ist heute geringer als je<br />

zuvor in den vergangenen 40 Jahren. Daran hat Helsinki<br />

und daran hat die KSZE einen nicht geringen<br />

Anteil.<br />

Wir sind im Zusammenhang mit der Außenministerkonferenz<br />

heute morgen in Berlin stolz, an Willy<br />

Brandt und Helmut Schmidt zu erinnern. Ohne die<br />

Leistung der Ostpolitik gäbe es dieses Treffen in diesem<br />

Berlin heute nicht.<br />

(Beifall bei der SPD — Ul rich Irmer [FDP]:<br />

Genscher nicht vergessen, Herr Duve!)<br />

- Es ist für einen Angehörigen des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />

völlig unmöglich, Herr Kollege Irmer, Herrn<br />

Genscher je zu vergessen. Dafür sorgt er schon selber.<br />

(Heiterkeit bei der FDP)<br />

Die KSZE ist in den letzten zwei Jahren nicht immer<br />

so ernst genommen worden wie heute und morgen in<br />

Berlin. Daß auch der amerikanische Außenminister in<br />

ihr wieder ein wichtiges Element für die friedlichen<br />

Konstruktionen des europäischen und transatlantischen<br />

Brückenbaus sieht, läßt hoffen, daß der Helsinki-Gedanke<br />

neue Strahlkraft auch woanders bekommt.<br />

Ich denke etwa daran, daß sich viele einen<br />

Friedensprozeß im Nahen Osten nur unter den Möglichkeiten<br />

eines Helsinki-Vorgangs, nämlich eines<br />

-<br />

breiten Prozesses, in dem man über die verschiedenen<br />

Körbe dann auch an unterschiedlichen Tischen diskutiert,<br />

vorstellen können.<br />

KSZE, meine Damen und Herren, das ist nicht nur<br />

ein Reichtum an Dokumenten, sondern auch an Erfahrungen.<br />

Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern,<br />

daß es schon auf der Budapester Kulturkonf e-<br />

renz der KSZE zu keinem Schlußdokument gekommen<br />

war, weil sich Rumänien nicht dazu verstehen<br />

konnte, einen Passus über kulturelle Rechte von Minderheiten<br />

zu akzeptieren. Er hätte die Ungarn und die<br />

Deutschen in Rumänien betroffen.<br />

Damals war dies in der öffentlichen Diskussion völlig<br />

untergegangen. Die beiden Warschauer-Pakt-Mitgliedstaaten<br />

Ungarn und Rumänien haben das unter<br />

der Decke gehalten, und alle gemeinsam haben den<br />

Eindruck erweckt, als läge es an den USA und an der<br />

Sowjetunion, daß es nicht zu einem Schlußdokument<br />

gekommen war. Das war noch der Kalte Krieg. Aber in<br />

Wahrheit gab es tief unter der Decke dieser Konferenz<br />

bereits einen völlig anderen Konflikt, den eigentlichen<br />

Konfliktstoff. Ich erinnere daran immer gern,<br />

weil wir es leicht vergessen.<br />

Ich darf an das Schlußdokument von Malta aus dem<br />

Februar dieses Jahres erinnern, als ein Expertentreffen<br />

ein Rechtssicherheitsnetz zur f riedlichen Beilegung<br />

von Streitigkeiten gesucht hatte. Dieses Treffen<br />

hat wirklich kein revolutionäres Ergebnis zustande<br />

gebracht, aber immerhin einen Schlichtungsmechanismus<br />

mit KSZE-Schiedsrichtern etabliert; dies ist ein<br />

erster Schritt. Und ich erinnere an die Pariser Konferenz<br />

vom November 1990, als die Regierungschefs die<br />

Charta für ein neues Europa vorstellten, die sich auch<br />

schon insbesondere mit den Menschenrechtsforderungen<br />

befaßte.<br />

Wenige Tage nach dem Außenministertreffen in<br />

Berlin nimmt das Expertentreffen Anfang Juli in Genf<br />

ein wichtiges Element der europäischen Wirklichkeit<br />

auf. Über nationale Minderheiten soll im Anschluß an<br />

die Kopenhagener Erklärung zwölf Monate später<br />

diskutiert werden. Die Fraktionen des Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>es haben in den vergangenen Tagen eine<br />

gemeinsame Entschließung zu diesem Thema vorbereitet.<br />

Sie soll heute verabschiedet und den Genfer<br />

Experten mit auf den Weg gegeben werden. Lassen<br />

Sie mich einige grundsätzliche Fragen dazu aufwerfen.<br />

Wenn ich unsere Verfassung richtig verstehe, dann<br />

regelt sie die Notwendigkeit, immer wieder Mehrheiten<br />

zu finden, deren vornehmste Aufgabe es ist, Minderheiten,<br />

den einzelnen und die vielfältigen Gruppen,<br />

zu denen sich einzelne zusammenschließen, zu<br />

schützen. Mehrheit in diesem Verständnis ist eine demokratische<br />

Notwendigkeit, aber kein fester sozialer<br />

oder kultureller Tatbestand. Wir alle gehören in der<br />

modernen Gesellschaft im Laufe unseres Lebens sehr<br />

verschiedenen Gruppen an, in der Regel in Wahrheit<br />

Minderheiten.<br />

In Genf wird es um nationale Minderheiten gehen.<br />

Ich denke, wenn wir Deutschen darüber diskutieren,<br />

müssen wir einmal an die glückliche Homogenität<br />

unseres Volkes denken. Auf der anderen Seite dürfen<br />

wir nicht vergessen, daß es nach wie vor das Welter<br />

schrecken über den grausamsten Völkermord gibt,<br />

den ausgerechnet wir Deutschen in diesem Jahrhundert<br />

an Juden, an Sinti und Roma verübt haben.<br />

Meine erste Bemerkung: Wir möchten den Experten<br />

in Genf gerne die Frage mit auf den Weg geben,<br />

ob zu dem Beg riff nationale Minderheiten etwa auch<br />

das Volk der Sinti und Roma gehört. Ich weiß nicht, ob<br />

wir für all das, was uns in Europa mit Minderheitenfragen<br />

beschäftigt, den Begriff nationale Minderheiten<br />

wirklich ausreichend nutzen können. Gehören<br />

also Sinti und Roma dazu? Wie werden die seit Jahrhunderten<br />

in Europa lebenden fast fünf Millionen


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2551<br />

Freimut Duve<br />

Menschen im Kontext der KSZE-Debatte gewürdigt?<br />

Zweifellos bilden sie in Rumänien eine große nationale<br />

Minderheit, aber ganz zweifellos haben sie unter<br />

den anderen Minderheiten Rumäniens keinerlei Fürsprecher;<br />

auch verfügen sie nicht über einen Bruderstaat<br />

oder ein Mutterland, das sich insbesondere ihrer<br />

Rechte annehmen könnte.<br />

(Norbert Gansel [SPD]: Eine internationale<br />

Minderheit!)<br />

— Sie sind eine internationale, eine europäische Minderheit.<br />

Sinti und Roma machen deutlich, daß es nicht nur<br />

um nationale Minderheiten im klassischen Sinne gehen<br />

kann. Bei der Europäisierung muß sich der<br />

Schutzgedanke gerade solcher Gruppen annehmen,<br />

auf die der Begriff national nur eingeschränkt zutrifft.<br />

Zweite Bemerkung: Auf einer Anhörung meiner<br />

Fraktion zur künftigen sogenannten ostdeutschen<br />

Kulturpolitik hat Klaus von Bismarck in eindrucksvoller<br />

Weise daran erinnert, wie schwer es ist, von ganz<br />

kompakten Minderheitengruppen, etwa in den ehemals<br />

zu Deutschland gehörenden Teilen Osteuropas,<br />

zu sprechen. Er hat auf die von vielen Völkern geprägte<br />

Mischkultur dieser Region hingewiesen, auf<br />

Perioden friedlichen Zusammenlebens und auf solche,<br />

in denen gerade die besondere Betonung des je<br />

Eigenen zu Konflikten geführt hat.<br />

Günter Grass hat auf dem diesjährigen Kirchentag<br />

auch daran erinnert, daß es ja im wesentlichen der<br />

Reichtum dieser Region, daß es die Mischung der Kulturen<br />

gewesen ist, die das Zusammenleben von Menschen<br />

ganz verschiedener religiöser oder anderer<br />

Überzeugungen geprägt haben.<br />

Kulturen des Zusammenlebens unterschiedlicher<br />

Gruppen bestimmen die europäische Wirklichkeit<br />

stärker als ihre präzise, geradezu mathematische<br />

Trennbarkeit. Das Leben der modernen Gesellschaft<br />

befördert dieses ebenfalls. Es gibt kaum ein Volk in<br />

der Sowjetunion, das nicht auch Angehörige aus allen<br />

anderen Gruppen und Völkern der Sowjetunion bei<br />

sich leben hätte. In Litauen leben sogar Aserbeidschaner.<br />

Es gibt natürlich eine riesige Minderheit von Polen<br />

und Russen. Wir müssen also das eigentliche Problem<br />

nicht nur im Schutz dieses einen Korpus sehen,<br />

sondern im Schutz des Geflechts Verschiedener, die<br />

zusammen leben wollen und auch aus einer Geschichte<br />

des Zusammenlebens kommen.<br />

Dieser Wirklichkeit entspricht der Grundgedanke<br />

des Minderheitenschutzes, wie ihn das Kopenhagener<br />

Dokument darstellt und festgelegt hat und wie ihn<br />

der deutsch-polnische Vertrag wieder aufgreift. Es<br />

geht um die Rechte der einzelnen, sich gemeinsam mit<br />

anderen in der je eigenen Kultur auszudrücken und<br />

die eigene Sprache zu sprechen. Es geht um die individuellen<br />

Bürgerrechte, sich zu ganz unterschiedlichen<br />

Gruppen zusammenzuschließen, das kulturelle<br />

Erbe der Eltern zu pflegen. Es geht auch um das individuelle<br />

Recht, dieses möglicherweise zu unterlassen<br />

und sich anderen Gruppen anzuschließen, sich also<br />

gegen die Minderheitenkultur der Eltern zu stellen<br />

und gar aus ihr auszuscheren. Das alles meint Minderheitenrechte<br />

als das Individualrecht, sich zusammenzuschließen.<br />

Wir Sozialdemokraten legen auf diesen individualrechtlichen<br />

Ansatz besonderen Wert. Allzu schnell<br />

könnten sonst Bürger zur Verrätern gestempelt werden,<br />

die für ihre Gemeinde einen anderen Weg suchen<br />

als den ihrer sogenannten Volksgruppe. Wir haben<br />

ja solche Beispiele in Schlesien, wo Deutsche, die<br />

in dem einen Verband nicht mittun wollen, sondern in<br />

einem anderen, öffentlich als Verräter gebrandmarkt<br />

werden. Es geht auch um den individuellen Schutz.<br />

Zum Thema Einmischung: Wir haben in den letzten<br />

Tagen an der Einmischungsklausel unserer Entschließung<br />

— das ist der letzte Spiegelstrich auf Seite 4 —<br />

gearbeitet. Ja, natürlich, Herr Lamers, wir wollen keinem<br />

Diktator erlauben, seine eigenen Bürger zu vertreiben,<br />

zu drangsalieren oder umzubringen. Wir haben<br />

darüber im Falle des Irak und der kurdischen<br />

Flüchtlinge gemeinsam diskutiert. Die Souveränität<br />

der Staaten ist nicht die Souveränität der Diktaturen<br />

oder Diktatoren, ihre eigenen Bürger zu schikanieren.<br />

Da sind wir uns völlig einig.<br />

Wir wollen aber auch kein Europa mehr, in dem der<br />

Minderheitenschutz eines Tages möglicherweise zum<br />

Vorwand einer gewaltsamen Einmischung genommen<br />

werden könnte. Auch das wollen wir nicht mehr.<br />

Auch dafür haben wir Beispiele in der europäischen<br />

Geschichte und auch in diesem Jahrhundert. Das will<br />

heute niemand mehr; das unterstellt auch niemand<br />

irgend jemandem. Aber wo Gruppen immer noch<br />

nicht die bestehenden Grenzen akzeptiert haben und<br />

wo einzelne — das läßt sich doch nun wirklich nicht<br />

leugnen — immer noch an der Revisionschance arbeiten,<br />

ist für uns alle Vorsicht angebracht.<br />

Unser gemeinsames Dokument soll dem Genfer Expertentreffen<br />

Anregungen geben und ihm die Grundüberzeugung<br />

aller im Parlament vertretenen Parteien<br />

übermitteln. Ich glaube, daß unsere Entschließung<br />

dies leistet. Zugleich aber bin ich überzeugt, daß wir<br />

mit dem Begriff der nationalen Minderheit zu kurz<br />

greifen und weiter diskutieren müssen.<br />

Ich kann hier keinen besseren Beg riff aus dem Hut<br />

zaubern, aber je länger man sich mit dem Problem der<br />

Minderheiten in Europa, vor allem in der modernen<br />

europäischen Gesellschaft, befaßt, um so weniger<br />

glaube ich, daß dieser Beg riff ausreicht. Denn neben<br />

der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur gehören<br />

wir als Bürger des 20. Jahrhunderts immer auch<br />

bestimmten Arbeits- und Lebenszusammenhängen<br />

an, leben unterschiedlich in Städten oder auf dem<br />

Lande, sind physisch und psychisch häufig zu einer<br />

neuen Mobilität gezwungen, die uns zu Menschen in<br />

einem ganzen Bündel unterschiedlicher Rollen<br />

macht.<br />

Die neue Wirklichkeit wird mit den alten Beg riffen<br />

nur unzulänglich gekennzeichnet. Die neue Mobilität<br />

der Menschen erzeugt auf der einen Seite die Sehnsucht,<br />

Schutz im Gehäuse der eigenen Kultur zu suchen,<br />

zugleich aber auch die Notwendigkeit, sich den<br />

Anforderungen der modernen Zivil- und Wirtschaftsgesellschaft<br />

zu stellen. Unser von historischen Erfahrungen<br />

geprägtes Denken kann sich mit dieser Viel-


2552 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Freimut Duve<br />

fachrolle des einzelnen nur sehr schwer abfinden. Gerade<br />

deshalb ist der individualrechtliche Ansatz im<br />

Kopenhagener Dokument so wichtig. Nur er deckt die<br />

vielfältigen Spannungen, denen der moderne Mensch<br />

ausgesetzt ist.<br />

Der polnische Autor Ryszard Kapuscinski hat — damit<br />

will ich schließen — diese merkwürdige Spannung<br />

der modernen Menschen zwischen der immer<br />

engeren Bindung an das je Eigene und dem Leben in<br />

der modernen Gesellschaft am Beispiel von Los Angeles<br />

mit dem Begriff der Collagen-Gesellschaft umschrieben:<br />

Es geht weder um die Einschmelzung aller<br />

in die Moderne unterschiedsloser Fernsehgesellschaften<br />

noch um die Rückkehr zu alten Zugehörigkeiten.<br />

Es geht um eine neue Vielfalt, auch im eigenen Leben.<br />

Meine Damen und Herren, ich sehe in der modernen<br />

Welt eigentlich nur drei Beispiele, wo das, was wir<br />

anstreben, bisher für das ganze Volk einigermaßen<br />

gelungen ist. Das ist die amerikanische Gesellschaft<br />

mit all den Fragezeichen, die wir insoweit immer stellen<br />

müssen, das ist — nur für die jüdischen Bürger —<br />

die israelische, wo sich Menschen aus ganz unterschiedlichen<br />

Kulturen unter dem Dach einer Religion<br />

zusammenfinden, und das ist die Schweizer Gesellschaft.<br />

In allen anderen Gesellschaften haben wir sozusagen<br />

neue Typen von Problemen. Auch in allen<br />

westeuropäischen Gesellschaften haben wir alte Konflikte,<br />

wobei ich an Spanien, aber auch an Irland<br />

denke.<br />

Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, daß auf dieser<br />

Konferenz neue Anregungen kommen und daß die<br />

KSZE bald auch zu institutionalisierten Instrumenten<br />

kommt, um auf diesem Wege mit uns gemeinsam weiterzuarbeiten.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der SPD, der FDP sowie bei Abge<br />

ordneten der CDU/CSU und der PDS/Linke<br />

Liste)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />

Abgeordnete Ulrich Irmer das Wort.<br />

Ulrich Irmer (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten<br />

Kollegen! Viele Probleme in der Geschichte und<br />

auch in der Gegenwart sind durch Nationalitätenkonflikte<br />

verursacht. Minderheiten gibt es fast überall,<br />

und innerhalb dieser Minderheiten gibt es wiederum<br />

Minderheiten, die anderswo Mehrheiten sind.<br />

Wenn wir etwa Jugoslawien betrachten, stellen wir<br />

fest: Dort sind die Albaner im Kosovo in -<br />

der Minderheit<br />

gegenüber den Serben. Aber innerhalb des Kosovo<br />

gibt es wiederum eine serbische Minderheit unter<br />

der Mehrheit von Albanern. Die Serben, die in<br />

Kroatien leben, sind dort eine Minderheit; aber in<br />

Jugoslawien sind sie in der Mehrheit.<br />

Wir haben Minderheiten in unserem eigenen Land:<br />

die Dänen in Schleswig-Holstein und die Sorben, die<br />

unserem Lande jetzt zugewachsen sind und die wir<br />

herzlich willkommen heißen. Ich finde es sehr schön,<br />

daß eine Sorbin bei der CDU/CSU Stellvertretende<br />

Fraktionsvorsitzende ist. Ich glaube, daß das Problem<br />

der nationalen Minderheiten bei uns kein Problem<br />

mehr ist, weil wir Regeln gefunden haben, wie wir<br />

miteinander umgehen.<br />

In anderen Ländern gibt es riesige Probleme. Es gibt<br />

nicht nur das Problem der nationalen Minderheiten,<br />

sondern auch der Nationalstaaten, die aus unterschiedlichen<br />

Völkern bestehen. Ich denke an die<br />

Tschechoslowakei, wo zwei Völker leben: Tschechen<br />

und Slowaken. Sie müssen miteinander leben, sie<br />

müssen miteinander auskommen.<br />

(Dr. Peter Glotz [SPD]: Das ist ein Nationali<br />

tätenkonflikt!)<br />

Wenige Kilometer von hier entfernt, in Belgien, leben<br />

Wallonen, Flamen und eine deutsche Minderheit, die<br />

dort Rechte genießt, zusammen. Deutsch ist in Belgien<br />

dritte Amtssprache. Wir haben Vielvölkerstaaten wie<br />

etwa die Schweiz und Jugoslawien.<br />

Wir müssen uns eigentlich eines klarmachen: Im<br />

Lichte des europäischen Zusammenschlusses, im<br />

Lichte dessen, was wir als Europäische Union anstreben,<br />

ist jeder von uns Minderheit. In Europa sind auch<br />

die Deutschen eine Minderheit, obwohl sie an Zahlen<br />

die meisten sind. Auch in der EG sind wir eine Minderheit.<br />

Ich sollte mir immer klarmachen, daß ich<br />

überall auf der Welt, außer in meinem eigenen Lande,<br />

Ausländer bin.<br />

(Beifall bei der FDP und der SPD)<br />

Das Wort „Ausländer" ist ein ganz eigenartiger Begriff.<br />

Ich brauche nur über die Grenze zu gehen, und<br />

ich bin Ausländer. Ich bin eine Minderheit auf der<br />

ganzen Welt, auch als <strong>Deutscher</strong>.<br />

Meine Damen und Herren, es gibt den Begriff der<br />

nationalen Minderheit. Wir haben ihn in unserem<br />

Entschließungsantrag nicht definiert. Die KSZE-Expertenkonfernz<br />

wird sich sicher Mühe geben, eine<br />

Definition zu finden. Aber es gibt über den traditionellen<br />

Begriff der nationalen Minderheit hinaus neue<br />

Formen von nationalen Minderheiten. Traditionell<br />

sagt man: Eine nationale Minderheit ist eine Gruppe,<br />

die die Staatsangehörigkeit des Landes hat, wo sie<br />

lebt. Aber betrachten wir einmal Wanderarbeitnehmer:<br />

Sind die Türken bei uns im Lande nicht auch eine<br />

nationale Minderheit, obwohl sie hierzulande keine<br />

Staatsangehörigkeit haben? Kann sich das nicht ändern?<br />

Wird nicht auch ein Türke der dritten Generation<br />

zur nationalen Minderheit, wenn er ständig hier<br />

lebt?<br />

Vielleicht ist dieser Ansatz — Herr Duve, Sie haben<br />

die USA erwähnt — doch ganz hilfreich; denn die USA<br />

setzen sich nur aus Zuwanderern zusammen, aus<br />

Menschen, die dort heimisch geworden sind und sich<br />

heute alle als Amerikaner fühlen. Ich möchte ein wenig<br />

davor warnen, daß man die Definition der nationalen<br />

Minderheit an die Staatsangehörigkeit des Landes<br />

knüpft, in dem man lebt. Denn es wäre sonst zu<br />

leicht, daß die Mehrheit sagen würde: Dadurch, daß<br />

wir die Staatsangehörigkeit aberkennen oder nicht<br />

zuerkennen, sprechen wir dieser Gruppe die Rechte<br />

der nationalen Minderheit ab.<br />

Wir sollten, meine Damen und Herren, einige<br />

Grundregeln als selbstverständlich akzeptieren. Nationale<br />

Minderheiten sollten loyale Bürger des Landes<br />

sein, in dem sie leben. Das ist eine Grundvorausset-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2553<br />

Ulrich Irmer<br />

zung. Sobald sie eine Abspaltung von dem Land oder<br />

eine Aufspaltung des Landes betreiben, in dem sie<br />

leben, sind sie nicht loyal und schaffen neue Probleme.<br />

Dann, wenn sie die Voraussetzung, loyale Bürger<br />

zu sein, erfüllen, haben sie das Recht, weitgehende<br />

Autonomie zu genießen, die durch die KSZE<br />

und durch den Europarat mittels einer besonderen<br />

Konvention festgelegt und allgemein verbindlich gemacht<br />

werden soll.<br />

Ich möchte Ihnen noch einen Gedanken vortragen:<br />

Wir sollten uns bei dem Verlangen nach Rechten für<br />

nationale Minderheiten, die uns selbst nahestehen,<br />

beispielsweise für deutsche nationale Minderheiten in<br />

anderen Ländern, immer vor Augen halten: Die<br />

Rechte, die wir für die deutschen Minderheiten dort<br />

fordern, sollten wir auch den nationalen Minderheiten<br />

gewähren, die bei uns leben. Wir sollten nicht über<br />

das hinausgehen, was wir selbst zuzugestehen bereit<br />

sind.<br />

Ich frage nur einmal: Was würde denn geschehen,<br />

wenn etwa die Türken in Kreuzberg jetzt verlangten,<br />

daß dort türkische Straßenschilder aufgestellt werden<br />

sollten? Wie halten wir es denn mit den politischen<br />

Autonomierechten, die wir für die deutsche Minderheit<br />

fordern, beispielsweise gegenüber den Gastarbeitern,<br />

die bei uns leben?<br />

Natürlich hängt das von der Definition der Minderheit<br />

ab. Ich meine aber, daß es nicht abwegig wäre, zu<br />

sagen: Das, was wir von anderen verlangen, sollten<br />

wir auch bereit sein, denen zu geben, die bei uns<br />

leben. Wir kommen hier zu guten Regelungen.<br />

Ich bin überzeugt, im Prozeß des Zusammenwachsens<br />

von Europa müssen wir den nationalen Minderheiten<br />

wie allen Minderheiten Rechte geben. Ich<br />

meine, der Stand einer Kultur erweist sich darin, wie<br />

die Mehrheit mit den Minderheiten umgeht.<br />

Ich bedanke mich.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die<br />

Abgeordnete Angela Stachowa das Wort.<br />

Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Sehr geehrte<br />

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße<br />

es, daß dieser Antrag eingebracht wurde. Ich<br />

kenne aus eigener Erfahrung die nicht zu unterschätzende<br />

Bedeutung, die der Verwirklichung grundlegender<br />

Rechte und Pflichten einer nationalen Minderheit<br />

zukommt. Nationale Minderheiten, die in der Regel<br />

über viele Jahre, ja, zum Teil Jahrhunderte hinweg<br />

inmitten anderer Völker leben und überlebten,<br />

gehören heute zur kulturellen, sprachlichen und ethnischen<br />

Vielfalt unseres Daseins. Sie gilt es zu bewahren,<br />

zu schützen, zu pflegen und zu fördern; denn sie<br />

verkörpern einen Teil der Weltgeschichte und der<br />

Weltkultur.<br />

Ich selbst gehöre einer nationalen Minderheit in<br />

Deutschland an, dem sorbischen Volk, das alle Tiefen<br />

und Höhen in nahezu tausend Jahren inmitten deutschen<br />

Territoriums durchgemacht hat und heute nicht<br />

nur um die Erhaltung und Entfaltung seiner nationalen<br />

Identität, sondern generell um seine Zukunft, ja,<br />

um sein Überleben kämpft.<br />

Die in dem Antrag aufgeführten Forderungen für<br />

das Auftreten der Bundesregierung in internationalen<br />

Gremien müssen uns zugleich zu denken geben; denn<br />

auch im eigenen Land steht nicht alles zum besten.<br />

Auch hier sind einige Forderungen angebracht.<br />

Ein Rückblick auf die vergangene Wahlperiode<br />

zeigt, daß in diesem Hohen Hause mehrfach über die<br />

Lage nationaler Minderheiten in anderen Ländern debattiert<br />

und polemisiert wurde.<br />

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />

Was heißt hier „polemisiert"? Was wissen Sie<br />

denn davon, ob polemisiert worden ist?)<br />

Unsere Verantwortung gebietet aber, auch über die<br />

positiven Erfahrungen und die Sorgen und Nöte der<br />

drei anerkannten nationalen Minderheiten im geeinten<br />

Deutschland, der dänischen Minderheit, der friesischen<br />

Volksgruppe und des sorbischen Volkes, ohne<br />

Mutterland zu sprechen.<br />

Konkret zum sorbischen Volk: Im Protokoll zum<br />

Art. 35 des Einigungsvertrages werden die Freiheit<br />

zum Bekenntnis zum sorbischen Volkstum und die<br />

Gewährleistung der Fortentwicklung der sorbischen<br />

Kultur festgeschrieben. Von einer Förderung wie in<br />

der Verfassung in Schleswig-Holstein ist hier keine<br />

Rede. Doch gerade das brauchen die Minderheiten,<br />

braucht diese Minderheit.<br />

Die Problematik des sorbischen Volkes kann sich<br />

nicht in der Förderung ihrer Sprache und Kultur erschöpfen;<br />

denn das Thema die Sorben und die Braunkohle<br />

hat etwas mit ihrem direkten Überleben zu<br />

tun.<br />

Ich spreche vom Kampf ums Überleben und frage in<br />

diesem Zusammenhang: Ist die dem sorbischen Volk<br />

vom Bund für dieses Jahr gewährte Summe von<br />

12 Millionen DM für den Erhalt und die Weiterführung<br />

kultureller Einrichtungen wirklich ausreichend?<br />

Aus der Kenntnis der Belange meines Volkes heraus<br />

meine ich: nein.<br />

Die Länder Sachsen und Brandenburg sind arm.<br />

Kunst und Kultur gehen in Krisenzeiten als erste über<br />

Bord. Dieses eindeutige Gesetz von Basis und Überbau,<br />

wird, fürchte ich, vor sorbischer Kunst und Kultur<br />

nicht haltmachen.<br />

(Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/<br />

CSU]: Was?)<br />

Noch einige allgemeine Bemerkungen. Im vorliegenden<br />

Antrag wird das vorgesehene Minderheitenschutzgesetz<br />

in Ungarn als positives Beispiel erwähnt.<br />

Warum gibt es nichts Adäquates bei uns?<br />

Wie Sie sicher alle wissen, gibt es weder eine Aussage<br />

zu den Rechten und Pflichten noch eine zu<br />

Schutz und Förderung nationaler Minderheiten im<br />

Grundgesetz, ganz zu schweigen von einem Gesetz<br />

über nationale Minderheiten.<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Abgeordnete<br />

Stachowa, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />

Koschyk?<br />

Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Ja, bitte.<br />

Hartmut Koschyk (CDU/CSU) : Frau Kollegin, sind<br />

Sie mit mir der Meinung, daß es ein ernsthaftes Bemü-


2554 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Hartmut Koschyk<br />

hen des Landes Brandenburg und des Freistaates<br />

Sachsen gibt, die Rechte der sorbischen Minderheit<br />

in diesen Ländern auch in den Landesverfassungen zu<br />

schützen, und sind Sie bereit, dieses Bemühen entsprechend<br />

zu würdigen und hier nicht zu unterstellen,<br />

daß diese beiden Länder, in denen Angehörige Ihrer<br />

Volksgruppe leben, nicht versuchen, den Rechten Ihrer<br />

Volksgruppe unter Berücksichtigung eines wirklich<br />

europäischen Standards Genüge zu tun?<br />

Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Ich gehe mit<br />

Ihnen konform. Die Länder Sachsen und Brandenburg<br />

bemühen sich. Ich glaube aber, es ist auch die Aufgabe<br />

des Bundes, nationale Minderheiten zu fördern<br />

und zu unterstützen.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Li<br />

ste und der SPD)<br />

Inwieweit kommt die Anerkennung des Rechts auf<br />

kollektive Ausübung von Individualrechten und die<br />

damit verbundene Gewährung der Teilhabe nationaler<br />

Minderheiten an politischen Entscheidungen auf<br />

kommunaler, regionaler und gesamtstaatlicher Ebene<br />

in der Praxis überhaupt zum Tragen? Der <strong>Bundestag</strong><br />

sollte die Bundesregierung auffordern, in regelmäßigen<br />

Abständen einen Minderheitenbericht vorzulegen.<br />

Ein solches Dokument würde uns auch erlauben,<br />

konkrete Vergleiche anzustellen und zu prüfen, wie<br />

die von der Parlamentarischen Versammlung des<br />

Europarates verabschiedeten Prinzipien zum Schutz<br />

der Rechte von Minderheiten in der Bundesrepublik<br />

tatsächlich verwirklicht werden.<br />

Meine Damen und Herren, auch in einem zukünftigen<br />

geeinten Europa ohne Grenzen werden die Bayern<br />

Bayern und die Sachsen Sachsen bleiben. Auch<br />

die nationalen Minderheiten sollen bleiben, was sie<br />

sind, nämlich unter anderem Bindeglieder, aber vor<br />

allem Gruppen von Menschen mit einer eigenen nationalen<br />

Identität.<br />

Zum Abschluß noch eine Bemerkung. Wenn heute<br />

diesem Antrag zugestimmt wird, so beantrage ich zugleich,<br />

daß die Bundesregierung nach der Sommerpause<br />

hier vor dem Hohen Hause einen Bericht über<br />

die Ergebnisse des Expertentreffens gibt und notwendige<br />

Schlußfolgerungen für den innerstaatlichen Umgang<br />

mit nationalen Minderheiten darlegt.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />

Abgeordneten der SPD)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt<br />

Herr Staatsminister Helmut Schäfer.<br />

-<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!<br />

Das Expertentreffen über nationale Minderheiten, das<br />

am 1. Juli in Genf beginnen soll, kommt zur rechten<br />

Zeit. Es wurde von den Staats- und Regierungschefs<br />

der KSZE-Staaten bei ihrem Treffen in Paris im vergangenen<br />

November einberufen — ich zitiere —,<br />

„im Bewußtsein einer dringenden Notwendigkeit des<br />

Minderheitenschutzes". Ich gehe davon aus, daß die<br />

Bundesregierung im Anschluß an das Expertentreffen,<br />

Frau Kollegin, natürlich in den Ausschüssen berichten<br />

wird; das ist doch eine Selbstverständlichkeit.<br />

Denn über all diese Konferenzen wird anschließend<br />

zu sprechen sein.<br />

Akute Krisen sowie offene und latente Spannungen<br />

in einigen KSZE-Staaten belegen, wie notwendig das<br />

KSZE -Expertentreffen über nationale Minderheiten<br />

ist und wie zutreffend auch die Bewertung der Staatsund<br />

Regierungschefs im Hinblick auf die Einberufung<br />

dieses Treffens war. Sie belegen auch, daß ungelöste<br />

Minderheitenfragen große Probleme schaffen können.<br />

Meine Damen und Herren, Minderheitenschutz ist<br />

angewandte Menschenrechtspolitik.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der<br />

CDU/CSU)<br />

Der Schutz der Individualrechte allein, der zunächst<br />

beim Helsinki-Prozeß in den Mittelpunkt gerückt war,<br />

reicht nicht aus.<br />

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr rich<br />

tig!)<br />

Nur der besondere Schutz und die besondere Förderung<br />

von Minderheiten trägt dazu bei, historische<br />

Konflikte zu entschärfen und aus früheren Feinden<br />

Freunde zu machen.<br />

Hier ist wiederholt auf das Beispiel Dänemark und<br />

Deutschland verwiesen worden. Wir könnten noch<br />

einige andere Beispiele nennen; Herr Irmer hat es<br />

getan. Aber ich glaube, dieses Beispiel macht besonders<br />

deutlich, wie Minderheiten miteinander bzw.<br />

Mehrheiten mit ihren jeweiligen Minderheiten umgehen<br />

können.<br />

Ich darf auch sagen, daß sich dank unserer beharrlichen<br />

Ostpolitik — hier kann man ja nun eigentlich<br />

alle Parteien mit einbeziehen, Herr Kollege Duve —<br />

die Situation der deutschen Minderheiten in den<br />

Staaten Mittel- und Osteuropas doch grundlegend<br />

verbessert hat. Ich hoffe, daß diese Entwicklung viele<br />

Angehörige der deutschen Minderheit auch zum Bleiben<br />

in ihren jeweiligen Staaten veranlassen wird<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

und daß sie auch ermutigt werden, bei dem schwierigen<br />

Prozeß dort, nämlich Demokratie herzustellen<br />

und eine neue Wirtschaftsordnung zu schaffen, kräftig<br />

mit anpacken, wie sie in den vergangenen Jahrhunderten,<br />

kann man sagen, ja auch ganz wesentlich zum<br />

Lebensstandard, zur Entwicklung nicht nur der Kultur,<br />

sondern auch des Wohlstands der Länder beigetragen<br />

haben, in denen sie heute noch leben.<br />

Im deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft<br />

und freundschaftliche Zusammenarbeit werden<br />

wesentliche Bestimmungen des Kopenhagener<br />

Dokuments rechtlich verbindlich vereinbart. Dies ist<br />

auch ein konkreter wesentlicher Fortschritt und ein<br />

Beitrag zur Fortentwicklung des europäischen Minderheitenschutzes.<br />

Auf dem Genfer Treffen werden<br />

wir uns für weitere Verbesserungen des europäischen<br />

Minderheitenstandards einsetzen.<br />

Ich habe schon gesagt: Minderheitenschutz und<br />

Schutz der Menschenrechte gehören eng zusammen.<br />

Eine Minderheit kann ihre Identität nur wahren, wenn<br />

sie ihr Anderssein als Gruppe und mittels der Gruppe


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2555<br />

Staatsminister Helmut Schäfer<br />

manifestieren kann. Die KSZE-Teilnehmerstaaten<br />

müssen auf dem in Kopenhagen eingeschlagenen<br />

Weg fortfahren, die Individualrechte auszubauen und<br />

damit natürlich auch Konsequenzen für die Behandlung<br />

von Minderheiten zu ziehen.<br />

Es gibt ja nun Staaten, die besorgt sind, daß die<br />

Respektierung der berechtigten Anliegen von Minderheiten<br />

eine Gefahr für ihre staatliche Souveränität<br />

oder gar für den Bestand ihres Staates werden könnte.<br />

Aber, meine Damen und Herren, es hat sich doch<br />

gezeigt, daß akute Probleme nicht dadurch gelöst<br />

werden können, daß man ihr Bestehen leugnet. Es ist<br />

selbstverständlich, daß der Einhaltung der eingegangenen<br />

Verpflichtungen die Bereitschaft der Minderheit<br />

zur Zusammenarbeit mit der Mehrheit in ihrem<br />

jeweiligen Staat entsprechen muß.<br />

Aufgeschlossene und vertrauensvolle Zusammenarbeit<br />

seitens der Minderheit ist aber um so weniger<br />

zu erwarten, je mehr eine Minderheit ihre legitimen<br />

Interessen gefährdet sieht. Eine Minderheit wird ihre<br />

Rechte um so heftiger einklagen, je mehr sie befürchten<br />

muß, bei Entscheidungen, von denen sie betroffen<br />

ist, nicht ausreichend, und zwar auf allen Ebenen,<br />

beteiligt zu werden.<br />

Das Genfer Expertentreffen muß dafür genutzt werden,<br />

über Lösungen gerade für die schwierigsten und<br />

konfliktträchtigsten Situationen nachzudenken. Wo<br />

— wie in Südtirol — eine Minderheit in ihrem geschlossenen<br />

Siedlungsgebiet die Mehrheit bildet, bieten<br />

sich lokale und regionale Verwaltung auf territorialer<br />

Basis an. Solche Regelungen eignen sich aber<br />

nicht für Gebiete, in denen eine Minderheit weit verstreut<br />

leben muß. Aber auch dort gibt es natürlich die<br />

Möglichkeit, daß sich staatliche Autoritäten eben<br />

nicht in Dinge einmischen, die die Minderheit selbst<br />

verwalten kann und die sie auch selbst verwalten<br />

soll.<br />

Es geht uns vor allem darum, daß es in vielen Feldern<br />

der öffentlichen Angelegenheiten, der öffentlichen<br />

Verwaltung, die man als partielle oder personelle<br />

Autonomie den Minderheiten getrost selbst<br />

überlassen kann und selbst überlassen sollte, besonders<br />

dort Fortschritte erzielt werden, wo es um den<br />

Schutz und die Förderung der Identität geht, also in<br />

Erziehungs-, Bildungs-, Kultur- und Sozialangelegenheiten.<br />

Die übrigen Bereiche der öffentlichen Verwaltung<br />

brauchen dadurch nicht tangiert zu werden.<br />

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die<br />

Bundesregierung begrüßt den Resolutionsentwurf<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es zum Expertentreffen in<br />

Genf. Er betont den Anspruch, daß Minderheitenpolitik<br />

Menschenrechtspolitik ist und daß Minderheitenpolitik<br />

gemäß dem Wort von Bundesaußenminister<br />

Genscher Minderheiten zu Brücken des Verständnisses<br />

zwischen den Nationen machen soll. Sie ist Teil<br />

einer Politik des Ausgleichs und der Verständigung.<br />

Richtschnur muß der Respekt der KSZE-Verpflichtungen<br />

durch die Mitgliedsregierungen und auch die<br />

Loyalität und der Respekt der Minderheiten gegenüber<br />

ihrem jeweiligen Staat sein, gegenüber der<br />

Mehrheit ihrer Bevölkerung.<br />

Herr Kollege Duve, Sinti und Roma sind in dem<br />

Dokument von Kopenhagen übrigens ausdrücklich<br />

erwähnt.<br />

Wir erwarten, daß das KSZE-Expertentreffen in<br />

Genf weitere Fortschritte für den Schutz der Minderheiten<br />

in Europa bringen wird, für die sich alle Fraktionen<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es gemeinsam mit<br />

der Bundesregierung einsetzen werden. Selbstverständlich<br />

— ich darf das wiederholen — werden wir<br />

über den Ausgang und die Fortschritte dieser Konferenz<br />

berichten.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />

bei Abgeordenten der SPD)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der<br />

Abgeordente Hartmut Koschyk.<br />

Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />

Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird der<br />

Bedeutung des Minderheitenschutzes für die Verwirklichung<br />

einer europäischen Friedensordnung<br />

gerecht, wenn der Deutsche <strong>Bundestag</strong> heute mit den<br />

Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/<br />

GRÜNE einen gemeinsamen Antrag zu diesem wichtigen<br />

Thema verabschiedet. Denn diese Frage sollte<br />

nicht Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen<br />

sein. Man sollte sie auch im zwischenstaatlichen<br />

Bereich bei aller Diskussion um den besten Weg<br />

nicht mit Konfrontation und Antagonismus angehen.<br />

Deshalb war es so bedeutend, daß mit dem KSZE-<br />

Dokument von Kopenhagen erstmals Staatenverpflichtungen<br />

zum Schutz von Minderheiten in einer so<br />

breiten und einer so konkreten Form festgeschrieben<br />

wurden. Es ist ermutigend, daß das Genfer Expertentreffen<br />

zu Minderheitenfragen und die dritte Konferenz<br />

über die menschliche Dimension der KSZE in<br />

Moskau diesen Prozeß vertiefen sollen. Es ist sicher<br />

auch gut und richtig, daß der Unterausschuß des <strong>Bundestag</strong>es<br />

für Menschenrechte und humanitäre Hilfe<br />

an diesen Konferenzen mit jeweils einer Delegation<br />

teilnehmen wird.<br />

Minderheitenprobleme dürfen und können in Europa<br />

nicht nach unterschiedlichen Standards geregelt<br />

werden. Ein überall in Europa geltender verbindlicher<br />

und einklagbarer Minderheitenschutz muß Bestandteil<br />

der künftigen europäischen Rechtsordnung sein.<br />

Deshalb ist es auch entscheidend, daß parallel zum<br />

KSZE-Prozeß in anderen europäischen Institutionen<br />

wie dem Europarat und im Europäischen Parlament<br />

sehr wichtige, teilweise allerdings von der Öffentlichkeit<br />

unbeachtete Initiativen<br />

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Ja, leider!)<br />

zur europäischen Menschenrechtskonvention oder für<br />

eine besondere Minderheitenkonvention bzw. für ein<br />

europäisches Volksgruppenrecht gestartet wurden.<br />

Denn bei aller Bedeutung des KSZE-Prozesses kommt<br />

der Schaffung eines Minderheitsrechtes auf der<br />

Ebene des Europarates eine wesentliche stärkere<br />

rechtliche Verbindlichkeit zu. Um diesen Prozeß zu<br />

unterstützen — das muß man deutlich sagen — , wäre<br />

es natürlich auch entscheidend, daß die Bundesrepublik<br />

Deutschland das neunte Zusatzprotokoll zur Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention, das die Mög-


2556 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Hartmut Koschyk<br />

lichkeit der Individualbeschwerde bei Menschenrechtsverletzungen<br />

vorsieht, alsbald ratifiziert.<br />

(Beifall bei Abgeordenten der CDU/CSU, der<br />

FDP und der SPD)<br />

Auch hier hat die Bundesrepublik Deutschland einen<br />

Nachholbedarf.<br />

Meine Damen und Herren, die Verwirklichung des<br />

gesamteuropäischen Minderheitsschutzes ist natürlich<br />

mit der künftigen Frage der Struktur Europas und<br />

seiner Verfassung auf das engste verbunden. Deshalb<br />

muß die Verfassung der Europäischen Union auch<br />

einen entsprechenden minderheitenrechtlichen Teil<br />

beinhalten. Der europäische Einigungsprozeß verlangt<br />

nicht nur Abgabe von Souveränität nach oben,<br />

sondern auch Abgabe von Souveränität nach unten.<br />

Der international auch für die Menschenrechtspolitik<br />

der Bundesrepublik Deutschland wirkende Bonner<br />

Völkerrechtler Christian Tomuschat beschrieb zu Jahresbeginn<br />

als Aufgabe künftiger Menschenrechtspolitik<br />

Deutschlands, sich für ein notwendiges „Zwischenelement<br />

im Völkerrecht" einzusetzen, „wonach<br />

eine Volksgruppe zwar einen Status der politischen<br />

Autonomie, aber nicht völlig Loslösung aus dem bisherigen<br />

Staatsverband verlangen kann". „Für viele<br />

Länder" — so fährt Tomuschat fort; wir merken das ja<br />

im Hinblick auf Jugoslawien und andere Krisenherde<br />

— „würde es geradezu eine Erlösung bedeuten,<br />

könnte sie das Völkerrecht auf einen Mittelweg hinleiten,<br />

der kompromißhaft die nationale Integrität auf<br />

der einen Seite, die Wünsche bestimmter ethnischer<br />

Minderheitengruppen nach einem Mehr an politischer<br />

Selbstbestimmung unterhalb der kritischen<br />

Schwelle der Sezession andererseits zum Ausdruck<br />

bringt. "<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und<br />

der SPD)<br />

Tomuschats Regensburger Kollege Otto Kimminich<br />

spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit<br />

einer „polyethnischen Staatsorganisation"<br />

— ich finde das einen sehr guten Begriff —, um Minderheiten-<br />

und Volksgruppenprobleme dauerhaft befriedigend<br />

zu lösen.<br />

Wer den Volksgruppen und Minderheiten in Europa<br />

einen effektiven Schutz gewähren will — ich<br />

glaube, das muß immer eine besondere Förderung<br />

einschließen —, der muß ihnen auch ein Repräsentations-<br />

und Interaktionsorgan einräumen. Der Vertiefung<br />

des Minderheitenschutzes und ihrer Förderung<br />

dient es jedenfalls nicht, wenn auf KSZE-Ebene nur<br />

über Minderheiten und Volksgruppen geredet wird<br />

und sie nur am Rande dieser Tagungen - als sogenannte<br />

NGOs zu Wort kommen. Für die künftige<br />

Struktur Europas bedeutet dies auch, daß sich Heimatregionen<br />

von Minderheiten und Volksgruppen in<br />

irgendeiner institutionellen Form darstellen und ihre<br />

Interessen vertreten können. Hierbei kommt dem Regionalismus<br />

eine besondere Bedeutung zu, und die<br />

Initiative des bayerischen Ministerpräsidenten Streibl<br />

für die 1989 ins Leben gerufene Konferenz „Europa<br />

der Regionen" leistet hierzu einen sehr wertvollen<br />

Beitrag.<br />

Meine Damen und Herren, der heute zur Debatte<br />

stehende Antrag weist auch auf einen sehr wichtigen<br />

Punkt für die Weiterentwicklung eines europäischen<br />

Minderheitenschutzes und einer gezielten Förderungspolitik<br />

für Minderheiten hin: Die Schaffung sogenannter<br />

public funds, die Volksgruppen und Minderheiten<br />

in die Lage versetzen, unabhängig von der<br />

eigenen Wirtschaftskraft und auch unabhängig von<br />

der jeweiligen Gunst nationaler Haushälter ihre Institutionen<br />

zu unterhalten und ihre Förderungsprogramme<br />

duchzuführen.<br />

Auf die Notwendigkeit derartiger public funds für<br />

eine wirksame Minderheitenschutz- und effektive<br />

Minderheitenförderpolitik hat der bedeutende angelsächsische<br />

Völkerrechtler Lauterpacht bereits 1950 in<br />

seiner Schrift „International Law and Human Rights"<br />

hingewiesen. Deshalb sollte auch in Genf darüber<br />

nachgedacht werden, ob nicht auf europäischer<br />

Ebene ein Fonds geschaffen werden sollte, aus dem<br />

Institutionen von Minderheiten und deren Programme<br />

gefördert werden können. Ich denke beispielsweise<br />

daran, im Hinblick auf die schwierige volkswirtschaftliche<br />

Situation der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas<br />

auch die notwendigen Mittel für eine effektive<br />

Minderheitenförderpolitik aufzubringen. Es<br />

wäre sicher besonders wegweisend und, ich meine,<br />

auch wichtig, wenn aus einem solchen Fonds auch<br />

gemeinsame Programme von Minderheiten aus verschiedenen<br />

Staaten im Sinne eines Erfahrungsaustausches<br />

und einer Begegnung gefördert werden könnten.<br />

Die Achtung der Rechte von Minderheiten, deren<br />

Schutz und aktive Förderung können jedoch nicht nur<br />

Angelegenheit des Staates sein. In seiner Botschaft<br />

zum Weltfriedenstag mit den Leitwort „Um Frieden zu<br />

schaffen, Minderheiten achten" schrieb Papst Johannes<br />

Paul II. im Dezember 1988 — ich zitiere — :<br />

Die Verpflichtung, die Verschiedenheit anzunehmen<br />

und zu schützen, betrifft nicht nur den Staat<br />

oder die Gruppen. Jede Person als Mitglied der<br />

einen Menschheitsfamilie muß den Wert der Verschiedenheit<br />

unter den Menschen verstehen und<br />

achten und ihn auf das Gemeinwohl hinordnen.<br />

Ein offener Geist, der bestrebt ist, daß kulturelle<br />

Erbe der Minderheiten, dem er begegnet, besser<br />

zu begreifen, wird dazu beitragen, Haltungen zu<br />

überwinden, welche gesunde gesellschaftliche<br />

Beziehungen behindern.<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter<br />

Koschyk, Ihre Redezeit ist zu Ende.<br />

Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Wenn Sie mich noch<br />

einen Satz aus dem sehr bemerkenswerten Papst<br />

Rundschreiben zitieren lassen. —<br />

Und an einer anderen Stelle schreibt der Papst:<br />

(Freimut Duve [SPD]: Das ist keine ganz faire<br />

Methode, die Redezeit mit dem Papst auszu<br />

dehnen!)<br />

— Das zeichnet unsere Fraktion aus, Herr Duve.<br />

Das wachsende Bewußtsein, das man heute auf<br />

allen Ebenen für die Lage der Minderheiten<br />

wahrnimmt, ist in unserer Zeit ein Zeichen begründeter<br />

Hoffnung für die neuen Generationen<br />

und für die Erwartungen dieser Minderheitsgrup-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2557<br />

Hartmut Koschyk<br />

pen. Denn die Achtung ihnen gegenüber muß in<br />

gewisser Weise als der Prüfstein für ein harmonisches,<br />

gesellschaftliches Zusammenleben und als<br />

Beweis für die von einem Land und seiner Einrichtungen<br />

erreichte gesellschaftliche Reife angesehen<br />

werden.<br />

Ich wünsche mir, .. .<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Also, jetzt ist wirklich<br />

Schluß.<br />

Hartmut Koschyk (CDU/CSU): . daß natürlich<br />

auch wir als Bundesrepublik Deutschland diese gesellschaftliche<br />

Reife zeigen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer<br />

Kurzintervention hat der Abgeordnete Wolfgang<br />

Börnsen.<br />

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Frau<br />

Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich<br />

beziehe mich in meiner Intervention auf den Beitrag<br />

unseres Kollegen Freimut Duve. Herr Duve, ich teile<br />

in großen Zügen Ihre Aussagen. Nur in einem Punkt<br />

bin ich anderer Meinung. Sie haben in einer mehr<br />

internationalen Sicht klargemacht, daß es gelungene<br />

Beispiele für Minderheitenregelungen gibt: in den<br />

Vereinigten Staaten, in der Schweiz und in Israel. Ich<br />

denke wohl, man sollte und darf nicht vergessen, daß<br />

wir in unserem eigenen Land, nämlich in Schleswig<br />

Holstein, durch die dort vorgenommene Regelung der<br />

deutsch -dänischen Minderheitenproblematik ein<br />

ausgesprochen gelungenes Beispiel haben. Als ehemaliger<br />

Fehmarner werden Sie wissen, daß über fast<br />

40 Jahre hier ein Modell für eine Minderheitenregelung<br />

entstanden ist, über das es sich lohnt, weiter<br />

nachzudenken.<br />

Die Bonn-Kopenhagener-Erklärung von 1955 hat<br />

bis heute um keinen Deut verändert werden müssen,<br />

und sie ist zum Teil auch in die Landessatzung Schleswig-Holsteins<br />

eingeflossen, und alle Parteien dort<br />

stützen diese Art von Zusammenleben.<br />

Ich glaube, daß es wichtig ist, daß man bei der Konferenz,<br />

zu der jetzt sicher viele Regierungsvertreter in<br />

Genf zusammenkommen werden, über gelungene<br />

Beispiele nachdenkt, wie sie in der deutsch-dänischen<br />

-<br />

Grenzregion vollzogen worden sind, ob im Kindergartenwesen,<br />

im Schulwesen, auch in der Darstellung<br />

politischer Parteien. Ich würde mir wünschen, daß<br />

sich die Bundesregierung am Beispiel Dänemarks<br />

orientiert und zu dieser Konferenz — der Staatsminister<br />

wird das sicher auch aufnehmen — auch Vertreter<br />

und Berater der dänischen Minderheit in Deutschland<br />

und auch der sorbischen Minderheit mitnimmt. Ich<br />

denke sehr wohl, daß in einer Regierungskommission<br />

solche Vertreter, die aus dem eigenen Erleben Beiträge<br />

einbringen können für das Gelingen der Konferenz,<br />

ein Glücksfall für den Verlauf einer solchen Konferenz<br />

sein können. Ihr Kollege Uffe Ellemann-Jensen<br />

in Kopenhagen praktiziert das Beispiel mit einem Vertreter<br />

der deutschen Minderheit. Ich glaube sehr<br />

wohl, daß es notwendig ist.<br />

Lassen Sie mich mit einer kurzen Bemerkung<br />

schließen. Wenn die Minderheiten in unserem eigenen<br />

Land den Wunsch haben, daß sie nicht nur international<br />

vertreten sind, sondern auch bei uns im<br />

Grundgesetz ihre Rechte abgesichert werden, dann<br />

sollten wir auch offen sein für diese Frage. Das gilt<br />

auch für die Überlegung, ein Büro für internationale<br />

Minderheiten zu schaffen, wo sie sich wiederfinden<br />

können.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter<br />

Duve.<br />

Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Börnsen, ich<br />

danke Ihnen sehr für diesen korrigierenden Hinweis.<br />

In der Tat wäre ich völlig mißverstanden worden,<br />

wenn ich nicht die vielen Beispiele — Sie haben eines<br />

der besten und schönsten genannt — mit gemeint<br />

hätte, bei denen es sehr gut funktioniert. Ich denke,<br />

letztlich ist das auch in den meisten Zeiten Belgiens<br />

so, obwohl es da manchmal noch Probleme gab.<br />

Ich wollte mit meinem Hinweis auf die drei Staaten<br />

Schweiz, Israel und die Vereinigten Staaten verdeutlichen,<br />

daß es dort in ganz heterogenen Gesellschaften<br />

— es gab dort sozusagen keine „Hauptgesellschaft"<br />

— gelungen ist, unter ganz bestimmten, oft<br />

auch tragischen historischen Bedingungen befriedigende<br />

Formen zu finden. All die Beispiele, die Sie<br />

nennen, sind Beispiele aus einer Region, wo in der<br />

Mehrheit die Dänen als Mehrheitsvolk leben und<br />

diese Minderheitenrechte für die Deutschen ausgehandelt<br />

haben oder wo mehrheitlich die Deutschen<br />

oder die Schleswig-Holsteiner, die, wie wir wissen,<br />

eine besondere Art sind, leben und sich auch Dänen<br />

wohl fühlen. Daß Sie meine Großmutter aus Fehmarn<br />

hier erwähnt haben, wird alle Fehmarner sehr<br />

freuen.<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und<br />

Herren, der Abgeordnete Poppe von der Gruppe<br />

Bündnis 90/GRÜNE hat seine Redebeiträge zu Zusatzpunkt<br />

2, aber auch zu den Zusatzpunkten 3, 4 und<br />

5 nach Abstimmung mit den Geschäftsführern zu Protokoll<br />

gegeben *). Sind Sie in Abweichung von der<br />

Geschäftsordnung damit einverstanden? — Dann ist<br />

es so beschlossen.<br />

Frau Stachowa hat in ihrer Rede den Antrag gestellt,<br />

daß die Bundesregierung einen Bericht zur KSZE erstattet.<br />

Herr Staatsminister Schäfer hat das unmittelbar<br />

zugesagt. Damit ist auch diesem Antrag entsprochen.<br />

Ich schließe somit die Aussprache. Wir kommen zur<br />

Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktio-<br />

*) Anlagen 2 und 3


2558 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth<br />

nen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe<br />

Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/796? — Wer<br />

stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der<br />

Antrag einstimmig angenommen.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />

FDP und der SPD)<br />

Ich rufe die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:<br />

ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />

CSU, SPD und FDP und der Gruppe BÜND-<br />

NIS 90/DIE GRÜNEN<br />

Zur Krise in Jugoslawien<br />

— Drucksache 12/795 —<br />

ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />

CSU, SPD und FDP<br />

Zur Lage in Kosovo<br />

— Drucksache 12/797 —<br />

ZP5 Beratung des Antrags des Abgeordneten Gerd<br />

Poppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE<br />

GRÜNEN<br />

Zur Lage in Kosovo<br />

— Drucksache 12/780 —<br />

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für<br />

die gemeinsame Aussprache eine Dreiviertelstunde<br />

vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist<br />

der Fall.<br />

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete<br />

Friedrich Vogel.<br />

Friedrich Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!<br />

Es fügt sich gut, daß sich diese Debatte an die soeben<br />

geführte Debatte anschließt, weil wir damit unmittelbar<br />

in einen Fall konkreter Umsetzung dessen, was<br />

wir hier erörtert haben, hineinkommen.<br />

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Das zeigt die<br />

Weisheit des Ältestenrates und des Präsidi<br />

ums!)<br />

— Das habe ich nie in Zweifel gestellt, Herr Kollege<br />

Feldmann.<br />

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das kann<br />

man auch gar nicht!)<br />

Das liegt schon an der Vorsitzführung im - Ältestenrat;<br />

das ist doch völlig klar.<br />

Meine Damen und Herren, die Aufmerksamkeit,<br />

die der gesamte Deutsche <strong>Bundestag</strong> den Ereignissen<br />

und der Entwicklung in Jugoslawien widmet, wird<br />

dadurch unterstrichen, daß die beiden heute zur Beratung<br />

anstehenden Anträge von allen drei Fraktionen<br />

gemeinsam eingebracht worden sind — auch dadurch,<br />

daß wir übereingekommen sind, diese Anträge<br />

heute ohne vorherige Ausschußüberweisung zu verabschieden.<br />

Schließlich möchte ich daran erinnern, daß in<br />

Deutschland rund 600 000 Menschen aus allen Tei<br />

len Jugoslawiens leben und deshalb die Konflikte dort<br />

auch bei uns Niederschlag finden.<br />

(Freimut Duve [SPD]: Sehr wahr!)<br />

Das verstärkt zweifellos unser Interesse an Jugoslawien.<br />

Mit unseren Anträgen wollen wir in dreifacher Hinsicht<br />

Signale geben. Das erste Signal richtet sich an<br />

unsere eigene Bundesregierung. Es macht die Haltung<br />

des Parlaments zu den Problemen in Jugoslawien<br />

deutlich. Wir erwarten von der Bundesregierung,<br />

daß sie ihre Jugoslawienpolitik an dieser Auffassung<br />

des Parlaments ausrichtet.<br />

Nach den Ausführungen des Bundeskanzlers zu Jugoslawien<br />

in der Haushaltsdebatte am 6. Juni 1991<br />

gehe ich davon aus, daß sich Parlament und Bundesregierung<br />

von den gleichen Grundsätzen leiten lassen.<br />

Das gilt für den Appell des Bundeskanzlers an<br />

alle Verantwortlichen in Jugoslawien, mit Besonnenheit<br />

und unter Verzicht auf Gewaltanwendung zu versuchen,<br />

zu einem vernünftigen, erträglichen Kompromiß<br />

zu kommen.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)<br />

— Wenn Sie zuviel Beifall klatschen, geht meine Redezeit<br />

flöten.<br />

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Wir werden uns<br />

zurückhalten!)<br />

Das gilt vor allem für folgende zwei Feststellungen<br />

des Bundeskanzlers.<br />

Erstens. Nur ein demokratisch erneuertes Jugoslawien,<br />

in dem die Menschenrechte — dazu gehören<br />

immer auch die Rechte der Minderheiten — respektiert<br />

werden, hat Zukunft.<br />

Zweitens. Nur so ist Jugoslawien ein Partner, dem<br />

wir und die Europäische Gemeinschaft unsere Zusammenarbeit<br />

anbieten können.<br />

Das zweite Signal richtet sich an die Europäische<br />

Gemeinschaft und fordert zugleich die Bundesregierung<br />

auf, im Sinne der gemeinsamen Auffassung von<br />

<strong>Bundestag</strong> und Bundesregierung die Jugoslawienpolitik<br />

der Europäischen Gemeinschaft mitzubestimmen.<br />

Ich will nicht verhehlen, daß viele hier im Parlament<br />

mit der Jugoslawienpolitik der Europäischen<br />

Gemeinschaft bis in die jüngere Vergangenheit hinein<br />

höchst unzufrieden gewesen sind.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />

Durch die ständige Beschwörung der Integrität und<br />

territorialen Einheit Jugoslawiens bei gleichzeitiger<br />

Absage an Verhandlung und Zusammenarbeit mit<br />

solchen Republiken, die durch die Trennung von Jugoslawien<br />

entstehen könnten, wurden die mehr und<br />

mehr in die Minderheit geratenden serbischen Kommunisten<br />

unterstützt, die um der Macht willen zäh am


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2559<br />

Friedrich Vogel (Ennepetal)<br />

jugoslawischen Einheitsstaat festhalten und die Unabhängigkeitsbestrebungen<br />

der Kroaten und Slowenen<br />

zu unterdrücken versuchen. Das hat diejenigen<br />

geschwächt, die auf der Grundlage von freiheitlicher<br />

Demokratie, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung<br />

gewährleisteten Menschenrechten und geschützten<br />

Rechten von Minderheiten eine neue Form<br />

des Zusammenlebens der sechs Republiken in Jugoslawien<br />

finden wollen. Eine solche Politik der Europäischen<br />

Gemeinschaft — daran besteht kein Zweifel<br />

— findet im Deutschen <strong>Bundestag</strong> keine Unterstützung.<br />

Nach dem Treffen der EG-Außenminister in<br />

Dresden Anfang dieses Monats hat es erfreulicherweise<br />

den Anschein, daß die Prioritäten der Jugoslawienpolitik<br />

jetzt neu gesetzt worden sind.<br />

Die Europäische Gemeinschaft muß in der Tat gegenüber<br />

allen Verantwortlichen in Jugoslawien deutlich<br />

machen, daß Jugoslawien nur dann auf wirtschaftliche<br />

und andere Hilfe der Europäischen Gemeinschaft<br />

hoffen kann, wenn die zwischennationalen<br />

Streitigkeiten eingestellt werden, überall in Jugoslawien<br />

demokratische Verhältnisse geschaffen<br />

werden, die Menschenrechte und die Rechte nationaler<br />

Minderheiten geachtet werden und im f riedlichen<br />

Dialog über die verfassungsmäßige Zukunft Einigung<br />

erzielt wird.<br />

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist die Voraus<br />

setzung!)<br />

Nur dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt werden,<br />

ist dem Interesse der Europäischen Gemeinschaft<br />

an einem weiteren jugoslawischen Zusammenhalt<br />

Genüge getan.<br />

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]): So ist es!)<br />

Das dritte Signal des Deutschen <strong>Bundestag</strong>s richtet<br />

sich an alle Verantwortlichen in Jugoslawien selbst.<br />

Wir fordern sowohl die Politiker der jugoslawischen<br />

Bundesorgane als auch die politischen Führungen in<br />

den sechs Republiken auf, sich friedlich und in konstruktivem<br />

Dialog auf eine neue Grundlage des Zusammenlebens<br />

der sechs Republiken zu verständigen.<br />

Ich wiederhole, was ich in der Aktuellen Stunde am<br />

21. Februar 1991 gesagt habe:<br />

Unser deutsches wie auch unser gemeinsames<br />

europäisches Interesse, das eigene jugoslawische<br />

Interesse allemal, muß es sein, daß Jugoslawien<br />

im Konsens seiner Republiken als eine freiheitliche<br />

demokratische Gemeinschaft konstituiert<br />

wird.<br />

Die bisherige Grundlage des Zusammenlebens - —<br />

davon haben wir uns bei den zahlreichen Reisen nach<br />

Jugoslawien überzeugen können — findet nicht mehr<br />

die ausreichende Zustimmung aller Völker im Vielvölkerstaat<br />

Jugoslawien und hat deshalb keine Zukunft<br />

mehr.<br />

Natürlich muß die neue Grundlage des Zusammenlebens<br />

in Jugoslawien selbst gefunden werden. Es<br />

wäre falsch und hätte auch keine Aussicht auf Bestand,<br />

wenn von außen her versucht werden würde,<br />

darauf einzuwirken. Aber wir möchten deutlich machen,<br />

welche Voraussetzungen in Jugoslawien erfüllt<br />

sein müssen, damit wir bereit sind, seinen Wunsch<br />

nach Aufnahme als Vollmitglied in den Europarat,<br />

nach wirtschaftlicher Hilfe und nach Assoziierung mit<br />

der Europäischen Gemeinschaft zu unterstützen.<br />

Eine neue Einheit Jugoslawiens — so betonen wir in<br />

unserem Antrag — muß das Ergebnis freier Selbstbestimmung<br />

seiner Völker sein. Das schließt jede Form<br />

von Gewaltanwendung, mit der der eine Teil dem<br />

anderen Teil seinen Willen aufzuzwingen versucht,<br />

aus.<br />

Unabdingbar ist auch unser Verlangen, daß freiheitliche<br />

Demokratie, politischer Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit,<br />

umfassende Gewährleistung der grundlegenden<br />

Menschen- und Freiheitsrechte und nicht<br />

zuletzt der Schutz des Rechts der Minderheiten in<br />

jeder der sechs Republiken auf Wahrung ihrer ethnischen<br />

und kulturellen Identität selbstverständlicher<br />

Bestandteil der Neuordnung in Jugoslawien werden.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />

SPD)<br />

Wir sind davon überzeugt, daß die Chance zu einem<br />

so erneuerten Jugoslawien noch besteht. Deshalb appellieren<br />

wir an alle Verantwortlichen in Jugoslawien,<br />

mit gutem Willen diese Chance zu nutzen und Jugoslawien<br />

so zu einem vollwertigen Mitglied im neuen<br />

Europa zu machen.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />

SPD — Ulrich Irmer [FDP]: Das war eine rich<br />

tig schöne Rede!)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der<br />

Abgeordnete Dr. Peter Glotz.<br />

Dr. Peter Glotz (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr<br />

verehrten Damen und Herren! Der eine oder andere<br />

mag sich fragen, warum wir als <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong><br />

über Jugoslawien debattieren. Herr Kollege Vogel hat<br />

schon auf einige Gründe hingewiesen. Die vorliegenden<br />

Entschließungen bringen ja selber zum Ausdruck,<br />

daß die Völker Jugoslawiens ihren eigenen Weg finden<br />

müssen. Wir können und wollen ihnen nicht vorschreiben,<br />

wie, in welcher Form sie miteinander leben:<br />

in einer Föderation, Konföderation oder gar mehr<br />

oder weniger unverbunden. Es steht ja wohl außer<br />

Zweifel, daß wir das Selbstbestimmungsrecht unserer<br />

Nachbarvölker akzeptieren.<br />

Aber gleichzeitig sind wir betroffen: Jugoslawien<br />

möchte der Europäischen Gemeinschaft assoziiert<br />

werden, langfristig Vollmitglied werden. Auch beziehen<br />

sich diejenigen, die in Slowenien, in Serbien oder<br />

in anderen Republiken agieren, ständig auf eine europäische<br />

Öffentlichkeit.<br />

Und vor allem müssen wir uns klarmachen: Die<br />

Konflikte in Jugoslawien sind Teil eines großes Prozesses,<br />

bei dem sich Emanzipation, das Wiederfinden<br />

nationaler Identität und auch der Wiederaufstieg eines<br />

alten Nationalismus mischen. Deutschland — ich<br />

glaube, das ist die übereinstimmende Meinung von


2560 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Peter Glotz<br />

uns allen — ist weder die Schutz- noch die Vormacht<br />

Osteuropas oder Südosteuropas. Aber wir sind wohl<br />

ein Nachbar, der sich nicht einfach fein heraushalten<br />

kann. Aus dieser Geisteshaltung heraus definieren<br />

sich die beiden Anträge, die wir heute hier vorlegen.<br />

Meine erste Feststellung betrifft die Ankündigung<br />

der Republik Slowenien, Ende Juni aus dem jugoslawischen<br />

Staatsverband auszuscheiden und ihre Selbständigkeit<br />

zu erklären. Wir haben diese Entscheidung<br />

eines Nachbarvolks zur Kenntnis zu nehmen.<br />

Ich möchte dazu aber zwei Bemerkungen machen.<br />

Erstens. Wir müssen daran interessiert sein, daß alle<br />

nationalen Entscheidungen so getroffen werden, daß<br />

nicht noch mehr Leid, Elend und vor allem wirtschaftliche<br />

Not entstehen. Die ökonomischen Folgen nationaler<br />

Entscheidungen müssen berücksichtigt und in<br />

die Überlegungen einbezogen werden. Wenn wir raten<br />

können, dann raten wir, nicht einfach nationale<br />

Entscheidungen zu treffen, die über die ökonomischen<br />

Interessen der betroffenen Bevölkerung hinweggehen.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP)<br />

Zweitens. Wir fordern übereinstimmend alle Betroffenen<br />

auf, von Gewaltanwendung abzusehen. Wir fügen<br />

hinzu: Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung<br />

jedes nationalen Emanzipationsprozesses ist für uns<br />

auch, ob die jeweiligen Mehrheits-Völker ihren jeweiligen<br />

Minderheiten Achtung und Respekt entgegenbringen<br />

oder ob sie das nicht tun. Das ist, wie gesagt,<br />

ein ganz wichtiges Kriterium. Wo in einem Zerfallsprozeß<br />

staatlicher Einheiten die Gelegenheit benutzt<br />

wird, Minderheiten zu drangsalieren und ihrer Rechte<br />

zu berauben, sind wir als <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> auf der<br />

Seite der Minderheit.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />

Liste)<br />

Zweifellos muß man die Verhältnisse in den einzelnen<br />

Republiken Jugoslawiens sehr deutlich voneinander<br />

unterscheiden. Slowenien ist die wirtschaftlich<br />

stärkste Republik Jugoslawiens. Der Anteil der Völkerschaften,<br />

die nicht zur slowenischen Titularnation<br />

gehören, beträgt nur 8 %. Das Verhältnis zu den Minderheiten<br />

ist dort befriedet, also erscheint ein Ausscheiden<br />

Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatsverband<br />

vielen Beobachtern — es scheint ja kein<br />

Zweifel zu sein, daß das dem Wunsch der Mehrheit<br />

des slowenischen Volkes entspricht — als möglich, oft<br />

sogar als akzeptabel.<br />

Wir wissen allerdings: Jeder Schritt einer Republik<br />

hat Folgen für die anderen. Kroatien hat angekündigt,<br />

einen slowenischen Schritt rasch folgen zu wollen.<br />

Heute hört man von einer ähnlichen Ankündigung<br />

aus Mazedonien. Bei Kroatien ist die Gefahr groß, daß<br />

dies rasch zu militanten Auseinandersetzungen zwischen<br />

der kroatischen Mehrheit und der serbischen<br />

Minderheit führt. Sollten sich die beiden Republiken<br />

Slowenien und Kroatien aus dem Staatsverband lösen,<br />

muß man davon ausgehen, daß viele der Völkerschaften<br />

im Süden nicht allein mit dem stärksten Volk,<br />

den Serben, in einem Staatsverband bleiben wollen<br />

und daß dies eine Fülle von Konsequenzen, nämlich<br />

eine Zerteilung des jugoslawischen Staates, zur Folge<br />

hat.<br />

Ich wiederhole ein letztes Mal: Die Deutschen werden<br />

sich nicht zum Vormund der jugoslawischen Völker<br />

aufwerfen. Aber zu folgenden Feststellungen<br />

glauben wir uns schon berechtigt: Auch wenn es langfristig<br />

ohne weiteres denkbar ist, liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen, daß die einzelnen Völker Jugoslawiens<br />

in einem Europa der Regionen in Selbständigkeit leben<br />

und einem solchen Europa der Regionen angehören,<br />

müssen wir im gegenwärtigen Zeitpunkt doch für<br />

einen jugoslawischen Dialog eintreten.<br />

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />

Sehr richtig!)<br />

Denn heute und in der unmittelbaren Zukunft steht<br />

eine Europäische Gemeinschaft, die den Zusammenhang<br />

des jugoslawischen Staatsverbands ersetzen<br />

könnte, nicht zur Verfügung. Wir setzen uns deshalb<br />

dafür ein, daß der Dialog in Jugoslawien fortgesetzt<br />

wird.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />

Liste)<br />

Wir machen gleichzeitig darauf aufmerksam: Die<br />

Europäische Gemeinschaft ist kein Netz, in das man<br />

sich nach waghalsigen Übungen am nationalen Trapez<br />

einfach fallen lassen kann.<br />

(Heiterkeit bei der SPD der CDU/CSU und<br />

der FDP — Ulrich Irmer [FDP]: Sehr schön<br />

gesagt!)<br />

Nach der Süderweiterung im Prozeß der Assoziierung<br />

Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns ist<br />

diese Gemeinschaft bei aller Prosperität erheblich belastet.<br />

Die Europäische Gemeinschaft ist nicht der<br />

Große Bruder, der zur Lösung der Probleme zur Verfügung<br />

steht, die aus nationalen Auseinandersetzungen<br />

in Osteuropa oder Südosteuropa entstehen.<br />

Meine zweite Bemerkung richtet sich auf die Lage<br />

in Kosovo -Metochia. Ich denke, dort liegt der gefährlichste,<br />

wenn auch nicht der einzige gefährliche Konfliktherd<br />

dieser Region.<br />

Nachdem eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses<br />

unter Ihrer Leitung, Herr Kollege Stercken,<br />

Gespräche mit allen Gruppen im Kosovo geführt hat,<br />

sagen wir klar: Die Dispensierung der verfassungsmäßigen<br />

Institutionen im Kosovo durch die serbische<br />

Staatsmacht ist eine Entrechtung der Albaner im Kosovo.<br />

Eine Befriedung wird erst möglich sein, wenn<br />

diese Beraubung von Rechten wieder rückgängig gemacht<br />

wird.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP)<br />

Uns ist bewußt, daß die albanische Mehrheit im<br />

Kosovo zwischen 1974 und 1990 gegenüber der serbischen<br />

Minderheit Fehler gemacht hat. Auch wollen<br />

wir zu dem staatsrechtlichen Konflikt, ob die Albaner<br />

eine Völkerschaft (narodnost) oder ein Volk (narod)<br />

sind, nicht Stellung nehmen.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2561<br />

Dr. Peter Glotz<br />

Aber eines sagen wir klar und ohne Umschweife:<br />

Die Entlassung von rund 55 000 albanischen Arbeitnehmern,<br />

die Entlassung von Ärzten aus Kliniken und<br />

von Lehrern aus Schulen, die Einstellung von Finanzzuweisungen<br />

an die Gemeinden, an Schulen und andere<br />

Bildungseinrichtungen, die Entfernung von albanischem<br />

Führungspersonal aus Betrieben, Universitäten,<br />

Kliniken und Medien, die Schließung von Tageszeitungen,<br />

all dies ist eine Form von Polizei- und Justizterror,<br />

der mit den Prinzipien der KSZE nicht in<br />

Einklang gebracht werden kann und den wir unter<br />

keinen Umständen akzeptieren.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />

Liste)<br />

Wir sagen auch dies: Menschenrechtsverletzungen<br />

— ich unterstreiche das, was der Kollege Vogel ausgeführt<br />

hat — und Verfassungskonflikte dieser Art<br />

sind ein Hindernis auf dem Weg nach Europa. Wer<br />

Mitglied der europäischen Völkergemeinschaft auch<br />

institutionell werden will, muß sich an bestimmte Prinzipien<br />

halten, die im Kosovo ganz eindeutig verletzt<br />

worden sind<br />

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Und weiter ver<br />

letzt werden!)<br />

— und weiter verletzt werden; Sie haben recht, Herr<br />

Kollege.<br />

Man kann es auch noch klarer sagen: Die Chance,<br />

in den europäischen Institutionen mitzuwirken, hängt<br />

von der Bereitschaft ab, die Prinzipien zu akzeptieren,<br />

die im Kopenhagener Dokument der KSZE festgelegt<br />

sind.<br />

Der Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der<br />

SPD und der FDP in diesem Haus, Jugoslawien als<br />

Vollmitglied des Europarats zu akzeptieren, geht davon<br />

aus, daß der wirksame Schutz des Rechts von<br />

Minderheiten auf Wahrung ihrer ethnischen und kulturellen<br />

Identität zur Grundlage des Zusammenlebens<br />

in den einzelnen Republiken gemacht wird.<br />

Wir sagen: Aufnahme als Vollmitglied in den Europarat,<br />

wenn diese Voraussetzungen gewährleistet<br />

sind. Dann wollen wir sie hereinziehen, aber nur unter<br />

der Bedingung, daß dies wirklich geschieht. Lassen<br />

Sie uns dies gemeinsam als Parlament festhalten.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/<br />

CSU und der FDP)<br />

Gleichzeitig drängen wir, Herr Staatsminister, die<br />

Bundesregierung, einen bedeutsamen und, wie ich<br />

einräume, beispiellosen Schritt zu tun. Wir fordern - die<br />

Bundesregierung auf, auf einer Ministerratskonferenz<br />

des Europarats auf die Erörterung der jugoslawischen<br />

Probleme zu drängen, obwohl Jugoslawien<br />

noch nicht Mitglied ist.<br />

(Ulrich Irmer [FDP]: Die KSZE hat sich ge<br />

stern damit befaßt! — Dr. Olaf Feldmann<br />

[FDP]: Und sie hat eine Entschließung verab<br />

schiedet!)<br />

Denn wir sind der Auffassung: Europa kann nicht<br />

bewegungslos verharren, liebe Kollegen von der FDP,<br />

wenn in einem Nachbarland wie Jugoslawien die Gefahr<br />

von erheblichen Menschenrechtsverletzungen,<br />

von blutigen Konflikten und auch von der Einführung<br />

des Faustrechts in gewisser Weise besteht.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/<br />

CSU und der FDP)<br />

Wir dürfen uns nicht auf diplomatische Floskeln und<br />

unverbindliche Freundlichkeit gegenüber den einen<br />

oder auch den anderen beschränken. Wir dürfen auch<br />

nicht Begriffe wie Selbstbestimmungsrecht und<br />

Souveränität als bequeme Entschuldigung für Nichthandeln<br />

und Attentismus benutzen.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/<br />

CSU und der FDP)<br />

Denn wir sind heute, seit 1989, in einer anderen Situation,<br />

als wir Jahrzehnte nach 1945 waren.<br />

Meine Damen und Herren, als die Panzer des Warschauer<br />

Paktes in Prag einrollten oder als der ungarische<br />

Aufstand niedergeschlagen wurde, mußte der<br />

Westen befürchten, daß es, wenn er eingreifen würde,<br />

zu einem nuklearen Krieg käme. Das heißt, es waren<br />

uns in der Tat die Hände gebunden, es war eine bipolare<br />

Welt, es gab zwei Supermächte, und jeder Konflikt,<br />

der eine der Supermächte berührte, brachte die<br />

Gefahr eines solchen nuklearen Konfliktes mit sich.<br />

Aber diese Zeit ist vorbei. Dies heißt nicht, daß nun<br />

beliebig kleine Kriege entfesselt werden dürften oder<br />

wir dazu aufriefen, aber es heißt sehr wohl, daß die<br />

moralische Verpflichtung, nicht mit den Händen im<br />

Schoß dazustehen, für uns heute sehr viel größer ist als<br />

vor 1989. Das muß auch die Außenpolitik der Bundesrepublik<br />

zur Kenntnis nehmen, und darauf müssen<br />

wir gemeinsam reagieren.<br />

Als sich die Delegation des Auswärtigen Ausschusses<br />

in Jugoslawien befand, schrieb der Chefredakteur<br />

der Zeitung „Polityka" , der gleichzeitig Vorsitzender<br />

des Auswärtigen Ausschusses des serbischen Parlamentes<br />

ist, Alexander Prllya, einen fragwürdigen Artikel,<br />

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Mehr als fragwür<br />

dig!)<br />

in dem er die Gefahr an die Wand gemalt hat — einen<br />

sehr fragwürdigen Artikel, Herr Kollege Feldmann;<br />

ich akzeptiere Ihre Korrektur — , die Engländer und<br />

die Deutschen würden gemeinsam eine Eingreiftruppe<br />

von 70 000 Soldaten bilden, um im Kosovo oder<br />

anderswo in Jugoslawien in Konflikten zu intervenieren.<br />

Ich glaube, ich sage mit der Zustimmung des ganzen<br />

Hauses, daß das Unsinn ist. Solche Pläne und<br />

Absichten bestehen nicht.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />

Liste — Norbert Gansel [SPD]: Das ist schlim<br />

mer! Es ist Manipulation!)<br />

Ich erlaube mir, eine Zusatzbemerkung hinzuzufügen,<br />

bei der ich nicht so ganz sicher bin, daß das ganze<br />

Haus zustimmt: Es zeigt uns im übrigen auch, wie<br />

rasch in europäischen Konflikten wieder auf antideutsche<br />

Ressentiments zurückgegriffen werden kann.<br />

Vielleicht dient das als Warnung für manche, die sich<br />

einbilden, daß deutsche Truppen in absehbarer Zeit


2562 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Peter Glotz<br />

als Friedensengel und Weltpolizisten große Erfolge<br />

feiern könnten.<br />

(Dr. Olaf Feldmann [FDP]: Aber Herr Glotz,<br />

das geht zu weit!)<br />

— Ich habe doch gewußt, daß ich wenigstens eine<br />

Bemerkung mache, die nicht auf die volle Zustimmung<br />

des ganzen Hauses trifft.<br />

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />

Das ist Ihr gutes Recht! — Weitere Zurufe von<br />

der CDU/CSU)<br />

Ich füge jetzt hinzu: An militärische Interventionen<br />

oder an pseudomilitärische Interventionen denkt niemand.<br />

Das ist unsere gemeinsame Auffassung.<br />

(Zuruf von CDU/CSU: Sehr richtig!)<br />

Wenn ich auf die jugoslawischen Konflikte schaue,<br />

dann möchte ich unterstreichen und mit Unterstützung<br />

zitieren, was heute der Außenminister der<br />

Tschechoslowakei in einem Interview, das in Deutschland<br />

veröffentlicht wurde, gesagt hat:<br />

Die Geschichte hat uns im Übermaß darüber belehrt,<br />

— sagt Herr Dienstbier —<br />

daß der ethnische und ideologisch fundierte Nationalstaat<br />

die Menschenrechte ebensowenig garantieren<br />

kann wie eine moderne Entwicklung.<br />

Nur die Idee der Menschenrechte und des<br />

citizenship können heute die Basis des Staates<br />

sein. Auf Jugoslawien bezogen: Es gibt doch<br />

nicht nur religiöse, kulturelle und politische Unterschiede.<br />

Es gibt auch ein starkes ökonomisches<br />

Gefälle. Daraus folgt die Notwendigkeit der Solidarität<br />

zwischen den verschiedenen Republiken.<br />

Meine Damen und Herren, ich halte diese Äußerung<br />

des tschechoslowakischen Außenministers für<br />

absolut richtig.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP)<br />

Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Europäische<br />

Gemeinschaft hat in diesen Prozessen, sowenig<br />

sie und ihre Mitgliedstaaten direkt involviert sind,<br />

eine große Verantwortung. Als Mitglied dieser Gemeinschaft<br />

sollten wir sagen: Wir sind am jugoslawischen<br />

Dialog interessiert. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen.<br />

Der Weg nach Europa kann nur<br />

erfolgreich beschritten werden, wenn die Prinzipien<br />

der KSZE eingehalten werden. Aus diesem Grund<br />

ersuchen wir die Bundesregierung, im Europarat eine<br />

Initiative zu ergreifen und dafür zu sorgen, daß das<br />

jugoslawische Thema auf die Tagesordnung gesetzt<br />

wird.<br />

Herzlichen Dank.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />

Liste)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat das<br />

Wort der Abgeordnete Dr. Olaf Feldmann.<br />

Dr. Olaf Feldmann (FDP): Frau Präsidentin! Meine<br />

sehr verehrten Damen und Herren! Die Entwicklung<br />

in Jugoslawien macht uns als Europäern Sorge. Sie<br />

macht uns betroffen. Jugoslawien steht vor einer der<br />

schwersten Herausforderungen seiner jüngeren Geschichte.<br />

Wir haben hier im Hause in der Beurteilung<br />

der Situation eine große Übereinstimmung. Während<br />

in Europa die Zeichen der Zeit auf Einigung und Zusammenarbeit<br />

stehen, droht die jugoslawische Föderation<br />

auseinanderzubrechen. Jugoslawien hat in dieser<br />

schwierigen Situation einen moralischen und meines<br />

Erachtens auch politischen Anspruch auf unsere<br />

Hilfe und Solidarität. Diese Hilfe ist eine europäische<br />

Aufgabe.<br />

Unser Engagement für eine friedliche Lösung der<br />

Krise in Jugoslawien ist keine Einmischung. Die Vorredner<br />

haben darauf schon hingewiesen. Ich möchte<br />

das ausdrücklich auch für die FDP unterstreichen. Wir<br />

mischen uns auch nicht in die Auslegung der jugoslawischen<br />

Verfassung ein. Es hat da Irritationen gegeben.<br />

Wir können und wollen Jugoslawien nicht vorschreiben,<br />

welchen Weg es zur Lösung seiner Krise<br />

wählt. Unser wichtigstes Signal ist, daß wir Jugoslawien<br />

auf dem von seiner Bevölkerung gewählten Weg<br />

unterstützen, soweit dies ein gewaltfreier und demokratischer<br />

Weg ist und er die Selbstbestimmung und<br />

die Achtung der Menschenrechte garantiert.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU und der SPD)<br />

Meine Damen und Herren, dies ist keine Frage der<br />

Staatsform: Weder führt der zentralistische Staat automatisch<br />

zu Menschenrechtsverletzungen, noch lösen<br />

selbständige Republiken automatisch alle Probleme.<br />

Das ist wirklich keine Frage der Staatsform.<br />

Menschenrechte sind unteilbar. Die individuellen<br />

Menschenrechte sind mit dem Schutz der Minderheiten<br />

untrennbar verbunden. Ohne die Gewährung ihrer<br />

nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen<br />

Rechte kann es eine friedliche und dauerhafte Lösung<br />

der jugoslawischen Krise nicht geben.<br />

Minderheiten können in einem gemeinsamen Europa<br />

ein wichtiges Bindeglied zwischen den Staaten<br />

und Völkern sein. Wo die Minderheiten unterdrückt<br />

werden, entstehen Konflikte und erwachsen damit<br />

Gefahren für den Frieden. Der Schutz von Minderheiten<br />

ist — das ist auch schon in dem ersten Punkt der<br />

heutigen Tagesordnung zum Ausdruck gekommen —<br />

eine zentrale Aufgabe einer Friedenspolitik für Europa.<br />

Nicht nur die EG, sondern auch der Europarat und<br />

vielleicht mehr noch die KSZE sind die richtigen Gremien,<br />

um zu einer gewaltfreien und demokratischen<br />

Lösung der Krise beizutragen. Die FDP unterstützt<br />

deshalb die Forderung, in diesem europäischen Rahmen<br />

eine unparteiische Untersuchung der gegenseitigen<br />

Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen im<br />

Kosovo anzubieten, wie wir es in unserem Entschließungsantrag<br />

gemeinsam vorgeschlagen haben. Der<br />

Europarat und die KSZE sind gefordert, eine Plattform<br />

für einen Dialog zwischen den verfeindeten und meist<br />

sprachlosen Bevölkerungsgruppen zu bieten. Wir begrüßen<br />

ausdrücklich, daß sich die Außenministerkonferenz<br />

in Berlin mit der Krise in Jugoslawien befassen<br />

wird. Die demokratische Bewältigung der jugoslawi-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2563<br />

Dr. Olaf Feldmann<br />

schen Krise ist eine Bewährungsprobe für ganz Europa.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />

SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />

Liste)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der<br />

Abgeordnete Dr. Hans Modrow.<br />

Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin!<br />

Meine Damen und Herren! Die anhaltende Zuspitzung<br />

der Lage in Jugoslawien ruft allgemein und<br />

besonders bei all seinen Freunden Beunruhigung und<br />

gewiß auch Sorge hervor. Das friedliche Zusammenleben<br />

innerhalb der jugoslawischen Förderation ist<br />

auf das ernsteste belastet. Die Gefahr einer Ausbreitung<br />

gewaltsamer Auseinandersetzungen wächst von<br />

Tag zu Tag. Jugoslawien droht aus einem anerkannten<br />

Faktor der europäischen Entspannung und des<br />

friedlichen Zusammenlebens der Staaten zu einem<br />

Herd von Spannungen zu werden, die auf den gesamten<br />

Kontinent ausstrahlen.<br />

Vor diesem Hintergrund stimmt die PDS/Linke Liste<br />

den vorliegenden Resolutionsentwürfen in ihrem Wesen<br />

zu. Dabei läßt sie sich davon leiten, daß man sich<br />

in ihnen zum Völkerrecht sowie zu den gurndlegenden<br />

Menschenrechten und zum Schutz der Minderheiten<br />

bekennt. Nicht minder wichtig ist es, daß sie<br />

auf gewaltfreie Lösung der Krise orientiert sind und<br />

all jene Kräfte in Jugoslawien bestärken, die sich für<br />

die Vereinbarung einer neuen Grundlage des Zusammenlebens<br />

der jugoslawischen Völker einsetzen.<br />

Geht man jedoch vom Völkerrecht aus, dann ist es<br />

unbestritten allein Sache der jugoslawischen Völker,<br />

über ihre staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu<br />

entscheiden. Das gilt für den Staatenbund ebenso wie<br />

für die einzelnen Republiken. Versuche, dafür ausländische<br />

Muster anzubieten, verstoßen am Ende gegen<br />

diese elementaren Rechte.<br />

Was Kosovo anbelangt, so ist dort die Lage tatsächlich<br />

besonders und äußerst kompliziert. Nationale,<br />

politische, ökonomische und soziale Probleme und<br />

Widersprüche haben sich zu einem hochexplosiven<br />

Gemisch verbunden. Diese Situation erfordert Verständnisbereitschaft<br />

aller Seiten, hohe Sensibilität<br />

und gewiß auch Augenmaß. Um so mehr sind wir<br />

gerade hier verpflichtet, jede Einseitigkeit der Betrachtung<br />

zu vermeiden und das Prinzip der Nichteinmischung<br />

zu wahren. Damit sind zugleich alle Politiker<br />

in Jugoslawien selbst zur Lösung der inneren - Probleme<br />

herausgefordert, und das auch, um Vertrauen<br />

bei den Nachbarn und in Europa insgesamt zu bewahren<br />

oder zu gewinnen.<br />

Das Schicksal der Völker Jugoslawiens im Zweiten<br />

Weltkrieg bleibt für die Bundesrepublik Deutschland<br />

stets eine besondere Herausforderung. Unmittelbar<br />

nach dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion,<br />

der sich in diesen Tagen zum fünfzigsten<br />

mal jährt, begann der jugoslawische Volksbefreiungskampf,<br />

in dem Hunderttausende von Jugoslawen<br />

ihr Leben gelassen haben. Wer sich dessen bewußt ist,<br />

wird auch sehr wohl verstehen, daß militärisches Eingreifen<br />

von außen keinesfalls geschehen darf.<br />

Angesichts der konflikt- und leidvollen Geschichte<br />

der deutsch -jugoslawischen Beziehungen sind die<br />

Bundesrepublik und ihre Regierung gefordert, mit<br />

Einfühlungsvermögen und Weitblick für ein politisches<br />

Umfeld in Europa zu wirken, das es den jugoslawischen<br />

Völkern erleichtert, die tiefe Krise gewaltfrei<br />

durch friedlichen Dialog zu überwinden und gleichberechtigt<br />

an der Gestaltung einer neuen europäischen<br />

Friedensordnung teilzunehmen.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />

Abgeordneten der SPD)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />

Abgeordnete Heinrich Lummer das Wort.<br />

Heinrich Lummer (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />

Meine Damen und Herren! Es besteht gewiß gar kein<br />

Zweifel daran, daß die Frage der Minderheiten - oder<br />

Gruppenrechte die Herausforderung unserer Tage<br />

ist. Diese Problematik war lange überlagert — Kollege<br />

Glotz hat darauf hingewiesen — , weil es einen Ost-<br />

West-Konflikt gab. Mit der Fortnahme der einheitlichen<br />

Ideologie und der machtpolitischen Potenzen<br />

bricht diese Frage mit besonderer Gewalt auf. Wir<br />

haben keine Alternative; wir müssen uns dieser Fragestellung<br />

widmen.<br />

Einer der Anträge beschäftigt sich insofern mit dem<br />

Kosovo als einem besonderen Problem. Allgemein<br />

kann man heute sehr gut darüber reden, und es gibt<br />

Papiere genug, die einem den Gedanken nahelegen:<br />

Leicht beeinander wohnen die Gedanken, doch hart<br />

im Raume stoßen sich die Sachen. — Kosovo und Jugoslawien<br />

insgesamt ist so ein hartes Problem. Man<br />

kann daher sagen: Wenn man in der Lage sein wird,<br />

die Minderheitenfrage in Jugoslawien zu lösen, dann<br />

kann man sie überall lösen. Jeder ist dort irgendwie<br />

Mehrheit und irgendwo Minderheit. In Serbien — wir<br />

haben es gehört — sind die Albaner Minderheit, aber<br />

im Kosovo sind die Albaner die Mehrheit und die Serben<br />

die Minderheit.<br />

Wir wollen, daß die Minderheitenrechte dort akzeptiert<br />

werden. Kollege Vogel hat davon gesprochen,<br />

daß das, was wir tun, ein bißchen Signal sein soll, und<br />

das meine ich dann auch. Der Antrag, der den Kosovo<br />

betrifft, ist, was die Frage der Verletzung der Menschenrechte<br />

betrifft, mit äußerster Zurückhaltung formuliert.<br />

Die Aussagen der Kollegen waren zutreffender<br />

und härter. Aber wir haben dort erlebt, daß wechselseitig<br />

Vorwürfe erhoben werden; jeder beschimpft<br />

den anderen als den Bösen und als Verletzer der<br />

Menschenrechte. Ich meine, hier muß objektiv festgestellt<br />

werden, wer was wirklich tut. Wir wissen das mit<br />

an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, aber im<br />

Interesse der Wahrheitsfindung und auch im Interesse<br />

der Mäßigung soll dort eine Beobachtung stattfinden.<br />

Ich finde, es muß durch Präsenz und Beobachtung<br />

dauernd eine Selbstrechtfertigung der Serben und der<br />

dortigen Behörden erzwungen werden. Das ist der<br />

eine Appell, der in diesem Antrag enthalten ist.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

Der zweite Gedanke, der auch schon geäußert worden<br />

ist, ist der des Dialoges. Wir haben immer wieder<br />

erlebt, daß gesagt wird: Mit denen reden wir nicht,


2564 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Heinrich Lummer<br />

das sind Separatisten. — Gemeint sind die Albaner.<br />

Die Begründung dafür, daß sie ihnen die Autonomie<br />

weggenommen haben, wird von daher geliefert, denn<br />

sie hätten angeblich die Absicht gehabt, eine eigene<br />

Republik zu gründen. Auf der anderen Seite wird gesagt:<br />

Mit den Serben reden wir nicht, denn die haben<br />

uns die Autonomie genommen; das sind die Bösen.<br />

Das geht nun einmal nicht. Wenn man die Probleme<br />

dort lösen will, muß man ohne solche Vorbedingungen<br />

zusammenkommen und miteinander diskutieren.<br />

Das ist das, was wir deutlich zum Ausdruck bringen<br />

wollen. Da sollten wir wirklich unsere guten Dienste<br />

anbieten, wo immer das nur möglich ist.<br />

Ich will noch einen Gedanken des Kollegen Glotz<br />

aufgreifen. Eine Zeitlang hatte man ja den Eindruck,<br />

daß der Ost-West-Konflikt mit seinen Folgen so bequem<br />

war. Manche haben sich von daher gesehen<br />

auch nicht hinreichend deutlich zu mancher Menschenrechtsverletzung<br />

geäußert. Das hätte man mit<br />

Worten schon immer tun können. Auch das ist nicht<br />

immer geschehen. Hier ist es so gewesen. Unsere Zufriedenheit<br />

mit der Regierung und mit dem Europäischen<br />

Rat ist da nicht über die Maßen groß<br />

(Freimut Duve [SPD]: Hört! Hört!)<br />

—ja, ja, in dieser Frage jedenfalls nicht — , weil — das<br />

ist auch die Bestätigung gewesen — die jugoslawische<br />

Zentralregierung bis gestern offenbar davon ausgegangen<br />

ist, daß die Europäische Gemeinschaft<br />

nachhaltig an der Einheit des Staates festhält. Das<br />

haben sie geschrieben; das habe ich so gelesen. Das<br />

hat dann auch dazu geführt, daß man sich nicht immer<br />

um die internen Fragen gekümmert und dafür Sorge<br />

getragen hat, daß sie in richtiger Weise gelöst werden.<br />

Ich finde, es ist ein heilsamer Druck, wenn man sich<br />

für die Menschenrechte einsetzt. Jedermann weiß ja,<br />

daß wir uns deswegen einmischen dürfen. Wenn die<br />

Jugoslawen etwas von uns wollen, dann müssen sie<br />

eben auch in Kauf nehmen, dieses internationale<br />

Recht akzeptieren zu müssen; dann müssen sie eben<br />

ihre Verhältnisse entsprechend ordnen. Wir wollen<br />

über sie nicht den Stab brechen und nicht besonders<br />

böse sein, aber wir wollen mit Entschiedenheit und<br />

Nachdruck dafür eintreten, daß dieses Land die<br />

Chance erhält, Mitglied der Gemeinschaft zu werden,<br />

aber unter den genannten Voraussetzungen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Abschließend hat<br />

Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!<br />

Der vorliegende Entschließungsantrag ist Ausdruck<br />

unserer gemeinsamen Besorgnis über die Entwicklung<br />

in Jugoslawien. Es ist zugleich ein Signal an alle<br />

Kräfte der Vernunft und des Ausgleichs, ihre Anstrengungen<br />

für eine friedliche Beilegung des sich<br />

immer deutlicher abzeichnenden Konflikts zu verstärken.<br />

Ein Europa, das politisch zusammenwächst, kann<br />

— Herr Kollege Lummer, wenn Sie hier Kritik an der<br />

Bundesregierung üben, sollten Sie das auch zur<br />

Kenntnis nehmen — die Gefahr einer Staatskrise und<br />

einer wachsenden Gewaltbereitschaft in einem Mitgliedstaat<br />

auch der KSZE nicht einfach ignorieren. Zu<br />

Recht betont der Entschließungsentwurf daher — ich<br />

möchte das hier auch mit Blick auf Belgrad noch einmal<br />

unterstreichen — die Notwendigkeit einer Stabilisierung<br />

auf der Grundlage der einvernehmlich niedergelegten<br />

Grundsätze der Charta von Pa ris. Ich bin<br />

sicher, daß die Lage in Jugoslawien auch bei der heute<br />

stattfindenden KSZE-Konferenz in Berlin eine sehr<br />

wichtige Rolle spielen wird. Ich bitte Sie auch, sich mit<br />

dem, was die KSZE einvernehmlich beschließt, vertraut<br />

zu machen. Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> muß auch<br />

zur Kenntnis nehmen, was im Kreise von 35 Mitgliedstaaten<br />

der KSZE machbar ist.<br />

(Zuruf von der FDP: Wir gehen davon aus,<br />

daß sie wesentlichen Einfluß ausüben!)<br />

Herr Kollege Glotz, was den Europarat betrifft, so<br />

wird dort bereits ein Schritt des Ministerrates erwogen,<br />

der im Hinblick auf den noch nicht erfolgten Beitritt<br />

Jugoslawiens unmittelbar an die jugoslawische<br />

Regierung gerichtet sein wird und die Voraussetzungen<br />

des Beitritts Jugoslawiens im Zusammenhang mit<br />

den derzeitigen Geschehnissen noch einmal herausstellen<br />

wird. Es ist damit zu rechnen, daß zunächst<br />

diese Initiative kommt. Wir müssen prüfen, inwieweit<br />

sich der Europarat in einer Diskussion mit einem<br />

Nichtmitglied befassen wird.<br />

Die Haltung der Bundesregierung stimmt mit der<br />

unserer Partner in der Europäischen Gemeinschaft<br />

überein. Sie ist in jüngster Zeit der jugoslawischen<br />

Zentralregierung und den Republikspräsidenten mit<br />

besonderem Nachdruck vermittelt worden. Diesem<br />

Zweck diente auch die Mission von Ratspräsident<br />

Santer und Kommissionspräsident Delors Ende Mai.<br />

(Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]<br />

meldet sich zu einer Zwischenfrage)<br />

— Herr Kollege, vielleicht wird Ihre Frage durch das<br />

überflüssig, was ich jetzt gleich anschließend sage.<br />

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Nein!)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Schäfer,<br />

gestatten Sie die Zwischenfrage des Abgeordneten<br />

Voigt?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Im Augenblick noch nicht. Ich möchte jetzt<br />

gerne meine Argumente fortsetzen dürfen. Dann —<br />

das sage ich noch einmal — stellt sich die Frage, ob die<br />

Zwischenfrage noch nötig ist.<br />

(Freimut Duve [SPD]: Niemals im Leben hat<br />

Karsten Voigt eine überflüssige Frage!)<br />

— Das ist allerdings richtig, Herr Kollege Duve.<br />

Gemeinsam mit den Partnern treten wir für den<br />

friedlichen Erhalt gesamtjugoslawischer Strukturen<br />

auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten<br />

ein. Aber, meine Damen und Herren, ich sage<br />

hier auch ganz klar: Über die Formen dieser Strukturen<br />

müssen die Nationen Jugoslawiens selbst entscheiden.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2565<br />

Staatsminister Helmut Schäfer<br />

Diese Formel muß — das will ich noch einmal unterstreichen<br />

— in allen ihren Teilen gelesen werden. Sie<br />

impliziert keineswegs eine bedingungslose Aussage<br />

zugunsten der einen oder der anderen Position im<br />

innerjugoslawischen Streit. Sie macht vielmehr deutlich,<br />

Herr Kollege Voigt, daß nur eine einvernehmliche<br />

Lösung ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt<br />

in Frage kommt — auch im Hinblick auf die innerjugoslawischen<br />

Grenzen — und daß sich keine politische<br />

Kraft oder Institution dem Dialog über eine mögliche<br />

Umgestaltung des jugoslawischen Staates entziehen<br />

darf. Darüber hinaus müssen die Rechte der<br />

jeweiligen Minderheit respektiert werden.<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Staatsminister<br />

Schäfer, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Wenn Sie immer noch eine Frage stellen wollen,<br />

gerne!<br />

Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Staatsminister,<br />

bei allem Respekt vor Ihrem Sprechzettel<br />

(Ulrich Irmer [FDP]: Unglaublich!)<br />

möchte ich eine ergänzende Frage hinzufügen, nachdem<br />

Sie gesagt haben, Sie träten für den Zusammenhalt<br />

Jugoslawiens ein. Wenn dies aber nicht der Wille<br />

von mehreren Republiken ist — dies ist am heutigen<br />

Tage ja die Realität — , sind Sie dann auch bereit, auf<br />

die Frage zu antworten, wie sich die Bundesregierung<br />

in dem Fall verhält, daß jugoslawische Republiken<br />

ihre Selbständigkeit wollen, also nicht in dem Staatsverband<br />

bleiben wollen? Sind dann das Selbstbestimmungsrecht,<br />

Gewaltfreiheit und Minderheitenrechte<br />

Ihre Priorität, oder würden Sie dann auch Gewaltanwendung<br />

akzeptieren, um den Zusammenhalt Jugoslawiens<br />

zu garantieren?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Herr Kollege Voigt, zunächst einmal: Sie hatten<br />

noch nie die Chance und die Möglichkeit — die ich<br />

Ihnen sehr herzlich wünsche — , Staatsminister zu<br />

werden. Dann würden Sie auch Sprechzettel ablesen<br />

müssen, weil es um sehr konkrete und wichtige Fragen<br />

geht, bei denen man nicht so einfach frei in den<br />

Raum sprechen kann.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)<br />

Ich sage das in diesem Punkte sehr bewußt.<br />

Es hat gestern Demarchen des jugoslawischen Außenministers<br />

in Belgrad gegeben.<br />

-<br />

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />

Na ja!)<br />

— Herr Kollege Vogel, ich glaube, wir sollten, wenn<br />

wir bei anderen Gelegenheiten Botschafter einbestellen,<br />

nicht „na ja" rufen, wenn unser Botschafter einbestellt<br />

wird. Das sollte man nicht so ganz herunterspielen.<br />

Das gleiche ist in Bonn passiert. Wir sollten in<br />

dieser Frage also sehr vorsichtig verfahren.<br />

Herr Kollege Voigt, ich darf Ihnen weiter sagen: Ich<br />

habe eben sehr deutlich gemacht, daß wir, gerade<br />

weil wir Gewaltanwendung verhindern wollen, hier<br />

in einer sehr sensiblen Weise vorgehen. Ich halte es<br />

für ganz falsch, wenn Sie jetzt sagen, wir sollten uns<br />

auf Fälle einstellen, die noch gar nicht eingetreten<br />

sind, und sollten hier schon Prioritäten nennen.<br />

(Ulrich Irmer [FDP]: Die hoffentlich nicht ein<br />

treffen!)<br />

Ich halte das für keine gute Außenpolitik.<br />

(Beifall des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD])<br />

Wir sollten die Fälle, die Sie angedeutet haben, vielmehr<br />

verhindern. Darauf kommt es an!<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU — Dr. Olaf Feldmann [FDP]:<br />

Sehr gut, Herr Staatsminister!)<br />

— Danke schön. Auch ein Staatsminister bedarf gelegentlich<br />

des Beifalls. Ich bin zutiefst beeindruckt.<br />

(Ulrich Irmer [FDP]: Der Staatsminister ist<br />

immer besser, wenn er vom Sprechzettel ab<br />

weicht! Dann läuft er zu Form auf!)<br />

Meine Damen und Herren, ich darf in meiner Rede<br />

fortfahren: Beim Recht der jeweiligen Minderheiten<br />

sind das Recht auch der nichtserbischen Nationen auf<br />

autonome Gestaltung ihrer wirtschaftlichen und politischen<br />

Verhältnisse in einem Gesamtjugoslawien zu<br />

sehen, aber auch die Rechte der jeweiligen Minderheiten<br />

in den einzelnen Republiken, z. B. auch der<br />

serbischen Minderheiten in Kroatien.<br />

Ein völliger Zerfall Jugoslawiens würde dagegen<br />

— darüber müssen wir uns doch wohl klar sein —<br />

auch historische und kulturelle Bindungen zerreißen.<br />

Eine für alle Parteien befriedigende Regelung der<br />

Minderheitenproblematik würde in ihren verschiedenen<br />

Erscheinungsformen bei einem solchen totalen<br />

Zerfall erschwert.<br />

Wir glauben, daß der Kompromißvorschlag der Präsidenten<br />

von Bosnien/Herzegowina und Mazedonien<br />

den Weg für eine Fortsetzung des innerjugoslawischen<br />

Dialogs aufzeigt. In der Zwölfer-Erklärung vom<br />

8. Juni haben wir gemeinsam mit unseren Partnern<br />

die Bereitschaft der Republikspräsidenten begrüßt,<br />

auf dieser Grundlage weiterzuverhandeln. Nach wie<br />

vor verdienen die Bemühungen der jugoslawischen<br />

Zentralregierung als der letzten verbliebenen Klammer<br />

um einen politischen Konsens auch unsere Unterstützung.<br />

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum<br />

Schluß sagen: Die Bundesregierung begrüßt das in<br />

den beiden vorliegenden Entschließungen dokumentierte<br />

Interesse des <strong>Bundestag</strong>es an der Entwicklung<br />

Jugoslawiens ungeachtet der Tatsache, daß der <strong>Bundestag</strong><br />

den Akzent stärker auf die Autonomie der einzelnen<br />

Republiken gelegt hat. Ihre Entschließungen<br />

sowie die Reisen des Auswärtigen Ausschusses und<br />

einzelner Abgeordneter fügen sich in das Bemühen<br />

der Regierung, zu einer friedlichen Beilegung des<br />

Konfliktes beizutragen.<br />

Eine Entschließung ist ausschließlich dem Kosovo<br />

gewidmet. Ich darf dazu sagen, daß wir die Menschenrechtslage<br />

dort weiterhin als unbefriedigend<br />

und besorgniserregend ansehen. Was für den Konflikt<br />

um die Neuordnung Jugoslawiens gilt, gilt auch im<br />

Kosovo. Jede Lösung muß auf der Grundlage von Gewaltverzicht,<br />

Demokratie und Menschenrechten gefunden<br />

werden. Die Europäische Gemeinschaft ist be-


2566 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Staatsminister Helmut Schäfer<br />

kanntlich bereits tätig geworden, und zwar mit Stufe I<br />

des CDH-Mechanismus, der „menschlichen Dimension"<br />

also, im vergangenen Jahr. Wir haben gesagt:<br />

Die zweite Stufe muß angewendet werden, wenn sich<br />

die Lage im Kosovo nicht verändert. Es ist also nicht<br />

richtig, wenn gesagt wird, daß wir hier nichts täten.<br />

Wir sind aber dafür dankbar, daß Sie uns bei unserem<br />

Tun kräftig unterstützen.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und<br />

Herren, ich schließe die Aussprache.<br />

Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst<br />

über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD<br />

und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN<br />

zur Krise in Jugoslawien auf Drucksache 12/795. Wer<br />

stimmt für diesen Antrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen?<br />

— Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.<br />

Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen<br />

der CDU/CSU, SPD und FDP zur Lage in Kosovo auf<br />

Drucksache 12/797 (neu) ab. Wer stimmt für diesen<br />

Antrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Dieser<br />

Antrag ist ebenfalls einstimmig angenommen.<br />

Wir stimmen jetzt noch über den Antrag der Gruppe<br />

Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur Lage in Kosovo auf<br />

Drucksache 12/780 ab. Wer stimmt für diesen Antrag?<br />

— Die GRÜNEN sind nicht da. Wer stimmt dagegen?<br />

— Wer enthält sich? — Damit ist der Antrag der<br />

Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN bei Abwesenheit<br />

der GRÜNEN abgelehnt.<br />

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:<br />

Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />

des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)<br />

zu dem Antrag der Fraktion der SPD<br />

Einrichtung eines baltischen Informationsbü<br />

ros in der Bundesrepublik Deutschland<br />

zu dem Antrag des Abgeordneten Gerd Poppe<br />

und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN<br />

Einrichtung eines baltischen Informationsbü<br />

ros in der Bundesrepublik Deutschland<br />

— Drucksachen 12/164, 12/166, 12/673 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordnete Reinhard Frhr. von Schorlemer<br />

Gert Weisskirchen (Wiesloch)<br />

-<br />

Dr. Olaf Feldmann<br />

Gerd Poppe<br />

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die<br />

Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.<br />

Das Wort hat der Abgeordnete Gert Weisskirchen.<br />

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsident!<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das<br />

innere Band zwischen dem, worüber wir soeben diskutiert<br />

haben, und dem, worüber jetzt zu diskutieren<br />

sein wird, ist offenbar. Was in Jugoslawien vor sich<br />

geht, ist nicht identisch, aber von den strukturellen<br />

Zusammenhängen her durchaus vergleichbar mit der<br />

Entwicklung in der Sowjetunion, die sich in einem<br />

Zwischenstadium befindet. Es käme darauf an, zu erkennen,<br />

was die eigentliche Ursache für die Implosionen<br />

jener Strukturen in Jugoslawien und der Sowjetunion<br />

sind. Das innere Band dieser Implosionen hat<br />

damit etwas zu tun, daß sich ein falscher Internationalismus<br />

entwickelt hat, der in Wirklichkeit kein Internationalismus<br />

war. Vielmehr hat sich die Dominanz<br />

einer bestimmten Gesellschaftsschicht und Gesellschaftsstruktur,<br />

ja, manchmal sogar nur einer Nation,<br />

in solchen sich international nennenden Konglomerationen<br />

gegenüber den anderen durchzusetzen versucht.<br />

In dem Moment, wo es Freiheitsbewegungen<br />

und Freiheitsbestrebungen möglich wird, sich zu entfalten,<br />

bricht das Ganze zwangsläufig zusammen,<br />

nachdem die großen Fragen — vorhin ist das schon<br />

angesprochen worden — des aufgebauschten Ost<br />

West-Konflikts in sich zusammengebrochen sind,<br />

weil eben der Ost-West-Konflikt, soweit er auf dem<br />

Widerspruch der beiden atomaren Supermächte begründet<br />

war und Bestand hatte, in sich zusammengefallen<br />

ist.<br />

Erst ein halbes Jahrzehnt ist es her, daß Michail<br />

Gorbatschow, der große Häretiker unserer Zeit, mit<br />

unerhörtem Mut mit der Ideologie, die sich längst<br />

überlebt hatte, und mit einer Praxis, die schon in der<br />

Stunde ihrer Geburt den Keim des Unterganges in<br />

sich trug, gebrochen hat. Seither ist der real existierende<br />

Sozialismus implodiert. Seither haben die Menschen,<br />

wie Timothy Garton Ash treffend bemerkt hat,<br />

ein Jahrhundert abgewählt. Staunend waren wir<br />

meist Beobachter eines Prozesses, der diejenigen, die<br />

in den Gefängnissen einsaßen, in die Regierung<br />

schleuderte. Die Macht der Ohnmächtigen, die Gewalt<br />

einer ethischen Revolution brach sich Bahn.<br />

Manchmal frage ich mich bis zum heutigen Tag und<br />

bis zur heutigen Stunde immer noch: Warum eigentlich<br />

bleibt unsere Entsprechung im Westen Europas<br />

gegenüber dieser ethischen Revolution aus? Vielleicht<br />

deswegen, weil wir etwas Angst und Sorge haben,<br />

daß sich nicht nur die Träume, die auch eines der<br />

inneren Bande dieses gemeinsamen Europa sind, sondern<br />

möglicherweise auch die Alpträume wiederholen<br />

könnten.<br />

Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang<br />

auch sagen: Einer dieser Alpträume ist gewiß der Nationalismus,<br />

den wir eben schon in bezug auf Jugoslawien<br />

angesprochen hatten, der auch in den baltischen<br />

Republiken deutlich spürbar wird; daran gibt es<br />

keinen Zweifel.<br />

Ich meine, wir müssen noch einmal neu darüber<br />

nachdenken, was Nationalismus eigentlich bedeutet.<br />

Nationalgefühl ist, denke ich, die erste Form der Rebellion<br />

gegen den Terror und gegen den durch Terror<br />

aufgezwungenen Versuch der Zerstörung der Identität<br />

von Völkern, Kulturen und Glaubensgemeinschaften<br />

sowie des regional gewachsenen Bewußtseins der<br />

Zusammengehörigkeit.<br />

Dieses Nationalgefühl wird dann in Nationalismus<br />

hineingleiten können und wird dann regredieren,<br />

wenn der Prozeß der Befreiung von Unterdrückung<br />

ethnisch verkürzt und/oder zugleich von dem Prozeß


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2567<br />

Gert Weisskirchen (Wiesloch)<br />

der Demokratisierung sowie der gesellschaftlichen<br />

Reformen abgetrennt wird.<br />

Ich finde, daß Jiři Dienstbier in seinem Interview,<br />

das vorhin schon einmal zitiert worden ist, sehr zu<br />

Recht gesagt hat: Es kommt darauf an, die Gesellschaften<br />

der verschiedenen Länder zu stabilisieren.<br />

Wenn sie zusammenbrechen und es auf staatlicher<br />

Ebene zur Balkanisierung kommt, wird das den Westen<br />

hundertmal mehr kosten, als wenn er jetzt in eine<br />

sichere gesellschaftliche Entwicklung investiert.<br />

Das ist der zentrale Punkt. Ich finde, wir müßten von<br />

uns aus erkennen, daß gerade die Entwicklung in den<br />

baltischen Staaten etwas mit unserer eigenen Vergangenheit,<br />

mit der der Deutschen zu tun hat. Denn diese<br />

Entwicklung, die mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt<br />

von 1939 etwas zu tun hat, müßte von uns verlangen,<br />

daß wir als Deutsche, als Bundesrepublik Deutschland,<br />

einen Beitrag dazu leisten, daß diese Emanzipationsprozesse,<br />

die da stattfinden, so gelingen, daß<br />

Freiheitsbewegungen niemals mehr in nationalistische<br />

Bewegungen umkippen können. Vielmehr<br />

kommt es darauf an, die Nationenwerdung, die dort<br />

jetzt notwendig stattfindet, von Anfang an die Demokratisierungsprozesse<br />

zu binden. Wenn das nicht gelingt,<br />

dann allerdings sehe ich die große Gefahr, daß<br />

Europa vielleicht wieder in eine — Stichwort von Ji ři<br />

Dienstbier — Balkanisierung zurückfallen könnte.<br />

Das müssen wir verhindern!<br />

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)<br />

Wir müssen von Beginn an die Nationenwerdung, den<br />

Freiheitsprozeß und die Demokratisierung zusammenbinden.<br />

Das kann auch gelingen. In den baltischen<br />

Republiken besteht zumindest die große<br />

Chance, daß dieser Prozeß gelingt. Dazu müssen wir<br />

einen Beitrag leisten.<br />

Der gemeinsame Antrag aus dem Auswärtigen Ausschuß,<br />

den wir jetzt dem <strong>Bundestag</strong> vorlegen, ist ein<br />

ermutigendes Signal, daß wir erkannt haben, was unsere<br />

Aufgabe ist, nämlich mindestens jetzt dafür zu<br />

sorgen, daß die Interessen der baltischen Republiken,<br />

der baltischen Staaten bei uns einen Platz finden, an<br />

dem sie zur Geltung kommen können.<br />

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)<br />

Ich möchte das noch mit einer Bitte verknüpfen.<br />

Wenn wir über die Gestaltung dieses Büros noch reden<br />

werden, sollten wir uns von Beginn an folgendes<br />

klarmachen, auch gegenüber unseren Partnern im<br />

Baltikum: Diese Informationsbüros hier und nachher<br />

das Goethe-Institut auf der anderen Seite wollen eine<br />

Einladung an einen offenen und öffentlichen friedvollen<br />

Diskurs sein, der im Baltikum geführt werden<br />

muß, damit die Probleme der Nationalitäten, die es<br />

dort gibt, sich eben nicht mit den sozialen Konflikten<br />

vermischen und möglicherweise in Chauvinismus abgleiten<br />

können.<br />

Wir müssen dafür sorgen, daß wir — darüber haben<br />

wir vorhin geredet — alle Minderheiten, die Russen,<br />

die Juden, die Letten — alle, die im Baltikum beieinanderleben<br />

und die selber sagen: Wir wollen jetzt<br />

endlich das Recht auf demokratische Selbstbestimmung<br />

haben — , zusammenführen und mit ihnen die<br />

Probleme bewältigen, damit am Ende ein gemeinsames<br />

Europa geschaffen wird, in dem wir eine Heimat<br />

für alle bieten können.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />

hat der Abgeordnete Sauer.<br />

Helmut Sauer (Salzgitter) (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Aus zahlreichen<br />

Beiträgen heute morgen ist hervorgegangen,<br />

daß sich Europa mitten in einem gewaltigen Prozeß<br />

der Umstrukturierung und der Veränderungen befindet.<br />

In Ost und West werden jetzt Weichen gestellt,<br />

und Entscheidungen von großer Tragweite sind notwendig.<br />

Wer von uns hätte es für möglich gehalten, daß z. B.<br />

in der Sowjetunion aus Leningrad wieder Sankt Petersburg<br />

werden würde und daß am ersten Osterfeiertag<br />

das sowjetische Fernsehen seine Sendung mit<br />

dem alten russischen Gruß „Christus ist auferstanden"<br />

beginnen würde?<br />

Andererseits sehen wir auch — wir stehen fassungslos<br />

und voller Abscheu davor — , Ereignisse, wie sie<br />

sich in Wilna und in Riga ereignet haben. Dort wurden<br />

erneut mit brutalster Militärgewalt Menschenrechte<br />

verletzt, ja, es mußten zahlreiche Todesopfer beklagt<br />

werden.<br />

Im Baltikum fragen sich viele, wie lange die westlichen<br />

Staaten dem diplomatischen Druck der Sowjetunion<br />

noch nachgeben wollen. Sie fragen mit Recht,<br />

wann denn endlich den vielfachen Sympathiekundgebungen<br />

auch Taten folgen werden. Sie fragen weiter,<br />

wann sich die Staaten der Welt denn daran erinnern<br />

wollen, daß Lettland, Estland und Litauen freie<br />

Staaten und Mitglieder des Völkerbundes, der Völkergemeinschaft<br />

nach dem Ersten Weltkrieg, gewesen<br />

sind. Darum von dieser Stelle auch ein Dankeschön<br />

an die dänische Regierung, die bei der KSZE-<br />

Konferenz in Berlin die Balten wenigstens in ihre Reihen<br />

aufgenommen hat.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Heute ist der Deutsche <strong>Bundestag</strong> gefordert, einer<br />

gemeinsamen Bitte der drei baltischen Staaten nachzukommen,<br />

ein Informationsbüro hier bei uns einzurichten.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat<br />

Schuld auf sich geladen; denn durch den Pakt der<br />

Nationalsozialisten mit den Kommunisten, den sogenannten<br />

Hitler -Stalin -Pakt, wurde es der Sowjetunion<br />

auch durch uns ermöglicht, die baltischen Länder<br />

zu annektieren, die Menschen politisch zu verfolgen,<br />

die regionalen Strukturen zu zerstören, kulturelle<br />

Eigenständigkeiten zu vernichten, eine Überfremdung<br />

ohne Rücksicht auf bisherige Tradition durchzuführen<br />

und historische Bindungen an Europa zu zerschneiden.<br />

Ich könnte noch vieles aufführen, was meinem Kollen<br />

Scharrenbroich und mir im Frühjahr dieses Jahr in<br />

Lettland vorgetragen worden ist. Wir beide waren<br />

Wahlbeobachter im livländischen Riga und im kurländischen<br />

Mitau, das heute Jelgava heißt.


2568 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Helmut Sauer (Salzgitter)<br />

Man sucht das Gespräch mit uns Deutschen, mit<br />

allen Europäern. Ob es der Parlamentspräsident, Vertreter<br />

der Parteien, die evangelische und die katholische<br />

Kirche oder die Gewerkschaft waren, alle haben<br />

uns immer wieder diese Bitte nach verstärkten Kontakten<br />

vorgetragen. Sie erläuterten uns dabei auch die<br />

Arbeitsweise schon bestehender baltischer Informationsbüros<br />

in skandinavischen Ländern.<br />

Man bat also darum, ein solches Büro auch hier in<br />

Bonn in der Bundesrepublik Deutschland einzurichten.<br />

Dieses Büro soll der Vermittlung, der Förderung<br />

und Aufrechterhaltung von Kontakten zwischen Institutionen<br />

und Organisationen, Wirtschaftsunternehmen<br />

und kulturellen Einrichtungen bei uns und den<br />

entsprechenden Stellen im Baltikum dienen. Dadurch<br />

sollen Informationen und Kontakte in beide Richtungen<br />

möglichst direkt vermittelt werden. Sie können<br />

dies den <strong>Bundestag</strong>sdrucksachen 12/164 und 12/166<br />

entnehmen.<br />

Wir haben darüber in den zuständigen Gremien<br />

lange debattiert. Denn es waren ja auch diplomatische<br />

und völkerrechtliche Fragen hierbei zu erörtern. Wir<br />

sind dabei zu einer großen Gemeinsamkeit gekommen,<br />

und zwar nicht nur hinsichtlich der Errichtung<br />

eines solchen baltischen Büros hier bei uns, sondern<br />

auch hinsichtlich der Einrichtung eines Goethe-Instituts<br />

dort in den baltischen Staaten. Diese Vorhaben<br />

entnehmen Sie bitte der <strong>Bundestag</strong>sdrucksache<br />

12/673.<br />

Wir haben uns fraktionsübergreifend für diese<br />

Schritte entschieden und bitten die Bundesregierung,<br />

Herr Schäfer, diesen Forderungen des Parlaments<br />

nachzukommen.<br />

Wir sind der Auffassung, daß im Geist der KSZE-<br />

Akte, nach den Prinzipien von Helsinki und der<br />

Charta von Paris die baltische Frage keine innere<br />

Angelegenheit der Sowjetunion ist,<br />

(Beifall bei der CDU/CSU)<br />

auch wenn sich die Sowjetunion über 50 Jahre lang<br />

permanent und häufig gewalttätig in die inneren Angelegenheiten<br />

der baltischen Staaten eingemischt<br />

hat.<br />

Die Unabhängigkeit der baltischen Staaten und<br />

ihre Zukunft sind nach wie vor und bleiben weiterhin<br />

internationale Probleme. Gerade wir Deutschen sollten<br />

mithelfen, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte,<br />

Selbstbestimmungsrecht und Gerechtigkeit auch für<br />

die Menschen in Litauen, Lettland und Estland zu<br />

erreichen.<br />

Darum bitte ich namens der CDU/CSU-Fraktion um<br />

Annahme dieser gemeinsamen Beschlußvorlage gemäß<br />

Drucksache 12/673.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />

hat die Abgeordnete Frau Dr. von Teichman.<br />

Dr. Cornelie von Teichman (FDP): Herr Präsident!<br />

Meine Damen, meine Herren! Heute treten wir ein<br />

weiteres Mal zusammen, um das Thema Baltikum zu<br />

erörtern. Aus unserer historischen Verantwortung für<br />

die baltischen Völker sprechen wir heute über eine<br />

Form der Zusammenarbeit und Mithilfe, die ihnen<br />

ermöglichen soll, sich im Ausland darzustellen und zu<br />

artikulieren. Dabei stehen wir im Spannungsfeld zwischen<br />

einer Sowjetunion, die um ihre geschichtliche<br />

Rolle und um ihre nationale Existenz ringt, und einem<br />

Teil Europas, der uns kulturell und menschlich auf<br />

besondere Weise verbunden ist.<br />

Unserer Unterstützung der baltischen Völker bei<br />

ihrem Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit<br />

liegt nicht zuletzt auch die Verantwortung zugrunde,<br />

die gerade uns Deutschen durch die geheimen Zusatzprotokolle<br />

zum Hitler-Stalin-Pakt vom August<br />

1939 auferlegt ist. Genauso wie dieser Pakt für uns<br />

eine ganz bittere Hypothek aus dunkler Geschichte<br />

ist, belastet dieses Erbe die heutige Sowjetunion, die<br />

sich um Rechtsstaatlichkeit, um Demokratisierung<br />

und um Liberalisierung bemüht. Diese Erblast müssen<br />

wir gemeinsam bewältigen. Sie verpflichtet sowohl<br />

die Sowjetunion als auch die Bundesrepublik, gemeinsam<br />

für die Folgen der Vergangenheit zu haften<br />

und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />

des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch]<br />

[SPD])<br />

Die Lösung der deutschen Frage war ohne die Sowjetunion<br />

nicht möglich. Auch die baltische Frage<br />

kann nicht gegen, sondern nur mit der Sowjetunion<br />

gelöst werden.<br />

(Zustimmung bei der FDP)<br />

In diesem Sinne sollten alle Anstrengungen unternommen<br />

werden, ernsthafte Verhandlungen zwischen<br />

gewählten Vertretern der baltischen Völker<br />

und den politischen Kräften der Zentrale in Moskau<br />

zu fördern. Ziel sollte eine Lösung sein, die eingebettet<br />

ist in eine Gesamtentwicklung eines demokratischen,<br />

eines friedlichen und eines freiheitlichen Europas.<br />

(Zustimmung bei der FDP)<br />

Manche mögen meinen, daß die Geduld der Balten<br />

überstrapaziert sei. Es hilft aber wenig, meine Damen<br />

und Herren, historischen Entwicklungen ungeduldig<br />

vorzugreifen. Brachialgewalt nützt niemandem. Wir<br />

verurteilen sowohl den Einsatz des sowjetischen Militärs<br />

im Baltikum als auch radikale Maßnahmen von<br />

baltischer Seite gegen sowjetische Institutionen.<br />

(Zustimmung bei der FDP)<br />

Grundlage für jeden Fortschritt, Grundlage für jede<br />

Annäherung ist gegenseitige Information. Auch die<br />

Sowjetunion sollte an objektiven Informationen aus<br />

dem Baltikum ein Interesse haben. Umfassende Informationen<br />

sind Teil des Veständigungsprozesses, in<br />

den alle eingebunden werden müssen. Daher halten<br />

wir die Einrichtung baltischer Informationsbüros für<br />

sinnvoll und wünschenswert. Sie fördern den politischen,<br />

den wirtschaftlichen, den kulturellen und sozialen<br />

Dialog, und daran, meine Damen und Herren,<br />

muß uns allen gelegen sein.<br />

Es muß aber nicht Aufgabe der Bundesregierung<br />

sein, derartige Informationsbüros zu finanzieren. Wir<br />

Liberale würden es begrüßen, wenn nicht nur Forde-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2569<br />

Dr. Cornelie von Teichman<br />

rungen an den Staat gestellt würden. Ermutigen wir<br />

doch auch private Initiativen!<br />

(Zustimmung bei der FDP)<br />

So sind z. B. Finanzierungsmodelle über Stiftungen<br />

denkbar. Wir alle wissen, daß das Informationsbüro in<br />

London z. B. durch das Baltic World Council finanziert<br />

wird und auch funktioniert.<br />

Die baltischen Gesellschaften haben ihren Oberlebens-<br />

und Durchsetzungswillen über Jahrzehnte bewiesen.<br />

Geben wir ihnen die moralische Unterstützung<br />

und wirken wir darauf hin, daß eine friedliche<br />

Lösung der Probleme gefunden wird!<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun erteile<br />

ich dem Abgeordneten Dr. Modrow das Wort.<br />

Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Bereits bei der Erörterung<br />

dieser Frage im Februar habe ich hier im <strong>Bundestag</strong><br />

betont, daß es für die PDS/Linke Liste keine<br />

wesentlichen Einwände gegen ein Informationsbüro<br />

gibt, wenn es durch seine Tätigkeit einen solchen<br />

Namen auch verdient. Das heißt, es sollte darauf hinwirken,<br />

die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen<br />

Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den<br />

baltischen Republiken zu vertiefen, die Kontakte zwischen<br />

den Menschen zu fördern und einen sinnvollen<br />

Informationsaustausch zu gewährleisten. Keinesfalls<br />

aber sollte es Elemente einer offiziellen Vertretung<br />

dieser Republiken in der Bundesrepublik Deutschland<br />

an- oder wahrnehmen.<br />

Es bleibt unsere feste Überzeugung, daß von außen<br />

her kein Fakt geschaffen werden sollte, der wie eine<br />

Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion<br />

wirken könnte. Jedes Zeichen dieser Art<br />

wäre für die deutsch-sowjetischen Beziehungen wie<br />

für europäische Angelegenheiten wenig dienlich. Die<br />

inneren Probleme der Sowjetunion sind in der Tat<br />

widersprüchlich und tragen auch dramatischen Charakter.<br />

Die Anstrengungen Gorbatschows bleiben<br />

weiter auf eine friedliche innere Lösung der Probleme<br />

gerichtet. Dazu wird Dialog geführt. Auf diesem Gebiet<br />

werden auch umfassende Aktivitäten entfaltet.<br />

Außenpolitik sollte möglichst in jeder Phase berechenbar<br />

und gerade jetzt für die Lösung der inneren<br />

Probleme der Sowjetunion hilfreich sein. In der Sowjetunion<br />

steht der neue Unionsvertrag zur Entscheidung<br />

an. Nach dem vorliegenden Entwurf werden<br />

auch die Unionsrepubliken Außenkontakte -<br />

verstärken.<br />

Auch wenn sich die baltischen Republiken am<br />

Unionsvertrag nicht beteiligen, ist die Gestaltung der<br />

inneren Beziehungen noch nicht gelöst. Gewiß werden<br />

sich künftig unsere Kontakte und der Austausch<br />

mit den Teilrepubliken der Sowjetunion ausweiten<br />

und verstärken. Es werden neue Formen der Zusammenarbeit<br />

entstehen. Das bringt vielfältige neue Erfordernisse<br />

für die Bundesrepublik und wohl auch für<br />

die Bundesländer mit sich.<br />

Das alles sollte den deutsch-sowjetischen Beziehungen<br />

nützlich sein, Geist und Buchstaben der abgeschlossenen<br />

Verträge entsprechen und die partner<br />

schaftlichen Beziehungen sowohl stärken als auch erweitern.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat<br />

das Wort der Abgeordnete Dr. von Stetten.<br />

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU):<br />

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben<br />

das Wort „historisch" in den vergangenen achtzehn<br />

Monaten häufig gebrauchen dürfen. Nun will ich den<br />

heutigen Tag, an dem wir die Einrichtung eines baltischen<br />

Informationsbüros in der Bundesrepublik<br />

Deutschland beschließen, nicht dazu mißbrauchen.<br />

Aber es ist ein Schritt zu einem wirklich historischen<br />

Tag, dem Tag, an dem die baltischen Republiken Litauen,<br />

Lettland und Estland wirklich frei werden.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />

Es ist erfreulich, daß wir in diesem Ziel über alle<br />

Parteigrenzen hinweg einig sind. Das wurde auch<br />

bei der Gründung des deutsch-baltischen parlamentarischen<br />

Freundeskreises deutlich, als letzte Woche<br />

fast einhundert Mitglieder des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />

mit baltischen Freunden zusammentrafen. Es gibt<br />

keine vergleichbare Initiative in anderen westlichen<br />

Ländern. Ich bin stolz darauf, daß damit unsere besondere<br />

Verantwortung für diese drei Länder eindrucksvoll<br />

dokumentiert wurde. Das wurde auch in den drei<br />

baltischen Ländern lebhaft begrüßt.<br />

Wir wünschen uns deutlichere Signale von der Außenpolitik,<br />

Herr Schäfer, und hätten uns für die Länder<br />

einen offiziellen Beobachterstatus bei der heute<br />

beginnenden KSZE -Konferenz in Berlin gewünscht.<br />

Aber immerhin: sie sind dabei.<br />

Wenngleich Geschichte, Herkunft und heutige Bevölkerungszusammensetzung<br />

der drei baltischen Republiken<br />

unterschiedlich waren und sind, haben alle<br />

drei Länder ähnliche Schicksale erlitten und waren<br />

schicksalhaft Spielball zwischen Deutschland und der<br />

Sowjetunion. Die in den Jahren 1918 bis 1920 erkämpfte<br />

Freiheit verloren alle drei 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt<br />

durch Okkupation und anschließende<br />

Zwangsmitgliedschaft als Republik in der Sowjetunion.<br />

1941 wurden sie durch Deutschland besetzt,<br />

nach der Rückeroberung 1944/45 wieder durch die<br />

Sowjetunion. In allen vier Phasen haben die Länder<br />

nicht nur das Übliche eines grausamen Krieges erlebt,<br />

sondern wurden in vier Schüben ihrer Intelligenzschicht<br />

beraubt. Nachdem sie zunächst 1918 und 1921<br />

den ersten Teil der deutschen Oberschicht vertrieben,<br />

verließ der Rest der deutschen Schicht durch die Umsiedlung<br />

das Baltikum 1938/39. 1940 wurden über<br />

hunderttausend Litauer, Letten und Estländer von der<br />

Sowjetarmee nach Sibirien und anderswo verschleppt<br />

und in den Jahren 1941 bis 1944 Hunderttausende von<br />

Juden von der deutschen Besatzungsmacht deportiert.<br />

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Und er<br />

mordet, kann man nur ergänzend hinzufü<br />

gen!)<br />

— Ich will dem nicht widersprechen, Herr Kollege<br />

Voigt.


2570 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten<br />

Den Rest der Intelligenzschicht ereilte 1945 bis 1949<br />

bei neuen Deportationswellen der Sowjetunion das<br />

gleiche Schicksal. Erst mühsam haben sich die Völker<br />

davon erholt.<br />

Die Okkupation und Einverleibung in die Sowjetunion<br />

wurde vom Westen niemals anerkannt, und so<br />

wollen sie jetzt ihre Freiheit, und sie wollen sie gleich.<br />

Wir von der Bundesrepublik Deutschland müssen sie<br />

unterstützen. Wir, die wir die Freiheit unserer Mitbürger<br />

in den fünf neuen Ländern erst seit einem Jahr<br />

wieder zurückerhalten haben, sollten Verständnis für<br />

die Ungeduld haben.<br />

Dennoch versuche ich, Strömungen entgegenzuwirken,<br />

wenn der Präsident der Sowjetunion, Gorbatschow,<br />

in unqualifizierter Weise angegriffen wird.<br />

Ich sage allen meinen Gesprächspartnern — und dies<br />

waren insbesondere auch die führenden litauischen<br />

Politiker — : Ohne Gorbatschow und seine Politik in<br />

den letzten Jahren gäbe es kein Thema Baltikum,<br />

würden wir als Parlament nicht über die Freiheit dieser<br />

Menschen diskutieren und würden wir heute nicht<br />

über ein Informationsbüro als Vorläufer von drei Botschaften<br />

entscheiden.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

Ich bin der Meinung, daß die Freiheit der drei Völker<br />

nur mit Gorbatschow — und sei es, damit er sein Gesicht<br />

nicht verliert, durch eine finnische Lösung — zu<br />

erreichen ist und nicht gegen ihn und natürlich jetzt<br />

auch mit Jelzin. Es darf keinen blutigen Januar 1991<br />

mehr geben, und die Übergriffe auf baltische Einrichtungen,<br />

wie sie noch in den letzten Wochen durch<br />

sowjetische Behörden stattfanden, müssen aufhören.<br />

Gorbatschow könnte seine historische Leistung für<br />

Frieden und Freiheit mit der Freiheit der drei baltischen<br />

Staaten krönen, und wir tragen heute mit unseren<br />

Beschlüssen ein Stückchen dazu bei.<br />

Es ist noch ein steiniger Weg, aber der <strong>Bundestag</strong><br />

hat die Verantwortung der Deutschen erkannt. Wir<br />

bitten und fordern den Kanzler und den Außenminister<br />

auf, wann immer sie Möglichkeiten haben, mit<br />

sowjetischen Gesprächspartnern diese Frage zur<br />

Sprache zu bringen, auch im Zusammenhang mit<br />

wirtschaftlichen Zukunftsplänen und dem ständigen<br />

Hinweis, daß die völkerrechtliche Situation dieser drei<br />

Länder anders ist als die der übrigen sowjetischen<br />

Republiken, weil die Einverleibung 1940 völkerrechtlich<br />

unwirksam ist.<br />

Die drei baltischen Staaten könnten als wirtschaftlicher<br />

Katalysator zwischen der Europäischen Gemeinschaft<br />

und der künftigen Sowjetunion dienen - und damit<br />

dem Endziel, dem vereinten Haus Europa, nutzen.<br />

Mit der hoffentlich baldigen Eröffnung der Informationsbüros<br />

soll auf diesem Weg ein Signal gesetzt werden.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Und nun<br />

hat das Wort der Staatsminister Dr. Helmut Schäfer.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Vielen Dank. „Doktor" ist etwas zu hoch gegriffen.<br />

Ich warte immer noch auf den Ehrendoktor. Der<br />

ist mir bisher noch nicht zuteil geworden.<br />

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />

Das könnte Ihnen so passen, ohne jede An<br />

strengung!)<br />

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf,<br />

weil die Bundesregierung wiederholt angesprochen<br />

worden ist, noch einmal auf das zurückkommen, was<br />

ich hier am 28. Februar schon einmal gesagt habe: Der<br />

Einrichtung baltischer Informationsbüros in der Bundesrepublik<br />

steht nichts im Wege, wenn sie nach den<br />

Regeln des Privatrechtes, des Vereinsrechtes sowie<br />

des Ausländerrechtes organisiert wird, wie es z. B.<br />

auch in Polen der Fall sein wird. Das heißt allerdings<br />

auch, daß ein diplomatischer Status, fiskalische Privilegien<br />

sowie Betrauung mit quasikonsularischen Aufgaben<br />

ausgeschlossen sind. Ich muß dies hier noch<br />

einmal wiederholen.<br />

Erlauben Sie mir, dies zu erläutern: Die Bundesregierung<br />

hat, wie Sie wissen, die Annexion der baltischen<br />

Staaten niemals anerkannt. Sie hatte bei der<br />

Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion<br />

einen Vorbehalt hinsichtlich des beiderseitigen<br />

territorialen Besitzstandes ausgesprochen und<br />

ihn seither stets berücksichtigt. Dieser Vorbehalt gilt<br />

weiter. Es ist aber unbestreitbar und unbestritten, daß<br />

seit den Republikwahlen in allen drei Staaten eine<br />

qualitativ neue Lage eingetreten ist. Wir haben es<br />

— und da ist doch gar kein Zweifel — heute dort mit<br />

demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamenten<br />

zu tun, die danach streben, das Selbstbestimmungsrecht<br />

der baltischen Völker zu verwirklichen.<br />

Es ist Ihnen bekannt — und ich verstehe insofern<br />

nicht die Kritik, die einige hier geäußert haben —, daß<br />

die Bundesregierung gemeinsam mit ihren Partnern<br />

in der EG nachdrücklich auf Verhandlungen zwischen<br />

der sowjetischen Zentralregierung und den gewählten<br />

Vertretern der baltischen Länder drängt, die<br />

auf der Grundlage der Ergebnisse der baltischen Referenda<br />

die legitimen Erwartungen der baltischen<br />

Völker erfüllen müssen.<br />

Wir haben mit Genugtuung festgestellt — und das<br />

muß auch einmal deutlich gemacht werden — , daß<br />

Ende März ein Dialog in Gang gekommen ist.<br />

Der Bundeskanzler und der französische Staatspräsident<br />

haben im vergangenen Jahr ausdrücklich in<br />

ihren Schreiben nach beiden Seiten hin gedrängt, daß<br />

man zu einer Verhandlung kommt und daß der Weg<br />

des Dialogs eingeschlagen werden muß, auch im Hinblick<br />

auf die spätere Lebensfähigkeit der baltischen<br />

Staaten, d. h. auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten,<br />

aber natürlich auch im Hinblick auf die zahlreichen<br />

politischen, juristischen und wirtschaftlichen Bindungen,<br />

die es natürlich mit der Sowjetunion noch gibt.<br />

Dieser Weg ist schwierig, die Begleitumstände, die<br />

angesprochen worden sind, sind gelegentlich belastend.<br />

Ich darf an die Grenzpostenzwischenfälle erinnern;<br />

all das ist unschön, aber es bleibt festzuhalten:<br />

Die Verhandlungen sind auf dem Wege, und gerade<br />

vor wenigen Tagen, am 6./7. Juni 1991, sind zuletzt<br />

lettische und sowjetische Verhandlungspartner zusammengetroffen.<br />

Ich weiß auch aus Äußerungen des


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2571<br />

Staatsminister Helmut Schäfer<br />

polnischen Außenministers, mit dem ich vorgestern<br />

gesprochen habe, daß die Gespräche wesentlich substantieller<br />

geworden sind.<br />

Diesen Prozeß wollen wir fördern; es gibt hieran<br />

überhaupt keinen Zweifel.<br />

Was die finanzielle Unterstützung eines eventuellen<br />

baltischen Informationsbüros betrifft, so darf ich<br />

noch einmal klar sagen, daß es im Interesse der Balten<br />

liegt, daß die Bundesrepublik diese Informationsbüros<br />

nicht finanziert. Eine solche Unterstützung würde<br />

eine politische Abhängigkeit von der Bundesregierung<br />

herstellen. Ich glaube, das kann man wohl nicht<br />

bezweifeln. Es wäre auch eine Verantwortlichkeit der<br />

Bundesregierung für die Art und Weise, wie diese<br />

Informationsbüros arbeiten, gegeben. Denn wir können<br />

nicht Steuermittel für die Einrichtung ausländischer<br />

Informationsbüros verwenden und dann sagen:<br />

Was die tun, ist uns gleichgültig. So können wir nicht<br />

verfahren. Eine Finanzierung durch andere Mittel<br />

— das haben wir auch schon gesagt — ist möglich. Es<br />

gibt eine ganze Fülle von baltischen Organisationen<br />

auch bei uns, und es gibt auch Privatinitiativen, die<br />

das unterstützen werden.<br />

(Zurufe von der SPD)<br />

—Meine Damen und Herren, ich kann nur wiederholen,<br />

was die Auffassung der Bundesregierung ist, und<br />

wir stehen zu dieser Auffassung. Sie können versuchen,<br />

sie zu ändern, Sie können eine Finanzierung<br />

dieser Büros beantragen. Ich darf Ihnen noch einmal<br />

sagen: Unser Standpunkt ist hier klar.<br />

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />

Wem soll es nutzen, daß wir das hier im Ple<br />

num des <strong>Bundestag</strong>es erörtern? — Zuruf von<br />

der CDU/CSU: Wir haben doch gar keinen<br />

Antrag gestellt! Das war doch gar nicht Ge<br />

genstand der Debatte!)<br />

—Heute bei Ihren Reden ist mehrfach nicht ganz klargeworden,<br />

was Sie sich unter den Informationsbüros<br />

vorstellen.<br />

Ich darf zum Schluß sagen: Wir haben auch die<br />

Anregung des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es aufgegriffen,<br />

um umgekehrt in den baltischen Staaten tätig zu werden<br />

und nach Möglichkeit ein Kulturinstitut, ein Goethe<br />

-Institut in einer der Hauptstädte der drei Staaten<br />

einzurichten. Das liegt uns sehr am Herzen; die Bundesregierung<br />

wird in den erforderlichen Gesprächen<br />

über die rechtlichen und politischen Grundlagen dieses<br />

Büros sehr bald eintreten. Ich hoffe, daß es dann<br />

auch bald zur Finanzierung eines solchen Goethe<br />

Instituts kommen wird.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine<br />

Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.<br />

Mit Einverständnis der Fraktion hat ein Vertreter<br />

des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN eine Rede zu Protokoll<br />

gegeben. *)<br />

*) Anlage 4<br />

-<br />

Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache<br />

12/673, eine Entschließung anzunehmen sowie<br />

die Anträge der Fraktion der SPD, sowie der Gruppe<br />

Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf den Drucksachen<br />

12/164 und 12/166 für erledigt zu erklären. Ich möchte<br />

fragen, wer der Beschlußempfehlung des Auswärtigen<br />

Ausschusses zuzustimmen gedenkt. — Enthaltungen?<br />

— Gegenstimmen! — Dann ist bei Enthaltung<br />

der Gruppe der PDS/Linke Liste diese Beschlußempfehlung<br />

des Auswärtigen Ausschusses angenommen<br />

worden.<br />

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:<br />

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten<br />

Ursula Männle, Renate Diemers, Rainer<br />

Eppelmann, weiteren Abgeordneten und<br />

der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten<br />

Dr. Eva Pohl, Norbert Eimer (Fürth),<br />

Hans A. Engelhard, weiteren Abgeordneten<br />

und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs<br />

eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung<br />

über die weitere Verbesserung der<br />

Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien<br />

mit Kindern (Gesetz zur Einführung von<br />

Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige<br />

in den neuen Bundesländern)<br />

— Drucksache 12/409 —<br />

a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses<br />

für Familie und Senioren (13. Ausschuß)<br />

— Drucksache 12/754 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordnete Ursula Männle<br />

Frank-Michael Habermann<br />

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß)<br />

gemäß § 96 der Geschäftsordnung<br />

— Drucksache 12/755 —<br />

Berichterstatterinnen:<br />

Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner<br />

Irmgard Karwatzki<br />

Dr. Sigrid Hoth<br />

(Erste Beratung 24. <strong>Sitzung</strong>)<br />

Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von<br />

einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden?<br />

— Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann<br />

ich die Aussprache eröffnen. Das Wort hat zunächst<br />

die Abgeordnete Frau Pfeiffer.<br />

Angelika Pfeiffer (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Vorfeld<br />

meiner Rede heute habe ich mir noch einmal die Redebeiträge<br />

zu diesem Thema von der 24. <strong>Sitzung</strong> des<br />

Deutschen <strong>Bundestag</strong>es angeschaut und noch einmal<br />

gründlich durchgelesen. Besonders aufgefallen ist mir<br />

die Rede des Kollegen Habermann der SPD-Fraktion.<br />

Es ist schon eigenartig, immer wieder feststellen zu<br />

müssen, daß die SPD eigentlich nichts weiter so richtig<br />

kann als alles kritisieren, und jede auch noch so kleine<br />

Aktivität der Koalition zu bremsen versucht.<br />

Ich als neue Politikerin, die ich noch nicht viel Ahnung<br />

von dem Geschäft der Politik habe, frage mich:


2572 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Angelika Pfeiffer<br />

Warum kann es keine Gemeinsamkeiten zwischen<br />

Opposition und Koalition geben, wenn es um eine<br />

gute Sache geht? Dann müßte man doch Parteigrenzen<br />

überwinden und müßte zustimmen, auch wenn es<br />

kein Antrag ist, den man selber eingebracht hat.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Gemeinsamkeit über alle Parteigrenzen hinweg für<br />

alle Frauen müßte möglich sein, und das wünsche ich<br />

mir für die nächsten dreieinhalb Jahre.<br />

Ist es nicht erfreulich, meine Damen und Herren,<br />

über eine weitere Verbesserung der Lebensbedingungen<br />

der Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern<br />

berichten zu können? Ich jedenfalls freue<br />

mich von ganzem Herzen über den Gesetzentwurf zur<br />

Einführung der Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige<br />

in den neuen Bundesländern.<br />

Zugleich bietet mir der vorliegende Gesetzentwurf<br />

die begrüßenswerte Gelegenheit, Antwort auf die vielen<br />

Fragen von Hausfrauen aus meinem Wahlkreis zu<br />

geben, Antwort darauf, ob man sie vergessen hat, die<br />

Nichtberufstätigen, die bis dato laut DDR-Regelung<br />

keinen Anspruch auf Mutterunterstützung hatten.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: So war es!)<br />

Im Klartext: Wer nicht berufstätig war, der hatte keinen<br />

Anspruch auf Mutterunterstützung. Das ist nun,<br />

Gott sei Dank, bald Geschichte.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Nichterwerbstätige Mütter aus den neuen Bundesländern,<br />

deren Kinder zwischen dem 3. Oktober 1990<br />

und dem 31. Dezember 1990 geboren wurden, erhalten<br />

jetzt ab Geburt monatlich 250 DM bei einem Kind,<br />

300 DM bei zwei Kindern und 350 DM bei drei und<br />

mehr Kindern. Diese Minimalbeträge, die auch mich<br />

nicht befriedigen — das ist ganz klar, aber im Moment<br />

haben wir nur diese Minimalbeträge — , weiter zu erhöhen<br />

wird eine nicht zu vergessende Aufgabe für uns<br />

alle sein.<br />

Diese Übergangsregelung kostet den Bund 1991 —<br />

auch das sollte hier einmal erwähnt werden — ca.<br />

15 Millionen DM; im Jahr 1992 werden es 1,73 Millionen<br />

DM und 1993 noch 30 000 DM sein.<br />

Zugunsten der betroffenen Hausfrauen und Schülerinnen<br />

schlägt sich auch die damit geschaffene Möglichkeit<br />

der Vermeidung der Sozialhilfebedürftigkeit<br />

nieder. Als ehemals praktizierende Sozialarbeiterin ist<br />

mir bekannt, wie sich unsere Mitbürger in den neuen<br />

Bundesländern überwinden müssen, den Weg zum<br />

Sozialamt zu gehen.<br />

Außerdem erkennen wir endlich auch, entgegen<br />

der DDR-Verordnung, die großartige Erziehungsleistung<br />

von Hausfrauen an.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Es war schon fast anrüchig, wenn eine Frau in der<br />

damaligen DDR nicht gearbeitet hat. Meine Großmutter<br />

sagte immer: Früher war man wer, wenn eine Frau<br />

nicht gearbeitet hat. Zu DDR-Zeiten wurde gemunkelt,<br />

daß irgend etwas nicht stimmen kann, wenn eine<br />

Frau nicht arbeiten ging; ob sie das Arbeiten vielleicht<br />

nicht erfunden hat — solche Reden wurden geäußert.<br />

Ich möchte zum Schluß kommen, meine Damen und<br />

Herren. Im Interesse der betroffenen Mütter fordere<br />

ich alle auf, auch wenn uns verschiedene Regelungen<br />

nicht so angenehm sind, wie wir es gern hätten, über<br />

Parteigrenzen hinweg mitzuwirken, daß dieser gute<br />

Gesetzentwurf möglichst schnell umgesetzt wird.<br />

Ich bedanke mich.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Zustimmung des Abg. Michael Habermann<br />

[SPD])<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />

hat der Abgeordnete Habermann.<br />

Michael Habermann (SPD): Herr Präsident! Meine<br />

Damen und Herren! Liebe Frau Pfeiffer, die SPD wird<br />

diesem Gesetzentwurf zustimmen, so wie wir auch in<br />

erster Lesung zugestimmt haben. Die Kritik und die<br />

Bedenken, die Sie in meinem Redeprotokoll gefunden<br />

haben, werden wir natürlich aufrechterhalten. Es geht<br />

uns nicht um Miesmachen; mit dem, was wir vorgeschlagen<br />

und diskutiert haben, wollen wir vielmehr<br />

Verbesserungen erreichen.<br />

Wir glauben, daß mit der Absicht, die ich gerade<br />

erwähnte, auch ein Stück der Politik verwirklicht<br />

wird, die Sie sich selbst als Zielvorgabe gesteckt haben.<br />

Wenn Frau Michalk gesagt hat, daß mit diesem<br />

Gesetzentwurf eine Lücke geschlossen wird, die von<br />

den Betroffenen zu Recht als Unrecht erfahren wird,<br />

und Sie das eben noch einmal bestätigt haben, dann<br />

muß es natürlich erlaubt sein, zu fragen, wie diese<br />

Lücke geschlossen wird und ob sie tatsächlich so geschlossen<br />

wird, daß Familien in Ost und West die gleichen<br />

Lebensverhältnisse haben. Die Absicht, mit einer<br />

Angleichung der sozialen Leistungen schneller<br />

zur sozialen Einheit unseres Vaterlandes beizutragen,<br />

ist für uns ein Schritt in die richtige Richtung. Deshalb<br />

werden wir dem Gesetzentwurf trotz Bedenken zustimmen.<br />

Ich darf Ihnen noch einmal unsere Ausgangsüberlegungen<br />

in Erinnerung rufen. Wir waren zunächst mit<br />

der Frage beschäftigt, ob es nicht möglich ist, daß wir<br />

allen Familien rückwirkend ab 3. Oktober Erziehungsgeld<br />

gewähren; denn wenn eine nachträgliche<br />

Verbesserung eintritt, sollte man möglichst für alle<br />

gleiche Verhältnisse schaffen. Das, was zum 1. Januar<br />

1991 möglich ist, hätte auch in einer Korrektur nachträglich<br />

auf den 3. Oktober zurückdatiert werden<br />

können.<br />

Wir kritisierten in der ersten Lesung die Ungleichbehandlung<br />

und haben das als ein Dreiklassenrecht<br />

definiert, das jetzt zu einem Zweiklassenrecht wird.<br />

Ich möchte auch darauf hinweisen, daß mich Staatssekretärin<br />

Verhülsdonk in der damaligen Debatte gefragt<br />

hat, ob mir denn nicht bewußt sei, daß sich die<br />

Einheit für alle Frauen auch darin ausdrückt, daß kein<br />

Unterschied mehr zwischen erwerbstätigen und<br />

nichterwerbstätigen Frauen gemacht wird. Sie fragte<br />

weiter, ob mir nicht bewußt sei, daß bei allen Frauen<br />

die Erwartung bestehe — so formulierte sie — , daß<br />

diese Unterstützung ab dem Tag des Beitritts erfolge.<br />

Wir haben in den Ausschußberatungen festgestellt,<br />

daß genau dieser Punkt, nämlich daß die Frauen die<br />

Erwartung haben, gleichbehandelt zu werden, durch


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2573<br />

Michael Habermann<br />

diesen Gesetzentwurf nicht erfüllt ist. Lassen Sie mich<br />

an vier Punkten verdeutlichen, weshalb dies so ist.<br />

Der erste Prüfstein für die versprochene soziale Gerechtigkeit<br />

wäre der Vergleich mit dem Erziehungsgeld,<br />

und zwar dort, wo auch die Väter diese Leistung<br />

beziehen können. Dies wird durch Ihren Gesetzentwurf<br />

nicht sichergestellt. Das ist der erste Nachteil<br />

dieses kleinen Erziehungsgelds.<br />

Der zweite Prüfstein für die versprochene soziale<br />

Gleichbehandlung wäre die Frage, ob Frauen, die teilzeitbeschäftigt<br />

sind, diese Leistung beziehen können.<br />

Auch dies trifft nicht zu. Das ist der zweite Nachteil<br />

Ihres „kleinen Erziehungsgeldes".<br />

Der dritte Prüfstein für die versprochene Gleichbehandlung<br />

wäre die Frage: Wie sieht es mit der materiellen<br />

Leistung aus? Sie haben das schon angesprochen.<br />

Wir glauben, daß es ungerecht ist, daß Frauen in<br />

Ost-Berlin, die ihr Kind zwischen dem 3. Oktober und<br />

dem 31. Dezember bekommen haben, 3 000 DM für<br />

ihre Erziehungsleistung erhalten, während in West<br />

Berlin 10 800 DM gezahlt werden.<br />

Der vierte Prüfstein im Hinblick auf die versprochene<br />

soziale Gleichbehandlung ist die Frage der Anrechenbarkeit<br />

auf die Sozialhilfe. Auch hierin drückt<br />

sich aus, ob wir tatsächlich wollen, daß die Frauen in<br />

den neuen Bundesländern mit den Frauen in den alten<br />

Bundesländern gleichgestellt werden. Auch hier haben<br />

wir festzustellen, daß dies nicht möglich ist. Ja,<br />

wir müssen sogar davon ausgehen, daß wir überhaupt<br />

nicht wissen, wieviel Frauen, die derzeit Sozialhilfe<br />

erhalten, diese Leistung jetzt gar nicht bekommen<br />

können, weil das Sozialamt sie kassiert.<br />

Wir werden in einem halben oder in einem Dreivierteljahr<br />

feststellen können, daß in diesen 4 200 Fällen,<br />

von denen hier gesprochen wird, in denen die Mütterunterstützung<br />

gewährt werden soll, diese Leistung<br />

den Frauen überhaupt nicht gewährt wird.<br />

Insofern verpufft Ihr positiver Ansatz. Es hätte der<br />

sozialen Gerechtigkeit mehr entsprochen, wenn wir<br />

diese Elemente mit in den Gesetzentwurf hätten aufnehmen<br />

können.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Ein letzter Prüfstein, der in dem Gesamtzusammenhang<br />

sicherlich erwähnenswert ist, betrifft die Frage,<br />

ob eine solche Ungleichbehandlung letztendlich nicht<br />

eine verfassungsmäßige Überprüfung provoziert, ja,<br />

dieser vielleicht sogar nicht standhält. Das heißt letztlich,<br />

die Richter in Karlsruhe werden entscheiden, daß<br />

wir bei gleicher Ausgangssituation rückwirkend die<br />

gleiche Leistung anbieten müssen.<br />

-<br />

Ich möchte mich ausdrücklich bei denjenigen Kolleginnen<br />

und Kollegen bedanken — auch aus den Reihen<br />

der FDP und der CDU/CSU — , die im Ausschuß<br />

für Frauen und Jugend genau an dieser Stelle in einem<br />

gemeinsamen Entschließungsantrag dafür gestimmt<br />

haben, daß keine Anrechnung auf die Sozialhilfe<br />

erfolgt. Ich bedaure es sehr, daß dies in unserem<br />

Ausschuß zu einer, wie ich es nennen möchte, Parlamentarierschelte<br />

geführt hat. Frau Ministerin, Ihre<br />

Staatssekretärin hat sich sehr verwundert gezeigt, als<br />

dieser Beschluß im Ausschuß verlesen wurde, und<br />

meinte: Wir wissen doch, wie so etwas geschieht; da<br />

hat irgend jemand eine Idee, da sitzen neue Abgeordnete,<br />

die den ganzen Diskussionsprozeß noch nicht<br />

mitbekommen haben, zusammen; und dann wird halt<br />

schnell einmal entschieden.<br />

Ich glaube, das Bemühen — das sage ich ausdrücklich<br />

auch für die Kolleginnen und Kollegen aus der<br />

CDU/CSU- und der FDP-Fraktion —, ein Stück mehr<br />

soziale Gerechtigkeit in diesen Gesetzentwurf zu integrieren,<br />

hätte nicht einer solchen Schelte bedurft, sondern<br />

hätte im Gegenteil unsere Unterstützung verdient.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Ich weise diese Schelte für meine Fraktion ausdrücklich<br />

zurück.<br />

(Ursula Männle [CDU/CSU]: Sie haben auch<br />

dagegengestimmt!)<br />

—Nein, wir haben nicht dagegengestimmt. Wir wollten<br />

die Erziehungsgeldlösung haben, von der Sie gesagt<br />

haben, daß sie mit Ihnen nicht zu machen sei. Wir<br />

haben uns der Stimme enthalten.<br />

Lassen Sie mich zusammenfassen: Ich gehe davon<br />

aus, daß es einem sozialen Rechtsstaat bei seinem<br />

Bemühen, gleiche Lebensverhältnisse in unserer Republik<br />

zu schaffen, gut angestanden hätte, wenn er<br />

—möglichst ab dem 3. Oktober 1990 — mit einem<br />

entsprechenden Gesetz tatsächlich den Versuch gemacht<br />

hätte, dies zu erreichen.<br />

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)<br />

Was ab 1. Januar dieses Jahres ging, hätte — unter<br />

Beibehaltung eines Bestandsschutzes für Empfänger<br />

höherer Leistungen — bei der Mütterunterstützung<br />

auch ab 3. Oktober 1990 gehen können; davon bin ich<br />

fest überzeugt.<br />

Ihr jetziger Gesetzentwurf schreibt ein Zweiklassenrecht<br />

fest — trotz der Zusage des Bemühens, die<br />

Mindestbeträge anzuheben. Auf Grund der ungeklärten<br />

Fragen, insbesondere im Bereich der Sozialhilfe,<br />

wissen wir heute noch nicht, welche Auswirkungen<br />

dieser Gesetzentwurf tatsächlich haben wird. Er provoziert,<br />

wie ich schon sagte, eine verfassungsrechtliche<br />

Überprüfung.<br />

Wir sind als SPD-Fraktion nicht zufrieden. Wir haben<br />

unsere Ziele in den Beratungen nicht erreicht. Wir<br />

stimmen dieser Lösung trotzdem zu, weil sie wenigstens<br />

eine Minimallösung ist.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />

hat die Abgeordnete Frau Dr. Pohl.<br />

Dr. Eva Pohl (FDP) : Sehr geehrter Herr Präsident!<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute<br />

von Ihnen zu verabschiedende Gesetzentwurf zur<br />

Einführung von Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige<br />

ist ein weiterer besonderer und bedeutender<br />

Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit für<br />

Frauen in den neuen Bundesländern. Denn rückwirkend<br />

zum Tag der Herstellung der deutschen Einheit<br />

erhalten nun auch Hausfrauen und Schülerinnen in<br />

der ehemaligen DDR, deren Kind in der „sozialen<br />

Schwebezeit" zwischen diesem Tag und dem 31. De-


2574 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode - <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Eva Pohl<br />

zember 1990 geboren wurde, eine Mütterunterstützung.<br />

Dies war nicht immer so. Den nichterwerbstätigen<br />

Müttern wurde diese Unterstützung versagt, hatten<br />

sie doch keinen Beitrag in Form von Arbeitsleistungen<br />

zur Stärkung des sozialistischen Regimes geleistet.<br />

Wir wollen die Erziehungsleistungen auch dieser<br />

Mütter mit dem vorliegenden Gesetzentwurf — ich<br />

denke, darin kann mir jeder hier beipflichten — honorieren.<br />

(Uwe Lühr [FDP]: Sehr richtig!)<br />

Das ist auch notwendig; denn Erziehungsgeld nach<br />

dem Erziehungsgeldgesetz gibt es in den neuen Bundesländern<br />

erst für Geburten ab dem 1. Januar<br />

1991.<br />

Die von der von Ihnen vorgelegten Regelung betroffenen<br />

Mütter erhalten jetzt ab der Geburt des Kindes<br />

monatlich 250 DM bei einem Kind, 300 DM bei zwei<br />

Kindern, 350 DM bei drei oder mehr Kindern — meine<br />

Kollegin von der CDU hat darauf schon hingewiesen<br />

—, und zwar für ein Kind bis zum Ende des ersten<br />

Lebensjahres, ab dem dritten Kind bis zum Ablauf des<br />

18. Lebensmonats, bei Zwillingen bis zum Ende des<br />

zweiten sowie bei Drillingen bis zum Ende des dritten<br />

Lebensjahres.<br />

Nicht beipflichten kann ich hier hingegen der Forderung<br />

aus den Reihen der Opposition — die das<br />

Gesetzesvorhaben grundsätzlich positiv bewertet,<br />

was mich sehr erfreut —, die Leistungen des Erziehungsgeldgesetzes<br />

darüber hinaus auch jenen Familien<br />

in den neuen Bundesländern zugänglich zu machen,<br />

die bisher ausschließlich Mütterunterstützung<br />

erhalten haben. Denn damit wird doch nur bezweckt,<br />

daß keine Anrechnung auf die Sozialhilfe erfolgt, wie<br />

Sie das soeben dargestellt haben.<br />

Für ebensowenig akzeptabel halte ich persönlich in<br />

diesem Zusammenhang das Postulat, die heute zur<br />

Abstimmung gestellte Mütterunterstützung auf eben<br />

diese Sozialhilfe nicht anzurechnen. Denn, meine Damen<br />

und Herren, zum einen beschäftigen wir uns<br />

heute mit einer Übergangsregelung, die einen Zeitraum<br />

von nur drei Monaten betrifft. Zum anderen muß<br />

auch ich als Abgeordnete aus einem der neuen Bundesländer<br />

Ihnen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,<br />

in Erinnerung rufen: Der Bundeshaushalt ist kein<br />

Dukatenesel.<br />

(Uwe Lühr [FDP]: Das ist wahr!)<br />

Und: Die Sozialhilfe unterliegt dem Grundsatz der<br />

Subsidiarität.<br />

Immerhin sind die Kosten dieses Gesetzentwurfs<br />

bereits beträchtlich. Sie wurden hier schon genannt;<br />

ich darf sie in Erinnerung rufen: 15,12 Millionen DM<br />

1991, 1,73 Millionen DM 1992 und schließlich<br />

30 000 DM 1993.<br />

Vergessen wir auch nicht, daß alle Mütter aus den<br />

neuen Bundesländern, deren Kind nach dem 31. Dezember<br />

1990 geboren wurde, Erziehungsgeld nach<br />

dem Erziehungsgeldgesetz bekommen, das kumulativ,<br />

neben einer eventuellen Sozialhilfe, geleistet<br />

wird.<br />

Ich fordere Sie daher auf, dem Entwurf eines Gesetzes<br />

zur Einführung von Mütterunterstützung für<br />

Hausfrauen und Schülerinnen in den neuen Bundesländern<br />

zuzustimmen.<br />

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Nun hat<br />

die Abgeordnete Frau Dr. Höll das Wort.<br />

Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Verehrter Herr<br />

Präsident! Verehrte Abgeordnete! Schon in der ersten<br />

Lesung dieses Gesetzentwurfs haben wir, die PDS/<br />

Linke Liste, unsere Unterstützung zum Ausdruck gebracht,<br />

weil mit dieser Nachbesserung erstens eine<br />

Lücke im Einigungsvertrag geschlossen wird und<br />

zweitens der Anspruch von ca. 4 200 nichterwerbstätigen<br />

Müttern, deren Kinder in der Zeit vom 3. Oktober<br />

1990 bis zum 31. Dezember 1990 geboren wurden,<br />

auf diese Sozialleistung des Staates realisiert<br />

wird.<br />

Daß wir diese Mütterunterstützung begrüßen, heißt<br />

jedoch nicht, daß wir die Nichterwerbstätigkeit von<br />

Frauen lobpreisen wollen. Wir hoffen vielmehr, daß<br />

auch diese Frauen nach der häuslichen Betreuung<br />

ihres Kleinstkindes zwischen Familienarbeit und Berufstätigkeit<br />

frei wählen können. Berufstätigkeit setzt<br />

voraus, daß bis dann der Rechtsanspruch auf einen<br />

Betreuungsplatz vom Staat eingelöst wird.<br />

Daß es uns gelang, in der kurzen Zeit von nicht einmal<br />

zwei Monaten in diesem Parlament Entscheidungen<br />

zugunsten von Menschen, diesmal aus dem Osten<br />

Deutschlands, zu treffen, sollten wir zum Modell für<br />

weitere anstehende Probleme dieser Art machen. Ich<br />

könnte an dieser Stelle einen schier unendlichen Katalog<br />

solcher bundesweit dringlicher sozialer Probleme<br />

auflisten, von Arbeitslosigkeit über Altersarmut,<br />

deren besondere Zuspitzung in der weiblichen<br />

Dimension und Beschränkung des Menschenrechts<br />

auf eine Wohnung durch Mietwucher bis hin zu den<br />

bekannten Defiziten in der Versorgung mit Kinderbetreuungseinrichtungen.<br />

Wir erwarten von dem Hohen Hause, daß an die<br />

Lösung dieser genannten Probleme mit derselben Zügigkeit<br />

und Tatkraft herangegangen wird.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Nun hat<br />

die Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore<br />

Rönsch, das Wort.<br />

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie<br />

und Senioren: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!<br />

Mit der Einführung der Mütterunterstützung für<br />

die Zeit vom 3. Oktober 1990 bis zum 31. Dezember<br />

1990 jetzt endlich auch für die nichterwerbstätigen<br />

Frauen schließen wir eine Lücke im Einigungsvertrag.<br />

Ich meine, daß ist zwingend erforderlich. Jetzt erhalten<br />

Schülerinnen und Hausfrauen in den neuen<br />

Bundesländern, die bisher von dieser Maßnahme<br />

nicht berücksichtigt worden sind, endlich auch Mütterunterstützung.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2575<br />

Bundesministerin Hannelore Rönsch<br />

Ich will Ihnen, Herr Habermann, gleich sagen, daß<br />

ich die Beratung im Ausschuß mit großer Aufmerksamkeit<br />

verfolgt habe. Ich wundere mich ein wenig,<br />

daß Sie von Zweiklassenrecht sprechen. Ich glaube,<br />

wir schaffen durch diese Mütterunterstützung jetzt<br />

endlich ein Zweiklassenrecht ab, das vorher bestanden<br />

hat,<br />

(Beifall bei der CDU/CSU)<br />

indem die Frau, die zu Hause geblieben ist, und die<br />

Schülerin mit der berufstätigen Frau gleichgestellt<br />

werden.<br />

Ich meine, diese Gerechtigkeit mußte endlich hergestellt<br />

werden, denn in der Vergangenheit gab es<br />

jenes Zwei-Klassen-Recht; man stellte die Frau, die zu<br />

Hause erzog, bewußt zurück. Das wollten wir ändern.<br />

In der DDR dienten die familienpolitischen Regelungen<br />

in erster Linie den Erwerbstätigen. Nichterwerbstätige<br />

Mütter wurden bewußt benachteiligt und unter<br />

Druck gesetzt. Man wollte ja erreichen, daß das Kind<br />

sehr früh in eine Kinderbetreuungseinrichtung, in<br />

eine Kinderkrippe kam, damit es in dem sozialistischen<br />

Staat entsprechend ideologisch erzogen werden<br />

konnte. Ich meine, es ist endlich an der Zeit, auch<br />

den Müttern, die zu Hause geblieben sind, und den<br />

Schülerinnen diese Mütterunterstützung zu zahlen.<br />

Daß es nach dem Einigungsvertrag an der einen<br />

oder anderen Stelle noch unterschiedliche rechtliche<br />

Regelungen gibt, erleben wir mehrfach. Es ist für alle<br />

nicht befriedigend. Es besteht jetzt aber auch keine<br />

andere Möglichkeit.<br />

Sie hatten während der Ausschußberatungen gefordert,<br />

daß diese Mütterunterstützung nicht als Einzelgesetz<br />

eingebracht, sondern zusammen mit dem Erziehungsgeldgesetz<br />

beraten und ab dem 3. Oktober in<br />

den neuen Bundesländern eingeführt werden sollte.<br />

Ich will jetzt noch einmal deutlich machen, daß dies<br />

zu großen Schwierigkeiten geführt hätte, da dies zu<br />

einer noch größeren Verwirrung in den Verwaltungen<br />

der fünf neuen Bundesländer führen würde. Wir müßten<br />

trotz der Unterstützung aus dem Ministerium<br />

— und diese gewähren wir umfangreich auch mit Informationen<br />

— das Erziehungsgeld in den neuen Ländern<br />

noch einmal neu berechnen und alles noch einmal<br />

neu aufrollen. Momentan läuft es noch nicht reibungslos.<br />

Ich hatte am vergangenen Montag auch den<br />

gesamten Ausschuß eingeladen, um deutlich zu machen,<br />

wie groß die Schwierigkeiten für Männer und<br />

Frauen auch bei der Beantragung von Erziehungsgeld<br />

sind.<br />

Wir werden in den fünf neuen Bundesländern jetzt<br />

eine Buskampagne starten und mit sieben Bussen in<br />

allen fünf Bundesländern in den Mittelstädten von<br />

30 000 bis 90 000 Einwohnern über Mütterunterstützung,<br />

über Erziehungsgeld und über Kindergeld informieren.<br />

Dort sollen die Busse jeweils in einer Mittelstadt<br />

eine Woche lang stehen und den Bürger am<br />

Bus umfangreich darüber informieren, wie die Anträge<br />

gestellt werden usw., damit dann jeder in den<br />

Genuß der Unterstützung kommen kann. Ich meine,<br />

es gibt zur Zeit keine andere Möglichkeit, wenn wir<br />

ganz realistisch sind. Ich bin froh, daß wir jetzt auch<br />

für die Nichterwerbstätigen endlich eine Regelung<br />

gefunden haben.<br />

Ich würde mich freuen, wenn die Kolleginnen und<br />

Kollegen gerade aus den fünf neuen Bundesländern<br />

auch in ihren Wahlkreisen dazu beitragen würden,<br />

damit diese gemeinsamen Regelungen, die wir gefunden<br />

haben, jetzt auch in der Bevölkerung bekannt<br />

werden. Ich bitte Sie, auf Erziehungsgeld und auf Kindergeld<br />

aufmerksam zu machen und darauf hinzuweisen,<br />

daß man einen Antrag stellen muß. Die Kolleginnen<br />

und Kollegen aus den fünf neuen Bundesländern<br />

bitte ich, den Mitbürgern bei der Antragstellung behilflich<br />

zu sein; denn sie haben immer noch große<br />

Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Es hätte nur zur<br />

weiteren Verwirrung beigetragen, wenn wir jetzt alle<br />

Altfälle noch einmal aufgerollt hätten.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit<br />

sind wir am Ende der Aussprache. Wir kommen zur<br />

Einzelberatung und Abstimmung.<br />

Der Ausschuß für Familie und Senioren empfiehlt<br />

auf Drucksache 12/754, den Gesetzentwurf unverändert<br />

anzunehmen. Ich rufe die Art. 1 und 2 sowie Einleitung<br />

und Überschrift auf. Ich bitte diejenigen, die<br />

den Vorschriften zuzustimmen wünschen, um das<br />

Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? —<br />

Dann darf ich feststellen, daß die aufgerufenen Vorschriften<br />

angenommen sind.<br />

Wir treten nunmehr in die<br />

dritte Beratung<br />

ein und kommen damit zur Schlußabstimmung. Ich<br />

bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf der<br />

Drucksache 12/409 und der Beschlußempfehlung auf<br />

Drucksache 12/754 zuzustimmen wünschen, sich zu<br />

erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —<br />

Dann darf ich feststellen, daß das Gesetz einstimmig<br />

angenommen worden ist.<br />

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf:<br />

Zweite und dritte Beratung des .von der Fraktion<br />

der SPD eingebrachten Entwurfs eines . . .<br />

Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes<br />

(Artikel 146 GG)<br />

— Drucksache 12/656 —<br />

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses<br />

(6. Ausschuß)<br />

— Drucksache 12/794 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />

Norbert Geis<br />

Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion<br />

der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes<br />

über das Verfahren zur Durchführung<br />

des Volksentscheides nach Artikel 146 Abs. 2<br />

des Grundgesetzes (G Artikel 146 Abs. 2)<br />

— Drucksache 12/657 —<br />

a) Beschlußempfehlung und Bericht des<br />

Rechtsausschusses (6. Ausschuß)<br />

— Drucksache 12/794 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />

Norbert Geis


2576 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg<br />

b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß)<br />

gemäß § 96 der Geschäftsordnung<br />

— Drucksache 12/801 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordnete Michael von Schmude<br />

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)<br />

Hinrich Kuessner<br />

(Erste Beratung 29. <strong>Sitzung</strong>)<br />

Interfraktionell ist vereinbart worden, von der Frist<br />

für den Beginn der Beratung abzuweichen. Ist das<br />

Haus damit einverstanden? — Widerspruch erhebt<br />

sich nicht. Dann darf ich das zunächst einmal als beschlossen<br />

feststellen.<br />

Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit<br />

von einer Stunde. — Auch dagegen erhebt sich kein<br />

Widerspruch. Dann habe ich dies ebenfalls als beschlossen<br />

festzustellen.<br />

Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß über<br />

die Änderung des Grundgesetzes namentlich abgestimmt<br />

werden soll. Die Abstimmung soll nach der <strong>Sitzung</strong>sunterbrechung,<br />

also gegen 18 Uhr, stattfinden.<br />

Wie bekannt, wird die <strong>Sitzung</strong> um 16.30 Uhr unterbrochen,<br />

weil verschiedene Fraktionssitzungen stattfinden<br />

sollen.<br />

Nach diesen Informationen eröffne ich die Aussprache<br />

und erteile zunächst einmal der Abgeordneten<br />

Frau Däubler-Gmelin das Wort.<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter<br />

und dritter Lesung eine Grundgesetzänderung<br />

und ein Verfahrensgesetz. Damit soll der Deutsche<br />

<strong>Bundestag</strong> die Möglichkeit schaffen, die Entscheidung<br />

über Parlaments- und Regierungssitz nicht im<br />

<strong>Bundestag</strong> und Bundesrat alleine zu treffen, sondern<br />

diese Frage einer Volksabstimmung vorzulegen, also<br />

den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land die<br />

Letztentscheidung über diese Frage vorzubehalten.<br />

Wir Sozialdemokraten haben diese Vorschläge eingebracht<br />

und halten sie aus drei Gründen für vernünftig.<br />

Erstens halten wir sie für vernünftig, weil die Menschen<br />

in unserem Lande selber über die Frage abstimmen<br />

wollen, von welcher Stadt aus sie regiert zu werden<br />

wünschen.<br />

(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Es hat selten eine Frage gegeben, die mit so viel Engagement<br />

in jeder Familie diskutiert wurde wie die<br />

Frage, ob nun das geeinte Deutschland weiter aus<br />

Bonn oder zukünftig aus Berlin regiert werden sollte.<br />

Das zeigt uns mittlerweile jede Umfrage von Forschungsinstituten.<br />

Mehr als 80 % der Menschen in<br />

unserem Land sagen, daß sie selber entscheiden wollen.<br />

Das zeigen uns auch die vielen Briefe, die wir doch<br />

alle bekommen. Die Briefe, die ich bekomme, zeigen<br />

noch ein weiteres: Sie enthalten eine ganze Menge<br />

wohlabgewogener, sehr interessanter Stellungnahmen<br />

— übrigens völlig unabhängig davon, ob sich die<br />

Verfasserinnen und Verfasser für Berlin oder für Bonn<br />

entscheiden möchten. Aber daß sie nicht entscheiden<br />

können, ärgert sie. Gerade weil sie es nicht können,<br />

gibt es mittlerweile eine Menge von Ersatz- und Alibiaktionen.<br />

Zeitungen rufen zu Meinungsäußerungen<br />

auf. Rundfunkanstalten melden täglich, es könne bei<br />

ihnen in dieser Sache angerufen werden. Die Rundfunkinstitution<br />

TED wird genutzt; Unterschriftenaktionen<br />

werden mit großer Begeisterung und großem<br />

Engagement angenommen.<br />

Für uns hier im <strong>Bundestag</strong> stellt sich die Frage:<br />

Müssen wir es wirklich bei solchen Ersatzaktionen<br />

belassen, obwohl wir doch alle wissen, daß sie wegen<br />

der häufig einseitigen Fragestellung und einer völlig<br />

unüberprüfbaren, bisweilen auch manipulativen Verfahrensausgestaltung<br />

ein jämmerliches Zerrbild von<br />

Bürgerbeteiligung darstellen?<br />

(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />

Wir sagen: Wir sollten es nicht dabei belassen. Wir<br />

sollten uns — auch Sie meine Damen und Herren von<br />

den Parteien, die die Regierung tragen — dazu durchringen,<br />

nach der Entscheidung von <strong>Bundestag</strong> und<br />

Bundesrat und damit der Stellungnahme in der Sache,<br />

die dann Empfehlungscharakter bekommt, eine<br />

Volksabstimmung zu ermöglichen, die Entscheidungsmöglichkeit<br />

bei den Bürgerinnen und Bürgern<br />

zu eröffnen, und zwar in einem einwandfreien und<br />

vorher festliegenden Verfahren, das Manipulationen<br />

und Einseitigkeit ausschließt.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Wir haben keinen Zweifel — das ist unser zweiter<br />

Grund —, daß die Bürgerinnen und Bürger in unserem<br />

Land auch fähig sind, über diese Frage selbst zu<br />

entscheiden — allerdings als Abschluß eines ebenso<br />

offenen wie fairen Diskussionsprozesses, in der unter<br />

Einbeziehung der Stellungnahmen aus der Politik und<br />

unter Einbeziehung einer verantwortlichen Berichterstattung<br />

durch die Medien Meinungen vorgetragen,<br />

Standpunkte geklärt und Argumente ausgetauscht<br />

und bewertet werden können. Das muß für die Vorund<br />

Nachteile jedes Vorschlags und jeder Empfehlung,<br />

auch für die Berücksichtigung der möglichen<br />

Kostenfolgen gelten.<br />

Ich will wiederholen: Daß die Bürgerinnen und Bürger<br />

heute noch nicht selbst entscheiden dürfen, nicht<br />

einmal in dieser Frage, ärgert viele. Das verstärkt die<br />

Vorwürfe, normale Bürger seien sowieso hilflos gegenüber<br />

dem, was Politiker entscheiden. Es vertieft<br />

das Gefühl, die ganzen wichtigen Fragen der deutschen<br />

Einheit und die Überwindung der Teilung in<br />

Deutschland werde an den Bürgerinnen und Bürgern<br />

in unserem Land vorbei, ja, über ihre Köpfe hinweg<br />

entschieden.<br />

Die Entscheidung für Bonn oder Berlin oder auch für<br />

eine Konsenslösung ist doch für viele Menschen in<br />

unserem Land viel mehr als eine Entscheidung über<br />

eine Stadt. Das ist doch geradezu Symbol für die<br />

Frage, wie es nach der staatlichen Einheit jetzt mit der<br />

Überwindung der Teilung in Deutschland weitergehen<br />

soll.<br />

Die Entscheidung für Bonn oder Berlin — ich will<br />

das nochmals betonen — wird nicht einmal überwiegend<br />

mit lokalen, mit kommunalen oder mit regionalen<br />

Argumenten begründet, sondern es geht auch, ja,


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2577<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />

vordringlich um Fragen nach der Ausgestaltung, nach<br />

dem Selbstverständnis und nach der Beschaffenheit,<br />

ja, nach der Politik dieses geeinten Deutschland.<br />

Diese Fragen bewegen die Menschen, nicht allein<br />

die Abgeordneten im Deutschen <strong>Bundestag</strong> oder die<br />

Ministerpräsidenten im Bundesrat. Wir haben morgen<br />

— der Bundesrat Anfang Juli — Gelegenheit, dazu<br />

Argumente auszutauschen und unsere Sachentscheidung<br />

vorzunehmen.<br />

Wir, meine Damen und Herren, sagen, es ist falsch,<br />

daß Sie von der Regierungskoalition den Menschen in<br />

unserem Land die Gelegenheit dazu nicht zugestehen<br />

wollen. Es ist falsch, es ist ein verhängnisvoller Fehler.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/<br />

Linke Liste)<br />

Wir sagen: Es ist gut, wenn über diese Fragen an<br />

Hand der Entscheidung über den Regierungssitz diskutiert<br />

wird. Es muß offen und breit diskutiert werden.<br />

Die Ängste, die Fragen und die unterschiedlichen<br />

Meinungen, auch die Konflikte im Zusammenhang<br />

mit der Überwindung der Teilung Deutschlands müssen<br />

endlich auf den Tisch, nicht nur auf den Tisch des<br />

<strong>Bundestag</strong>es, nein, sie müssen in einem geordneten<br />

Diskussionsprozeß auch in die Öffentlichkeit. Die Entscheidung<br />

über den Regierungssitz, die Entscheidung<br />

über den Parlamentssitz gibt dazu Gelegenheit. Der<br />

Diskussionsprozeß ist notwendig und hilfreich.<br />

Wer die Letztentscheidung in dieser Frage den<br />

Menschen in unserem Land zugesteht, der befriedet<br />

zugleich, der schafft auch in Sachen „Wie geht es in<br />

unserem Land weiter?" bessere Voraussetzungen dafür,<br />

gemeinsam ein solides Fundament für die Zukunft<br />

aufzubau en.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Eigentlich, meine Damen und Herren, müßten Ihre<br />

Erfahrungen der letzten Monate — ich meine jetzt die<br />

Kolleginnen und Kollegen von den spärlich vertretenen<br />

Regierungsparteien —<br />

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! — Ing rid<br />

Matthäus-Maier [SPD]: Spärlich ist gut!)<br />

— es hat etwas mit dem Thema zu tun — unsere Argumentation<br />

unterstützen: recht geben. Sie büßen doch<br />

zur Zeit am eigenen Leib, daß Ihre bisherige Politik<br />

des Verschweigens von Problemen bei der -Überwin-<br />

dung der Teilung in Deutschland, daß Ihre Beschwichtigungshaltung<br />

und vor allem Ihre Auffassung<br />

„Lieb Wähler, du magst ruhig sein, wir richten's<br />

schon in Bonn im Rhein" genauso verstanden wird,<br />

wie Sie sie gemeint haben, nämlich als interessenverstrickte,<br />

deshalb doppelt vorwerfbare Haltung eines<br />

Vormunds gegenüber seinem Mündel, nicht aber die<br />

doch selbstverständliche Haltung demokratischer<br />

Politiker im Umgang mit mündigen Staatsbürgerinnen<br />

und Staatsbürgern,<br />

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

von denen Sie in Ihren Reden doch genauso häufig<br />

reden wie wir, nur meinen Sie es offensichtlich nicht<br />

ernst.<br />

(Zuruf von der SPD: Lernen tut weh!)<br />

Ich finde, Sie sollten mit Ihrer Haltung Schluß machen,<br />

und Sie sollten mit uns die Möglichkeit zu Diskussionsprozessen<br />

und Volksentscheid eröffnen. Der<br />

Zeitpunkt für den Volksentscheid sollte im Herbst liegen.<br />

Das gibt einerseits genügend Zeit für Vorbereitung<br />

und Diskussion und liegt als Termin, also zeitlich<br />

gesehen, zudem viel näher als mancher Ihrer sogenannten<br />

Konsensvorschläge, die wir in den letzten<br />

Tagen aus purer Ratlosigkeit aus Ihren Reihen gehört<br />

haben, die in Wirklichkeit auf Vertagungsvorschläge<br />

hinauslaufen.<br />

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! — Ingrid<br />

Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Das kön<br />

nen Sie so nicht sehen! Das ist falsch!)<br />

Daß wir mit dieser Entscheidung für eine Volksabstimmung,<br />

verehrte Frau Kollegin, einen ersten wirksamen<br />

Schritt zu mehr direkter Mitbestimmung der<br />

Bürgerinnen und Bürger auch auf Bundesebene unternehmen<br />

wollten — das ist unser drittes Argument<br />

—, sollten Sie gleichfalls mit uns begrüßen.<br />

Die Forderung nach einer Volksabstimmung über<br />

die Verfassung des geeinten Deutschland in Anschluß<br />

an einen Prozeß der Beratung im Parlament, der Weiterentwicklung<br />

unseres Grundgesetzes zur gesamtdeutschen<br />

Verfassung und nach einem breiten und<br />

öffentlichen Diskussionsprozeß ist doch vernünftig,<br />

und zwar gerade deshalb, weil wir damit dokumentieren:<br />

Hier geht es um etwas Besonderes, und das Parlament<br />

und die Politikerinnen und Politiker nehmen<br />

die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ernst.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Übrigens: Daß wir die Abstimmung jetzt auch als<br />

Einstieg für Volksinitiative, Volksbegehren und<br />

Volksentscheid, die wir im Zuge der Weiterentwicklung<br />

unseres Grundgesetzes zur gesamtdeutschen<br />

Verfassung sowieso wollen, daß wir dies als Parallele<br />

schon jetzt mit andiskutieren, das halten wir nur für<br />

vorteilhaft. Schließlich könnten wir die beim Volksentscheid<br />

über die Frage des Regierungs- und Parlamentssitzes<br />

gewonnenen Erfahrungen in der dann folgenden<br />

Diskussion nützlich verwerten.<br />

Meine Damen und Herren, so weit, so gut. Unsere<br />

Vorschläge sind gut durchdacht, sie sind unbestritten<br />

verfassungsrechtlich zulässig, und sie sind auch<br />

rechtspolitisch sinnvoll. Trotzdem — damit komme<br />

ich eigentlich zum Kern unseres politischen Vorwurfs<br />

— haben Sie, die Union und die FDP, zu diesen<br />

Vorschlägen von vornherein unüberhörbar nein gesagt,<br />

und zwar deshalb, weil es Ihre Parteizentralen<br />

und das Kanzleramt so bestimmt haben.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/<br />

CSU]: Ach du lieber Himmel! — Norbert Geis<br />

[CDU/CSU]: Ihr habt ja nie den Versuch ge<br />

macht, ein Gespräch zu führen!)<br />

Es war völlig klar, dort wurde ganz schnell anders<br />

entschieden. Mitbestimmung, Mitbeteiligung der<br />

Bürgerinnen und Bürger in ihrer Frage wollen Sie


2578 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />

nicht. Sogar der Justizminister, der doch mit guten<br />

Argumenten für eine offene Diskussion — wenigstens<br />

dafür — unserer Vorschläge geworben hat, weil sie<br />

sinnvoll, weil sie zulässig sind, wurde zurückgepfiffen.<br />

Auch Frau Adam-Schwaetzer bekam Klassenkeile,<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Jetzt übertreiben<br />

Sie aber!)<br />

obwohl sie sich — das anerkennen wir — in Zwischenschritten<br />

an das Problem lediglich herangetastet<br />

hat.<br />

Meine Damen und Herren, Sie haben von Anfang<br />

an nein gesagt, und genau das ist der Punkt, den wir<br />

Ihnen politisch vorwerfen, den wir ablehnen, und dies<br />

keineswegs nur, verehrter Herr Kollege Gerster, weil<br />

wir unsere Argumente für besser und unsere Forderung<br />

für richtig halten, sondern deshalb, weil Sie mit<br />

Ihrem Nein von Anfang an jede ernsthafte Auseinandersetzung<br />

blockiert haben. Damit wurden nicht nur<br />

sinnvolle Möglichkeiten und auch Zeit vertan, sondern<br />

Sie haben, finde ich, damit auch der demokratischen<br />

Auseinandersetzung hier in unserem Parlament<br />

einen ganz schlechten Dienst erwiesen.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Ich will das auch begründen:<br />

Daß Vorschläge nach Offenlegung unterschiedlicher<br />

Interessen und unterschiedlicher Standpunkte<br />

abgelehnt werden, daß die Mehrheit nein sagt, nachdem<br />

sie Gründe erwogen und ihre Gründe für besser<br />

erachtet hat, daß Forderungen nach einer Diskussion<br />

durch Mehrheitsentscheidungen zurückgewiesen<br />

werden, ist normal. Das ist in einer Demokratie nicht<br />

nur akzeptabel, sondern das gehört zum Wesen einer<br />

Demokratie. Zum Wesen einer Demokratie — Herr<br />

Gerster — das sollten Sie sich auch noch anhören —<br />

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich<br />

habe keinen Zwischenruf gemacht! Was wol<br />

len Sie denn mit mir?)<br />

gehört aber auch, eine Auseinandersetzung nicht<br />

durch ein Nein zu blockieren — eben das tun Sie —,<br />

sondern sich für neue Argumente zu öffnen, zuzuhören<br />

und selbst zu argumentieren, kurz: die Auseinandersetzung<br />

zu führen. Das haben Sie nicht zugelassen.<br />

Das Anhörungsverfahren im Rechtsausschuß war<br />

deshalb — Sie werden mir zustimmen, Herr Kollege<br />

Geis — reichlich sinnlos. Dort wurden - nur Gründe<br />

gesucht, um Ihr Nein untermauern zu können. Das ist<br />

schade.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das haben die<br />

Wissenschaftler gesagt!)<br />

— Ach, keine Rede davon. Das haben lediglich die von<br />

Ihnen benannten Gutachter gesagt, die aber zu rechtlichen<br />

und verfassungsrechtlichen Fragen natürlich<br />

überhaupt nicht Stellung genommen haben, sondern<br />

die lediglich Vorurteile reproduziert haben.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagen Sie!)<br />

Sie, verehrter Herr Kollege Geis, haben es übrigens<br />

bei jemandem, der Ihnen in der Sache nicht zustimmte,<br />

als erster im Rechtsausschuß moniert.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das war auch be<br />

rechtigt, Frau Kollegin!)<br />

Die Bürgerinnen und Bürger merken ganz genau,<br />

was da gespielt wird. Eine derartige Haltung trägt zur<br />

Politikverdrossenheit bei und fördert auch nicht die<br />

Glaubwürdigkeit unserer Art, uns im Parlament auseinanderzusetzen.<br />

Sie trägt auch nicht dazu bei — lassen<br />

Sie mich das mit allem Nachdruck sagen —, die<br />

Zweifler zu übertönen, die Ihnen von den Regierungsparteien<br />

heute schon vorwerfen, Sie hätten überhaupt<br />

nicht vor, den Auftrag aus Art. 5 des Einigungsvertrages<br />

zu erfüllen, nämlich unser Grundgesetz zur gesamtdeutschen<br />

Verfassung mit der nötigen Offenheit,<br />

mit der nötigen Gesprächsbereitschaft und auch mit<br />

der nötigen Ernsthaftigkeit weiterzuentwickeln.<br />

Meine Damen und Herren, das wollen wir nicht<br />

zulassen.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Deswegen spreche ich das hier so deutlich aus.<br />

Ich will nur am Rande erwähnen, daß die Argumente,<br />

die in den letzten Tagen gegen unsere Vorschläge,<br />

sowohl gegen den einer Grundgesetzänderung<br />

als auch gegen den einer Verfahrensregelung,<br />

vorgebracht wurden, wegen ihrer Leichtgewichtigkeit<br />

und ihres Alibicharakters außerordentlich leicht<br />

zu entkräften sind, z. B. das hartnäckig ausgestreute<br />

Gerücht, die Letztentscheidung der Bürgerinnen und<br />

Bürger solle dem <strong>Bundestag</strong> und dem Bundesrat die<br />

Möglichkeit geben, sich in der Sache zu drücken, sich<br />

in ein Schlupfloch zu verziehen und selbst nicht Stellung<br />

nehmen zu müssen. Keine Rede davon,<br />

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!)<br />

alles unwahr! Die Stellungnahmen von <strong>Bundestag</strong><br />

und Bundesrat sind Voraussetzungen für den Diskussions-<br />

und Entscheidungsprozeß, den wir anstreben.<br />

Da wurde sogar von Vertragsverletzungen wegen<br />

der Protokollnotiz zu Art. 2 geschwätzt. Ich bin noch<br />

heute dem Kollegen de Maizière sehr dankbar dafür,<br />

daß er sich, als Zeuge im Ausschuß aufgerufen, nicht<br />

dafür hergegeben hat, zu bestätigen, hier sei eine Entscheidung<br />

unter ausdrücklichem Ausschluß der Bevölkerung<br />

vorgenommen worden. Davon war damals<br />

ja auch keine Rede.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat er so<br />

nicht gesagt!)<br />

— Ja eben. Ich bin ihm ja auch sehr dankbar, daß er<br />

das ausdrücklich nicht bestätigt hat. —<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat es aber<br />

auch nicht so gesagt, wie Sie es gesagt ha<br />

ben!)<br />

Da wurde vom Volksentscheid als Prämie für Demagogen<br />

geredet.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben nicht<br />

zugehört!)<br />

— Doch, doch, Ihnen immer.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: So wie Sie es sa<br />

gen, hat er es nicht gesagt!)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2579<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />

—Ja eben. Ich sagte ja gerade: Ich bin ihm sehr dankbar,<br />

daß er es nicht bestätigt hat.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat es nicht so<br />

gesagt, wie Sie es gesagt haben!)<br />

— Dann müssen Sie vielleicht etwas anderes sagen.<br />

Seine Äußerungen waren außerordentlich eindeutig.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

Geis, Sie haben die Gelegenheit, das anschließend<br />

klarzustellen. Dann kann der Dialog unterbleiben.<br />

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So<br />

viel Redezeit hat er gar nicht, um das alles<br />

klarzustellen!)<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Er hat auch die<br />

Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Auch das<br />

ist möglich.<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident,<br />

auch das weiß er; deswegen nimmt er die Möglichkeit<br />

ja nicht wahr,<br />

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)<br />

ich könnte ihm ja antworten.<br />

Da wurde von Volksentscheid als „Prämie für Demagogen"<br />

geredet. Da wurde die „Instabilität" der<br />

Staaten unterstellt, die so etwas wie einen Volksentscheid<br />

haben. Das wurde als Menetekel an die Wand<br />

gemalt. Da wurde gar behauptet, Volksbegehren,<br />

Volksinitiative und Volksentscheid seien — man<br />

höre — Kennzeichen totalitärer oder sozialistischer<br />

Staaten.<br />

Meine Damen und Herren, das sage ich Ihnen jetzt<br />

ganz im Ernst: Wenn das wahr wäre, dann könnten<br />

einem die Österreicher, also unsere Nachbarn im Süden,<br />

wirklich leid tun. Dann wäre die Schweiz nicht<br />

etwa eine Insel der Stabilität, sondern schon längst<br />

zerrüttet, in Auflösung beg riffen. Italien — ausgerechnet<br />

Italien! — wäre dann so etwas wie ein totalitärer<br />

Staat. Lachhaft, kann man nur sagen.<br />

Dann müßten auch alle unsere Bundesländer, die<br />

Instrumente der direkten Demokratie in ihrer Verfassung<br />

niedergelegt haben, als instabil und inhomogen<br />

mit unserem Grundgesetz angesehen werden, das<br />

den Volksentscheid ja bisher nicht kennt, aber gleichwohl<br />

auf keinen Fall Homogenität mit instabilen oder<br />

mit totalitären Gemeinwesen zuläßt. Auch das -<br />

ist doch<br />

rung!)<br />

eine abstruse Konstruktion. Sie wird um so abstruser,<br />

als ja Länderverfassungen gemeint sind, die keineswegs<br />

nur vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet<br />

wurden, sondern natürlich auch solche, die in<br />

den 70er Jahren, wie die baden-württembergische,<br />

oder in den letzten Jahren, wie die schleswig-holsteinische,<br />

übrigens immer unter Zustimmung von CDU<br />

— CSU gibt es dort nicht — und Freien Demokraten,<br />

verabschiedet wurden.<br />

Meine Damen und Herren, Sie sollten aufhören, so<br />

einen Unfug zu behaupten. Sie sollten sich dazu<br />

durchringen, mit uns den Volksentscheid zu ermöglichen.<br />

Die Abstimmung über den Parlaments- und Regierungssitz<br />

gibt da einen außerordentlich guten Anlaß.<br />

(Zuruf von der SPD: Man kann sich auch ein<br />

Beispiel an Bayern nehmen!)<br />

Übrigens ist auch das Befriedungsargument falsch,<br />

also die Behauptung, der Volksentscheid in der Frage<br />

Bonn oder Berlin würde blutende Wunden aufreißen<br />

und hindern, daß sie wieder heilen, die Befriedungsfunktion<br />

würde also ausbleiben.<br />

(Zuruf von der SPD: Ein Schmarrn ist das!)<br />

Wie falsch! Wir wissen doch ganz genau, daß in Österreich<br />

in einer Situation, in der die Bevölkerung durch<br />

die Atom-Frage wirklich zutiefst gespalten war, nach<br />

einem Volksentscheid nicht nur innerer Friede gefördert<br />

wurde,<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau das Ge<br />

genteil ist richtig, Frau Kollegin!)<br />

sondern daß zugleich die Grundlage für eine vernünftige,<br />

auf Konsens beruhende Politik in der Energiefrage<br />

geschaffen wurde. Wer das bestreitet, sollte sich<br />

das im einzelnen wirklich endlich einmal anschauen,<br />

Herr Kollege Geis.<br />

Seien Sie doch nicht so ängstlich: Solche Behauptungen,<br />

solche wirklich falschen und leicht widerlegbaren<br />

Meinungen zeigen doch nur, wieviel Angst und<br />

wieviel Mißtrauen gegenüber den Staatsbürgern<br />

noch vorhanden ist.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Sie sollten mit solchen Schlagworten und solchen<br />

Blockadeworten aufhören, und Sie sollten mit uns<br />

anfangen, auch diese Ängste zu thematisieren, damit<br />

wir sie gemeinsam ausräumen können. Das würde<br />

uns weiterführen und brächte — das meine ich sehr<br />

ernst — die Möglichkeit, auch über Sorgen zu reden,<br />

die im Hinblick auf unsere Geschichte geäußert werden.<br />

Es muß doch einfach möglich sein, auch in diesem<br />

Parlament offen darüber zu reden, daß die Weimarer<br />

Republik eben nicht an zuviel Mitbestimmung<br />

durch die Bürgerinnen und Bürger zugrunde gegangen<br />

ist, sondern deshalb, weil es insgesamt zu wenig<br />

Demokraten gab, die sich für sie eingesetzt haben, in<br />

der Wirtschaft, in der Beamtenschaft, in der Verwaltung<br />

und, Gott sei es geklagt, eben auch im Reichstag.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE — Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist<br />

ein bösartiger Vorwurf gegen die Bevölke<br />

Hitler kam eben nicht durch Wahlen an die Macht.<br />

Er hat nicht ein einziges Volksbegehren gewonnen.<br />

Das Ermächtigungsgesetz, Herr Kollege Geis, das ihm<br />

den Freibrief für seine verbrecherische Politik von<br />

Verfassungsbruch, Unterdrückung, Rassenwahn und<br />

Krieg gab, ist nicht durch das Volk, sondern durch die<br />

Mehrheit im Reichstag verabschiedet worden, weil<br />

damals viele, aus welchen Gründen auch immer, nicht<br />

nein sagen wollten.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/<br />

Linke Liste)


2580 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin<br />

Das eignet sich als Beispiel gegen mehr direkte Demokratie<br />

in unserem Lande also nicht.<br />

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie<br />

schulmeistern Carlo Schmid! Den sollten Sie<br />

mal lesen!)<br />

— Nein, ich schulmeistere Carlo Schmid nicht,<br />

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der<br />

dreht sich im Grab herum, wenn er Sie<br />

hört!)<br />

aber ich habe gerade etwas zu Theodor Heuss gesagt,<br />

Herr Kollege Gerster. Wenn Sie sich nur einmal ernsthaft<br />

mit diesen Fragen befassen wollten, dann könnten<br />

wir einmal ernsthaft in die Diskussion eintreten.<br />

Aber Sie sollten sich vorher informieren.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Information<br />

macht ja einfache Antworten unmöglich!)<br />

Ich finde bedauerlich, daß diese Diskussion von Ihnen<br />

bisher versperrt wird. Ich teile, ich unterstütze die<br />

Haltung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts,<br />

Professor Herzog, der immer wieder zu Recht<br />

mahnt, wir Parlamentarier sollten schnell das Signal<br />

für mehr Mitbestimmung der Menschen, der Bürgerinnen<br />

und Bürger, auch auf Bundesebene, geben,<br />

damit wir uns dann den sehr viel schwierigeren Einzelfragen<br />

zuwenden können, wie das gehen soll, wo<br />

wir die Grenzen ziehen, wie also unser parlamentarisch-repräsentatives<br />

System sinnvoll ergänzt werden<br />

kann; denn das ist es ja, was wir ja wollen.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)<br />

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, auch jetzt<br />

noch, sozusagen in letzter Sekunde, Ihre Haltung zu<br />

überprüfen, die ja falsch ist, und sie zu ändern. Stimmen<br />

Sie unseren Vorschlägen zu und überwinden Sie<br />

Ihr Mißtrauen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern!<br />

Widerlegen Sie damit vor allen Dingen den Vorwurf,<br />

der immer stärker zu hören ist, den Vorwurf, die<br />

Arroganz der Mächtigen hindere Sie am Dazulernen.<br />

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]:<br />

Nein, der Populismus Ihrer Art schreckt sie<br />

ab, Frau Kollegin! — Widerspruch bei der<br />

SPD)<br />

— Meine Damen und Herren, wir werden, damit auch<br />

Herr Gerster irgendwann einmal lernt, daß er sich mit<br />

diesen Fragen ernsthaft auseinandersetzen muß, eine<br />

namentliche Abstimmung zu dieser Frage beantragen.<br />

Danke schön.<br />

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall<br />

beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei - Abge<br />

ordneten der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun erteile<br />

ich dem Abgeordneten Geis das Wort.<br />

Norbert Geis (CDU/CSU) : Sehr geehrter Herr Präsident!<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir<br />

haben keine Angst vor der Entscheidung des Volkes<br />

und brauchen auch keine Angst davor zu haben.<br />

(Zuruf von der SPD: Natürlich haben Sie<br />

das!)<br />

Wir, die Koalitionsparteien, sind bei den letzten<br />

Wahlen mit einer eindeutigen Mehrheit wiedergewählt<br />

worden.<br />

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie haben Sie das<br />

denn gemacht?)<br />

Wir brauchen keine Angst zu haben, uns dem Wähler<br />

zu stellen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Ich möchte einmal wissen, Frau Däubler-Gmelin<br />

was, wenn wir morgen hier im Parlament und in der<br />

nächsten Woche im Bundesrat eine Entscheidung für<br />

oder gegen Berlin mit allen Variationen treffen, dann<br />

eigentlich der Volksentscheid noch soll. Ist dies nicht<br />

ein Präjudiz? Sie müßten konsequenterweise eigentlich<br />

sagen: Wir müssen die Entscheidung, die für morgen<br />

und für die nächste Woche vorgesehen ist, absetzen<br />

und müssen erst das Volk entscheiden lassen.<br />

(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch völlig<br />

falsch! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sie<br />

haben es nicht beg riffen!)<br />

Denn sonst könnte das auf eine Bevormundung des<br />

Volkes hinauslaufen.<br />

In Wirklichkeit will die SPD mit diesem Antrag aus<br />

ihrer Hopplahopp-Entscheidung des letzten Parteitages,<br />

die ja knapp genug ausgefallen ist, ausbrechen.<br />

Sie will aus diesem Dilemma heraus. Aus dieser kläglichen,<br />

unvorbereiteten<br />

(Zuruf von der SPD: So ein Quatsch!)<br />

und nicht lang und ausgiebig genug geführten Diskussion<br />

heraus will sie jetzt den Versuch unternehmen,<br />

über das Volk zur Entscheidung zu kommen.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

Geis, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Er möchte mich eine Sekunde<br />

reden lassen.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das ist in<br />

Ordnung.<br />

Norbert Geis (CDU/CSU) : Ich bitte Sie, mich mit<br />

meinen Ausführungen erst einmal beginnen zu lassen.<br />

Herr Meyer, Sie sind ein sehr lieber Kollege. Ich<br />

bitte Sie, lassen Sie mich erst einmal kurz reden. Sie<br />

wissen ja noch gar nicht, was ich im einzelnen sagen<br />

will.<br />

(Widerspruch bei der SPD)<br />

Sie wollen aus der kläglichen Entscheidung Ihres<br />

Parteitages herausfinden. Aber Sie appellieren nicht<br />

etwa an eine verantwortungsvolle Entscheidung im<br />

Parlament oder im Bundesrat. So wie Sie Ihre eigene<br />

Partei und Ihren eigenen Parteitag verstehen, kommen<br />

nach dem Parteitag nicht etwa die Institutionen,<br />

die dafür vorgesehen sind; nach dem Parteitag hat<br />

gefälligst das Volk selbst zu kommen. Der Souverän<br />

selbst hat zu entscheiden; denn alles andere ist Ihnen<br />

viel zuwenig. Das ist der eigentliche Grund, weshalb<br />

Sie jetzt von uns verlangen, wir sollten dieses Spiel-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2581<br />

Norbert Geis<br />

chen, das Sie betreiben, mitspielen. Dazu sind wir<br />

nicht bereit.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Detlev von Larcher [SPD]: Können Sie nicht<br />

zuhören oder wollen Sie nicht?)<br />

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, Frau<br />

Däubler-Gmelin, weshalb Sie den Volksentscheid<br />

wollen. Sie sagen es ja laut genug, und deshalb ist es<br />

gar nicht verkehrt, das hier zu wiederholen. Sie sagen<br />

nämlich, daß Sie mit diesem Volksentscheid den Einstieg<br />

in eine Verfassungsdebatte finden wollen, an<br />

deren Ende eine grundlegende Veränderung unseres<br />

Grundgesetzes stehen soll. Der Volksentscheid in der<br />

Frage des Parlaments- und Regierungssitzes soll dafür<br />

nur den Einstieg bilden.<br />

Der Einstieg wird aber auch — das haben wir heute<br />

erlebt — von dem entsprechenden Theaterdonner begleitet.<br />

Sie sprechen von der Arroganz der Mächtigen<br />

und meinen uns hier im <strong>Bundestag</strong> und im Bundesrat.<br />

(Dr. Peter Struck [SPD]: Völlig zu Recht!)<br />

Das parlamentarische, repräsentative System, verehrte<br />

Frau Däubler-Gmelin, das in den 60er Jahren<br />

während der Studentenrevolte und in den 70er Jahren<br />

während der Terroranschläge nie umstritten gewesen<br />

ist und das sich in den letzten 40 Jahren für unser<br />

Land hervorragend bewährt hat, wird plötzlich von<br />

Ihnen angegriffen. Es wird miesgemacht. Sie denunzieren<br />

es. Sie stellen es hin als die Arroganz der Mächtigen.<br />

(Widerspruch bei der SPD)<br />

Sie wollen uns, die Vertreter dieses Regierungssystems,<br />

uns Abgeordnete als Mächtige draußen beim<br />

Volk denunzieren, um aus Ihrer kläglichen Situation<br />

auf diese Weise herauszukommen. Ich halte dies für<br />

einen sehr unangemessenen und außerordentlich<br />

miesen Stil, den Sie hier versuchen.<br />

Bei der Anhörung im Rechtsausschuß, sehr verehrte<br />

Frau Däubler-Gmelin, haben sich die Wissenschaftler<br />

— es waren ja nicht ganz unbekannte; es waren bedeutende<br />

Verfassungsrechtler unseres Volkes — aus<br />

gutem Grund eindeutig gegen diesen Volksentscheid<br />

ausgesprochen.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

Geis, sind Sie bereit, Herrn Lambinus eine<br />

Zwischenfrage zuzugestehen?<br />

-<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Sofort werde ich ihm die<br />

Frage zugestehen, einen Augenblick. — Nur der von<br />

Ihnen, Frau Däubler-Gmelin, herbeizitierte Verfassungsrechtler<br />

und vormalige Verfassungrichter — Sie<br />

wissen genau, wen ich meine — hat sich zu der Äußerung<br />

vom Absolutismus unseres parlamentarischen<br />

Regierungssystems verstiegen. Wer so leichtfertig die<br />

Grundlagen unseres Zusammenlebens — das ist das<br />

parlamentarische Regierungssystem all die vierzig<br />

Jahre hindurch gewesen — in Frage stellt, der muß<br />

sich wirklich fragen lassen, ob er mit seinen polemi<br />

schen Äußerungen nicht ganz andere Ziele verfolgt.<br />

— Bitte sehr.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie zitie<br />

ren schon wieder falsch! Das tun Sie wider<br />

besseres Wissen!)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun kommen<br />

wir zu den Zwischenfragen. Bitte sehr, Herr Abgeordneter<br />

Meyer.<br />

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Kollege Geis,<br />

stimmen Sie mir zu, daß es zwischen der Sachentscheidung<br />

für Bonn oder Berlin und der hier zu erörternden<br />

Frage eines Volksentscheides einen ganz engen<br />

verfassungspolitischen oder, wie einer der Sachverständigen<br />

in der von Ihnen eben erwähnten Anhörung<br />

gesagt hat, verfassungsmoralischen Zusammenhang<br />

gibt, nämlich folgenden, daß diejenigen unter<br />

uns, die für Bonn votieren wollen, doch gleich entgegengehalten<br />

bekommen, daß es über Jahrzehnte hinweg<br />

Versprechungen in Richtung Berlin, dort werde<br />

man nach der Wiedervereinigung den Regierungsund<br />

Parlamentssitz haben, gegeben hat, und ist nicht<br />

der einzige Weg, von diesen Versprechungen loszukommen,<br />

der, daß man den Adressaten dieser Versprechungen,<br />

das Staatsvolk, befragt, ob man jetzt<br />

nicht bessere Gründe für eine andere Entscheidung<br />

sieht? Müßten Sie als jemand — das vermute ich jetzt<br />

einmal; entschuldigen Sie, wenn ich das so unterstelle<br />

— , der für Bonn votieren könnte, jetzt nicht sagen:<br />

Dieses geht verfassungsmoralisch einwandfrei<br />

nur mit einem Volksentscheid?<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Entschuldigen<br />

Sie bitte, Herr Abgeordneter Geis, bevor Sie<br />

darauf antworten, möchte ich folgendes sagen: Herr<br />

Professor Meyer, darf ich Sie darum bitten, gelegentlich<br />

einmal in die Geschäftsordnung zu gucken;<br />

(Heiterkeit)<br />

denn dort ist vermerkt, daß die Zwischenfragen kurz<br />

und präzise sein sollten. Wir wären Ihnen außerordentlich<br />

dankbar, wenn Sie sich in Zukunft danach<br />

richten würden.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Präzise fand<br />

ich es ja!)<br />

Herr Abgeordneter Geis, nun haben Sie das Wort.<br />

Norbert Geis (CDU/CSU) : Ich glaube nicht, daß für<br />

die Beantwortung der Frage, ob wir uns für Bonn oder<br />

für Berlin entscheiden, eine moralische Rechtfertigung<br />

durch das Volk in Form eines Volksentscheides<br />

notwendig ist. Soviel Verantwortungsbewußtsein<br />

müssen wir hier im Parlament haben. Ich wehre mich<br />

also gegen die Unterstellung, wir bräuchten jetzt gewissermaßen<br />

eine Absegnung des Volkes selber für<br />

unsere Entscheidung. Wir sind in dieses Parlament<br />

gewählt worden — das ist ja die Grundüberlegung<br />

des parlamentarischen, repräsentativen Systems —,<br />

damit wir, unserem Gewissen verantwortlich, Entscheidungen<br />

für das Volk treffen. Ich sehe also diesen<br />

Zusammenhang, den Sie genannt haben, Herr Kollege<br />

Meyer, nicht.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


2582 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Abgeordnete<br />

Lambinus — geschäftskundig, wie er ist —<br />

wird jetzt eine Zwischenfrage stellen.<br />

(Heiterkeit)<br />

Uwe Lambinus (SPD): Herr Kollege Geis, wollen Sie<br />

ernsthaft behaupten, daß das in Bayern gegebene Institut<br />

des Volksbegehrens und Volksentscheides dort<br />

den Parlamentarismus in Frage stellt, und können Sie<br />

bestätigen, daß selbstverständlich im Rahmen des<br />

Volksbegehrens und Volksentscheides in Bayern der<br />

Landtag vorher in vielen Fällen seine Meinung zu der<br />

zur Beantwortung anstehenden Frage sagt?<br />

(Dr. Peter Stuck [SPD]: Jetzt sind Sie aber<br />

sprachlos!)<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Ich möchte Ihnen zu dem<br />

Volksentscheid vom 17. Februar in Bayern folgendes<br />

sagen: Er hat keine Befriedung in der Bevölkerung<br />

herbeigeführt. Im übrigen bin ich der Auffassung, daß<br />

die Bevölkerung in Bayern am 17. Februar aufgerufen<br />

war, über einen Fragenkomplex zu entscheiden, den<br />

zu beurteilen sie auf Grund der Tatsache, daß ein Riesenpaket<br />

von Papieren vorgelegt worden ist, in dem<br />

ein ganzer Gesetzentwurf stand, nicht in der Lage<br />

war.<br />

(Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher<br />

[SPD]: Das Volk ist dumm, nur die Abgeord<br />

neten sind klug!)<br />

Das genau ist ja die Bestätigung des parlamentarischen<br />

Regierungssystems.<br />

(Zuruf von der SPD)<br />

— Vielleicht ist es möglich, daß ich meine Ausführungen<br />

einmal ohne Zwischenrufe zu Ende bringen kann;<br />

Sie haben mich ja gefragt.<br />

Wir, die Abgeordneten, haben die Möglichkeit und<br />

auch eher die Zeit, uns den Sachverstand anzueignen,<br />

der notwendig ist, um in einer so komplizierten Frage<br />

der Müllentsorgung, wie es am 17. Februar in Bayern<br />

der Fall gewesen ist, entscheiden zu können. Deswegen<br />

ist es im Grunde genommen sehr, sehr fragwürdig,<br />

ob man — wie in Bayern geschehen — das Volk<br />

auf diese Weise zur Entscheidung anrufen soll.<br />

(Abg. Herbert Werner [Ulm] [CDU/CSU],<br />

Abg. Gudrun Weyel [SPD] und Abg.<br />

Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]<br />

melden sich zu einer Zwischenfrage)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

Geis, ich möchte einmal auf die Geschäftslage<br />

aufmerksam machen. Wir haben jetzt - noch drei<br />

Wünsche an Sie nach Zwischenfragen vorliegen. Weitere<br />

werde ich auch nicht zulassen, unabhängig davon,<br />

wie Sie sich entscheiden.<br />

(Zurufe von der SPD)<br />

— Das ist mein gutes Recht. Ich mache darauf aufmerksam,<br />

daß die Debatte nach den jetzigen Berechnungen<br />

zwischen 0.00 und 0.30 Uhr enden wird. Eine<br />

Verlängerung — bisher habe ich die Zeiten ja nicht<br />

angerechnet — wäre, glaube ich, für das ganze Haus<br />

unzumutbar.<br />

Meine herzliche Bitte ist also, noch einmal kurz auf<br />

den Abgeordneten Lambinus einzugehen und, wenn<br />

Sie wollen, die Zwischenfragen zuzulassen. Wir fassen<br />

sie dann zusammen und machen anschließend im<br />

normalen Debattenverlauf weiter. Denn sonst bekommen<br />

Sie für die Antworten mehr Zeit, als Ihnen insgesamt<br />

als Redezeit zur Verfügung steht. Auch das ist<br />

dann nicht im Sinne der Geschäftsordnung.<br />

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident, ich entscheide<br />

mich ganz in Ihrem Sinne. Ich möchte die weiteren<br />

Zwischenfragen nicht mehr zulassen.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Okay,<br />

danke schön. Dann, bitte sehr, fahren Sie fort, Herr<br />

Abgeordneter.<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Ich möchte in meinen<br />

Ausführungen fortfahren.<br />

Unser Grundgesetz hat gerade in der Wiedervereinigung<br />

seine bisher größte Bestätigung erhalten. Als<br />

die Deutschen in der vormaligen DDR endlich die<br />

demokratische Selbstbestimmung erlangt hatten, haben<br />

sie sich nicht nur für die deutsche Einheit, sondern<br />

auch für die Grundordnung entschieden, nach der wir<br />

über 40 Jahre lang gelebt haben, die uns in unserer<br />

Geschichte nie dagewesene Freiheiten beschert hat<br />

und die uns einen nie für möglich gehaltenen Wohlstand<br />

erwirkt hat.<br />

Wer deshalb jetzt nach dem angeblich wahren Willen<br />

des Volkes fragt, der mißachtet die Tatsache, daß<br />

sich die Menschen im östlichen Teil unseres Vaterlandes<br />

wie auch im westlichen Teil unseres Vaterlandes<br />

längst unter dem gemeinsamen Dach unseres Grundgesetzes<br />

zusammengefunden haben. Nur scheinen<br />

manche aus der SPD, die so sehr nach dem Volk rufen,<br />

noch gar nicht gemerkt zu haben, daß sich das Volk<br />

längst für unser Grundgesetz entschieden hat.<br />

(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch nicht die<br />

Frage!)<br />

— Das ist schon die Frage, weil Sie nämlich erklärtermaßen<br />

über den Volksentscheid den Einstieg in eine<br />

Gesamtrevision unseres Grundgesetzes finden wollen.<br />

(Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch<br />

Quatsch!)<br />

Wir werden uns von Anfang an — dies sei gesagt —<br />

mit aller Macht gegen ein solches Vorgehen wenden.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Nichts darf verän<br />

dert werden!)<br />

Der Parlamentarische Rat hat, als er das Grundgesetz<br />

verfaßt hat, an die Tradition der Weimarer Republik<br />

anknüpfen können. Aber er hat zum Glück auch<br />

den Versuch unternommen, die Fehler der Weimarer<br />

Republik nicht zu übernehmen. Er hat sich deshalb<br />

gegen Volksbegehren und gegen Volksentscheid, die<br />

ja damals vorgesehen waren und auch weidlich genutzt<br />

worden waren, entschieden. Denn bis zum Jahre<br />

1926 war es für die Linken und nach dem Jahre 1926<br />

war es für die Rechten ein Fest — ein Fest für die<br />

Demagogen — die Mittel des Volksbegehrens und<br />

des Volksentscheides dazu zu benutzen, die Demokratie<br />

selbst anzugreifen.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2583<br />

Norbert Geis<br />

Sie haben gesagt, andere Länder hätten bessere<br />

Erfahrungen damit gemacht. Das ist nicht der Fall,<br />

Frau Däubler-Gmelin. Es gibt in der ganzen westlichen<br />

Welt kein Land, das gute Erfahrungen mit Volksbegehren<br />

und Volksentscheiden gemacht hätte.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />

schlicht falsch!)<br />

Denken Sie einmal daran, daß sich der von Ihnen<br />

hochgeschätzte, aus Ihren Reihen kommende Gerhard<br />

Leibholz, Verfassungsrichter und Verfassungsrechtler,<br />

ausdrücklich gegen den Volksentscheid entschieden<br />

hat. Theodor Heuss hat sich ebenfalls ausdrücklich<br />

gegen den Volksentscheid entschieden,<br />

und zwar aus ganz bestimmten und aus ganz richtigen<br />

Gründen.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Was Sie<br />

behaupten, entbehrt jeder sachlichen<br />

Grundlage!)<br />

Gegen den Antrag der SPD bestehen aber nicht nur<br />

verfassungspolitische, sondern auch handfeste verfassungsrechtliche<br />

Bedenken.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />

überhaupt nicht wahr!)<br />

Sicher ist der Volksentscheid, fände er Eingang in<br />

die Verfassung, für sich genommen — da stimme ich<br />

mit Ihnen überein — noch nicht verfassungswidrig.<br />

Aber dadurch, daß er beim Art. 146 angesiedelt werden<br />

soll, entstehen, wie ich meine, wichtige verfassungsrechtliche<br />

Bedenken. Immerhin müssen Sie bedenken,<br />

daß der Art. 146 ja dafür vorgesehen ist, dem<br />

Volk die Verfassung insgesamt zur Entscheidung vorzulegen.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Das wollen Sie ja<br />

auch nicht!)<br />

Dann hat er sich erledigt.<br />

Wenn Sie aber jetzt den Versuch unternehmen, im<br />

Art. 146 weitere Volksentscheide vorzusehen und<br />

jetzt den Volksentscheid über den Regierungssitz als<br />

Einstieg in andere Volksentscheide zu nehmen<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Ganz ge<br />

nau!)<br />

—genau, Sie sagen es richtig; genau das wollen Sie —,<br />

dann perpetuieren Sie den Art. 146. Das ist ganz ausgesprochen<br />

gegen den Willen des damaligen Verfassungsgesetzgebers.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Lesen Sie<br />

sich den Art. 146 einmal durch! — Weitere<br />

Zurufe von der SPD)<br />

-<br />

—Hören Sie doch einmal zu; vielleicht können Sie mir<br />

dann zustimmen.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mein<br />

Gott, Sie müssen es mal lesen!)<br />

Außerdem bestehen erhebliche Bedenken gegen<br />

den Art. 146 selbst.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Absurd!)<br />

Denn immerhin muß man berücksichtigen, daß durch<br />

den Art. 146 die Möglichkeit gegeben ist, unsere Ver<br />

fassung insgesamt auszuhebeln. Denn der Volksent<br />

scheid könnte ja beispielsweise bei niedriger Beteiligung<br />

anders ausgehen, als wir es uns vorstellen.<br />

Wenn uns aber der Verfassungsgeber, wenn uns<br />

das Volk selbst eine Verfassung gegeben und vorgesehen<br />

hat, daß diese Verfassung nur unter bestimmten<br />

Voraussetzungen ausgehebelt werden kann, dann<br />

müssen diese Voraussetzungen aber auch eingehalten<br />

werden. Wir sind aber in der deutschen Einigung<br />

den Weg über Art. 23 des Grundgesetzes gegangen.<br />

Dann war die Möglichkeit des alten Art. 146 des<br />

Grundgesetzes gegeben. Der Weg über diesen alten<br />

Art. 146 des Grundgesetzes, der eine neue Verfassung<br />

im Falle der Wiedervereinigung ermöglicht hat,<br />

wurde aber nicht begangen.<br />

(Zuruf von der SPD: Weil Sie nicht woll<br />

ten!)<br />

Eine weitere Möglichkeit aber, unsere Verfassung<br />

auszuhebeln, hat der Verfassungsgeber, das Volk, der<br />

Parlamentarische Rat, nie vorgesehen.<br />

(Zustimmung bei der CDU/CSU)<br />

Deshalb ist sehr wohl die Frage — sie darf nicht so<br />

einfach vom Tisch gewischt werden — , ob Art. 146<br />

des Grundgesetzes in seiner neuen Fassung, nach der<br />

wir erneut eine Möglichkeit vorsehen, die Verfassung<br />

insgesamt auszuhebeln, verfassungswidrig sein kann.<br />

(Uwe Lambinus [SPD]: Was heißt denn „ver<br />

fassungswidrig"? Billige Demagogie: „aus<br />

hebeln" ! )<br />

Diese Möglichkeit ist ohne weiteres gegeben.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Dummes<br />

Zeug!)<br />

Das sollten Sie bedenken. Auch deshalb haben wir<br />

gegen Ihren Antrag erhebliche Bedenken.<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie müssen<br />

darüber hinaus aber auch bedenken — Sie haben<br />

das abgetan; Herr de Maizière hat nicht so geantwortet,<br />

wie Sie es gesagt haben, Frau Däubler-Gmelin — :<br />

Natürlich kann diese Entscheidung durch das Volk<br />

unter Umständen gegen den Einigungsvertrag verstoßen,<br />

weil dort vorgesehen ist, daß die gesetzgebenden<br />

Körperschaften, also Parlament und Bundesrat,<br />

die Entscheidung treffen sollen, wo Parlaments- und<br />

Regierungssitz sein soll; nicht das Volk soll die Entscheidung<br />

treffen, sondern Bundesrat und <strong>Bundestag</strong>.<br />

(Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/<br />

GRÜNE]: „Nicht das Volk", das war deut<br />

lich!)<br />

So sieht es der Einigungsvertrag vor. Ich weiß nicht,<br />

ob der Einigungsvertrag auch mit Hilfe einer verfassungsändernden,<br />

qualifizierten parlamentarischen<br />

Mehrheit abgeändert werden kann.<br />

(Zurufe von der SPD)<br />

— Das ist sehr wohl die Frage. Das kann nicht so ohne<br />

weiteres vom Tisch gefegt werden.<br />

Frau Däubler-Gmelin, es ist auch nicht richtig,<br />

wenn Sie sagen, durch eine solche Entscheidung, die<br />

vom Volk zu treffen sei, könnten keine Gräben aufgerissen<br />

werden. Wenn sich das Volk wirklich beispielsweise<br />

für Bonn entscheiden sollte, wären dann nicht


2584 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Norbert Geis<br />

leicht Emotionen in den fünf neuen Bundesländern<br />

möglich, Emotionen, die dahin gehen, zu sagen: Im<br />

Grunde genommen haben sich die Westler gegen uns<br />

entschieden; weil sie sich nicht für Berlin entschieden<br />

haben, haben sie sich gegen uns entschieden? — Das<br />

sind Gräben, die aufgerissen werden können. —<br />

(Detlef von Larcher [SPD]: Und wenn der<br />

<strong>Bundestag</strong> entscheidet?)<br />

Vielleicht haben sie sich, so könnte man in den neuen<br />

Bundesländern denken, auch gegen die Wiedervereinigung<br />

entschieden. — All dies böte breiten Raum<br />

für alle mögliche Demagogie, für alle mögliche Verhetzung.<br />

Das sollten Sie mit bedenken.<br />

Ich meine, wenn aber die Entscheidung im Parlament<br />

selbst getroffen wird, dann kann eine solche Entscheidung<br />

eher nachvollzogen werden, weil ihre Rationalität<br />

eher einsichtig ist. Das Volk selbst kann ja<br />

seine Entscheidung nicht begründen, Herr Ullmann.<br />

(Peter Struck [SPD]: Das ist eine unglaub<br />

liche Rede, die Sie hier halten! Suchen wir<br />

uns ein anderes Volk!)<br />

Der Begründungszwang liegt bei den Abgeordneten,<br />

die sich für die eine oder für die andere Richtung entscheiden.<br />

Dieser Begründungszwang führt natürlich<br />

dazu, daß eine solche Entscheidung einsichtiger ist<br />

und deshalb eher verständlich ist und deshalb auch<br />

eher nachvollzogen werden kann und deshalb viel,<br />

viel mehr, als Sie annehmen, zur Befriedung beiträgt.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

Geis, darf ich Sie darauf aufmerksam machen,<br />

daß das Mehr an Redezeit, das Sie jetzt in Anspruch<br />

nehmen, auf Kosten des Kollegen Gerster geht.<br />

Ich will das nur in Ihre Erinnerung zurückrufen.<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Ich komme zum Schlußsatz.<br />

— Wir lehnen den Antrag der SPD ab. Wir sind<br />

der Auffassung, daß dieser Antrag von Anfang an<br />

überhaupt nicht ernst gemeint gewesen ist.<br />

(Lachen bei der SPD — Detlef von Larcher<br />

[SPD]: Das ist ja wohl das Letzte! — Weiterer<br />

Zuruf von der SPD: Das ist ja wirklich uner<br />

hört! — Weitere Zurufe von der SPD)<br />

— Er war nicht ernst gemeint. Bevor Sie ihn in die Welt<br />

gesetzt haben, hätten Sie ja erst einmal Kontakt aufnehmen<br />

können. Es ist ja so, daß man verfassungsändernde<br />

Mehrheiten braucht. Man braucht Zweitdrittelmehrheiten.<br />

Immer dann, wenn der Versuch unternommen<br />

wird, im Parlament die Verfassung - zu ändern,<br />

werden schon im Vorfeld Gespräche geführt.<br />

Das haben Sie aber gar nicht gemacht. Sie wollten es<br />

ja auch gar nicht. Sie wollten nur Volksnähe demonstrieren.<br />

In Wirklichkeit geht es Ihnen gar nicht um<br />

das Volk;<br />

(Detlef von Larcher [SPD]: Das ist eine Un<br />

verschämtheit! — Weitere Zurufe von der<br />

SPD)<br />

es geht Ihnen nur darum, aus Ihrem Dilemma herauszukommen,<br />

in das Sie sich hineinmanövriert haben.<br />

Das ist der Grund, und dafür soll nun das Parlament<br />

herhalten. Da machen wir nicht mit.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer<br />

Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau<br />

Däubler-Gmelin das Wort.<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident!<br />

Verehrter Kollege Geis, ich habe mich nicht deswegen<br />

gemeldet, weil Sie gerade in einer unüberbietbar<br />

überzeugenden Form all das bestätigt haben, was ich<br />

vorhin an Vorwürfen in Ihre Richtung losgeworden<br />

bin.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Ich habe mich auch nicht deswegen gemeldet, weil Ihr<br />

Argument mit dem Mangel an Ernsthaftigkeit nun<br />

mehr als widerlegt ist: Sie werden sehen, wie ernst wir<br />

es mit dem Gesetzentwurf meinen, spätestens dann,<br />

wenn auch die Länder im Bundesrat ihn am Freitag<br />

diskutieren und wenn wir unsere Forderung nach<br />

Volksbegehren, Volksinitiative und Volksentscheid<br />

im Zuge der Weiterentwicklung des Grundgesetzes<br />

zur gesamtdeutschen Verfassung ganz selbstverständlich<br />

wieder stellen. Das alles wissen Sie auch. Ich<br />

habe mich gemeldet, weil ich den Art. 146 gegen Sie<br />

in Schutz nehmen muß.<br />

Sie haben so getan und dabei Worte gebraucht, als<br />

habe dieses Haus mit einer Zweidrittelmehrheit, als<br />

habe die Volkskammer nach der Wende, das erste<br />

demokratisch gewählte Parlament in der DDR, mit<br />

Zweidrittelmehrheit die Möglichkeit geschaffen, die<br />

Verfassung „auszuhebeln" . Bedenken Sie bitte Ihre<br />

Worte. Das sind Worte, die nicht nur gegen die Bürgerinnen<br />

und Bürger gerichtet sind, die eine Weiterentwicklung<br />

des Grundgesetzes wollen,<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist Demago<br />

gie!)<br />

das sind auch antiparlamentarische Worte, die ein<br />

Abgeordneter eigentlich nicht benutzen dürfte. Lieber<br />

verehrter Kollege Geis, das sind auch demagogische<br />

Sprüche, gegen die Sie sich glaubwürdig nicht<br />

mehr verwahren können, wenn Sie sie selbst verwenden.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Richtig ist, daß im Art. 146 mit Verfassungsrang die<br />

demokratische Selbstverständlichkeit festgehalten<br />

wurde, nach der sehr schnell erfolgten staatlichen Einigung<br />

Deutschland, durch sorgfältige Nacharbeit —<br />

auf die wurde immer wieder hingewiesen, und deren<br />

Notwendigkeit stand eigentlich immer außer Zweifel<br />

— unser Grundgesetz in eine gesamtdeutsche Verfassung<br />

umzuwandeln und dazu auch die Abstimmung<br />

von Bürgerinnen und Bürgern des geeinten<br />

Deutschland vorzusehen.<br />

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die<br />

schmeißt alles durcheinander!)<br />

Wer diesen Vorgang als „Aushebeln" bezeichnet,<br />

meine Damen und Herren, sollte solche Worte<br />

schnellstens zurücknehmen.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der SPD)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2585<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer<br />

Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Geis<br />

das Wort. Ich kündige gleich an: Weitere werde ich an<br />

dieser Stelle nicht zulassen.<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Däubler-Gmelin,<br />

ich gehe davon aus, daß Sie den Art. 146 immer noch<br />

nicht richtig durchgelesen haben.<br />

(Lachen bei der SPD)<br />

Wenn Sie ihn richtig durchgelesen hätten, würden Sie<br />

mit mir darin übereinstimmen, daß das Volk in Art 146<br />

natürlich aufgerufen ist, über die Verfassung insgesamt<br />

zu entscheiden. Sonst hätte er ja auch gar keinen<br />

Sinn. Wenn das Volk aufgerufen ist, über die Verfassung<br />

insgesamt zu entscheiden, muß eine Entscheidung<br />

gegen die Verfassung möglich sein. Sonst wäre<br />

dieser Aufruf nur eine reine Farce.<br />

Ich habe lediglich weithin bekannte verfassungsrechtliche<br />

Bedenken vorgetragen, Frau Däubler<br />

Gmelin. Sie haben vorhin im Eifer des Gefechtes offenbar<br />

nicht richtig zugehört. Die Bedenken bestehen<br />

darin, daß der Verfassungsgeber, der Parlamentarische<br />

Rat, die Möglichkeit der Selbstaufhebung der<br />

Verfassung nicht vorgesehen hat. Eine solche Möglichkeit<br />

muß aber der Verfassungsgeber selbst und<br />

nicht der Verfassungsgesetzgeber vorsehen, weil der<br />

Verfassungsgeber selbst die Verfassung gibt und er<br />

die Möglichkeit einräumen muß, ob über die Verfassung<br />

insgesamt entschieden wird, d. h. ob sie aufgehoben<br />

oder angenommen wird. Das ist Aufgabe des<br />

Verfassungsgebers. Es ist sehr wohl die Frage, ob sich<br />

nicht der Verfassungsgesetzgeber — ich bitte Sie, diesen<br />

Ausführungen zu folgen — ein Recht angemaßt<br />

hat, das nur dem Verfassungsgeber zusteht.<br />

Das sind verfassungsrechtliche Bedenken, die ich<br />

angemeldet habe und die es zu erwägen gilt. Ich bitte<br />

sehr darum, daß Sie über diese Frage einmal in aller<br />

Ruhe nachdenken.<br />

Danke schön.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat<br />

das Wort der Abgeordnete Dr. Ullmann.<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />

Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rechtsausschuß<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es hat empfohlen,<br />

den Gesetzentwurf der SPD, der von der Gruppe<br />

Bündnis 90/GRÜNE unterstützt wird, abzulehnen. Er<br />

hat das mit der Mehrheit der Koalitionsstimmen getan.<br />

Ich gehe davon aus, daß die Koalitionsmehrheit<br />

ihn auch hier ablehnen will. Darum werde ich -<br />

meine<br />

kostbare Zeit nicht verschwenden, tauben Ohren zu<br />

predigen. Aber, meine Damen und Herren von der<br />

Koalition, ich habe die Aufgabe, Sie auf die Konsequenzen<br />

aufmerksam zu machen, die diese Ablehnung<br />

nach sich zieht.<br />

Die Anhörung im Rechtsausschuß hat bewiesen:<br />

Dieser Gesetzesvorschlag ist verfassungsgemäß. Sie<br />

lehnen also eine verfassungsgemäße Möglichkeit demokratischer<br />

Willensbildung ab. Begründen Sie das!<br />

Was ich hier gehört habe, war keine Begründung. Ich<br />

denke, Sie belasten damit die Debatte, die im ganzen<br />

Volk bereits geführt wird.<br />

Es ist doch nicht so, daß nur wir hier darüber reden<br />

— wir reden ja am allerwenigsten — , im ganzen<br />

Lande wird darüber geredet, beim Evangelischen Kirchentag<br />

wird darüber geredet. Ich bin befremdet,<br />

Herr Geis, daß Sie es fertigbringen, in diesem Hause<br />

eine hervorragende Persönlichkeit des Kirchentages<br />

wie Bundesrichter a. D. Simon zu verleumden, daß er<br />

antiparlamentarische, und das heißt doch: antidemokratische<br />

Ziele verfolge.<br />

(Beifall bei der SPD — Norbert Geis [CDU/<br />

CSU]: Diese Verleumdung habe ich nicht ge<br />

macht!)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Dr.<br />

Ullmann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />

Dr. Mahlo zu beantworten?<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Bitte<br />

sehr.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr,<br />

Herr Dr. Mahlo.<br />

Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Kollege Ullmann,<br />

entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche.<br />

Darf ich Ihnen die Frage stellen: Würden Sie auch<br />

dafür sein, Fragen der Ausländerpolitik und des Asylrechts<br />

unter einen Volksentscheid zu stellen, und falls<br />

Sie da Bedenken hätten, wie auch ich sie hätte: Wie<br />

will man unterscheiden, für welche Fragen man das<br />

Volk für geeignet hält und für welche nicht?<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Semper idem!)<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Es ist<br />

Sache der Verfassungsorgane, solche Fragen in einer<br />

Weise zu formulieren, daß sie beantwortet werden<br />

können. Aber die Verfassungsorgane wie das Parlament<br />

haben auch Fragen anzunehmen, die das Volk<br />

stellt. Ich bin immer wieder befremdet, daß mit solchen<br />

Suggestivfragen unterstellt wird, das Volk verfolge<br />

immer böse Absichten, wenn es sich zu Wort<br />

melde.<br />

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der<br />

CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun eine<br />

Zwischenfrage — wenn Sie sie beantworten wollen,<br />

Herr Dr. Ullmann — von Herrn Abgeordneten Geis.<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ja,<br />

bitte.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg:<br />

schön, Herr Abgeordneter.<br />

Bitte<br />

Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Ullmann, würden<br />

Sie bitte zur Kenntnis nehmen,<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Schon<br />

wieder so arrogant!)<br />

daß ich den von der SPD benannten Wissenschaftler<br />

und ehemaligen Verfassungsrichter zitiert habe,<br />

(Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/<br />

GRÜNE]: Bundesrichter a. D. Simon!)


2586 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Norbert Geis<br />

der geredet hat vom Absolutismus des repräsentativen<br />

parlamentarischen Systems.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben<br />

ihn vorher falsch zitiert!)<br />

— Das ist genau das, was der vormalige Bundesrichter<br />

gesagt hat. Genau das habe ich zitiert.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Herr Geis,<br />

das trifft doch nicht zu!)<br />

Ich habe ihn damit nicht verleumdet. Stimmen Sie da<br />

mit mir überein?<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Sie<br />

haben ihn verleumdet mit Ihrer Interpretation;<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

denn Herr Simon hat den Absolutismus angegriffen,<br />

aber nicht die repräsentative Demokratie.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Er hat den Abso<br />

lutismus des repräsentativen parlamentari<br />

schen Systems genannt!)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dann<br />

möchte ich den Dialog beenden, Herr Abgeordneter,<br />

und Sie können in Ihrer Rede fortfahren.<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ich<br />

komme zu meinem zweiten Punkt: Die Anhörung hat<br />

ergeben, daß der Appell an die verfassunggebende<br />

Gewalt, das Volk, den Souverän, in der Form, wie der<br />

SPD-Gesetzentwurf ihn vorsah, keine Präjudizierung<br />

enthält, meine Damen und Herren von der Koalition,<br />

wie man in der Verfassung das Verhältnis von Parlament<br />

und Plebiszit sieht. Trotzdem wird von Ihnen<br />

und einem Teil der deutschen Rechtsgelehrsamkeit<br />

immer nur darüber geredet, ob Plebiszit, Bürger- und<br />

Bürgerinnenbeteiligung, wünschbar sei. Die Frage ist<br />

aber, ob es notwendig ist und ob es hilft zur Lösung<br />

der Probleme, die wir vor uns haben. — Es ist nötig zur<br />

Lösung der Probleme der deutschen Vereinigung, und<br />

es ist nicht die Frage, ob bestimmte konservative Juristen<br />

das für wünschbar halten oder nicht.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

Ullmann, ich muß Sie noch einmal unterbrechen,<br />

weil eine weitere Bitte wegen einer Zwischenfrage<br />

vorliegt.<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ja.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

Krey.<br />

Franz Heinrich Krey (CDU/CSU): Herr -<br />

Kollege, Sie<br />

übersehen sicher mit mir nicht den zeitlichen Zusammenhang<br />

einer Sachfrage der deutschen Politik, nämlich<br />

ob Bonn oder Berlin Regierungssitz sein soll, mit<br />

dem Thema, das wir heute behandeln? Wir haben im<br />

Einigungsvertrag den Ort der Entscheidung festgemacht.<br />

Der Ort ist das Parlament und nicht das Volk.<br />

Das ist doch mit großer Mehrheit von uns allen so entschieden<br />

worden. Glauben Sie nicht, daß es auch viele<br />

gute Gründe für die Vermutung gibt, daß das Volk von<br />

uns erwartet, daß wir diese Frage hier in Wahrnehmung<br />

unserer Pflichten entscheiden und nicht vertrösten<br />

auf eine Veränderung in unserer Verfassung,<br />

über die ich im übrigen gerne mit Ihnen weiter diskutieren<br />

möchte?<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Detlev von Larcher [SPD]: Sehen Sie sich<br />

doch die Befragungen an!)<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Das<br />

Volk hat gewiß diese Hoffnung, aber ich nehme an, es<br />

wird mittlerweile Zweifel haben, ob wir dazu in der<br />

Lage sind.<br />

Was den Einigungsvertrag anbelangt, so verlangt<br />

der, das Parlament solle darüber befinden.<br />

(Johannes Gerster [CDU/CSU]: Eben, aber in<br />

der Sache befinden!)<br />

Wir sind ja gerade dabei. Ich versuche, Ihnen klarzumachen,<br />

daß Sie unsere Möglichkeiten, die uns hier<br />

von der Verfassung gegeben sind, einengen wollen.<br />

Dagegen geht meine Rede.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau<br />

Däubler-Gmelin möchte auch noch einmal das Wort.<br />

Aber ich möchte Sie herzlich bitten, keine weiteren<br />

Zwischenfragen mehr zu stellen. Sonst kommen wir<br />

heute wirklich in Zeitprobleme. Bitte, Frau Däubler-<br />

Gmelin.<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Danke schön, Kollege<br />

Ullmann.<br />

Ich habe mich zu einer Zwischenfrage gemeldet,<br />

weil ich es furchtbar gern hätte, daß Sie als ein Vertreter<br />

der Menschen in den neuen Ländern den Kollegen<br />

einfach noch einmal sagen, ob Sie es überhaupt<br />

für möglich gehalten hätten, daß eine solche Frage,<br />

die in der Protokollnotiz angesprochen wurde, gegen<br />

die Bevölkerung, gegen die Bürgerinnen und Bürger<br />

interpretiert und ausgelegt werden darf. Das ist meine<br />

Bitte.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sagen Sie doch<br />

nicht, daß das gegen die Bevölkerung ist!)<br />

— Die CDU sagt das offensichtlich anders.<br />

Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Die<br />

Frage ist natürlich zu verneinen, und zwar aus folgendem<br />

Grund, Herr Geis: Natürlich haben wir uns unter<br />

das Dach des Grundgesetzes gestellt. Ich habe, denke<br />

ich, sehr viel dazu beigetragen, daß das geschehen ist,<br />

aber eines Grundgesetzes, in dem auch der Art. 146<br />

steht, den Sie merkwürdigerweise für verfassungswidrig<br />

halten.<br />

Ich wundere mich, wenn ich Sie und auch die von<br />

Ihnen benannten Rechtsgelehrten höre, was Sie dem<br />

Volk unterstellen: Es ist aufgeregt, es ist zur Feindseligkeit<br />

geneigt,<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat doch kei<br />

ner gesagt!)<br />

es hat die schlechte Absicht, wahrscheinlich die Todesstrafe<br />

wieder einzuführen.<br />

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das hat keiner<br />

gesagt!)<br />

Welche Meinung haben Sie eigentlich von dem Volk,<br />

von dem laut unserer Verfassung die Staatsgewalt


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2587<br />

Dr. Wolfgang Ullmann<br />

ausgehen soll und nicht irgendwelche unvernünftigen<br />

Emotionen?<br />

Meine letzte Anmerkung: Sie tragen, meine Damen<br />

und Herren der Koalition, die Verantwortung dafür,<br />

daß wir die Chance, die Diskussion über Parlamentsund<br />

Regierungssitz in den Zusammenhang mit der<br />

Verfassungsreform zu stellen, zerstören. Ich mache<br />

Sie darauf aufmerksam: Sie haben im Einigungsprozeß<br />

schon sehr viele Chancen vertan. Wollen Sie noch<br />

eine vertane Chance auf Ihre Verantwortung nehmen?<br />

Ich rate Ihnen davon ab.<br />

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />

der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun erteile<br />

ich dem Abgeordneten Dr. Heuer das Wort.<br />

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Der <strong>Bundestag</strong> steht<br />

heute vor einer großen Stunde. Erstmals in seiner Geschichte<br />

steht ein verfassungsänderndes Gesetz, zum<br />

Volksentscheid zur Abstimmung. Das zwingt uns zu<br />

einer Demokratiedebatte.<br />

Ich höre schon jetzt wieder die Zurufe „ausgerechnet<br />

Sie!" Dazu eine Bemerkung: Die Partei- und<br />

Staatsführung der DDR vertrat eine Doktrin, wonach<br />

die Kenntnis der Gesetze der Geschichte es der Partei<br />

erlaube, die Interessen des Volkes zu vertreten, ohne<br />

das Volk selbst fragen zu müssen. Ich habe mich mit<br />

dieser Doktrin mehrfach auseinandergesetzt, 1974 in<br />

einem Buch, „Gesellschaftliche Gesetze und politische<br />

Organisation" , 1989 in einem Buch „Marxismus<br />

und Demokratie". Meine Meinung war damals und<br />

heute: Ohne Mitwirkung des Volkes können seine<br />

Interessen und Wünsche nicht ermittelt werden. Daraus<br />

leite ich das persönliche Recht ab, mich heute<br />

gegen diejenigen zu wenden, die die Mitwirkung des<br />

Volkes auf die Wahlen beschränken wollen.<br />

In der Anhörung des Rechtsausschusses zur Vorbereitung<br />

der heutigen Tagung erklärte mein verehrter<br />

Kollege, Herr Professor Lerche, zu der Position der<br />

repräsentativen Demokratie als eigentlicher Demokratie:<br />

Aus dieser Verantwortung sollte es keinen<br />

Fluchtweg geben, erst recht nicht in optischer<br />

Verbrämung. Zuflucht beim Volk suchen heißt<br />

flüchten.<br />

Ich verstehe nicht, wie ein Demokrat von Flucht sprechen<br />

kann, wenn eine wichtige und bedeutsame<br />

Frage dem Volk zur direkten Entscheidung vorgelegt<br />

wird.<br />

-<br />

Herr Geis hat hier gesagt: Wir, d. h. die Abgeordneten,<br />

haben die Möglichkeit und Zeit, uns den Sachverstand<br />

aneignen zu können, offenbar im Gegensatz<br />

zum Volk. Mich erinnert das an eine Formulierung aus<br />

den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, wo gesagt<br />

wurde, es zieme den Untertanen nicht, an die Handlung<br />

der Obrigkeit das Maß ihres beschränkten Verstandes<br />

anzulegen.<br />

Wohltuend gegenüber dem war die Erklärung von<br />

Rainer Barzel vom 24. April 1958, daß niemand von<br />

der CDU/CSU behauptet, daß es undemokratisch sei,<br />

eine Ausweitung des plebiszitären Charakters unse<br />

res Grundgesetzes zu fördern. Unser Volk ist Souverän,<br />

nicht Orakel und nicht Hampelmann, erklärte er<br />

damals.<br />

Die SPD hat jetzt den Entwurf einer Grundgesetzänderung<br />

eingebracht, die festlegt, daß der Sitz von<br />

Parlament und Regierung durch Volksentscheid festgelegt<br />

wird, sowie ein entsprechendes Gesetz. An der<br />

Zulässigkeit einer solchen Grundgesetzänderung besteht<br />

kein Zweifel. Bestritten wird dagegen ihre<br />

Zweckmäßigkeit.<br />

Als Argument dagegen wird immer wieder die Rolle<br />

von Volksbegehren und Volksentscheid in der Weimarer<br />

Republik gebraucht; hierzu hat schon die Abgeordnete<br />

Däubler-Gmelin überzeugend argumentiert.<br />

Die Weimarer Republik ist nicht an den acht<br />

Volksbegehren — mit zwei Volksentscheiden — zugrunde<br />

gegangen, sondern an ganz anderen, weitgehend<br />

jenseits des Verfassungsrechts liegenden Fragen<br />

wie dem Streben nach Revision des Versailler<br />

Vertrages, der Nutzung der Arbeitslosigkeit durch reaktionäre<br />

Kräfte, der Spaltung der Arbeiterbewegung,<br />

auch der Weigerung der KPD, diese Republik<br />

gegen den Faschismus zu verteidigen.<br />

Ich möchte noch auf einige ernsthafte Bedenken<br />

bezug nehmen: Es wird die Frage gestellt, ob es sich<br />

hier wirklich um eine derart wichtige Frage handelt.<br />

Tatsächlich ist bei vielen, meines Erachtens wichtigeren<br />

Fragen dieser Weg nicht gegangen worden. Ich<br />

erinnere an den Kampf gegen Aufrüstung in den 50er<br />

Jahren, an die Auseinandersetzungen um die Notstandsverfassung<br />

Ende der 60er Jahre und an die Herstellung<br />

der Einheit Deutschlands; die Bestätigung<br />

einer neuen Verfassung durch Volksentscheid steht<br />

noch zur Debatte.<br />

Bedenken gibt es auch gegen die Einleitung eines<br />

Volksentscheids von oben. Der Sachverständige Professor<br />

Preuß erklärte in der Anhörung, daß es als problematisch<br />

anzusehen sei, staatlichen Organen das<br />

Recht zur Initiative eines Volksentscheids einzuräumen.<br />

Es bestehe die Gefahr einer autoritären Manipulation<br />

zu Zwecken der plebiszitären Akklamation, womit<br />

der demokratische Charakter plesbizitärer Beteiligung<br />

verlorenginge.<br />

Tatsächlich muß sich die SPD fragen lassen, warum<br />

sie plötzlich ein solches Grundsatzproblem aufwirft,<br />

es dann aber nur für einen Fall beantwortet, das demokratietheoretische<br />

Grundproblem jedoch nicht<br />

gesetzgeberisch in Ang riff nimmt.<br />

Schließlich kann der dritte Einwand erhoben werden,<br />

daß der Volksentscheid einen mündigen Bürger<br />

voraussetzt, daß hier Fehlentscheidungen vorkommen<br />

können. Tatsächlich kann auch das Instrument<br />

der Volksgesetzgebung, wie es in Arbeiten des Gaismarer<br />

Kreises heißt, nur so gut sein wie seine Einbettung<br />

in andere Formen der Bürgerbeteiligung: Anhörungsrechte,<br />

Mitwirkungsrechte in Bet rieben, Schulen,<br />

Kommunen wie die Entwicklung der Zivilgesellschaft<br />

und der Öffentlichkeit überhaupt.<br />

Es wird schließlich der Einwand erhoben, daß es<br />

sich um einen unsystematischen Einstieg handele. Ich<br />

meine aber, daß alle Anfänge zunächst unsystematisch<br />

sind. Die Systematik wird erst später von der<br />

Wissenschaft hergestellt; die Politik muß beginnen.


2588 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Uwe-Jens Heuer<br />

Trotz der dargelegten Bedenken hinsichtich der<br />

Konsequenz des Vorgehens sind wir für diesen Einstieg<br />

in eine Periode der Verbindung von repräsentativer<br />

und unmittelbarer Demokratie.<br />

Meine Damen und Herren, 1918 führten Trotzki,<br />

Lenin und Kautsky eine Demokratiedebatte. In dieser<br />

Diskussion erklärte Karl Kautsky, daß, bevor das Volk<br />

die Macht ergreifen könne, es erst lernen müsse. Bevor<br />

man ein Pferd besteige, müsse man erst, wie er, in<br />

eine Reitschule gegangen sein. Trotzki antwortete<br />

ihm, daß man Reiten nur in dieser Tätigkeit selbst lernen<br />

könne.<br />

Meine 17 Damen und Herren von der CDU/CSU<br />

und der FDP, haben Sie den Mut, das Volk auf das<br />

Pferd zu setzen!<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat<br />

der Abgeordnete van Essen das Wort.<br />

Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Wir bestreiten es überhaupt nicht:<br />

Es können gewichtige Gründe für eine stärkere Mitbestimmung<br />

des Volkes bei politischen Entscheidungen<br />

ins Feld geführt werden. Die friedliche Revolution<br />

in der ehemaligen DDR hat ein hohes Maß an Besonnenheit<br />

und Vernunft der Bevölkerung gezeigt.<br />

Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Zeit reif für die Einführung<br />

eines Volksentscheides?<br />

Trotzdem hat die Mehrzahl der Sachverständigen,<br />

die der Rechtsausschuß in der vergangenen Woche<br />

gehört hat, massive, insbesondere verfassungspolitische<br />

Bedenken gegen den Entwurf der SPD vorgebracht<br />

und damit deutlich die ablehnende Haltung<br />

der FDP gestützt.<br />

Frau Däubler, wir haben diese Frage übrigens sehr<br />

sorgfältig und ausgiebig in der Fraktion diskutiert und<br />

unsere Position mit nur einer Gegenstimme und einer<br />

Enthaltung beschlossen.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter<br />

van Essen, der Abgeordnete Schmude<br />

möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.<br />

Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident, im Hinblick<br />

auf Ihre Ausführungen zur Zeit möchte ich keine Zwischenfragen<br />

gestatten. Außerdem glaube ich, daß<br />

man auch mit Zwischenfragen aus einem Zwergpony<br />

keinen rassigen Araber machen kann.<br />

(Beifall bei der FDP — Detlev von - Larcher<br />

[SPD]: Meinen Sie sich selbst oder die Sa<br />

che?)<br />

Von den Sachverständigen ist zu Recht insbesondere<br />

darauf hingewiesen worden, daß nach dem<br />

Grundgesetz mit der parlamentarischen Macht<br />

gleichzeitig die Verantwortung übertragen wird, für<br />

andere zu entscheiden. Aus dieser Verantwortung<br />

darf es keinen Fluchtweg geben, besonders dann<br />

nicht, wenn dieser so offenkundig eine Verlegenheitslösung<br />

ist wie hier.<br />

Die SPD verbrämt dies in ihrer Begründung damit,<br />

daß die Frage des Regierungssitzes die Bürgerinnen<br />

und Bürger in außerordentlichem Maße bewegt. Bei<br />

der Bandbreite dessen, was bei unseren Wählern zu<br />

starken Emotionen führt, wirft diese alleinige und<br />

gleichzeitig dünne Begründung für eine so schwerwiegende<br />

Maßnahme wie eine Verfassungsergänzung<br />

die Frage auf, welchen Stellenwert die SPD dem<br />

unabängigen Parlament noch beimißt.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Sollen wir nur noch bei den das Volk nicht interessierenden<br />

Fragen der Entscheidungsträger sein? Gerade<br />

als neugewählter Abgeordneter lasse ich mir auch bei<br />

unangenehmen und schwierigen Fragen die Verantwortung<br />

nicht aus der Hand nehmen.<br />

(Zustimmung bei der FDP)<br />

Es kann und darf nicht nach Belieben auf das Volk<br />

zurückgegriffen werden.<br />

Eine zweite Überlegung macht die Fragwürdigkeit<br />

des vorliegenden Entwurfs noch deutlicher. Die<br />

grundlegende Entscheidung über den Beitritt der<br />

Länder der DDR zur Bundesrepublik, aber auch die<br />

Bestimmung Berlins zur Hauptstadt sind ohne Rückgriffe<br />

auf das Volk entschieden worden. Es bedeutet<br />

doch gerade keine Anerkennung des Volkes als<br />

Souverän, wenn es nun in einer demgegenüber nachrangigen<br />

Frage aus bloßer Entscheidungsschwäche<br />

der dazu eigentlich Berufenen gefragt wird.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

So verfassungspolitisch wünschenswert die Diskussion<br />

über eine stärkere Einbeziehung des Bürgers in<br />

politische Entscheidungen sein mag, wobei ich persönlich<br />

aus meiner Zurückhaltung in dieser Frage keinen<br />

Hehl mache, so schädlich ist ein Hauruckverfahren,<br />

wie es hier nun versucht wird. Gerade die sehr<br />

unterschiedlichen Erfahrungen in einigen Bundesländern<br />

und auch im Ausland zwingen zu sorgfältigen<br />

Überlegungen, wo und unter welchen Bedingungen<br />

stärkere pelbiszitäre Elemente erwünscht sein können.<br />

Dabei ist ein Punkt weitgehend unstrittig: Plebiszite<br />

helfen nicht bei der Entscheidung besonders<br />

komplexer Sachverhalte; sie behindern gerade in<br />

diesem Bereich notwendige und sachdienliche Kompromisse.<br />

Der SPD-Entwurf verschleiert dies nur, indem er<br />

ausschließlich die Frage der Lokalität des Parlamentsund<br />

Regierungssitzes zur Entscheidung stellt. Wichtige<br />

andere entscheidungsbedürftige Bereiche wie die<br />

Zeitachse bei einer Verlagerung nach Berlin und deren<br />

Kosten bleiben völlig offen. Ein Ende der Diskussion<br />

und eine konsensfördernde Wirkung des Volksentscheids<br />

sind damit gerade nicht zu erwarten.<br />

Völlig ungeklärt ist auch die Frage, in welcher Mindestbeteiligung<br />

von Stimmberechtigten das Plebiszit<br />

eine Wirkung entfalten soll. Die Frage ist auch deshalb<br />

sehr aktuell, weil bei der Bürgerschaftswahl in<br />

Hamburg die Gruppe der Nichtwähler bereits die<br />

stärkste Partei war.<br />

(Uwe Lambinus [SPD]: Warum wohl?)<br />

Gerade nach den Erfahrungen in Weimar sind auch<br />

hier sorgfältige Überlegungen vonnöten.<br />

Das Stichwort Kosten ist von mir in anderem Zusammenhang<br />

bereits genannt worden. Dabei drängt sich


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2589<br />

Jörg van Essen<br />

die Frage auch bei einem Volksentscheid selbst auf.<br />

Im Entwurf der SPD heißt es, diese seien noch näher<br />

zu bestimmen. Wer bezahlt eigentlich den zu erwartenden<br />

aufwendigen und langwierigen Wahlkampf,<br />

wer die Volksabstimmung selbst? Sicher werden sich<br />

finanzkräftige Interessengruppen auf beiden Seiten<br />

finden. Der größte Teil wird aber aus öffentlichen Kassen,<br />

etwa der beteiligten Städte, kommen und damit<br />

vom Steuerzahler zu tragen sein. Ich denke, wir haben<br />

bei der Situation, in der wir uns im Augenblick in diesem<br />

Land befinden, sicherlich viele Gründe, Geld besser<br />

einzusetzen als hier.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Der Auftrag aus der Protokollerklärung zum Einigungsvertrag<br />

ist eindeutig. Danach bleibt die Entscheidung<br />

über den Parlaments- und Regierungssitz<br />

den gesetzgebenden Körperschaften, also <strong>Bundestag</strong><br />

und Bundesrat, vorbehalten. Trotz unübersehbarer<br />

Kosten und der vielen aufgezeigten Nachteile will die<br />

SPD aus ihrer parlamentarischen Verantwortung fliehen.<br />

(Lachen bei der SPD)<br />

Mit uns, der FDP, ist das nicht zu machen.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort<br />

hat der Abgeordnete Gerster.<br />

Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir<br />

diskutieren heute im Vorfeld der großen Debatte morgen<br />

im wesentlichen Verfahrensfragen. Das ist so etwas<br />

wie eine Generalprobe. Ich hoffe, daß das alte<br />

Prinzip gilt, daß einer schlechten Generalprobe eine<br />

gute Aufführung folgt.<br />

Ich finde, Frau Kollegin Däubler-Gmelin — und Sie<br />

als erste Rednerin sind für die Schärfe verantwortlich,<br />

die hier in die Debatte hineingekommen ist —,<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Danke für<br />

die Blumen, Herr Kollege! — Weitere Zurufe<br />

von der SPD)<br />

wir sollten diese Grundsatzfragen mit etwas mehr Gelassenheit<br />

und damit auch Ernst diskutieren. Es hat<br />

mir nicht gefallen, wie Sie das hier gemacht haben.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mir gefällt<br />

auch nicht, was Sie machen! Sie schreien<br />

immer bloß dazwischen, auch jetzt sind Sie<br />

schon wieder dabei!) -<br />

— Nein, ich schreie überhaupt nicht, ich sage das in<br />

aller Ruhe. Was nützt es, pausenlos zu sagen, Sie hätten<br />

recht und die anderen unrecht.<br />

Ich will zu zwei Punkten etwas sagen: erstens zur<br />

Grundfrage, zu den Volksentscheiden, und zweitens<br />

zu dem konkreten, aktuellen Anlaß.<br />

Die repräsentative Demokratie verbindet politische<br />

Führung mit demokratischer Verantwortung. Mit anderen<br />

Worten: Es gibt grundsätzliche Erwägungen,<br />

die gegen Volksentscheide sprechen. Das ist keine<br />

aktuelle und modische Feststellung. Diese Feststellung<br />

begleitet unser Grundgesetz von der ersten<br />

Stunde des Entstehens über den Parlamentarischen<br />

Rat bis heute. Es waren doch die Väter des Grundgesetzes,<br />

die aus verantwortungsvollen, grundsätzlichen<br />

Erwägungen und aus einem klaren Ja zur Demokratie<br />

Volksentscheide — mit Ausnahme der Länderneugliederung<br />

— abgelehnt haben.<br />

Ich will das in drei Punkten noch einmal kurz nennen:<br />

Gerade bei Angelegenheiten, die der <strong>Bundestag</strong><br />

zu entscheiden hat, liegen den Entscheidungen oft<br />

sehr schwierige und differenzierte Abwägungsprozesse<br />

zugrunde. Die Fragen, die man per Volksentscheid<br />

zur Entscheidung stellen kann, müssen vernünftigerweise<br />

überschaubar und für den Bürger be<br />

urteilbar sein.<br />

(Uwe Lambinus [SPD]: Sehr wahr!)<br />

Und wenn hier Fragen an die Entscheidungsmöglichkeit<br />

des Bürgers gestellt werden, dann doch nicht deshalb,<br />

weil man dem Bürger nicht etwa zutrauen<br />

würde, er werde die einzelnen Fragen nicht verstehen<br />

können, sondern deshalb, weil es Realität ist, daß wir<br />

Politiker uns bedeutend mehr mit politischen Tagesfragen<br />

auseinandersetzen als der Normalbürger, der<br />

— aus welchen Gründen auch immer — vielleicht ein<br />

bißchen öfter an den Fußball, den Sport überhaupt, an<br />

musische Themen, vielleicht auch an Literatur denkt,<br />

als Politiker das tun, die sich den ganzen Tag mit politischen<br />

Sachfragen auseinandersetzen.<br />

(Franz Heinrich Krey [CDU/CSU]: Leider ist<br />

das so!)<br />

Sie können sicher sein — das ist kein schlechtes Zeugnis<br />

für die Bevölkerung — , daß es immer viele Bürger<br />

geben wird, die eine gewisse Grundinformation über<br />

Politik wollen, die aber — aus welchen Gründen auch<br />

immer — nicht in sehr komplizierte Einzelfragen einsteigen<br />

wollen, sondern — im Gegenteil — diese Fragen<br />

gerade beim Parlament abgeben und das Parlament<br />

für sich entscheiden lassen wollen.<br />

Weil das so ist, kann man Politik eben nicht nach<br />

dem einfachen Ja/Nein-Schema gestalten, das Volksentscheiden<br />

naturgemäß zugrunde liegt, sondern es<br />

müssen ganz komplizierte Abwägungsprozesse erfolgen.<br />

Das wollte der Kollege Geis hier vortragen, als er<br />

sagte, daß er Zweifel habe, daß man die Palette der<br />

politischen Fragen Volksentscheiden unterlegen<br />

kann.<br />

Ein zweiter Punkt: Außerhalb überschaubarer Verhältnisse<br />

begründen plebiszitäre Komponenten die<br />

Gefahr unangemessener Emotionalisierung. Der Demagogie<br />

würden Tür und Tor geöffnet; die Folgen<br />

wären Unberechenbarkeit und Unsicherheit. Das<br />

heißt: Es ist völlig unerträglich, wenn man den selbsternannten<br />

Demagogen, die an der Ecke stehen, die<br />

nicht einmal durch Nichtwahl bestraft werden können,<br />

sondern die verschwunden sind, wenn die Entscheidung<br />

gefallen ist, die Emotionalisierung überläßt.<br />

Dann wird weniger Sachlichkeit, weniger Verläßlichkeit<br />

herzustellen sein. Und das würde letzten<br />

Endes auch der Demokratie schaden.<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Würden<br />

Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Heuer<br />

beantworten, Herr Abgeordneter Gerster?


2590 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode - <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Dem Kollegen<br />

von der PDS gestatte ich keine Zwischenfrage.<br />

Mein lieber Herr Heuer, Sie sind ja fast doppeltes<br />

Ehrenmitglied der SED, seit 1948 Mitglied dieser Partei.<br />

Daß Sie sich zum Fürsprecher von mehr Demokratie<br />

machen, heißt den Bock zum Gärtner machen. Darf<br />

ich daran erinnern, daß es gerade zwei Jahre her ist,<br />

daß Sie ein System unterstützt haben, das freie<br />

Wahlen gar nicht zugelassen und unfreie Wahlen sogar<br />

noch manipuliert hat, nämlich die Kommunalwahl<br />

1989.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie antworten auf<br />

eine nicht zugelassene Zwischenfrage!)<br />

Wenn Sie sich hier hinstellen und für Demokratie reden,<br />

sollte sich die SPD sehr genau überlegen, in welcher<br />

Gesellschaft sie sich mit ihrem Ansinnen bewegt.<br />

Ich rate Ihnen, hier lieber den Mund zu halten. Sie<br />

sind kein Fürsprecher für mehr Demokratie.<br />

(Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]<br />

begibt sich zum amtierenden Präsidenten)<br />

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Es ist das<br />

Recht des Abgeordneten, Herr Dr. Heuer, eine Zwischenfrage<br />

nicht zuzulassen.<br />

Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Dritte Bemerkung,<br />

meine Damen, meine Herren: Träte eine<br />

Entscheidung durch den Volkssouverän als Möglichkeit<br />

der politischen Sachentscheidung parallel neben<br />

die parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen, so<br />

würden wir die Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft<br />

des Parlaments zwangsläufig<br />

beschädigen. Nicht zuletzt wäre es für die gewählte<br />

parlamentarische Mehrheit dann kaum noch möglich,<br />

eine in sich logisch zusammenhängende Gesamtpolitik<br />

zu verfolgen.<br />

Es ist doch die Wahrheit — hierzu hat Frau Däubler<br />

Gmelin in ihrer Intervention meines Erachtens die<br />

Entwicklung der Weimarer Republik zumindest, um<br />

es vorsichtig auszudrücken, nicht zutreffend dargestellt<br />

— , daß gerade die Erfahrungen mit Volksentscheiden,<br />

mit Volksbegehren, die in der Weimarer<br />

Republik so negativ waren, die Verfassungsväter,<br />

auch die von der SPD, veranlaßt haben, Volksbegehren<br />

und Volksentscheide auf die Länderneugliederung<br />

zu beschränken und ansonsten auszuschließen.<br />

Das ist die historische Wahrheit. Ein Nachlesen etwa<br />

der Motive unseres Grundgesetzes macht sie deutlich.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />

-<br />

falsch!)<br />

( V o r s i t z : Vizepräsident Hans Klein)<br />

Deswegen gibt es, sagen wir von der CDU/CSU,<br />

gewichtige Gründe, aus denen wir gegen Volksbegehren<br />

und Volksentscheide über den Verfassungsrahmen<br />

hinaus eintreten.<br />

Es dekuvriert das Vorgehen der SPD, daß es ihr,<br />

wenn sie jetzt dieses Thema erörtert, letzten Endes<br />

weniger um die Frage Bonn oder Berlin geht, sondern<br />

nur um einen Einstieg in Volksentscheide allgemein<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Auch ei<br />

nen Einstieg! Nicht nur einen Einstieg!)<br />

soweit sie so argumentiert, wie es hier geschehen<br />

ist.<br />

Ich halte den Vorschlag der SPD nicht nur für kurios,<br />

sondern auch für wenig glaubwürdig, Frau Däubler-Gmelin.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Natürlich! Wie<br />

können Sie auch etwas anderes sagen?)<br />

— Ich werde Ihnen das gleich begründen — . Frau<br />

Däubler-Gmelin hat vorgetragen, der <strong>Bundestag</strong> und<br />

der Bundesrat sollten in dieser Woche entscheiden,<br />

und dann solle ein Volksentscheid kommen.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Richtig!)<br />

Aber nach der Verfassung ist diese Entscheidung bindend.<br />

Sie wollen, daß diese Entscheidung zunächst<br />

nach der Verfassung bindend getroffen wird. Doch<br />

dann soll sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr<br />

bindend sein, und das Volk soll letzten Endes entscheiden.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist Gerster<br />

Logik! — Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]:<br />

Er dreht sich im Kreis! Er hat nichts verstan<br />

den!)<br />

Es kann doch nicht wahr sein, daß Sie dies mit der<br />

Verfassung machen wollen. Das ist doch nicht richtig.<br />

Es ist auch nicht glaubwürdig, Frau Kollegin, was<br />

Sie betreiben.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Das kann er nicht<br />

verstehen!)<br />

Ich muß Sie daran erinnern, daß es bei dem epochalen<br />

Ereignis der Vereingiung Deutschlands — als es darum<br />

ging, ob wir den Bürgern der neuen Bundesländer<br />

sofort die Möglichkeit der unmittelbaren Wahl<br />

und Mitentscheidung geben, was ein gesamtdeutsches<br />

Parlament angeht — just die SPD war, die eine<br />

Grundgesetzänderung, um vorgezogene Wahlen herbeiführen<br />

zu können, ablehnte.<br />

Das heißt, wenn Sie jetzt einen Volksentscheid wegen<br />

der Entscheidung zwischen Bonn und Berlin wollen,<br />

dann ist das in zweifacher Weise im Widerspruch<br />

zu ihrem bisherigen Verhalten.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Nein!)<br />

Es ist widersprüchlich, weil Sie im vorigen Jahr dem<br />

Einigungsvertrag zugestimmt haben, in dem festgelegt<br />

ist, daß das gesamtdeutsche Parlament die Entscheidung<br />

über den Sitz der Regierung und des Parlaments<br />

zu treffen hat. Es ist zudem unglaubwürdig,<br />

weil Sie im vorigen Jahr den Bürgern der neuen Bundesländer<br />

einschließlich Opposition<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie müssen ge<br />

rade von Glaubwürdigkeit reden!)<br />

die Möglichkeit genommen haben, mit dem Beitritt<br />

sofort ein gesamtdeutsches Parlament gemeinsam mit<br />

uns zu wählen. Hier haben Sie eine Grundgesetzergänzung<br />

abgelehnt.<br />

Mit anderen Worten: Wenn Sie heute oder vor<br />

14 Tagen nach Ihrem Parteitag plötzlich das Grundgesetz<br />

ändern wollen,<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Nicht plötzlich!)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2591<br />

Johannes Gerster (Mainz)<br />

um einen Volksentscheid über den Regierungssitz<br />

herbeizuführen, müssen Sie sich entgegenhalten lassen,<br />

daß Sie bei viel wichtigeren Entscheidungen<br />

nicht bereit waren, das Grundgesetz zu ändern, um<br />

einen Volksentscheid herbeizuführen,<br />

(Widerspruch bei der SPD)<br />

und müssen Sie sich entgegenhalten lassen, daß es<br />

letzten Endes<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist an<br />

den Haaren herbeigezogen!)<br />

bei Ihnen um die Frage geht: Wie kann ich mich der<br />

morgigen Entscheidung des Parlamentes für oder gegen<br />

Bonn entziehen?<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist<br />

falsch! — Detlev von Larcher [SPD]: Sie wis<br />

sen, daß das Quatsch ist!)<br />

Das nennen wir die Flucht aus der Verantwortung.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —<br />

Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben<br />

doch die Schwierigkeit in der Sache, nicht<br />

wir! Die CDU ist doch in dieser Frage zutiefst<br />

zerstritten, nicht wir!)<br />

Wenn Sie einen Volksentscheid über diese Frage<br />

wirklich immer gewollt haben, hätten Sie früher kommen<br />

müssen. Wenn Sie glauben, die Bürger zu begeistern,<br />

indem Sie jetzt, nachdem alle Argumente für<br />

und wider in endlosen <strong>Sitzung</strong>en und Besprechungen<br />

ausgetauscht sind, fünf vor zwölf aus der Entscheidung<br />

des Parlaments, dem Sie selber das zugewiesen<br />

haben, aussteigen,<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sie wollen<br />

doch vertagen!)<br />

dann sage ich Ihnen einfach: Sie täuschen sich. Die<br />

Bürger wollen eine Entscheidung.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Die Bür<br />

ger wollen selber entscheiden!)<br />

Die Bürger wollen, daß die Politiker ihre Tätigkeit in<br />

diesem ersten gesamtdeutschen Parlament nicht jahrelang<br />

dieser Frage zuwenden,<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Sie wissen ja, was<br />

die Bürger wollen!)<br />

sondern daß sie erheblich wichtigere Fragen lösen,<br />

die — das sei zugegeben — in den letzten Wochen im<br />

Parlament wegen der Entscheidung zwischen Bonn<br />

und Berlin zu kurz gekommen sind.<br />

Mit anderen Worten: Wir sind gut beraten, wenn wir<br />

das, was sich regional zum Teil emotionalisiert, -<br />

was<br />

natürlich Kreise über die regionalen Interessen hinaus<br />

schlägt, möglichst zügig entscheiden. Wir sollten sehen,<br />

daß dies eine wichtige Entscheidung ist, daß aber<br />

bedeutend wichtigere Entscheidungen durch dieses<br />

Parlament vorzubereiten, durchzuführen, zu diskutieren<br />

und letzten Endes auch endgültig zu treffen<br />

sind.<br />

Wir lehnen deshalb dieses Begehren ab. Ich sage<br />

noch einmal: Die Grundentscheidung über Volksentscheide<br />

hat nichts mit der Frage zu tun, was man den<br />

Bürgern letzten Endes zutraut, sondern hat damit zu<br />

tun, welcher Art von Demokratie man die größere Sta<br />

bilität und die bessere Wirkungskraft sowie die bessere<br />

Dienstleistung für den Bürger zutraut. Dazu war<br />

die Meinung der verfassungsgebenden Versammlung<br />

bei der Beratung unseres Grundgesetzes, daß die repräsentative<br />

Form der Demokratie der bessere Weg<br />

ist — ich unterstreiche diese Meinung —; sie hat sich<br />

auch mehr als 40 Jahre bewährt. Gerade die Bürger in<br />

den neuen Bundesländern haben natürlich auch demonstriert,<br />

um zu dieser Verfassung zu kommen, die<br />

für sie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Freiheit<br />

garantiert hat.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Das bestreitet<br />

keiner! — Norbert Geis [CDU/CSU]: Sehr<br />

richtig!)<br />

Der zweite Punkt ist: Wir sind der Meinung, daß wir<br />

uns der Verantwortung nicht entziehen sollten, so wie<br />

wir in Vertretung des Volkes und für das Volk gewählt<br />

worden sind, und zügig entscheiden sollten, damit<br />

endlich Planungen stattfinden können.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Lar<br />

cher [SPD]: Sie weigern sich, dazuzuler<br />

nen!)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile zu einer Erklärung<br />

nach § 30 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten<br />

Heuer das Wort.<br />

(Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Das habe ich<br />

kommen sehen!)<br />

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Herr Gerster hat<br />

erklärt, er sei nicht bereit, mir zu antworten, weil ich es<br />

sei, weil ich aus der SED komme, und weil die SED die<br />

Kommunalwahlen gefälscht habe und weil ich seit<br />

1948 in der SED gewesen sei.<br />

Mit meiner Geschichte könnte Herr Gerster sich<br />

befassen. Er könnte die beiden Bücher lesen, die ich<br />

hier genannt habe. Dann wäre ich gern bereit, mich<br />

mit ihm darüber, über mein und sein Demokratieverständnis<br />

zu unterhalten. Dabei könnten interessante<br />

Ergebnisse herauskommen.<br />

Er hat mir weiterhin gesagt, ich sollte in diesem<br />

Kreise nicht das Wort ergreifen. Ich bin in Sachsen für<br />

den <strong>Bundestag</strong> gewählt worden, um hier die Interessen<br />

meiner Wähler zu vertreten.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Wo waren Sie<br />

denn beim Volksentscheid am 17. Juni<br />

1953?)<br />

Ich kann mir nicht von Ihnen den Mund verbieten lassen.<br />

Ich glaube, daß das nicht möglich ist. Ich muß das<br />

tun; ich bin dafür gewählt worden, und ich nehme<br />

dieses Recht für mich in Anspruch.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gemlin [SPD]: Sie haben<br />

völlig recht!)<br />

Noch eine Bemerkung: Vor einer Woche ist hier von<br />

einem Abgeordneten der CDU erklärt worden, man<br />

solle hier miteinander hart in der Form, aber vernünftig<br />

in der Sache umgehen; auf lateinisch: fortiter in re,<br />

suaviter in modo.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Das kann Herr<br />

Gerster nicht!)


2592 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Uwe-Jens Heuer<br />

Dann wurde ergänzt, das gelte aber nicht für die PDS.<br />

Ich meine, daß das keine Form des Umgangs miteinander<br />

ist. Ich meine, daß sich politische Kultur dann<br />

zeigt, wenn man Sieger ist, und daß ein Sieger seine<br />

politische Kultur beweisen sollte. Ich meine, daß die<br />

CDU/CSU da einiges zu lernen hat.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />

Abgeordneten der SPD)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Herren,<br />

ich gebe jetzt das Wort für eine Kurzintervention<br />

dem Abgeordneten Gerster. Ich weise allerdings darauf<br />

hin, daß Herr Dr. Heuer noch einmal die Möglichkeit<br />

hat, darauf zu antworten. So sieht es unsere Geschäftsordnung<br />

vor. Ich möchte nur sagen: Wie immer<br />

es verläuft — damit wollen wir es dann aber bewenden<br />

lassen, sonst wird es eine Dialogveranstaltung.<br />

Herr Kollege Gerster, Sie haben das Wort.<br />

Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Präsident,<br />

Herr Heuer hat behauptet, ich hätte mich geweigert,<br />

ihm eine Antwort zu geben. Das ist unzutreffend.<br />

Ich habe mich geweigert, ihm innerhalb meiner Rede<br />

eine Zwischenfrage zu gestatten.<br />

Zweiter Punkt. Er hat praktisch behauptet, ich<br />

wollte ihm das Wort verbieten. Das ist ebenfalls unzutreffend.<br />

Ich habe lediglich ausgeführt, daß Sie, Herr<br />

Heuer, einer der schlechtesten Fürsprecher dieses<br />

Hauses in Sachen Demokratie sind, der Sie über<br />

40 Jahre für ein undemokratisches System, das Menschen<br />

und Menschenrechte mit Füßen getreten hat,<br />

Verantwortung tragen.<br />

Ich bedanke mich.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Lar<br />

cher [SPD]: Was ist mit euren Blockflöten?)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort nach § 31 unserer<br />

Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Lüder.<br />

Wolfgang Lüder (FDP): Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Nachdem in der Debatte einerseits<br />

zum Teil generell Argumente über die Frage der<br />

Wünschbarkeit von Volksentscheiden und andererseits<br />

die konkrete Frage Volksentscheid über die<br />

Frage Berlin oder Bonn miteinander vermengt worden<br />

sind, erkläre ich, daß mein Nein zu den Anträgen der<br />

SPD in der heutigen namentlichen Abstimmung ausschließlich<br />

damit begründet ist, daß ich gegen ein vorgezogenes,<br />

punktuelles, den Parlamentsbeschluß umgehendes<br />

Gesetzesverfahren bin, daß ich mir aber die<br />

Abstimmung zu Volksentscheiden und - insbesondere<br />

zu Volksbegehren im Rahmen der Verfassungsreform,<br />

die wir in dieser Legislaturperiode noch vorhaben,<br />

offenhalte.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aussprache.<br />

Wie bereits vor der Aussprache mitgeteilt, soll die<br />

Abstimmung nach der <strong>Sitzung</strong>sunterbrechung, die<br />

sich an die Fragestunde und an die Aktuelle Stunde<br />

anschließen wird, um 18 Uhr stattfinden. Sind Sie damit<br />

einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch.<br />

Dann können wir so verfahren.<br />

Ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7<br />

auf:<br />

ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses<br />

nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />

(Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Förderung<br />

von Investitionen und Schaffung von<br />

Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung<br />

steuerrechtlicher und anderer Vorschriften<br />

(Steueränderungsgesetz 1991<br />

— StÄndG 1991)<br />

—Drucksachen 12/219, 12/402, 12/459, 12/562,<br />

12/698, 12/768 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordneter Dr. Peter Struck<br />

ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses<br />

nach Artikel 77 des Grundgesetzes<br />

(Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über<br />

Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen<br />

Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen<br />

in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages<br />

genannten Gebiet (Haushaltsbegleitgesetz<br />

1991 — HBeglG 1991)<br />

—Drucksachen 12/221, 12/401, 12/461, 12/581,<br />

12/697, 12/769 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordneter Dr. Peter Struck<br />

Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht?<br />

— Herr Kollege Struck.<br />

Dr. Peter Struck (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />

Der Vermittlungsausschuß hat über die in Rede stehenden<br />

Gesetze 15 bis 16 Stunden getagt. Ich verspreche<br />

Ihnen aber, daß meine Redezeit etwas kürzer<br />

sein wird als die Tagungsdauer.<br />

Ich möchte zunächst den Mitgliedern der Verhandlungsdelegation<br />

auf seiten der Regierungskoalition<br />

und der von der CDU regierten Länder meinen Dank<br />

über das Ergebnis dieser Verhandlungen aussprechen,<br />

die heute dem <strong>Bundestag</strong> und morgen dem Bundesrat<br />

zur Entscheidung vorliegen werden. Ganz persönlich<br />

möchte ich mich bei Ihnen, Herr Kollege<br />

Blens, Herr Staatssekretär Grünewald und auch Herr<br />

Kollege Gattermann, für die sehr faire Art und Weise<br />

der Zusammenarbeit bedanken.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP)<br />

Ich glaube, dieses Kompliment können Sie sicherlich<br />

auch uns machen, weil wir alle von dem Bestreben<br />

geleitet waren, in dieser komplizierten Materie doch<br />

zu einer Einigung zu kommen.<br />

(Hans H. Gattermann [FDP]: Wird ausdrück<br />

lich bestätigt!)<br />

Ich habe den Auftrag, dem <strong>Bundestag</strong> über die Beschlußempfehlung<br />

des Vermittlungsausschusses kurz<br />

Bericht zu erstatten. Ich möchte mich jetzt nicht über<br />

einzelne Vorschriften mit Ihnen auslassen, sondern<br />

möchte nur die wesentlichen Punkte nennen: Ich<br />

stelle für den Vermittlungsausschuß fest, daß der Vermittlungsausschuß<br />

Änderungsvorschläge gemacht<br />

hat zum Haushaltsbegleitgesetz und zum Steuerän-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2593<br />

Dr. Peter Struck<br />

derungsgesetz. Der Vermittlungsausschuß hat keine<br />

Vorschläge, die heute etwa zur Abstimmung anstehen,<br />

zum sogenannten Solidaritätsgesetz gemacht.<br />

Das ist nicht unsere Angelegenheit, sondern das wird<br />

möglicherweise morgen im Bundesrat noch einmal<br />

angesprochen werden.<br />

Für uns im Vermittlungsausschuß war wichtig, daß<br />

wir uns alle von dem Bestreben leiten ließen, die notwendigen<br />

finanziellen Voraussetzungen für den Aufbau<br />

in den neuen deutschen Ländern ab 1. Juli dieses<br />

Jahres zu schaffen. Dies bedeutete auch, daß alle bemüht<br />

waren, zu einem Konsens zu kommen. Dieser<br />

Konsens bezieht sich sowohl auf das Thema Gewerbekapital-<br />

und Vermögensteuer, bei dem festgestellt<br />

worden ist, daß grundsätzlich beide Gesetze eine volle<br />

Anwendung finden, die Steuer wegen der bestehenden<br />

Verwaltungsschwierigkeiten in den neuen Ländern<br />

jedoch für zwei Jahre nicht erhoben und auch<br />

nicht nacherhoben wird.<br />

Wir haben dann auch das Anrufungsbegehren des<br />

Bundesrates, was eine bessere Finanzierung im Rahmen<br />

des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes<br />

angeht, aufgegriffen. Der Vermittlungsausschuß hat<br />

auch die Vermittlungsbegehren zum Zinsanpassungsgesetz<br />

und zur steuerlichen Behandlung von<br />

Handelsschiffen aufgegriffen.<br />

Von besonderer Bedeutung war auch, daß wir uns<br />

im Vermittlungsausschuß auf eine Änderung bei der<br />

Investitionszulage im Fördergebiet einigen konnten,<br />

die für einen Zeitraum von einem weiteren halben<br />

Jahr bessere Bedingungen für Investitionen in den<br />

neuen deutschen Ländern festschreibt.<br />

Im übrigen sind die Anrufungsbegehren erledigt.<br />

Der Vermittlungsausschuß hat sich auch mit einer<br />

Reihe von Fragen im Zusammenhang mit dem Bund-<br />

Länder-Finanzausgleich befaßt, die nicht unmittelbar<br />

Gegenstand des Anrufungsbegehrens waren und zu<br />

den Gesetzespaketen gehören. Er hat in diesem Zusammenhang<br />

auch das Thema, welche Möglichkeiten<br />

es gibt, für vom Truppenabbau besonders betroffene<br />

Länder eventuell zusätzliche Hilfen über ein Sonderprogramm<br />

zu leisten, in, wie ich finde, angemessener<br />

Weise aufgegriffen.<br />

Ich empfehle daher als Berichterstatter dem Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>, diesem Ergebnis des Vermittlungsausschusses,<br />

das einstimmig so beschlossen worden<br />

ist, zuzustimmen.<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

FDP)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Wir kommen jetzt zur<br />

Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß<br />

§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,<br />

daß über die Änderungen im Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />

jeweils gemeinsam abzustimmen ist.<br />

Wir stimmen zunächst über die Beschlußempfehlung<br />

des Vermittlungsausschusses auf Drucksache<br />

12/768, Steueränderungsgesetz 1991, ab. Ich bitte diejenigen,<br />

die der Beschlußempfehlung zuzustimmen<br />

wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! —<br />

Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung des<br />

Vermittlungsausschusses ist angenommen.<br />

Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des<br />

Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/769,<br />

Haushaltsbegleitgesetz 1991, ab. Wer stimmt für diese<br />

Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen?<br />

— Auch diese Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses<br />

ist angenommen.<br />

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:<br />

Beratungen ohne Aussprache<br />

a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des<br />

von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs<br />

eines Gesetzes zu der Dritten Änderung<br />

des Übereinkommens über den Internationalen<br />

Währungsfonds<br />

— Drucksache 12/336 —<br />

Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses<br />

(7. Ausschuß)<br />

— Drucksache 12/791 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek<br />

Gunnar Uldall<br />

(Erste Beratung 21. <strong>Sitzung</strong>)<br />

b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />

des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß)<br />

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />

Mitteilung über eine Eisenbahnpolitik der Gemeinschaft:<br />

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur<br />

Entwicklung der Eisenbahnunternehmen in<br />

der Gemeinschaft<br />

Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates<br />

zur Änderung der Verordnung (EWG)<br />

Nr. 1191/69 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten<br />

bei mit dem Begriff des öffentlichen<br />

Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf<br />

dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs<br />

Vorschlag für eine Entscheidung des Rates<br />

über die Schaffung eines Hochgeschwindigkeitsnetzes<br />

für Eisenbahnen<br />

Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur<br />

Änderung der Richtlinie 75/130/EWG über die<br />

Festlegung gemeinsamer Regeln für bestimmte<br />

Beförderungen im kombinierten Güterverkehr<br />

zwischen Mitgliedstaaten<br />

— Drucksachen 12/210 Nr. 162, 12/701 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordneter Dr. Dietmar Matterne<br />

c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />

des Ausschusses für Forschung, Technologie<br />

und Technikfolgenabschätzung (20. Ausschuß)<br />

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />

Vorschlag für eine Entscheidung des Rates<br />

über ein spezifisches Programm für Forschung<br />

und technologische Entwicklung im Bereich


2594 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

der nuklearen Sicherheit bei der Kernspaltung<br />

(1990 bis 1994)<br />

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />

Vorschlag für eine Entscheidung des Rates zur<br />

Annahme eines spezifischen Programms für<br />

Forschung und technologische Entwicklung<br />

auf dem Gebiet der kontrollierten Kernfusion<br />

(1990 bis 1994)<br />

Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur<br />

Billigung der Änderung der Satzung des gemeinsamen<br />

Unternehmens Joint European Torus<br />

(JET), Joint Undertaking<br />

— Drucksachen 12/210 Nr. 176, 12/152 Nr. 61,<br />

12/702 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordnete Christian Lenzer<br />

Wolf-Michael Catenhusen<br />

Jürgen Timm<br />

d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />

des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)<br />

zu der Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Fünfzehnte Verordnung zur Änderung<br />

der Außenwirtschaftsverordnung<br />

— Drucksachen 12/333, 12/760 —<br />

Berichterstatterin:<br />

Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk<br />

e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />

des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)<br />

zu der Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Vierundsiebzigste Verordnung<br />

zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL<br />

zur Außenwirtschaftsverordnung —<br />

— Drucksachen 12/334, 12/761 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordneter Peter Kittelmann<br />

f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts<br />

des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)<br />

zu der Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Fünfundsiebzigste Verordnung<br />

zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL<br />

zur Außenwirtschaftsverordnung —<br />

— Drucksachen 12/482, 12/762 —<br />

Berichterstatter:<br />

Abgeordneter Peter Kittelmann<br />

g) Verordnung der Bundesregierung<br />

Aufhebbare Vierzehnte Verordnung zur Änderung<br />

der Außenwirtschaftsverordnung<br />

— Drucksache 12/268 —<br />

h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses<br />

(2. Ausschuß)<br />

Sammelübersicht 18 zu Petitionen<br />

— Drucksache 12/684 —<br />

i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses<br />

(2. Ausschuß)<br />

Sammelübersicht 20 zu Petitionen<br />

— Drucksache 12/747 —<br />

j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses<br />

(2. Ausschuß)<br />

Sammelübersicht 21 zu Petitionen<br />

— Drucksache 12/748 —<br />

Tagesordnungspunkt 6 a: Wir kommen zur Abstimmung<br />

über den von der Bundesregierung eingebrachten<br />

Entwurf eines Gesetzes zu der Dritten Änderung<br />

des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds.<br />

Der Finanzausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf<br />

unverändert anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf<br />

— Drucksachen 12/336 und 12/791 — mit<br />

seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift, zuzustimmen<br />

wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. —<br />

Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf<br />

ist angenommen.<br />

Tagesordnungspunkt 6b: Beratung der Beschlußempfehlung<br />

und des Berichts des Ausschusses für<br />

Verkehr auf Drucksache 12/701 zu mehreren verkehrspolitischen<br />

EG-Vorhaben. Der Ausschuß für<br />

Verkehr empfiehlt die Annahme einer Entschließung.<br />

Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer<br />

stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung<br />

ist angenommen.<br />

Tagesordnungspunkt 6 c: Beschlußempfehlung des<br />

Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung<br />

auf Drucksache 12/702 zu<br />

mehreren forschungspolitischen EG-Vorhaben. Ich<br />

bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung zuzustimmen<br />

wünschen, um das Handzeichen. — Gegenprobe!<br />

— Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung<br />

ist angenommen.<br />

Tagesordnungspunkt 6 d bis f: Beratung von Beschlußempfehlungen<br />

des Ausschusses für Wirtschaft<br />

auf den Drucksachen 12/760, 12/761 und 12/762. Es<br />

handelt sich um Verordnungen zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />

und der Ausfuhrliste. Wer<br />

stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer<br />

stimmt dagegen? — Wer enthält sich seiner Stimme?<br />

— Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.<br />

Tagesordnungspunkt 6 g. Ich könnte jetzt dem Vorsitzenden<br />

des Ausschusses für Wirtschaft, unserem<br />

Kollegen Friedhelm Ost, das Wort erteilen. Er hat<br />

seine Erklärung aber bereits schriftlich hier hinterlegt.<br />

Der Vorsitzende des Ausschusses, Friedhelm Ost, erklärt,<br />

daß der Ausschuß für Wirtschaft dem Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong> empfiehlt, von seinem Aufhebungsrecht<br />

keinen Gebrauch zu machen. Diese Erklärung erfolgt<br />

im Einvernehmen mit den Obleuten der im Ausschuß<br />

vertretenen Fraktionen.<br />

Sie haben diese Empfehlung gehört. Darf ich unterstellen,<br />

daß Sie ihr folgen? — Es erhebt sich kein<br />

Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />

Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 6h bis j,<br />

das heißt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen<br />

des Petitionsausschusses zu den Sammelübersichten<br />

18, 20 und 21. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen?<br />

— Gegenprobe? — Enthaltungen? —<br />

Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2595<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:<br />

Fragestunde<br />

— Drucksache 12/766 —<br />

Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des<br />

Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung<br />

der Fragen ist Herr Staatsminister Helmut Schäfer erschienen.<br />

Wir kommen zuerst zu den Dringlichen Fragen,<br />

Drucksache 12/799.<br />

Ich rufe die Dringliche Frage 1 des Abgeordneten<br />

Dr. Klaus Kübler auf:<br />

Treffen Meldungen zu, daß die Regierung von Kuwait Iraker,<br />

die in Kuwait leben, in den Irak zwangsdeportiert, und sind der<br />

Bundesregierung weitere Zwangsdeportationen bekannt?<br />

Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Herr Kollege! Kuwaitische Sicherheitskräfte haben<br />

in der vergangenen Woche in einer Abschiebeaktion<br />

130 Personen, größtenteils irakischer Nationalität,<br />

aus Kuwait in den südlichen Irak verbracht. Viele<br />

von ihnen wurden gegen ihren Willen aus Kuwait<br />

abgeschoben.<br />

Nachdem das Internationale Rote Kreuz und die<br />

westlichen Botschafter einschließlich des deutschen<br />

Botschafters scharfen Protest bei der kuwaitischen Regierung<br />

eingelegt hatten, ist es zu keinen weiteren<br />

Abschiebungen mehr gekommen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage Kollege<br />

Dr. Kübler.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD) : Nach Zeitungsmeldungen<br />

haben UN-Beobachter diesen Vorgang verfolgt. Teilt<br />

die Bundesregierung die Auffassung, daß die UN-<br />

Beobachter hätten einschreiten und den Versuch unternehmen<br />

müssen — natürlich ohne Gewaltanwendung<br />

— , die Zwangsdeportationen nicht unter den<br />

Augen der UNO — ich will das bewußt so politisch<br />

formulieren — stattfinden zu lassen?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich<br />

kann diese Frage aus der Sicht der Bundesregierung<br />

nicht beantworten, weil ich der Meinung bin, daß wir<br />

hier schlecht berurteilen können, in welchem Zusammenhang<br />

UN-Beobachter hätten eingreifen können<br />

oder nicht.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine zweite Zusatzfrage,<br />

Kollege Dr. Kübler.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD): Sind der Bundesregierung<br />

vor diesem Vorfall Zwangsdeportationen bekannt gewesen,<br />

und, falls ja, hat sie dagegen interveniert?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann mich bei<br />

Ihrer Frage nur auf die Zwangsdeportationen beziehen,<br />

die uns bekannt geworden sind. Wir haben, wie<br />

ich Ihnen bereits gesagt habe, sofort reagiert. Ich kann<br />

mich aber nicht auf Vermutungen über andere Deportationen<br />

einlassen. Wir wußten von anderen Menschenrechtsverletzungen,<br />

über die ich bei der Beantwortung<br />

Ihrer zweiten Anfrage gleich berichten<br />

kann.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Frau<br />

Kollegin Ganseforth.<br />

Monika Ganseforth (SPD): Herr Staatsminister, die<br />

Iraker sind abgeschoben worden. Haben eigentlich<br />

die Palästinenser die Möglichkeit auszureisen?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, hier<br />

geht es um Abschiebungen, die durch Maßnahmen<br />

der kuwaitischen Regierung zwangsweise erfolgt<br />

sind. Ihre Frage bezieht sich jetzt auf die Möglichkeit<br />

der Ausreise von Palästinensern. Das ist meiner Ansicht<br />

nach zwar kein identischer Sachzusammenhang,<br />

aber Palästinenser können, soviel mir bekannt ist, aus<br />

Kuwait ausreisen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Keine weiteren Zusatzfragen.<br />

— Dann rufe ich die Dringliche Frage 2 des<br />

Kollegen Dr. Kübler auf:<br />

Wird die Bundesregierung, die zur Befreiung Kuwaits weit<br />

über 17 Milliarden DM zur Verfügung gestellt hat, die massiven<br />

und massenhaften Menschenrechtsverletzungen der kuwaitischen<br />

Regierung (willkürliche Inhaftierungen von Tausenden<br />

von Palästinensern, Ermordung von Hunderten von Palästinensern<br />

seit Februar dieses Jahres, Folterungen, Zwangsdeportationen<br />

von Irakern, Ausreiseverbote für ausreisewillige Jordanier,<br />

Sudanesen, Jemeniten, Unrechtsurteile) vor der UNO und mit<br />

den USA zur Sprache bringen mit dem Ziel, daß seitens der<br />

UNO, aber auch der USA, Maßnahmen ergriffen werden, die die<br />

kuwaitische Regierung veranlassen, diese Menschenrechtsverletzungen<br />

sofort einzustellen?<br />

Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Kollege Kübler, bereits<br />

am 28. April 1991 bei dem informellen Treffen<br />

der EG-Außenminister in Mondorf les Bains in Luxemburg<br />

hat Bundesminister Genscher die Lage der<br />

Menschenrechte in Kuwait zum Gegenstand der Erörterung<br />

im Kreise seiner europäischen Kollegen gemacht.<br />

Die Initiative mündete in eine gemeinsame<br />

Demarche, bei der die Zwölf der kuwaitischen Regierung<br />

ihre Besorgnis über die Lage der Menschenrechte<br />

in Kuwait deutlich machten.<br />

(Unruhe bei der FDP)<br />

— Herr Präsident, wenn auch die FDP-Fraktion diesen<br />

Ausführungen folgen könnte, wäre ich als FDP-Angehöriger<br />

ganz dankbar. Das ist ein Menschenrechtsproblem,<br />

das doch eine wichtige Rolle spielt.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatsminister, ich<br />

greife diesen Hinweis auf. Meine Damen und Herren<br />

von der FDP, in der ersten Reihe findet bei Ihnen in<br />

der Tat eine Konferenz statt. Wenn Sie diese vielleicht<br />

verlegen oder unterbrechen könnten, damit der<br />

Staatsminister durchdringt.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich selbst habe anläßlich<br />

der <strong>Sitzung</strong> der Außenminister des Golfkooperationsrates<br />

und der Europäischen Gemeinschaft am<br />

11. Mai in Luxemburg unseren Standpunkt zu den<br />

Menschenrechtsverletzungen in Kuwait deutlich gemacht.<br />

Auf Weisung von Bundesminister Genscher wurde<br />

außerdem der kuwaitische Botschafter erstmals am<br />

30. April 1991 und dann wieder nach den Berichten<br />

über die Verhängung von Todesstrafen in Kuwait am<br />

17. Juni, also vorgestern, ins Auswärtige Amt einbestellt.<br />

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes trug


2596 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Staatsminister Helmut Schäfer<br />

ihm dabei die schweren Bedenken der Bundesregierung<br />

über die anhaltenden Verfolgungen, insbesondere<br />

von Palästinensern, und die ausgesprochenen<br />

Todesurteile vor.<br />

Die Bundesregierung erwartet, daß diese Todesurteile<br />

nicht vollzogen und daß keine weiteren ausgesprochen<br />

werden. Der kuwaitischen Regierung ist<br />

klargemacht worden, daß wir hierin eine Verletzung<br />

elementarer Menschenrechte sehen. Kuwait ist in einer<br />

internationalen Aktion befreit worden, um dem<br />

Lande wieder zu seinen vollen Rechten zu verhelfen.<br />

Es kann deshalb nicht hingenommen werden, daß<br />

dort jetzt Menschenrechte in dieser Form verletzt werden.<br />

Auch unser Botschafter in Kuwait hat mehrmals bei<br />

der kuwaitischen Regierung interveniert, um ihr die<br />

zunehmende Besorgnis der deutschen Regierung und<br />

Öffentlichkeit über Menschenrechtsverletzungen in<br />

Kuwait vorzutragen. Zuletzt hat Botschafter Mulack<br />

am 17. Juni im Anschluß an die Berichte über die Verhängung<br />

weiterer Todesurteile und die Abschiebung<br />

von Irakern in den südlichen Irak gegenüber Kronprinz<br />

und Premierminister Scheich Saad al Sabah die<br />

Betroffenheit der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht.<br />

Bei allem Verständnis für die Leiden des<br />

kuwaitischen Volkes unter der irakischen Besetzung<br />

können wir diese Maßnahmen nicht hinnehmen.<br />

Schließlich hat das Auswärtige Amt am 18. Juni,<br />

also gestern, unsere Ständige Vertretung bei den Vereinten<br />

Nationen in New York angewiesen, den Vereinten<br />

Nationen uns vorliegende neue und zuverlässige<br />

Informationen über anhaltende Menschenrechtsverletzungen<br />

in Kuwait zu unterbreiten. In gleicher<br />

Weise erhielt die deutsche Botschaft in Washington<br />

Weisung, die US-Regierung zu unterrichten.<br />

Darüber hinaus legte die Bundesregierung am<br />

18. Juni den zwölf EG-Partnern in Kuwait gewonnene<br />

zuverlässige Informationen über aktuelle Menschenrechtsverletzungen<br />

vor.<br />

Die Bundesregierung — lassen Sie mich das in diesem<br />

Zusammenhang sagen — legt großen Wert darauf,<br />

daß sich die internationale Staatengemeinschaft,<br />

deren gemeinsames Handeln ausschlaggebend für<br />

die erfolgreiche Abwehr des irakischen Überfalls auf<br />

Kuwait war, mit der gleichen Geschlossenheit für die<br />

Einhaltung der Menschenrechte in Kuwait einsetzt.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kollege<br />

Kübler.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD): Wenn ich dies sagen darf:<br />

Ich bin für den letzten Satz sehr dankbar.<br />

Sind Ihnen Zahlen über Todesurteile, über vollstreckte<br />

Todesurteile und über Inhaftierte bekannt?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen<br />

jetzt keine genauen Zahlen angeben, bin aber gerne<br />

bereit, nachprüfen zu lassen, was uns an Zahlen bekannt<br />

ist.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ihre zweite Zusatzfrage.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD) : Meine zweite Frage geht<br />

dahin: Wird sich die Bundesregierung bemühen<br />

— gegebenenfalls gemeinsam mit anderen Ländern<br />

— , zu ermöglichen, daß amnesty international<br />

dorthin fahren und sich vor Ort informieren kann?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich halte es für gut,<br />

wenn amnesty international im Zusammenhang mit<br />

den von mir eben bereits ausgeführten Maßnahmen<br />

diese Möglichkeit bekommt. Amnesty international<br />

ist die Organisation, die weltweit die Möglichkeit hat,<br />

vor Ort neutral zu prüfen und Vorwürfe zu untersuchen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage des Kollegen<br />

Bindig.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Angesichts von Informationen<br />

über nicht rechtsstaatlich zustande gekommene Urteile<br />

möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, wie<br />

die Sondergerichte in Kuwait zusammengesetzt sind,<br />

die jetzt die Urteile fällen, und ob es nach Auffassung<br />

der Bundesregierung in Kuwait überhaupt eine<br />

rechtsstaatliche Strafgerichtsbarkeit gibt.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, uns<br />

ist von kuwaitischer Seite immer wieder versichert<br />

worden, daß nach der Beendigung des Überfalls des<br />

Irak und nach der Wiederherstellung der Autonomie<br />

Kuwaits Reformen erfolgen sollten. Ich selbst habe<br />

während des Golfkrieges eine Delegation von Oppositionellen<br />

aus Kuwait empfangen, die ihrer Hoffnung<br />

Ausdruck gegeben haben, daß dort nach Beendigung<br />

des Krieges die Demokratie hergestellt werden<br />

könnte. Wir haben diese Hoffnung weiterhin und sind<br />

der Meinung, daß die Regierung in Kuwait ihren Versprechungen<br />

zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit<br />

und Demokratie jetzt Taten folgen lassen sollte.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfrage der<br />

Kollegin Ganseforth.<br />

Monika Ganseforth (SPD): Herr Staatsminister, Sie<br />

haben gesagt, daß Sie mit den anderen Regierungen<br />

über die Botschafter Kontakt aufgenommen haben. Ist<br />

schon bekannt, ob andere Regierungen interveniert<br />

oder ob internationale Maßnahmen, Gespräche oder<br />

Proteste stattgefunden haben?<br />

Helmut Schäfer, Staatminister: Da ein Teil unserer<br />

Maßnahmen erst in dieser Woche erfolgen konnte,<br />

gehe ich davon aus, daß weitere internationale Bemühungen<br />

einsetzen werden. Wir haben auch die Vereinten<br />

Nationen eingeschaltet und sind in Gesprächen<br />

mit unseren Nachbarstaaten. Ich glaube, daß<br />

dort die Entwicklung in Kuwait genauso kritisch gesehen<br />

wird wie bei uns. Ich erinnere mich, daß bei dem<br />

Treffen mit den Außenministern der Golf-Kooperationsstaaten,<br />

bei dem der kuwaitische Außenminister<br />

anwesend war, auch von Kollegen aus der Europäischen<br />

Gemeinschaft entsprechende Fragen gestellt<br />

worden sind. Davon kann man also ausgehen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Dazu keine weiteren Zusatzfragen.<br />

Dann, Herr Staatsminister, darf ich mich<br />

bei Ihnen bedanken.<br />

Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2597<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische<br />

Staatssekretär Bernd Schmidbauer erschienen.<br />

Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Karl Stockhausen<br />

auf:<br />

Ist die Bundesregierung bereit, den durch die Verwendung<br />

von „Kieselrot" aus den ehemaligen Hermann-Göring-Werken<br />

in Marsberg (Nordrhein-Westfalen) beim Bau von Freizeitanlagen<br />

betroffenen Kommunen finanziell zu helfen?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort.<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Herr Kollege Stockhausen, auf Ihre Frage<br />

darf ich wie folgt antworten: Die Beseitigung von Bodenkontaminationen<br />

aus der Kriegszeit ist, soweit es<br />

sich nicht um bundeseigene Grundstücke handelt,<br />

eine Aufgabe, die nach Art. 30 und 104 a des Grundgesetzes<br />

als ordnungsbehördliche Aufgabe den Bundesländern<br />

obliegt. Ob und gegebenenfalls in welchem<br />

Umfang der Bund verpflichtet ist, den Ländern<br />

die Aufwendungen für Kriegsfolgelasten zu erstatten,<br />

richtet sich nach einer auf die fünfziger Jahre zurückgehenden<br />

Staatspraxis, die bei der Neufassung des<br />

Art. 120 des Grundgesetzes in den Jahren 1965 und<br />

1969 als fortgeltende Kostenverteilungsregelung zugrunde<br />

gelegt worden ist.<br />

Nach § 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes<br />

sind sämtliche Ansprüche gegen das Deutsche Reich<br />

und die anderen dort genannten Rechtsträger erloschen,<br />

soweit sie nicht durch besondere Bestimmungen<br />

aufrechterhalten wurden.<br />

Nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 des von mir erwähnten Allgemeinen<br />

Kriegsfolgengesetzes in Verbindung mit<br />

§ 1004 BGB hat der Bund den Ländern die Kosten für<br />

die Beseitigung solcher Gefahren zu erstatten, die von<br />

Sachen ausgehen, die Eigentum des Deutschen Reiches<br />

oder eines anderen in § 1 AKG genannten<br />

Rechtsträgers waren. Auf Grund dieser Staatspraxis<br />

ersetzt der Bund den Ländern z. B. die Kosten für die<br />

Beseitigung ehemals reichseigener Kampfmittel auf<br />

nicht bundeseigenen Liegenschaften.<br />

Nicht erstattungsfähig — das zielt auf Ihre Frage<br />

ab — sind die Beseitigungskosten für Sachen im Eigentum<br />

anderer natürlicher oder juristischer Personen.<br />

Dies gilt auch für chemische Stoffe, deren Eigentümer<br />

Unternehmen waren, an denen das Deutsche<br />

Reich beteiligt war, z. B. die Hermann-Göring-<br />

Werke.<br />

Maßgebend für eine Kostenerstattungspflicht nach<br />

§ 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG ist, daß das Deutsche Reich<br />

selbst Eigentum an den in Betracht kommenden chemischen<br />

Stoffen gehabt hat. Ansprüche gegen das<br />

Deutsche Reich können auch nicht im Wege der<br />

Durchgriffshaftung begründet werden.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage.<br />

Karl Stockhausen (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,<br />

das war natürlich ein Überrollen mit vielen Paragraphen.<br />

Dem kann man im Moment gar nicht folgen.<br />

Klar ist doch, daß die Hermann-Göring-Werke<br />

Reichseigentum waren, daß die Betroffenen nach<br />

1945 Abfall aus dem Kupferbergwerk in dem Glauben<br />

benutzt haben, sehr billig Sportplätze, Laufflächen<br />

oder andere Einrichtungen mit diesem Kieselrot aufzuschütten.<br />

Heute stellt sich heraus, daß sie dioxinbelastet<br />

sind und daß enorme Aufwendungen, und zwar<br />

von den Kommunen, aber auch von Vereinen, notwendig<br />

sind, das Kieselrot zu beseitigen. Gibt es, abgesehen<br />

von Paragraphen, keinen Ermessensspielraum,<br />

daß der Bund ohne gesetzliche Verpflichtung<br />

bemüht ist, den Kommunen zu helfen?<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Stockhausen, ich habe Ihnen die Rechtspraxis<br />

hier dargestellt, sehr theoretisch und für Sie auch zum<br />

Nachvollziehen. Ich darf Ihnen aber gleichzeitig sagen,<br />

daß wir vor wenigen Tagen gemeinsame Handlungsempfehlungen<br />

für diese belasteten Flächen zusammen<br />

mit den Ländern erstellt haben und daß es<br />

darüber hinaus weitere Besprechungen gemeinsam<br />

mit den Ländern gibt, um nach Lösungen in diesem<br />

Bereich zu suchen. Aber im Augenblick ist die Rechtspraxis<br />

so, daß der Bund keine finanziellen Hilfestellungen<br />

geben kann.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfrage.<br />

Karl Stockhausen (CDU/CSU): Kann ich aus der<br />

letzten Formulierung entnehmen, daß in Fortführung<br />

der begonnenen Gespräche eventuell doch noch Hilfe<br />

vom Bund zu erwarten ist?<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Das kann<br />

ich Ihnen so nicht beantworten. Aber Sie können davon<br />

ausgehen, daß wir bereit sind, im Zusammenhang<br />

mit der Sanierung dieser Flächen — dies wird eine<br />

große Aufgabe für die Länder darstellen — jeden Einzelfall<br />

entsprechend zu prüfen.<br />

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Schönen<br />

Dank!)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.<br />

Marion Caspers-Merk (SPD): Herr Staatssekretär,<br />

Sie haben in der gemeinsamen <strong>Sitzung</strong> des Sportausschusses<br />

und des Umweltausschusses damals ausgeführt,<br />

daß es möglich sei, eventuell über die Abfallabgabe<br />

zu einer Bundesfinanzierung zu kommen. Halten<br />

Sie diese Aussage aufrecht?<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin,<br />

ich bin Ihnen für die Frage sehr dankbar. Wir<br />

haben bei dieser Ausschußsitzung eine Möglichkeit<br />

aufgezeigt, wie Bund und Länder gemeinsam in dieser<br />

Frage zu neuen Finanzierungsmechanismen kommen<br />

können — Sie haben dort auch gehört, daß eines<br />

der anwesenden Länder, Nordrhein-Westfalen, dies<br />

bereits aufgegriffen hat — , mit denen wir in der Lage<br />

wären, über einen gemeinsamen finanziellen Beitrag<br />

durch eine solche Abfallabgabe solche Dinge als Altlasten,<br />

um den Begriff zu verwenden, zu finanzieren.<br />

Diese Aussage steht.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ich rufe die Frage 2 des<br />

Kollegen Stockhausen auf:<br />

Ist die Bundesregierung bereit, bei den ihr direkt oder indirekt<br />

zugeordneten Dienststellen (Deutsche Bundespost, Deutsche<br />

Bundesbahn, Zoll, Bundeswehr, Bundesgrenzschutz usw.) Hydrauliköl<br />

auf biologischer Basis (beispielsweise Rapsöl) einzusetzen,<br />

um die Belastung der Umwelt zu vermindern?


2598 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Stockhausen, die Substitution von Schmierstoffen<br />

und Ölen auf Mineralölbasis durch biologisch<br />

schnell abbaubare Öle auf Pflanzenbasis, z. B. Rapsöl,<br />

ist ein wichtiger Beitrag zum Boden- und Gewässerschutz<br />

und trägt darüber hinaus zur Verminderung<br />

klimarelevanter Spurengasemissionen bei. Dieser<br />

Substitutionsprozeß wird von uns mit Hilfe des Umweltzeichens<br />

gefördert.<br />

Für Kettenschmierstoffe für Motorsägen und für<br />

Schmieröle, Schmierfette und Trennmittel auf pflanzlicher<br />

Basis hat die „Jury Umweltzeichen" bereits entsprechende<br />

Umweltzeichen vergeben.<br />

Für den Bereich der Hydrauliköle wird zur Zeit der<br />

Entwurf einer Vergabegrundlage für ein Umweltzeichen<br />

erarbeitet. Die technischen Anforderungen an<br />

Hydrauliköle sind jedoch komplexer als die an die von<br />

mir eben erwähnten Einsatzmittel.<br />

Es ist davon auszugehen, daß die Vergabegrundlagen<br />

für ein Umweltzeichen für biologisch schnell abbaubare<br />

Hydraulikflüssigkeiten bis Ende 1991 vorliegen.<br />

Die Vergabe eines Umweltzeichens ist dann für<br />

Anfang 1992 zu erwarten.<br />

Wir sind dann grundsätzlich bereit, den Beschaffungsstellen<br />

von Bund, Ländern und Gemeinden sowie<br />

der privaten Wirtschaft den Einsatz pflanzlicher<br />

Hydrauliköle zu empfehlen. Voraussetzung ist allerdings,<br />

daß die entsprechenden Pflanzenöle den technischen<br />

Anforderungen entsprechen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Stockhausen.<br />

Karl Stockhausen (CDU/CSU): Vielen Dank für die<br />

Beantwortung beider Anfragen. Ich habe noch eine<br />

Zusatzfrage. Es ging mir darum, ob der Bund bereit ist,<br />

wenn diese Anforderungen, wie Sie sagten, entsprechend<br />

sind, die Hydrauliköle in seinen Zuständigkeitsbereichen<br />

einzusetzen, also nicht nur zu prüfen,<br />

sondern auch dafür zu sorgen, daß sie dort eingesetzt<br />

werden, wo der Bund zuständig ist.<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Wir sind<br />

bereit, Herr Kollege Stockhausen, direkt oder indirekt<br />

zugeordneten Dienststellen solche Hinweise zu geben<br />

und das 01 dann einzusetzen.<br />

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Schönen<br />

Dank; das ist gut!)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu - weitere Zusatzfragen?<br />

— Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer<br />

Staatssekretär, dann bedanke ich mich für die<br />

Beantwortung der beiden Fragen.<br />

Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />

für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung<br />

steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Horst<br />

Günther zur Verfügung.<br />

Ich rufe die Frage 4 der Abgeordneten Angela<br />

Stachowa auf:<br />

Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung zum Umgang<br />

mit der freischaffenden künstlerischen Intelligenz der ehemaligen<br />

DDR in bezug auf eine sozial-gerechte Rentenregelung, die<br />

auch die in der Vergangenheit gezahlten Beiträge — einschließ<br />

lich der Freiwilligen Rentenversicherung (FZR) — berücksichtigt,<br />

und wie gedenkt sie diese berechtigte Forderung in das<br />

Renten-Überleitungsgesetz einfließen zu lassen?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort.<br />

Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Arbeit und Sozialordnung: Danke schön,<br />

Herr Präsident!<br />

Frau Kollegin Stachowa, die Überführung der Ansprüche<br />

und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen<br />

regelt der Entwurf eines Gesetzes<br />

zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften<br />

aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen<br />

des Beitrittsgebiets nach dem Art. 3 des Entwurfs<br />

eines Renten-Überleitungsgesetzes. Dort ist dies über<br />

mehrere Seiten mit Anlagen, die ich hier nicht alle<br />

vortragen kann, ausführlich dargelegt. Das können<br />

Sie bitte nachvollziehen.<br />

Zu Ihrer konkreten Frage will ich weiter ausführen:<br />

In den Geltungsbereich dieses Gesetzes sollen auch<br />

die Zusatzversorgungssysteme der freiberuflich tätigen<br />

Mitglieder des Schriftstellerverbandes sowie des<br />

Verbandes bildender Künstler einbezogen werden.<br />

— Danach hatten Sie im wesentlichen gefragt.<br />

Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen<br />

stellen nicht auf die Beitragszahlung ab. Die Rentenberechnung<br />

soll vielmehr nach den Regelungen des<br />

Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches auf der<br />

Grundlage des im Erwerbsleben erzielten Einkommens<br />

erfolgen. Die aus dieser Berechnung ermittelte<br />

Rente löst die bisherigen Leistungen aus der Rentenversicherung<br />

und dem Zusatzversorgungssystem<br />

bzw. die Leistung aus dem Sonderversorgungssystem<br />

ab. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Beitragszahlung<br />

des von Ihnen genannten Personenkreises<br />

zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung, also FZR,<br />

unberücksichtigt bleibt. Der Gesetzentwurf ermöglicht<br />

es über eine entsprechende Verordnungsermächtigung,<br />

für diese Personen Leistungen in gleicher<br />

Höhe zu erbringen, als wenn sie ausschließlich in<br />

der Sozialpflichtversicherung und der FZR versichert<br />

gewesen wären. Die von diesen Personen geleisteten<br />

Beiträge bewirken also, daß ihre Entgelte und Einkommen<br />

bis zur Beitragsbemessungsgrenze des<br />

Sechsten Sozialgesetzbuches, d. h. grundsätzlich bis<br />

zum 1,8fachen des Durchschnittsentgelts, berücksichtigt<br />

werden können, während ohne solche Beitragsleistungen<br />

nur eine Berücksichtigung bis zur wesentlich<br />

niedrigeren Beitragsbemessungsgrenze in der Sozialversicherungspflicht<br />

der ehemaligen DDR — nämlich<br />

bis 600 Mark — möglich wäre.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Stachowa,<br />

Sie haben zwei Zusatzfragen.<br />

Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Ich danke.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Gibt es Zusatzfragen von<br />

seiten der übrigen Mitglieder des Hauses? — Das ist<br />

nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär,<br />

verbindlichen Dank.<br />

Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />

für Verkehr auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2599<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl erschienen.<br />

(Dr. Hermann Scheer [SPD]: Er kann es auch<br />

besser als der Minister!)<br />

Für die Fragen 5 und 6 des Kollegen Tappe ist um<br />

schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten<br />

werden als Anlagen abgedruckt.<br />

Ich rufe die Frage 7 der Frau Abgeordneten Ulrike<br />

Mehl auf:<br />

Sieht die Bundesregierung in dem von der Wasser- und Schifffahrtsdirektion,<br />

dem Land Niedersachsen, der Bezirksregierung<br />

Weser-Ems, dem Landkreis Emsland und der Stadt Papenburg<br />

erarbeiteten Kompromiß zum Ausbau der Ems unter Einbeziehung<br />

einer Umweltverträglichkeitsprüfung für tragfähig, und<br />

sind bzw. werden dafür Bundesmittel zur Verfügung gestellt?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Verkehr: Frau Kollegin Mehl, die Bundesregierung<br />

sieht jede einvernehmliche Lösung zur Anpassung<br />

der unteren Ems als tragfähig an, um dem<br />

Werftenstandort Papenburg im Emsland eine langfristige<br />

Perspektive zu geben. Nach der gesetzlichen<br />

Lage entscheidet die Planfeststellungsbehörde unter<br />

Einbeziehung der Umweltverträglichkeitsprüfung<br />

über diese Maßnahme. Im Bundeshaushalt 1991 sind<br />

Mittel für diese Maßnahme enthalten.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Mehl, eine<br />

Zusatzfrage.<br />

Ulrike Mehl (SPD): Ist dieses Einverständnis allen an<br />

dem Verfahren Beteiligten bekannt? Denn das war ja<br />

mal eine Zeitlang umstritten. Dies steht auch in der<br />

Frage.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das Einvernehmen<br />

wird sich herausstellen, wenn der Planfeststellungsbeschluß<br />

erlassen ist und von niemandem<br />

angefochten wurde.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Dann rufe ich die Frage 8<br />

der Kollegin Ulrike Mehl auf:<br />

Hält der Bundesminister für Verkehr, Dr. Günther Krause, es<br />

für den richtigen Stil, auf mein Schreiben an ihn erst nach acht<br />

Wochen, bei mehrmaliger Nachfrage, zu reagieren, und lehnt<br />

Bundesminister Dr. Günther Krause die Annahme der Unterschriftenliste<br />

zur Erhaltung des Wasserstraßenmaschinenamtes<br />

Rendsburg ab?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte<br />

schön.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin<br />

Mehl, Bundesminister Krause hat die Beantwortung<br />

Ihres Schreibens an mich übertragen. Ich bedaure,<br />

daß Ihr Schreiben erst nach sechs Wochen beantwortet<br />

wurde.<br />

(Zuruf von der SPD: Nach acht Wochen! —<br />

Manfred Opel [SPD]: Das ist aber typisch!)<br />

Im Hinblick auf die Frage nach der Annahme der<br />

Unterschriftenliste möchte ich Ihnen anbieten, daß<br />

wir im Anschluß an dieses Zwiegespräch einen Termin<br />

vereinbaren, bei dem wir uns auch über die Problematik<br />

des Betriebes in Rendsburg unterhalten<br />

können.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage.<br />

Ulrike Mehl (SPD): Sie sagten gerade, daß Sie es<br />

bedauern, daß es so lange gedauert habe. Ich habe ja<br />

auch ganz geduldig sechs Wochen gewartet, aber<br />

dann war meine Geduld am Ende, und wir haben<br />

sodann sehr intensiv nachgefragt. Wie lange dauert es<br />

denn schätzungsweise, wenn man nicht intensiv<br />

nachfragt? Ab wann darf uns in bezug auf Ihr Haus der<br />

Geduldsfaden reißen?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wir bemühen<br />

uns, die Schreiben in einer Frist zwischen zwei und<br />

vier Wochen zu beantworten.<br />

(Zurufe von der SPD)<br />

— Ja, es gibt kompliziertere Sachverhalte; da muß<br />

man bei anderen Behörden nachfragen. Dann kann es<br />

schon einmal länger dauern.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage,<br />

mit der Sie möglicherweise einen Zwischenbescheid<br />

einfordern wollen.<br />

Ulrike Mehl (SPD): Kann ich davon ausgehen, daß es<br />

das nächste Mal — in diesem Fall brauchten Sie ja<br />

nicht so viel bei anderen nachfragen — schneller<br />

geht?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich werde<br />

mich sehr darum bemühen, Ihrem Wunsch gerecht zu<br />

werden.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage des Kollegen<br />

Koppelin.<br />

Jürgen Koppelin (FDP): Herr Staatssekretär, sind<br />

Sie bereit, der Kollegin zu bestätigen, daß auch Abgeordnete<br />

der Koalition acht Wochen auf eine Beantwortung<br />

warten?<br />

(Lachen bei der SPD — Dr. Hermann Scheer<br />

[SPD]: Das macht es doch noch schlimmer!)<br />

Ich darf an mein Schreiben an Sie zum Thema Elektrifizierung<br />

der Bahn in Schleswig-Holstein erinnern.<br />

Sind Sie bereit, in Ihrem Hause dafür zu sorgen, daß<br />

Abgeordnete zukünftig schneller eine Antwort erhalten,<br />

und sind Sie weiter bereit, der Kollegin Mehl zu<br />

bestätigen, daß ich, nachdem ich ebenfalls in Ihrem<br />

Hause mehrfach Klage darüber geführt habe, bereits<br />

am nächsten Tag eine Antwort bekam?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es kann<br />

durchaus passieren, daß Schreiben in einer unangemessen<br />

langen Frist nicht beantwortet werden. Ich<br />

bitte, uns dies nachzusehen. Unser Bemühen ist sehr<br />

stark darauf ausgerichtet, dies nicht mehr vorkommen<br />

zu lassen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer<br />

Staatssekretär, es geht jetzt offenbar um ein sehr populäres<br />

Thema.<br />

(Heiterkeit)<br />

Der Kollege Bindig hat die nächste Zusatzfrage.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Wäre es dem Verkehrsministerium<br />

vielleicht lieber, wenn wir in Zukunft alle Sachverhalte<br />

in Form von Fragen in die Fragestunde ein-


2600 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Rudolf Bindig<br />

bringen und nicht in Form von Briefen an Sie herantragen,<br />

weil man dann automatisch innerhalb von fünf<br />

oder sechs Tagen hier im Plenum eine Antwort bekommen<br />

muß?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das bleibt<br />

vollkommen Ihnen überlassen, Herr Kollege.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Scheer,<br />

bitte.<br />

Dr. Hermann Scheer (SPD): Herr Staatssekretär, ist<br />

es vielleicht denkbar, daß der Bundesminister für Verkehr<br />

überfordert ist?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Mit Sicherheit<br />

nicht.<br />

(Lachen bei der SPD — Jochen Feilcke<br />

[CDU/CSU]: Undenkbar!)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />

dazu? — Das ist nicht der Fall.<br />

Dann rufe ich jetzt Frage 9 der Kollegin Ingrid Walz<br />

auf:<br />

Wie beurteilt die Bundesregierung die Verfassungsmäßigkeit<br />

von Nahverkehrsabgaben als Mittel der Verkehrslenkung in<br />

Ballungsgebieten als „Haltermodell", als „Einwohnermodell"<br />

und den damit verbundenen Einkünften für das Land?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin<br />

Walz, angesichts der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes,<br />

nach der der öffentliche Personennahverkehr<br />

in den Zuständigkeitsbereich der Länder gehört,<br />

hat die Bundesregierung keinen Anlaß gesehen, die<br />

Frage der Verfassungsmäßigkeit der Erhebung von<br />

Nahverkehrsabgaben zu prüfen.<br />

Innerhalb der für die Beantwortung mündlicher<br />

parlamentarischer Anfragen vorgeschriebenen Zeit<br />

ist eine rechtlich abgesicherte Prüfung der damit verbundenen<br />

Fragen sicherlich auch nicht zu leisten.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Walz, Zusatzfrage.<br />

Ingrid Walz (FDP): Vielleicht kann der Herr Staatssekretär<br />

jetzt auch die zweite von mir eingebrachte<br />

Frage beantworten.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Sie wollen, daß beide<br />

Fragen im Zusammenhang beantwortet werden?<br />

(Ingrid Walz [FDP]: Richtig!)<br />

— Dann rufe ich Frage 10 der Abgeordneten Ing rid<br />

Walz auf:<br />

Wann ist eine Nahverkehrsabgabe — gleichgültig in welcher<br />

Form — als Lenkungsabgabe zulässig, wenn keine öffentlichen<br />

Nahverkehrssysteme als Alternativen vorhanden sind oder z. B.<br />

von Behinderten nicht benutzt werden können?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte Sie,<br />

freundlicherweise auf dieses Begehren einzugehen.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Mit Vergnügen.<br />

— Frau Kollegin, die baden-württembergische<br />

Landesregierung hat zu den sehr komplexen Fragen<br />

der Zulässigkeit bzw. der Voraussetzungen für eine<br />

Nahverkehrsabgabe ein Rechtgutachten bei dem<br />

Münchener Rechtswissenschaftler Klaus Vogel in<br />

Auftrag gegeben. Die Bundesregierung geht davon<br />

aus, daß die baden-württembergische Landesregierung<br />

das Ergebnis der Prüfung Interessierten zugänglich<br />

machen wird.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Sie haben<br />

jetzt das Recht, vier Zusatzfragen zu stellen, aber Sie<br />

haben nicht die Pflicht, sie alle vier zu stellen.<br />

Ingrid Walz (FDP): Ich werde versuchen, davon<br />

nicht Gebrauch zu machen. — Teilen Sie die Ansicht<br />

sehr vieler, die sich sachkundig mit der Frage beschäftigen,<br />

daß die Länder und die Kommunen bei der<br />

Finanzierung von ökologisch nötigen Nahverkehrssystemen<br />

überfordert sind?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Der Vermittlungsausschuß<br />

hat, wie Kollege Struck vorhin dargelegt<br />

hat, eine wesentliche finanzielle Verbesserung<br />

durch den Bundeshaushalt für Länder und Kommunen<br />

beschlossen. Die Bundesregierung begrüßt dieses<br />

Ergebnis sehr.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Die nächste.<br />

Ingrid Walz (FDP): Herr Staatssekretär, ich bin leider<br />

nicht im Besitz dieser Erkenntnisse. Vielleicht<br />

könnten Sie hier erklären, inwieweit die Kommunen<br />

und die Länder beim nötigen Ausbau ihrer Nahverkehrssysteme<br />

davon profitieren.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Mittel für<br />

das GVFG, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz,<br />

sind von einem derzeitigen Plafond, der bei<br />

3,28 Milliarden DM liegt, für das Jahr 1992 um 1,5 und<br />

für das Jahr 1993 um 3 Milliarden DM aufgestockt.<br />

Das bedeutet eine erhebliche Verbesserung der Situation<br />

für den öffentlichen Personennahverkehr im Bereich<br />

der Kommunen und der Länder.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Nummer 3.<br />

Ingrid Walz (FDP) : Ich muß trotzdem nachfragen.<br />

Falls je eine Nahverkehrsabgabe, sei es in Form eines<br />

Haltermodells oder in Form eines Einwohnermodells,<br />

eingeführt werden soll: Sind damit Einkünfte für die<br />

Länder verbunden, und ist eine solche Abgabe verfassungsgemäß?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Genau diese<br />

Frage sollte der Verfassungsrechtler Klaus Vogel untersuchen.<br />

Mir ist das Ergebnis dieser Untersuchung<br />

nur über Pressemitteilungen bekannt. Bekannt ist<br />

aber, daß Mittel, die durch eine Abgabe eingenommen<br />

werden, zweckgebunden auszugeben sind.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Nummer 4.<br />

Ingrid Walz (FDP): Ich verzichte darauf.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Bindig hat<br />

die nächste Zusatzfrage.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, da Sie in<br />

Ihrer Antwort so bestimmt gesagt haben, daß der<br />

ÖPNV in die Zuständigkeit der Länder gehört, möchte


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2601<br />

Rudolf Bindig<br />

ich Sie fragen, ob das einhellig geklärt ist oder ob es<br />

dazu nicht andere Auffassungen gibt, insbesondere<br />

beim Schienenpersonennahverkehr, aber auch allgemein<br />

beim ÖPNV, nämlich in der Form, daß sich die<br />

anderen politischen Ebenen teilweise dagegen verwahren,<br />

den ÖPNV vom Bund voll als Verpflichtung<br />

zugesprochen zu bekommen.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Hierzu gibt es<br />

eine Aussage der Bundesregierung. In dem ÖPNV-<br />

Bericht, in dem auch etwas über die Zuständigkeiten<br />

festgelegt ist, heißt es:<br />

Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die<br />

Erfüllung der öffentlichen Aufgabe auf dem Gebiet<br />

des ÖPNV ist grundsätzlich Sache der Länder.<br />

Das ist die Bestätigung meiner Aussage. Dann kommt<br />

die Einschränkung:<br />

Der Bund hat nach Art. 73 Abs. 6 GG die ausschließliche<br />

Gesetzgebungszuständigkeit für die<br />

Bundeseisenbahnen<br />

— danach hatten Sie gefragt —<br />

und nach Art. 74 Abs. 22 und 23 GG die konkurrierende<br />

Gesetzgebungszuständigkeit für den<br />

Straßenverkehr und die Schienenbahnen, die<br />

nicht Bundeseisenbahnen sind.<br />

In der Tat bestätige ich, was Sie gefragt haben: Für die<br />

Bundeseisenbahnen ist der Bund zuständig.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Die nächste Zusatzfrage<br />

stellt Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel.<br />

Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Staatssekretär, im<br />

„Handelsblatt" vom 6. Juni wird der Bundesminister<br />

Krause mit der Aussage zitiert:<br />

Es wäre jetzt auch im Hinblick auf die Lage der<br />

Städte und Gemeinden in den alten Bundesländern<br />

an der Zeit, über die Aufhebung der Plaf ondierung<br />

nachzudenken.<br />

Können Sie diese Aussage bestätigen? Ist das, nachdem<br />

wir den Haushalt 1991 beschlossen haben, in<br />

dem die Forderung der SPD-Fraktion abgelehnt<br />

wurde, jetzt der Anlaß, daß neu darüber nachgedacht<br />

wird und wir schon für den Haushalt 1992 von dieser<br />

Aussage ausgehen können?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wir haben<br />

über diese Aussage nicht nur nachgedacht, sondern<br />

wir haben im Vermittlungsausschuß bereits gemeinsam<br />

gehandelt und eine deutliche Verbesserung erzielt,<br />

was eine Beendigung der Plafondierung bedeutet.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Sie haben noch einen<br />

Schuß frei, Frau Kollegin Walz. Sie können noch eine<br />

Zusatzfrage stellen.<br />

Ingrid Walz (FDP) : Ich möchte den Herrn Staatssekretär<br />

doch noch fragen, ob die Plafondierung zum<br />

Ausbau des Nahverkehrs in den verschiedenen Ballungsgebieten<br />

der Bundedsrepublik ausreicht oder ob<br />

nicht eine Erhöhung der Mineralölsteuer, zweckgebunden<br />

ausgegeben, für den Ausbau des Nahverkehrs<br />

nötig wäre.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es läuft auf<br />

dasselbe Ergebnis hinaus, Frau Kollegin, ob man eine<br />

Zweckbindung der Mineralölsteuer in einer bestimmten<br />

Höhe festsetzt oder einen absoluten Betrag für<br />

denselben Zweck in den Haushalt einstellt. Der Vermittlungsausschuß<br />

bzw. Bundesregierung und Bundesrat<br />

haben sich für den zweiten Weg entschieden.<br />

Ich sehe darin keine Schlechterstellung gegenüber<br />

einer Zweckbindung der Mineralölsteuer.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Schily, bitte.<br />

Otto Schily (SPD): Herr Staatssekretär Gröbl, wir<br />

sind uns wahrscheinlich doch einig darin, daß gerade<br />

in Ballungsgebieten die Verbesserung des ÖPNV eine<br />

vorrangige Aufgabe ist und daß das häufig an mangelnder<br />

Finanzmasse scheitert. Aus Ihren heutigen<br />

Antworten kann ich nicht so ganz klar erkennen, was<br />

Ihr Konzept ist, die finanzielle Situation des öffentlichen<br />

Personennahverkehrs in Ballungsgebieten zu<br />

verbessern. Ich möchte das vielleicht noch mit einem<br />

besonderen Hinweis auf den Ballungsraum München<br />

und Umgebung verknüpfen, aus dem man z. B. hört,<br />

daß rollendes Material entweder nicht verbessert wird<br />

oder sogar abgezogen werden soll und ähnliches.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Zum ersten<br />

Teil der Frage: Herr Kollege Schily, wir sind uns weiß<br />

Gott nicht allzuoft einig, aber in dieser Frage schon.<br />

Zum zweiten Teil: Unser Konzept ist ganz einfach,<br />

deutlich mehr Geld für Länder und Kommunen für<br />

diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Wir sind deshalb<br />

dankbar, daß dieses Ergebnis im Vermittlungsausschuß<br />

erreicht wurde. Diese Verbesserung betrifft<br />

natürlich den Ballungsraum München wie auch die<br />

anderen Ballungsräume, und auch auf die Fläche wird<br />

es positive Auswirkungen haben.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage<br />

des Abgeordneten Lowack.<br />

Ortwin Lowack (fraktionslos): Nachdem die München-Connection<br />

zum Zuge gekommen ist, Herr Parlamentarischer<br />

Staatssekretär, möchte ich die Frage<br />

stellen, ob Sie bestätigen können, daß der Anteil der<br />

Investitionsmittel aus der Mineralölsteuer für Ballungszentren<br />

bei ungefähr 94 % liegt und daß der<br />

ländliche Raum dazu beiträgt, daß auf diese Art und<br />

Weise vor allen Dingen der Personennahverkehr in<br />

den Ballungszentren entscheidend verbessert wird?<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Diese Zahl<br />

kann ich nicht bestätigen. Dagegen ist richtig, daß wir<br />

beim ÖPNV nicht nur die Ballungszentren, sondern<br />

auch den ländlichen Raum im Auge behalten müssen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Gibt es zu dieser letzten<br />

Frage noch eine weitere Zusatzfrage? — Das ist nicht<br />

der Fall. Herzlichen Dank, Herr Parlamentarischer<br />

Staatssekretär.<br />

Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers<br />

für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.<br />

Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische<br />

Staatssekretär Jürgen Echternach erschienen.


2602 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Dr. Christine<br />

Lucyga sollen schriftlich beantwortet werden. Die<br />

Antworten werden als Anlagen abgedruckt.<br />

Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Schily<br />

auf :<br />

Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Gesamtkosten der<br />

durchgeführten und noch durchzuführenden Maßnahmen zur<br />

Asbestsanierung in öffentlichen und privaten Gebäuden der<br />

Bundesrepublik Deutschland?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort.<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär bei der<br />

Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und<br />

Städtebau: Herr Kollege Schily, die Bundesregierung<br />

sieht sich nicht in der Lage, die Höhe der Gesamtkosten<br />

der durchgeführten und noch durchzuführenden<br />

Maßnahmen zur Asbestsanierung in öffentlichen und<br />

privaten Gebäuden zu schätzen. Die dazu notwendigen<br />

umfangreichen und schwierigen Erhebungen<br />

und Untersuchungen liegen weder beim Bund noch<br />

bei den für das Bauen zuständigen Bundesländern<br />

vor. Erhebungen einzelner Hochbauverwaltungen<br />

wie z. B. der Deutschen Bundespost oder Einzelangaben<br />

zu den Kosten bisher durchgeführter oder veranschlagter<br />

Sanierungsmaßnahmen im Zuständigkeitsbereich<br />

des Bundesbauministeriums haben für die<br />

Gesamtsituation der öffentlichen Gebäude keine Aussagekraft,<br />

die ja zum überwiegenden Teil Kommunaloder<br />

Landesbauten sind. Für den privaten Bereich<br />

sind derartige Erfassungen ohnehin nicht möglich,<br />

weil dafür eine Begehung und Untersuchung mindestens<br />

aller bis 1978 errichteten Privatgebäude notwendig<br />

wäre.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schily, Zusatzfrage.<br />

Otto Schily (SPD): Herr Staatssekretär, meinen Sie<br />

nicht, daß es notwendig wäre, solche Zahlen zu erarbeiten,<br />

und sehen Sie Möglichkeiten, solche Zahlen in<br />

Zukunft zu eruieren? Denn ich könnte mir vorstellen,<br />

daß auch Sie die Auffassung teilen, daß ja in sehr breitem<br />

Umfang solche Sanierungsmaßnahmen notwendig<br />

geworden sind und mit Sicherheit auch schon sehr<br />

kostenaufwendig waren und daß die Politik in der<br />

Zukunft doch darauf gerichtet sein sollte, solchen Reparaturbedarf<br />

zu vermeiden? Wenn man das im Kopf<br />

hat, sollte man sich vielleicht auch Erkenntnisse darüber<br />

verschaffen, welche Größenordnungen zur Debatte<br />

stehen.<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Schily, wir sind uns einig, daß die Politik alles tun<br />

muß, um solche Bauschäden und Gesundheitsschäden,<br />

wie sie aufgetreten sind, zu vermeiden. Aus diesem<br />

Grunde ist schon seit 13 Jahren die Verwendung<br />

des hier besonders relevanten Spritzasbestes untersagt.<br />

In der Zwischenzeit sind weitere Verordnungen<br />

erlassen worden, die letzte Verordnung erst vor wenigen<br />

Wochen von der Bundesregierung, durch die<br />

auch jeder Handel mit asbesthaltigen Produkten untersagt<br />

wird, so daß über den Verordnungsweg sichergestellt<br />

ist, daß Bauschäden und Gesundheitsschäden<br />

im Zusammenhang mit Asbest nicht mehr auftreten<br />

können.<br />

Nichtsdestoweniger bleibt die Frage der Sanierung,<br />

die schon seit vielen Jahren Bund und Länder gemeinsam<br />

beschäftigt. Wir haben schon vor fünf Jahren von<br />

seiten des Bundes gemeinsam mit der ARGE Bau, der<br />

Vereingiung der Länderbauminister, eine Sch rift über<br />

die Sanierung der Asbestschäden in den öffentlichen<br />

Bauten herausgegeben. Die Sanierung ist bereits in<br />

vollem Gange. Eine Kostenschätzung stößt aber auf<br />

die Schwierigkeiten, die ich eben dargelegt habe.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine zweite Zusatzfrage,<br />

Herr Kollege Schily.<br />

Otto Schily, (SPD): Herr Staatssekretär, welche<br />

Konsequenzen ziehen Sie denn aus dem Vorgang<br />

überhaupt, wenn Sie nun schon kein Zahlenmaterial<br />

haben und ein bißchen im Nebel stochern und wir uns<br />

darüber einig sind, daß es ein Schaden großen Ausmaßes<br />

ist, wie immer man ihn definiert, für die Frage,<br />

welche Baustoffe man zulassen soll, welche Kennzeichnungspflichten<br />

eingeführt werden sollen usw.?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Schily, es gibt Institute, die Baustoffe auf ihre<br />

Verwendbarkeit und ihre gesundheitliche Unschädlichkeit<br />

prüfen. Die Schäden, die im Zusammenhang<br />

mit Asbest aufgetreten sind, sind allerdings nicht vorhergesehen<br />

worden. Als sie auftraten, ist sehr bald<br />

— im Jahre 1978 — eine Verwendung des Spritzasbestes<br />

untersagt worden.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Herr<br />

Kollege Professor Diederich.<br />

Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Herr Parlamentarischer<br />

Staatssekretär, wenn es, was einzusehen ist,<br />

schon schwierig ist, einen Gesamtüberblick zu haben:<br />

Haben Sie denn wenigstens einen Überblick über<br />

Anzahl bzw. Anteil der asbestverseuchten Gebäude<br />

und über die notwendigen Kosten der Sanierung der<br />

bundeseigenen Gebäude, einschließlich der Gebäude,<br />

die von Bundesorganen usw. gebraucht werden?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Es gibt in<br />

Einzelbereichen Untersuchungen, z. B. im Bereich der<br />

Post. Es gibt keine Gesamtuntersuchung für alle Bauten,<br />

die im Eigentum des Bundes stehen. Jedenfalls<br />

kenne ich solche Zahlen im Moment nicht.<br />

(Dr. Peter Struck [SPD]: Solche Auskünfte<br />

kann man sich auch sparen! Das ist ja die<br />

absolute Inkompetenz!)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Dann rufe ich die<br />

Frage 14 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf:<br />

Inwieweit werden im Rahmen der Stadt- und Dorfsanierung<br />

und beim städtebaulichen Denkmalschutz im Rahmen des Gemeinschaftswerkes<br />

„Aufschwung Ost" in den einzelnen neuen<br />

Bundesländern die Sanierung bzw. Renovierung von Gastronomiebetrieben<br />

berücksichtigt?<br />

Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Koppelin, die Durchführung von Baumaßnahmen<br />

im Rahmen von städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen<br />

ist regelmäßig Angelegenheit der privaten<br />

Eigentümer. Nach § 177 des Bundesbaugesetzes


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2603<br />

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach<br />

hat der Eigentümer von baulichen Anlagen die Kosten<br />

für die Modernisierung oder Instandsetzung grundsätzlich<br />

selbst zu tragen, auch wenn sie von der Gemeinde<br />

wegen vorliegender städtebaulicher Mißstände<br />

angeordnet worden ist.<br />

Allerdings kann die Gemeinde Zuschüsse für sogenannte<br />

unrentierliche Leistungen aus dem Städtebauförderungsprogramm<br />

gewähren.<br />

Diese Regeln gelten auch für das Sonderprogramm<br />

zum städtebaulichen Denkmalschutz im Rahmen des<br />

Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. So kann die<br />

Gemeinde auch für Gebäude, in denen sich gastronomische<br />

Einrichtungen befinden, Zuwendungen aus<br />

Städtebauförderungsmitteln bewilligen, wenn es sich,<br />

z. B. bei denkmalgeschützten Gebäuden, um bauliche<br />

Teilleistungen handelt, die aus städtebaulichen oder<br />

denkmalpflegerischen Gründen erforderlich sind, die<br />

jedoch dem Eigentümer wegen Unrentierlichkeit<br />

sonst nicht zugemutet werden könnten.<br />

Der vom Eigentümer zu tragende Kostenanteil wird<br />

dabei nach der Durchführung der Modernisierungsoder<br />

Instandsetzungsmaßnahmen unter Berücksichtigung<br />

der Erträge ermittelt, die für die modernisierte<br />

oder instandgesetzte bauliche Anlage bei ordentlicher<br />

Bewirtschaftung nachhaltig erzielt werden können.<br />

Im Einzelfall kann zwischen Gemeinde und Eigentümer<br />

eine Pauschale für die Kostenerstattung vereinbart<br />

werden.<br />

Wie bei allen städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen<br />

gilt auch hier, daß der Bund auf die Auswahl der<br />

zu fördernden Einzelmaßnahmen keinen Einfluß hat.<br />

Diese Auswahl ist allein Sache der Länder.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Koppelin,<br />

Zusatzfrage.<br />

Jürgen Koppelin (FDP) : Herr Staatssekretär, können<br />

Sie uns sagen, wieviel Mittel für die neuen Bundesländer<br />

für die Städtesanierung zur Verfügung gestellt<br />

werden? Können Sie uns auch sagen, ob diese<br />

Mittel von den Ländern abgerufen werden?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Koppelin, wir geben den neuen Bundesländern<br />

über vier verschiedene Wege Mittel für die Stadterneuerung:<br />

einmal direkt in der allgemeinen Form der<br />

Stadterneuerungsmittel, wie wir sie auch im Westen<br />

kennen, mit einem Volumen von 300 Millionen DM,<br />

dann für den städtebaulichen Denkmalschutz in einer<br />

Höhe von 180 Millionen DM, dann für städtebauliche<br />

Planungsleistungen in Höhe von 50 Millionen DM<br />

und schließlich Mittel für Modellvorhaben der Stadterneuerung<br />

in einer Größenordnung von 100 Millionen<br />

DM per anno.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />

Jürgen Koppelin (FDP): Herr Staatssekretär, können<br />

Sie uns sagen, wann Ihr Haus bereit ist zu überprüfen,<br />

ob diese Mittel ausreichend sind?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir haben<br />

von seiten der Regierungen der Beitrittsländer gehört,<br />

daß die Finanzausstattung ausreichend sei.<br />

Die Frage, inwieweit diese Mittel abfließen, läßt<br />

sich natürlich erst im Laufe des Jahres beantworten.<br />

Für den Fall, daß sie nicht abfließen sollten, ist durch<br />

einen entsprechenden Haushaltsvermerk, den der<br />

<strong>Bundestag</strong> beschlossen hat, vorgesehen, daß sie dann<br />

auch in den westlichen Bundesländern eingesetzt<br />

werden können.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Nächste Zusatzfrage,<br />

Kollege Dr. Olderog.<br />

Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,<br />

ist es richtig, daß aus diesem Programm bisher praktisch<br />

keine Mittel abgeflossen sind, und teilen Sie die<br />

in den neuen Ländern vielfach geäußerten Bedenken,<br />

daß wegen der Kompliziertheit und der Unübersichtlichkeit<br />

dieser Programme damit gerechnet werden<br />

muß, daß der weitaus größte Teil dieser Mittel 1991<br />

überhaupt nicht in Anspruch genommen werden<br />

wird?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Olderog, wir haben schon vor dem Haushaltsbeschluß<br />

mit den Regierungen der neuen Länder die<br />

notwendigen Verwaltungsvereinbarungen ausgehandelt<br />

und haben sie den Regierungen der neuen<br />

Länder zugesandt. Sie sind inzwischen samt und sonders<br />

von den Länderregierungen beschlossen und unterzeichnet<br />

worden; die letzten sind Ende Mai in Kraft<br />

getreten, so daß die Verwaltungsvereinbarungen stehen.<br />

Was nicht überall steht, sind die Förderrichtlinien,<br />

nach denen die Länder diese Mittel im. Einzelfall vergeben.<br />

Viele Länderregierungen haben diese Förderrichtlinien<br />

zu den vier verschiedenen Programmen,<br />

von denen ich gesprochen habe, bereits erstellt und<br />

auf dieser Basis auch schon Bewilligungen ausgesprochen.<br />

Erfahrungsgemäß — das zeigt die Städtebauförderung<br />

im Westen — fließen die Mittel nicht schon im<br />

gleichen Jahr ab, in dem sie bewilligt werden. Sie fließen<br />

vielmehr in der Regel über einen längeren Zeitraum<br />

hinweg. Entscheidend ist aber, daß die Mittel<br />

noch in diesem Jahr bewilligt werden.<br />

Ich wage jetzt keine Prognose, inwieweit dies tatsächlich<br />

in den nächsten Monaten gelingt. Für den<br />

Fall, daß dies bis zum Spätherbst nicht gelingen sollte,<br />

verfallen die Mittel nicht automatisch — davon habe<br />

ich eben gesprochen —; es ist vielmehr durch den entsprechenden<br />

Haushaltsvermerk, den der <strong>Bundestag</strong><br />

beschlossen hat, vorgesehen, daß sie dann in den<br />

westlichen Bundesländern eingesetzt werden können.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Feldmann,<br />

Sie haben die nächste Zusatzfrage.<br />

Dr. Olaf Feldmann (FDP) : Herr Staatssekretär, können<br />

Sie meiner Feststellung zustimmen, daß die Betriebe<br />

des Hotel- und Gaststättengewerbes oft das<br />

Image einer Stadt wesentlich prägen, ja meist Aushängeschild<br />

eines Ortes sind, und können Sie meiner<br />

Schlußfolgerung folgen, daß sie deswegen auch eine<br />

besondere Förderung verdienen?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ich würde<br />

dem uneingeschränkt zustimmen. Die Frage ist natür-


2604 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach<br />

lich nur, welche Fördertöpfe dafür in Frage kommen.<br />

Bei der städtebaulichen Sanierung geht es in erster<br />

Linie um städtebauliche Mißstände, deren Beseitigung<br />

normalerweise vom p rivaten Eigentümer zu finanzieren<br />

ist, jedenfalls soweit die dafür notwendigen<br />

Kapital- oder Bewirtschaftungskosten aus dem Objekt<br />

heraus finanziert werden können. Nur dann, wenn es<br />

sich um städtebauliche Mißstände handelt, bei denen<br />

die Gemeinde ein entsprechendes Modernisierungsgebot<br />

erläßt und eine nachhaltige Erwirtschaftung aus<br />

dem Objekt heraus nicht möglich ist, kommt eine Finanzierung<br />

aus den Mitteln für die städtebauliche<br />

Sanierung in Frage.<br />

Aber es gibt durchaus die Möglichkeit, dafür gegebenenfalls<br />

andere Förderhilfen in Anspruch zu nehmen.<br />

Ich denke hier insbesondere an Finanzhilfen, die<br />

der Wirtschaftsminister im Rahmen der Mittelstandsund<br />

Existenzgründungshilfen gewährt.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Herr<br />

Abgeordneter Schmalz.<br />

Ulrich Schmalz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />

könnten Sie sich vorstellen, daß ein besserer Mittelabfluß<br />

zu erreichen wäre, wenn man bei den Komplementärmitteln<br />

eine geringere Eigenbeteiligung vorsähe?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir haben<br />

1990, als wir andere Programme aufgelegt haben, einen<br />

niedrigeren Komplementäranteil der Gemeinden<br />

vorgesehen. Bei den Programmen für das Jahr 1991<br />

legen wir dieselben Komplementäranteile für die Länder<br />

und Gemeinden im Beitrittsgebiet zugrunde, wie<br />

sie den Programmen hier im Westen zugrunde liegen.<br />

Wir glauben, daß wir mit den Beschlüssen, die Ende<br />

Februar zwischen dem Bund und den Regierungschefs<br />

der Länder vereinbart wurden, insgesamt für<br />

eine ausreichende Finanzausstattung im Beitrittsgebiet<br />

Sorge getragen haben, so daß auch die Länder<br />

und Gemeinden in der Lage sind, die entsprechenden<br />

Komplementärmittel aufzubringen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine Zusatzfrage, Herr<br />

Abgeordneter Brähmig.<br />

Klaus Brähmig (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist<br />

die Situation in den alten Bundesländern und in den<br />

neuen Bundesländern vergleichbar? Können Sie sich<br />

vorstellen, daß die Situation nicht vergleichbar ist?<br />

Das ist eigentlich das Problem, das wir haben.<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Vergleichbar<br />

unter dem Gesichtspunkt der ausreichenden - Ausstattung<br />

der Länder und Gemeinden mit eigenen<br />

Komplementärmitteln — das müßte ja die Frage sein,<br />

denn die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsverteilung<br />

für Fragen der Stadterneuerung ist im Beitrittsgebiet<br />

genau dieselbe wie im Westen. Primär ist die<br />

Stadterneuerung keine Aufgabe des Bundes, sondern<br />

eine Aufgabe, die in örtlicher Verantwortung zu erledigen<br />

ist, bei der der Bund jetzt im Beitrittsgebiet<br />

Finanzhilfen in dem gleichen Verhältnis gewährt, wie<br />

er sie auch den westlichen Bundesländern gibt.<br />

Entscheidend kann nur die Frage sein: Sind die<br />

neuen Länder in der Lage, die entsprechenden Kom<br />

plementärmittel aufzubringen? Wir sind der Auffassung,<br />

daß mit den Beschlüssen, die wir Ende Februar<br />

gefaßt haben, diese Voraussetzungen auch im Beitrittsgebiet<br />

gegeben sind.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile jetzt dem Kollegen<br />

Türk das Wort zu einer Zusatzfrage.<br />

Jürgen Türk (FDP): Herr Staatssekretär, können Sie<br />

sich vorstellen, daß die Mittel für das Jahr 1991, die in<br />

Ostdeutschland wegen der Verwaltungsschwierigkeiten<br />

nicht in Anspruch genommen werden können<br />

— das könnte ja sein —, aber dringend gebraucht<br />

werden, auf das Jahr 1992 überschrieben werden?<br />

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Der Haushaltsbeschluß<br />

des Parlaments sieht etwas anderes vor,<br />

Herr Kollege. Aber man kann sich vielerlei vorstellen,<br />

wenn das Parlament dies so beschließen will.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Gibt es zur Frage 14 des<br />

Kollegen Jürgen Koppelin weitere Zusatzfragen? —<br />

Dies ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich, Herr<br />

Parlamentarischer Staatssekretär.<br />

Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung<br />

und Technologie braucht nicht aufgerufen zu<br />

werden, da die Fragen 15 und 16 der Abgeordneten<br />

Ursula Burchardt und die Fragen 17 und 18 der Abgeordneten<br />

Edelgard Bulmahn auf Wunsch der Fragestellerinnen<br />

schriftlich beantwortet werden. Die Antworten<br />

werden als Anlagen abgedruckt.<br />

Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Zur<br />

Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische<br />

Staatssekretär Hans-Peter Repnik zur Verfügung.<br />

Die Frage 19 des Abgeordneten Diet rich Austermann<br />

soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort<br />

wird als Anlage abgedruckt.<br />

Ich rufe die Frage 20 des Kollegen Jürgen Augustinowitz<br />

auf:<br />

Welche Begriffsbestimmungen, Zusammenhänge bzw. Kriterien<br />

meint die Bundesregierung, wenn sie im Zusammenhang<br />

mit der Vergabe von Entwicklungshilfeleistungen von „ungerechtfertigt<br />

hohen Rüstungsausgaben" spricht?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort.<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Herr<br />

Präsident, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich wegen<br />

der in der Frage angesprochenen Komplexität der<br />

Problematik etwas umfangreicher antworten muß.<br />

Übermäßige Rüstungsausgaben tragen zu den<br />

Haushaltsdefiziten einzelner Entwicklungsländer<br />

bei. Sie verringern den Spielraum für eine sich selbst<br />

tragende, eigenständige Entwicklung und verschlechtern<br />

somit auch die Rahmenbedingungen für<br />

die Entwicklungszusammenarbeit. Eigenanstrengungen<br />

und entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen<br />

sind somit ein entscheidendes Vergabekriterium<br />

unserer Entwicklungszusammenarbeit.<br />

Die Bundesregierung entwickelt mit wissenschaftlicher<br />

Unterstützung derzeit ein Verfahren zur Bewertung<br />

des Rüstungsumfangs eines Entwicklungslan-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2605<br />

Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />

des. Dazu dienen quantitative Kriterien, z. B. der Anteil<br />

der Militärausgaben an den staatlichen Ausgaben<br />

insgesamt und das Verhältnis von Militärausgaben<br />

zur Summe der Ausgaben für Gesundheit und Bildung.<br />

Dabei geht es um das relative Gewicht der Militärausgaben<br />

im Vergleich zum Entwicklungsstand des<br />

Landes und um das proportionale Gewicht im Vergleich<br />

zu anderen Ländern einer Region. Die quantitativen<br />

Daten können dann in eine qualitative Prüfung<br />

eingebracht werden. Hier spielt der Militarisierungsgrad<br />

eines Landes vor dem Hintergrund seiner<br />

Sicherheitsinteressen eine wichtige Rolle. Ein weiteres<br />

Kriterium ist die Bereitschaft des Landes, sich an<br />

internationalen Vereinbarungen über Rüstungskontrolle<br />

und insbesondere über den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen<br />

zu beteiligen.<br />

Die Bundesregierung sieht es zwar nicht als ihre<br />

Aufgabe an, für die Entwicklungsländer eine Politik<br />

der Rüstungsbegrenzung zu definieren — sie bleibt<br />

souveräne Entscheidung der einzelnen Staaten —,<br />

dennoch hält die Bundesregierung es für geboten, bei<br />

ihrer Entscheidung über Art und Umfang der Entwicklungszusammenarbeit<br />

mit den jeweiligen Staaten<br />

Rüstungsausgaben als ein Element zu berücksichtigen.<br />

Darüber hinaus hat der Zusammenhang zwischen<br />

Rüstung und Entwicklung in den Politikdialog zwischen<br />

Geber- und Nehmerländern sowohl auf bilateraler<br />

als auch auf multilateraler Ebene bereits Eingang<br />

gefunden. Dabei wächst auch in den Partnerländern,<br />

in den Entwicklungsländern zunehmend die<br />

Einsicht, daß durch Einsparungen auf dem Gebiet der<br />

Rüstung Mittel für den Entwicklungsprozeß freigemacht<br />

werden müssen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, eine<br />

Zusatzfrage.<br />

Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />

vielen Dank für die ausführliche Beantwortung<br />

der Frage. Aber ein Punkt ist für mich offengeblieben:<br />

Wann, zu welchem Zeitpunkt ist mit der Vorlage dieser<br />

Kriterien zu rechnen?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich habe<br />

darauf hingewiesen, daß wir diese Kriterien unter Zuhilfenahme<br />

wissenschaftlichen Rates erarbeiten. Die<br />

ersten Ansätze, die wir schon erarbeitet haben, finden<br />

bereits Anwendung bei der Erarbeitung der Rahmenplanung,<br />

die wir derzeit vornehmen. Wir sind also<br />

bereits dabei, einen Teil dessen, was wir erarbeitet<br />

haben, umzusetzen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />

Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Könnten Sie<br />

sich vorstellen, daß wir im Ausschuß für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit derzeit bei der Beratung des<br />

Haushalts 1992 eine Liste Ihres Hauses bekommen,<br />

aus der hervorgeht, bei welchen Ländern es auf<br />

Grund übermäßig hoher Rüstungsausgaben zu einer<br />

Kürzung gekommen ist?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Wir werden<br />

uns auf alle Fälle bemühen, auch diese Frage im<br />

Rahmen der Haushaltsberatungen transparent zu machen.<br />

Ich bin zu gegebener Zeit, wenn die Beratungen<br />

anstehen, selbstverständlich bereit, im Ausschuß für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit Rede und Antwort zu<br />

stehen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage des Kollegen<br />

Bindig.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Ich begrüße zunächst, daß Sie<br />

den Versuch unternehmen, das Kriterium „übermäßige<br />

Rüstungsausgaben" zu operationalisieren, nachdem<br />

von der Bundesregierung jahrelang die Auffassung<br />

vertreten worden ist, das sei nicht möglich. Sie<br />

haben soeben gesagt, das solle bei der Entwicklungshilfe<br />

nach Art und Umfang berücksichtigt werden. In<br />

welche Richtung denken Sie, wenn Sie von Berücksichtigung<br />

sprechen? Denken Sie in Richtung auf eine<br />

Kürzung von Entwicklungszusammenarbeit mit diesen<br />

Ländern, oder denken Sie in der Richtung, die<br />

Zusammenarbeit nur noch auf bestimmte Projekte<br />

auszurichten?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Bindig, Sie kennen als erfahrener Entwicklungspolitiker<br />

ja den breiten Ansatz der Instrumente, die<br />

uns zur Verfügung stehen.<br />

Das erste — und da sind wir schon mitten in der<br />

ersten Phase der Implementierung dieser Gedanken<br />

— ist der Politikdialog. Es ist zuerst einmal wichtig,<br />

daß wir alle unsere Partner im Süden für dieses<br />

Thema sensibilisieren. Sie wissen selbst, daß entsprechende<br />

Erkenntnisse bei vielen unserer Partner noch<br />

längst nicht Allgemeingut sind. Daher ist der Politikdialog<br />

der erste Einstieg. Sie müssen wissen, daß wir<br />

dieses Kriterium bei der Erarbeitung unserer Länderkonzepte<br />

und — als Ausfluß dessen — bei der Zusage<br />

bestimmter Mittel verstärkt heranziehen werden. Ich<br />

glaube, wir müssen unseren Partnern die Chance geben,<br />

sich darauf einzustellen.<br />

In weiteren Schritten wird eine Verweigerung im<br />

Rahmen dieses Dialogs Konsequenzen haben. Dies<br />

kann ein Einschränken der Entwicklungszusammenarbeit<br />

sein; dies kann eine Umwidmung der Mittel<br />

sein; dies kann bedeuten, daß man stärker versucht,<br />

über Nicht-Regierungsorganisationen die Probleme<br />

vor Ort zu lösen. Das Instrumentarium ist vielfältig.<br />

Wir werden keine Facette auslassen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Nächste Zusatzfrage,<br />

Herr Kollege Grünbeck.<br />

Josef Grünbeck (FDP) : Herr Staatssekretär, ist der<br />

Handlungsspielraum der Bundesregierung bei der<br />

Reduzierung von Rüstungspotential in Entwicklungsländern<br />

nicht durch unsere bestehenden Kooperationsverträge<br />

eingeengt, und müßte man nicht ein Ziel<br />

der Bundesregierung darin sehen, daß bei künftigen<br />

Kooperationsverträgen auf die Entwicklungsländer<br />

besondere Rücksicht genommen wird, damit kooperative<br />

Rüstungsproduktionen für Entwicklungsländer<br />

reduziert werden?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Grünbeck, wir müssen hier differenzieren. Gegenstand<br />

der bisherigen Fragen war die Rüstungsent-


2606 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />

wicklung in unseren Partnerländern unabhängig davon,<br />

woher diese Rüstungsgüter kommen, ob aus der<br />

Bundesrepublik Deutschland oder woher auch immer.<br />

Die Bundesregierung hat hier in der Vergangenheit<br />

immer eine ganz klare und restriktive Haltung eingenommen.<br />

Wir werden auch in Zukunft darauf achten,<br />

daß beim Rüstungsexport, der ja nicht zuletzt auf<br />

Grund der Beschlußlage des Deutschen <strong>Bundestag</strong>s<br />

durch eine entsprechende Initiative der Bundesregierung<br />

eine noch größere Einengung erfahren soll, Partnerländer<br />

im Süden nicht bevorzugte Kunden für Rüstungsgüter<br />

aus der Bundesrepublik Deutschland<br />

oder in Kooperation mit anderen Ländern sein werden.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Nächste Zusatzfrage,<br />

Herr Kollege Erler.<br />

Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, sehen Sie<br />

vor, daß bei der Feststellung ungerechtfertigt hoher<br />

Rüstungsausgaben bei bedachten Ländern auch unsere<br />

Zuwendungen im Rahmen von Ausstattungsund<br />

Aufwendungshilfe und Polizeihilfe berücksichtigt<br />

werden?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Dies ist<br />

eine andere Frage, für die der Bundesminister für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit ja nicht zuständig ist.<br />

Wir müssen allerdings sehen: Wenn wir die Souveränität<br />

dieser Staaten und die Bereitschaft unserer Partnerländer,<br />

Demokratie gegen Feinde von innen wie<br />

gegen Feinde von außen auch wehrhaft zu verteidigen,<br />

ernst nehmen wollen, bedarf es eines bestimmten<br />

polizeilichen oder militärischen Potentials. Dies kann<br />

auch in Zukunft nach sorgfältiger Prüfung im Einzelfall<br />

bedeuten, daß wir vor diesem demokratischen<br />

Hintergrund bereit und in der Lage sind, Ausstattungshilfe<br />

zu leisten.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Walz, Sie<br />

haben die nächste Zusatzfrage.<br />

Ingrid Walz (FDP) : Herr Staatssekretär, wie werden<br />

wir es mit den Entwicklungsländern halten, die selbst<br />

Waffen herstellen und exportieren?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Dies ist<br />

eine Frage, die uns zunehmend besorgt. Es ist nicht<br />

nur so, daß ebensolche Waffenexporte aus den Industrienationen<br />

kommen, sondern zunehmend Schwellenländer<br />

hier als Exporteure auftreten. Diese Fragestellung<br />

ist Gegenstand auch unseres Prüfungsverfahrens.<br />

Wir haben also im Rahmen der jetzt schon für uns<br />

-<br />

intern erarbeiteten Prüfungskriterien auch diese<br />

Frage aufgeworfen: Gibt es Rüstungsproduktionen in<br />

diesen Ländern, und tragen diese Länder durch Rüstungsexporte<br />

mit dazu bei, daß andere Entwicklungsländer<br />

eine zu hohe Rüstung haben? Das ist ein<br />

Teil der Prüfung.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />

dazu? — Das ist nicht der Fall.<br />

Dann rufe ich die Frage 21 des Abgeordneten Augustinowitz<br />

auf:<br />

Wann und mit wem fanden in der Zeit von Juni 1989 bis heute<br />

entwicklungspolitische Regierungskonsultationen bzw. sonstige<br />

Gespräche mit chinesischen Verantwortlichen in<br />

Deutschland bzw. in China selbst statt?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort zur Beantwortung.<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident,<br />

seit Juni 1989 gab es auf politischer Ebene des<br />

Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit insgesamt<br />

fünf Besuche bzw. chinesische Delegationen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland. In der gleichen<br />

Zeit reiste Staatssekretär Lengl dreimal nach China.<br />

Wichtigste Gesprächspartner bei dem Aufenthalt<br />

von Staatssekretär Lengl im Juli 1990 waren der Ministerpräsident,<br />

der für die Planungs- und die Erziehungskommission<br />

zuständigen Staatsräte und die Minister<br />

für Außenwirtschaft, für Arbeit, für zivile Angelegenheiten<br />

und Forst sowie der Gouverneur der Provinz<br />

Fujian und der Oberbürgermeister der Stadt<br />

Shanghai.<br />

Die zweite Reise im Dezember 1990 erfolgte aus<br />

Anlaß der ersten deutsch-chinesischen Regierungsverhandlungen<br />

nach dem <strong>Bundestag</strong>sbeschluß vom<br />

30. Oktober 1990. Staatssekretär Lengl führte bei dieser<br />

Gelegenheit auch Gespräche mit einem der chinesischen<br />

Vizepremiers, Tian Juyen, dem für die Erziehungskommission<br />

zuständigen Staatsrat, dem Oberbürgermeister<br />

von Peking und dem Landwirtschaftsminister.<br />

Über seine dritte Reise aus Anlaß der Konsultationen<br />

im vergangenen Monat hat Staatssekretär Lengl<br />

dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

ausführlich berichtet. Sie selbst, Herr Kollege Augustinowitz,<br />

waren zugegen.<br />

(Rudolf Bindig [SPD]: Er hat dort die Un<br />

wahrheit gesagt!)<br />

Wichtigste Gesprächspartner waren der Ministerpräsident,<br />

Vizepremier Zhu, der für die Erziehungskommission<br />

zuständige Staatsrat sowie die Minister für<br />

Arbeit, Handel und Gesundheit und der neue Oberbürgermeister<br />

von Shanghai.<br />

Staatssekretär Lengl hatte über diese Gespräche<br />

mit Regierungsvertretern hinaus auch Kontakte mit<br />

Professoren und Studenten der chinesischen Außenhandelsuniversität,<br />

über die er ebenfalls im Ausschuß<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit erschöpfend berichtet<br />

hat.<br />

Bei den genannten fünf Delegationen aus China<br />

handelte es sich um zwei Besuche des Vizeministers<br />

des chinesischen Außenhandelsministeriums im Dezember<br />

1989 und im Dezember 1990, bei denen es um<br />

die Gestaltung der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit<br />

auf der Basis der <strong>Bundestag</strong>sbeschlüsse<br />

vom Juni 1989 bzw. vom Oktober 1990 ging.<br />

Im Juni 1990 besuchte der neue Präsident der in<br />

China für Fortbildungsmaßnahmen zuständigen Organisation,<br />

Herr Ye, das BMZ und die im Fortbildungsbereich<br />

tätigen deutschen Organisationen.<br />

Im Oktober 1990 war eine Delegation der chinesischen<br />

Erziehungskommission in Deutschland zur Erörterung<br />

der Zusammenarbeit im Bereich der berufli-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2607<br />

Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />

chen Bildung, einem Schwerpunktbereich der<br />

deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit.<br />

Bei der fünften Delegation handelte es sich um den<br />

Besuch des neuen Vizepremiers und früheren Oberbürgermeisters<br />

von Shanghai, Herrn Zhu, der im BMZ<br />

Grundlinien der künftigen Zusammenarbeit besprach<br />

und u. a. einer Einladung des Hamburger Senats<br />

Folge leistete.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Augustinowitz<br />

zu einer Zusatzfrage.<br />

Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />

ist es eigentlich üblich, daß auf der Ebene von<br />

Regierungskonsultationen in diesem Stadium ein<br />

Staatssekretär diese Gespräche führt?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Die Konsultationen<br />

werden grundsätzlich nicht auf Staatssekretärsebene<br />

geführt. Herr Kollege Lengl hat auch<br />

nicht selbst die Konsultationen geleitet, sondern er hat<br />

parallel zu den laufenden Konsultationen über die<br />

Entwicklungszusammenarbeit entwicklungspolitische<br />

Fragestellungen mit politischen Gesprächspartnern<br />

in der Volksrepublik China erörtert.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />

Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Staatssekretär,<br />

entsprechen alle in diesen eben von Ihnen<br />

genannten Gesprächen behandelten Projekte auch<br />

dem Beschluß des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es vom<br />

30. Oktober 1990?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Nach unserer<br />

Einschätzung, soweit diese Gespräche zu ganz<br />

konkreten Ergebnissen geführt haben, ja. Hierüber<br />

wurde auch jeweils der zuständige Fachausschuß sowohl<br />

in der letzten Legislaturperiode als auch in der<br />

jetzigen Legislaturperiode unterrichtet.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Darf ich — nur aus Gründen<br />

der inneren Vorbereitung — die Reihenfolge der<br />

nächsten Fragesteller nennen: Dies sind die Kollegen<br />

Schily, Soell, Erler und Bindig.<br />

Bitte sehr.<br />

Otto Schily (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie<br />

uns Auskunft darüber geben, wie oft Herr Staatssekretär<br />

Lengl bei seinen zahlreichen Besuchen von<br />

Funktionären aus dem chinesischen Bereich zwangsweise<br />

umarmt worden ist?<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Öffentlich oder<br />

nichtöffentlich?)<br />

-<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Nein.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Nächste Frage, Herr Kollege<br />

Soell.<br />

Dr. Hartmut Soell (SPD): Herr Staatssekretär, können<br />

Sie uns Auskunft darüber geben, wie oft, wie<br />

intensiv und mit welchem Ergebnis Staatssekretär<br />

Lengl darauf gedrungen hat, daß die wegen der Demokratiebewegung<br />

1989 durch zahlreiche Prozesse<br />

Verurteilten durch eine Amnestie freigelassen werden?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Soell, Staatssekretär Lengl hat bei den von mir<br />

jetzt aufgeführten drei Besuchen in den vergangenen<br />

zwei Jahren, die nach den Ereignissen auf dem Platz<br />

des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 stattgefunden<br />

haben, jeweils als einen Bestandteil seiner Gespräche<br />

mit der politischen Führung in Peking Menschenrechtsfragen<br />

gehabt, und er hat nachweislich<br />

auch des Botschaftsberichts von seiner letzten Reise,<br />

über die ja in den letzten Wochen auch in der Öffentlichkeit<br />

diskutiert wurde, gerade dem Bereich der<br />

Menschenrechtsverletzungen einen großen Stellenwert<br />

eingeräumt.<br />

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Mit welchem Er<br />

gebnis? Das war noch die Frage!)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Nächste Frage, Herr Kollege<br />

Erler.<br />

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Und das Ergeb<br />

nis?)<br />

Gernot Erler (SPD) : Herr Staatssekretär, angesichts<br />

der eindrucksvollen Liste von Konsultationen und Besuchen<br />

auf Staatssekretärsebene frage ich Sie: In welches<br />

Land sind denn seit Juni 1989 häufiger solche<br />

Delegationen des BMZ auf Staatssekretärsebene gefahren?<br />

Oder muß man aus der Liste schließen, daß die<br />

Volksrepublik China der erste Adressat bundesrepublikanischer<br />

Entwicklungshilfe ist?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich habe<br />

jetzt nicht die Unterlagen über die gesamte Reisetätigkeit<br />

der Leitung des BMZ bei mir,<br />

(Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Umfang<br />

reich! Wird schriftlich nachgereicht!)<br />

so daß ich jetzt keine erschöpfende Antwort geben<br />

kann. Es kann aber natürlich nicht bestritten werden,<br />

daß es gerade auch im Hinblick auf die Beschlüsse des<br />

Deutschen <strong>Bundestag</strong>es und auf Grund einer ganzen<br />

Reihe von vereinbarten Maßnahmen, die es ja zum<br />

Teil abzubrechen oder später umzuwidmen galt,<br />

einen erhöhten Bedarf an Gesprächen mit der chinesischen<br />

Führung gegeben hat.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bindig.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Angesichts der Tatsache, daß<br />

der Staatssekretär in diesem abgefragten Zeitraum<br />

dreimal in China gewesen ist, möchte auch ich fragen,<br />

ob er in anderen Ländern ähnlich oft gewesen ist oder<br />

ob es sich bei China um ein sogenanntes LLC, ein<br />

Lengl Loved Country, handelt?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich muß<br />

mich auf die Antwort zurückziehen, die ich dem Herrn<br />

Kollegen Erler gegeben habe. Ich habe jetzt nicht die<br />

Liste der Länder, die Herr Lengl im Vergleichszeitraum<br />

bereist hat. Aber ich möchte Ihrer Neugier insoweit<br />

entgegenkommen, als ich vermute, daß er im<br />

Vergleichszeitraum nicht häufiger in anderen Ländern<br />

war.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu weitere Fragen?<br />

— Wenn das nicht der Fall ist, könnte ich dem


2608 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

Kollegen Bindig ein P rivatissimum darüber anbieten,<br />

wie die Abkürzung LLDC in Wahrheit lautet.<br />

(Rudolf Bindig [SPD]: Ich weiß das!)<br />

Aber das machen wir besser nach der <strong>Sitzung</strong>.<br />

Nun rufe ich Frage 22 des Kollegen Bindig auf:<br />

Hat die Bundesregierung vor Beginn der Regierungsverhandlungen<br />

mit Marokko, die vom 3. Juni bis 5. Juni 1991 in Bonn<br />

stattgefunden haben, die Ermittlungsergebnisse von amnesty<br />

international über die Lage der Menschenrechte in Marokko<br />

eingeholt und zum Gegenstand der Erörterungen im Zusammenhang<br />

mit der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit dieses<br />

Landes gemacht, und, wenn ja, zu welchen konkreten Ergebnissen<br />

im Hinblick auf eine verbesserte Respektierung der<br />

Menschenrechte haben die Regierungsverhandlungen geführt?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben<br />

das Wort.<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Im Vorfeld<br />

der Regierungsverhandlungen mit Marokko vom<br />

3. bis 5. Juni 1991 haben auf Grund der dem BMZ u. a.<br />

von amnesty international vorliegenden Erkenntnisse<br />

zur Menschenrechtslage sowohl Gespräche mit dem<br />

Generalsekretär von amnesty international als auch<br />

mit dem marokkanischen Botschafter in Bonn zur<br />

Frage der Menschenrechte in Marokko stattgefunden.<br />

Während der Regierungsverhandlungen selbst hat<br />

Frau Parlamentarische Staatssekretärin Geiger mit<br />

dem marokkanischen Delegationsleiter ein ausführliches<br />

Gespräch zur Lage der Menschenrechte in Marokko<br />

geführt und dabei darauf hingewiesen, daß wir<br />

der Arbeit der in Marokko existierenden Menschenrechtsorganisationen<br />

und insbesondere des Konsultativrats<br />

für Menschenrechte große Bedeutung beimessen,<br />

die Entwicklung der Arbeiten insbesondere des<br />

Konsultativrats sorgfältig beobachten und an einer<br />

effektiven und unbeeinträchtigten Aktivität äußerst<br />

interessiert sind.<br />

Die marokkanische Seite hat sich gegenüber unseren<br />

Anliegen sensibel gezeigt. Ich gehe dabei davon<br />

aus, daß unsere Anliegen in Marokko den zuständigen<br />

Regierungsstellen übermittelt worden sind. Wir<br />

werden die weitere Entwicklung sorgfältig verfolgen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bindig.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, ist Ihnen<br />

bekannt, ob bei diesem Gespräch über die Menschenrechte<br />

auch das Schicksal der zahlreichen verschwundenen<br />

Sahrauis angesprochen worden ist?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Bindig, wir haben noch keine offizielle, förmliche<br />

Berichterstattung über die auch uns aus Zeitungsmeldungen<br />

bekanntgewordenen Fragestellungen. Entsprechende<br />

Initiativen wurden eingeleitet. Die marokkanische<br />

Botschaft befaßt sich mit den Menschenrechtsfragen,<br />

und wir warten auf einen entsprechenden<br />

Bericht.<br />

In diesem Gespräch selbst hat dieses Thema wohl<br />

keine Rolle gespielt.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, wenn Sie<br />

ein solches Gespräch führen und die Bundesregierung<br />

dort die Menschenrechtsproblematik anspricht,<br />

werden dann auch konkrete Einzelfälle besprochen,<br />

oder wird die Menschenrechtssituation allgemein erörtert?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Sowohl als<br />

auch. Dort, wo uns gravierende Fälle bekannt sind,<br />

nehmen wir Einfluß, indem wir diese Fälle ansprechen.<br />

Sie selbst wissen aus Ihrer Erfahrung, daß es im<br />

Einzelfall auch einmal kontraproduktiv sein kann,<br />

einen bestimmten Namen einzuführen. Wir stellen<br />

uns hier also auf den Einzelfall ein.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />

aus dem Kollegenkreis? — Das ist nicht der Fall.<br />

Ich rufe Frage 23, ebenfalls vom Kollegen Bindig<br />

gestellt, auf:<br />

Hat die Bundesregierung vor Beginn der Regierungsverhandlungen<br />

mit der Türkei, die vom 11. bis 13. Juni in Bonn stattgefunden<br />

haben, die Ergebnisse von amnesty international über<br />

die Lage der Menschenrechte in der Türkei eingeholt und zum<br />

Gegenstand der Erörterungen im Zusammenhang mit der entwicklungspolitischen<br />

Zusammenarbeit dieses Landes gemacht,<br />

und, wenn ja, zu welchen konkreten Ergebnissen im Hinblick<br />

auf eine verbesserte Respektierung der Menschenrechte haben<br />

die Regierungsverhandlungen geführt?<br />

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um<br />

Beantwortung.<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Bindig, die Bundesregierung ist ständig bemüht,<br />

unabhängig von der laufenden Unterrichtung u. a.<br />

durch amnesty international ein eigenes Bild über die<br />

Lage der Menschenrechte in der Türkei zu gewinnen.<br />

Das große Interesse, das die Bundesregierung der<br />

Respektierung der Menschenrechte beimißt, wurde<br />

sowohl bei den Verhandlungen über die entwicklungspolitische<br />

Zusammenarbeit als auch beim Besuch<br />

des türkischen Delegationsleiters von meiner<br />

Kollegin Michaela Geiger im Bundesministerium für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie anläßlich der<br />

Unterzeichnung eines Abkommens über finanzielle<br />

Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt am 13. Juni<br />

1991 verdeutlicht. Die türkische Seite erklärte sich<br />

dabei im Einklang mit den von uns vorgetragenen<br />

Vorstellungen.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Herr Staatssekretär, kann ich<br />

aus Ihrer Antwort schließen, daß also von amnesty<br />

international für diese Regierungsverhandlungen<br />

keine konkreten Informationen extra eingeholt worden<br />

sind, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,<br />

daß die Frage darauf beruht, daß der entwicklungspolitische<br />

Sprecher Ihrer Partei hier im <strong>Bundestag</strong> bei<br />

einer Menschenrechtsdebatte begrüßt hat, daß die<br />

Bundesregierung die Absicht erklärt hat, bei allen<br />

Regierungsverhandlungen in Zukunft vorab Informationen<br />

von amnesty international einzuholen?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Das zuständige<br />

Referat hat auch hier auf dem Schriftweg die<br />

aktuellen Informationen von amnesty international<br />

mit einbezogen und berücksichtigt. Im Gegensatz<br />

zum vorher genannten Fall hat aber kein eigenständi-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2609<br />

Parl. Staatssekretär Hans-Peter Repnik<br />

ges Gespräch mit dem Generalsekretär von amnesty<br />

international stattgefunden.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage.<br />

Rudolf Bindig (SPD): Ist bei den Gesprächen, die<br />

dann geführt worden sind, auch die menschenrechtliche<br />

Situation der Kurden behandelt worden?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Jawohl,<br />

das Thema hat eine bedeutende Rolle gespielt.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />

dazu? — Kollege Professor Dr. Hauchler.<br />

Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Herr Staatssekretär,<br />

die Bundesregierung hat die Menschenrechtsfrage zu<br />

einem der wichtigsten Kriterien der deutschen Entwicklungspolitik<br />

gemacht, vor allem in den letzten<br />

Monaten. Wie erklärt es sich vor diesem Hintergrund,<br />

daß die entwicklungspolitischen Zusagen für die Türkei<br />

erhöht werden sollen oder schon erhöht worden<br />

sind, obwohl sich die Menschenrechtslage in der Türkei<br />

nicht verbessert hat?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege<br />

Dr. Hauchler, ich habe mich gerade noch einmal<br />

vergewissert, wie groß die Zahl der Flüchtlinge war,<br />

die auf Grund der Ereignisse im Irak und der Menschenrechtsverletzungen<br />

dort in der Türkei Zuflucht<br />

gesucht haben: immerhin über eine halbe Million. Wir<br />

haben natürlich auch dieser Situation Rechnung getragen<br />

und haben in diesem Zusammenhang unsere<br />

Mittel im Hinblick auf die Situation der kurdischen<br />

Flüchtlinge erhöht. Darüber hinaus haben wir keine<br />

Erhöhung der Mittel vorgenommen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Frau Kollegin<br />

Fischer.<br />

Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Staatssekretär,<br />

Sie haben gesagt, daß die Probleme der Kurden<br />

eine Rolle gespielt haben. Im Osten der Türkei<br />

sind die Menschenrechte zum Teil aufgehoben. Was<br />

tut die Bundesregierung, damit sich diese Situation<br />

dort ändert?<br />

Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Wir greifen<br />

diese Themen im Rahmen unserer Gespräche, sowohl<br />

der Gespräche des Auswärtigen Amtes als auch<br />

der Gespräche des Bundesministers für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit, auf allen Ebenen auf, und besprechen<br />

sie mit unseren Partnern, um für eine Verbesserung<br />

der Situation einzutreten. Ich möchte allerdings<br />

— nicht entschuldigend, aber immerhin erklärend<br />

— hinzufügen: Wenn binnen kurzem, innerhalb<br />

von wenigen Wochen, eine halbe Million Flüchtlinge<br />

die Grenze in einem unwegsamen Gebiet überschreiten,<br />

dann kommt es auch auf Grund der besonderen<br />

Notsituation gelegentlich zu nicht geplanten, aber<br />

doch objektiv gegebenen Menschenrechtsverletzungen.<br />

Ich glaube, das muß gesehen werden.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen<br />

dazu? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer<br />

Staatssekretär, dann darf ich mich bei Ihnen für die<br />

Beantwortung der Fragen bedanken.<br />

Nachdem wir zu Beginn der Fragestunde bei den<br />

Dringlichen Fragen schon den Geschäftsbereich des<br />

Bundesministers des Auswärtigen aufgerufen hatten,<br />

rufe ich diesen Geschäftsbereich jetzt erneut auf. Herr<br />

Staatsminister Helmut Schäfer steht uns wiederum<br />

zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.<br />

Die Frage 24 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer<br />

soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird<br />

als Anlage abgedruckt.<br />

Ich rufe Frage 25 des Abgeordneten Ortwin Lowack<br />

auf:<br />

Wie gedenkt die Bundesregierung auf das Strategiepapier des<br />

Zentralkomitees der KPdSU (vgl. FAZ vom 7. Juni 1991), welches<br />

von Präsident Gorbatschow gebilligt wurde und in dem<br />

eine politische und psychologische Beeinflussung der ehemaligen<br />

Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes festgelegt ist, zu<br />

reagieren?<br />

Sie haben das Wort, Herr Staatsminister.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Herr Kollege, die Bundesregierung wird ihre bisherige<br />

erfolgreiche Politik gegenüber der Sowjetunion<br />

und den Staaten Mittel- und Osteuropas konsequent<br />

fortsetzen, die nämlich auf die Herstellung eines<br />

neuen Vertrauensverhältnisses zwischen allen<br />

Staaten Europas abzielt.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kollege<br />

Lowack.<br />

Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister,<br />

ist Ihnen klar, daß Sie mit dieser Antwort in keiner<br />

Weise auf meine konkrete Frage eingegangen sind,<br />

weil sich diese Frage auf eine Strategiepapier des<br />

Zentralkomitees der KPdSU bezogen hat und ich<br />

gerne wissen wollte, welche Haltung die Bundesregierung<br />

dazu einnimmt und ob sie nicht der Auffassung<br />

sein müßte, daß hier eine klare Entgegnung von<br />

deutscher Seite ein wichtiger Beitrag sein könnte, um<br />

die früheren Warschauer-Pakt-Länder außerhalb der<br />

Sowjetunion auf ihrem Weg zum freiheitlichen Europa<br />

zu ermutigen?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die<br />

Tatsache, daß dieses sogenannte Strategiepapier auf<br />

verschlungenen Wegen an die Öffentlichkeit gelangt<br />

ist, sollte Sie vielleicht zum Nachdenken darüber anregen,<br />

wer Interesse daran gehabt hat, dieses sehr<br />

umstrittene Papier der Öffentlichkeit bekanntzumachen.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage.<br />

Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister,<br />

ich räume gerne ein, daß das ein sehr umstrittenes<br />

Papier ist. Aber ist nicht die Bundesregierung mit mir<br />

der Auffassung, daß Michail Gorbatschow immer<br />

noch Generalsekretär der KPdSU ist und daß er insoweit<br />

über den Inhalt des Papiers eigentlich hätte informiert<br />

sein müssen?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege,<br />

schon die Tatsache, daß Sie andeuten, daß es sich bei<br />

den Verfassern dieses Papiers und bei Herrn Gorbatschow<br />

um unterschiedliche Personen handelt, legt


2610 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Staatsminister Helmut Schäfer<br />

den Verdacht nahe, daß wir das Papier nicht ganz so<br />

ernst nehmen müssen, wie Sie es tun.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Gibt es dazu weitere Zusatzfragen?<br />

— Bitte, Herr Kollege Erler.<br />

Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, können Sie<br />

bestätigen, daß die bisherigen Bündnispartner der Sowjetunion<br />

im Warschauer Pakt in der Praxis der sowjetischen<br />

Politik nicht unter einen politischen oder<br />

psychologischen Druck gesetzt werden, was ihre jetzigen<br />

Entscheidungen und ihre jetzige Sicherheitspolitik<br />

angeht?<br />

(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich<br />

kann sogar bestätigen, daß sich Vertreter der von Ihnen<br />

genannten Staaten mit Sicherheit einem solchen<br />

Druck nicht mehr unterziehen würden, sondern sich<br />

in ihren Gesprächen mit der Sowjetunion als souveräne<br />

Partner bewähren.<br />

(Gernot Erler [SPD]: Danke!)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Keine weiteren Zusatzfragen.<br />

Dann rufe ich Frage 26 des Abgeordneten Dr. Hermann<br />

Scheer auf:<br />

Für welchen Zeitpunkt erwartet die Bundesregierung den<br />

Beginn von amerikanisch-sowjetischen SNF (Short Nuclear Forces)-Verhandlungen?<br />

Bitte sehr, Herr Staatsminister.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Soweit ich sehe,<br />

hätte ich noch eine zusätzliche Frage — — Entschuldigung,<br />

nein, das war ein Irrtum. Sie haben recht, Herr<br />

Präsident, wie immer.<br />

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das entscheidet der<br />

Präsident, Herr Minister, damit das einmal<br />

klar ist!)<br />

— Ich habe schon klargestellt, daß der Präsident, wie<br />

immer, recht hat. Sie haben das offensichtlich auch<br />

gehört. Das war ein Mißverständnis.<br />

Herr Kollege Scheer, die Bundesregierung setzt sich<br />

dafür ein, bis zum NATO-Gipfel am 7.18. November<br />

1991 eine gemeinsame SNF-Verhandlungsposition<br />

des Bündnisses auszuarbeiten und zum frühestmöglichen<br />

Zeitpunkt danach Verhandlungen zwischen den<br />

USA und der Sowjetunion aufzunehmen.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage, Herr<br />

Dr. Scheer.<br />

-<br />

Dr. Hermann Scheer (SPD): Herr Staatsminister, da<br />

die Bundesrepublik Deutschland ja kein marginaler<br />

Staat ist und sicherlich eigene Vorstellungen hat: Wie<br />

sehen denn die Vorstellungen für eine Verhandlungsposition,<br />

mit denen man ins Bündnis geht, aus?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, soviel<br />

ich weiß, sind Sie Mitglied des Unterausschusses<br />

für Abrüstung.<br />

(Walter Kolbow [SPD]: Vorsitzender!)<br />

— Entschuldigung, Vorsitzender. Ich bitte, mir auch<br />

das nachzusehen.<br />

Ich glaube daher, daß die Erörterung dieser Vorstellungen<br />

nicht in der Kürze einer Fragestunde geschehen<br />

kann. Die Vorstellungen sind bekannt. Der Unterausschuß<br />

behandelt sie hoffentlich; das müßte auf seiner<br />

Tagesordnung stehen.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zusatzfrage.<br />

Dr. Hermann Scheer (SPD): Da ich das trotz meiner<br />

Funktion als Vorsitzender des Unterausschusses nicht<br />

feststellen konnte, frage ich, ob die Bundesregierung<br />

bereits eine Position hat, die wir dann vielleicht nachfragen<br />

könnten?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Bundesregierung<br />

ist bei dem Ziel, das ich Ihnen genannt habe,<br />

nämlich bis zum NATO-Gipfel zu erreichen, daß es<br />

eine gemeinsame Verhandlungsposition des Bündnisses<br />

gibt, natürlich bemüht, solche Positionen auch ihren<br />

Partnern gegenüber darzustellen. Ich kann nur<br />

sagen: Das Ganze befindet sich in der Mache. Wir<br />

können Ihnen abschließende Vorstellungen der Bundesregierung<br />

jetzt sicher noch nicht mitteilen, weil<br />

das mit unseren Partnern bis zu dem besagten Gipfel<br />

abgesprochen werden muß.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zusatzfrage<br />

des Abgeordneten Otto Schily.<br />

Otto Schily (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben<br />

den Ausdruck „frühestmöglicher Zeitpunkt" verwendet.<br />

Könnten Sie etwas genauer erläutern, nach welchen<br />

Konditionen ein solcher Begriff zu verstehen<br />

ist?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Für uns wäre dieser<br />

Zeitpunkt so früh wie möglich, was aber nicht unbedingt<br />

alle unserer Partner ähnlich sehen. Wir wollen<br />

erreichen,<br />

(Otto Schily [SPD]: Frühestmöglicher heißt<br />

also so früh wie möglich!)<br />

das mit dem Bündnis so früh wie möglich zu schaffen.<br />

Ich darf es wiederholen: Es ist das Interesse der Bundesrepublik,<br />

solche Verhandlungen so früh wie möglich<br />

zustande zu bringen und insofern auch eine Gemeinsamkeit<br />

der Verhandlungspositionen der Partner<br />

in der NATO zu erarbeiten, so daß wir davon ausgehen<br />

können, daß die Verhandlungsposition des Bünd<br />

nisses bis zum NATO-Gipfel steht. Danach können<br />

die Verhandlungen schnell begonnen werden.<br />

Der Hinweis „frühestmöglich" heißt: Wir müssen<br />

uns auch mit unseren Partnern verständigen. Bei dem<br />

Termin sind wir auch von dem Verlauf der Vorberatungen<br />

bzw. der Erarbeitung dieses Konzeptes abhängig.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage<br />

der Frau Abgeordneten Katrin Fuchs.<br />

Katrin Fuchs (Verl) (SPD): Herr Staatsminister, es ist<br />

soeben schon meinem Kollegen gesagt worden, daß<br />

die Bundesrepublik eine relativ starke Position in diesem<br />

Konzert hat. Ist es dann eigentlich zu verstehen,<br />

daß die Bundesrepublik immer darauf wartet, welche<br />

Positionen das Bündnis hat, bevor sie zu eigenen Posi-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2611<br />

Katrin Fuchs (Verl)<br />

tionen gelangt? Bestünde nicht auch die Möglichkeit,<br />

daß die Bundesrepublik ihr Gewicht nutzt und selbst<br />

dafür streitet, daß der frühestmögliche Zeitpunkt terminiert<br />

wird, und daß Sie uns wirklich konkret antworten?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Genau diese Annahme<br />

entspricht der Tatsache.<br />

(Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Aber das ist ja<br />

nun schon lange her!)<br />

Aber wenn Sie in dem ersten Teil Ihrer Frage sozusagen<br />

auf den gewachsenen Einfluß der Bundesregierung<br />

abheben, Frau Kollegin, und sagen, wir müßten<br />

auf Grund des gewachsenen Einflusses jetzt eine<br />

deutlichere Sprache sprechen, dann muß ich feststellen,<br />

daß das neue Töne aus der SPD-Fraktion sind.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />

Damen und Herren, wir können noch zwei Fragen<br />

zur Beantwortung zulassen.<br />

Ich rufe die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten<br />

Manfred Opel auf:<br />

Welche eigenen Zeitvorstellungen vertritt die Bundesregierung<br />

in den Gremien des Bündnisses bezüglich des Beginns<br />

amerikanisch-sowjetischer SNF-Verhandlungen?<br />

Treffen Berichte zu, wonach die amerikanische Regierung in<br />

Erwägung zieht, auf amerikanisch-sowjetische SNF-Verhandlungen<br />

zu verzichten?<br />

Bitte sehr, Herr Staatsminister.<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Fragen 27 und<br />

28 des Kollegen Opel beantworte ich wie folgt: Herr<br />

Kollege, die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß<br />

bis zum NATO-Gipfel — dies ist praktisch die Wiederholung<br />

der Antwort auf die vorhergehende Frage —<br />

eine gemeinsame Position erreicht wird. Ich verweise<br />

in diesem Zusammenhang darauf, daß die amerikanische<br />

Regierung den in der Londoner Erklärung vom<br />

6. Juli enthaltenen Bündnisbeschluß zur Aufnahme<br />

neuer Verhandlungen über die Reduzierung nuklearer<br />

Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite zwischen<br />

den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion<br />

maßgeblich mitgetragen hat. Diese Bündnisposition<br />

wurde auch im Kommuniqué der NATO-Außenminister<br />

vom 7. Juni dieses Jahres noch einmal ausdrücklich<br />

bestätigt.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Abgeordneter<br />

Opel, eine Zusatzfrage.<br />

Manfred Opel (SPD): Herr Staatsminister, kann ich<br />

aus Ihrer vorhin gegebenen Antwort schließen, daß<br />

der Beitrag, den Sie im Bündnis zu leisten gedenken,<br />

ein eigenes Konzept der Bundesregierung einschließt,<br />

das sie im Moment noch nicht zu veröffentlichen gedenkt?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, man<br />

muß hier zwischen unserer Bemühung bei den Vorbereitungen<br />

zu diesen für uns sehr wichtigen Verhandlungen<br />

und dem tatsächlichen Ergebnis unterscheiden.<br />

Die Verhandlungen werden ja bilateraler Art<br />

sein. Sie erfolgen zwischen den Vereinigten Staaten<br />

und der Sowjetunion, nicht zwischen uns und der Sowjetunion.<br />

Wir werden alles dafür tun, daß es eine<br />

gemeinsame Verhandlungsposition geben wird. Daß<br />

wir dazu Vorstellungen haben, ist klar. Daß wir aber<br />

im Vorfeld dieser Bemühungen zu einer gemeinsamen<br />

Position kommen wollen und unsere Vorstellungen,<br />

nicht jetzt apodiktisch in den Raum stellen wollen,<br />

sondern sie mit den Partnern diplomatisch absprechen,<br />

dafür bitte ich um Verständnis.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Noch eine Zusatzfrage<br />

des Abgeordneten Opel? — Bitte sehr.<br />

Manfred Opel (SPD): Herr Staatsminister, es gab in<br />

der Vergangenheit durchaus Diskrepanzen in der Definition<br />

dessen, was SNF bedeutet. Können Sie mir<br />

sagen, ob die Bundesregierung unterdessen zu einer<br />

einvernehmlichen Interpretation mit den Amerikanern<br />

bzw. den NATO-Partnern und den Sowjets gefunden<br />

hat und wie diese aussieht?<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube, es hat<br />

sich bei den noch bestehenden Differenzen innerhalb<br />

des Bündnisses vor allem um die noch zu klärende<br />

Frage des geographischen Anwendungsgebietes des<br />

SNF-Abkommens gehandelt. Wir haben immer die<br />

Meinung vertreten, und sind auch mit der Mehrheit<br />

der Verbündeten der Auffassung, daß das Anwendungsgebiet<br />

auch den europäischen Teil der Sowjetunion<br />

einschließen sollte. Damit würde auch das sowjetische<br />

SNF-Potential in den angestrebten Abbau<br />

mit einbezogen und nicht nur eine Rückverlegung auf<br />

sowjetisches Gebiet festgeschrieben. Das war unsere<br />

Position. Ich glaube, daß sich hier die Positionen angenähert<br />

haben.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatsminister,<br />

vielen Dank.<br />

Ich kann keine weiteren Zusatzfragen zulassen. Wir<br />

haben die Fragestunde schon um zwei Minuten überzogen.<br />

Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den<br />

Zusatztagesordnungspunkt 8 auf:<br />

Aussprache zum Stationierungskonzept der<br />

Streitkräfte<br />

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die<br />

Aussprache mit Fünf-Minuten-Beiträgen wie in einer<br />

Aktuellen Stunde erfolgen. — Ich höre und sehe keinen<br />

Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege<br />

Albrecht Müller.<br />

Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD): Herr Präsident!<br />

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer jahrelang<br />

Abrüstung fordert, der sollte nicht kopfstehen, wenn<br />

sie endlich möglich ist<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)<br />

und wenn dies auch Folgen für Menschen und Regionen<br />

haben kann. Wir Sozialdemokraten haben Abrüstung<br />

immer gewollt. Wir begreifen auch den Truppenabbau<br />

zuallererst als eine Chance, nicht als eine<br />

Last.<br />

Allerdings, gerade weil die Arbeit für die Betroffenen<br />

im Konkreten schwierig ist, verlangen wir die<br />

volle Aufmerksamkeit der Verantwortlichen. Das ver-


2612 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Albrecht Müller (Pleisweiler)<br />

missen wir bei Herrn Stoltenberg und der Bundesregierung<br />

insgesamt.<br />

(Walter Kolbow [SPD]: Sehr richtig!)<br />

Wir haben die heutige Debatte zum Stationierungskonzept<br />

der Streitkräfte beantragt, weil die Gefahr<br />

besteht, daß durch Stümperei, Nachlässigkeit und<br />

Konzeptionslosigkeit die Chance vertan wird, die Abrüstung<br />

auch in den Herzen der betroffenen Menschen<br />

zu verankern. Abrüstung ist eine große Chance.<br />

Was haben Sie daraus gemacht?<br />

Die Bundesregierung hat zunächst einmal viel Zeit<br />

vertan. Schon Mitte der 80er Jahre war klar, daß man<br />

sich auf Abrüstung vorbereiten kann. Ich habe im Mai<br />

1989 die Bundesregierung nach einem Sonderprogramm<br />

zur Konversion gefragt und habe die klassische<br />

Antwort einer verschlafenen Bundesregierung<br />

bekommen. Man hat mich nämlich wissen lassen, es<br />

bestehe kein Anlaß, insbesondere nicht zu einer regionalpolitischen<br />

Flankierung. Das war im Mai 1989;<br />

das muß man sich einmal vorstellen!<br />

(Walter Kolbow [SPD]: Hört! Hört!)<br />

Das war es dann, und da ist es kein Wunder, daß die<br />

Bundesregierung bei dieser Frage bis heute nicht an<br />

der Spitze der Bewegung, sondern am Rockschoß der<br />

Geschichte hängt.<br />

(Walter Kolbow [SPD]: Leider wahr!)<br />

Sie haben nicht rechtzeitig informiert. Sie haben die<br />

Planungsarbeit am Ressortkonzept wie eine geheime<br />

Kommandosache behandelt. Sie haben dem Verteidigungsausschuß<br />

Information und Kooperation versprochen<br />

und die Information dann über die Presse<br />

lanciert. Sie haben einseitig die Koalitionsparteien informiert<br />

und mit ihnen das Konzept besprochen,<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das<br />

stimmt doch gar nicht! Sie sind doch gar nicht<br />

dabeigewesen!)<br />

aber zugleich versäumt, es mit Ländern und Gemeinden<br />

abzustimmen.<br />

(Zuruf von der SPD: So ist es!)<br />

Sie haben die betroffenen Gemeinden mit Ihrer Forderung<br />

nach Verkauf von Grundstücken zum Verkehrswert<br />

— allenfalls minus 15 % — hingehalten<br />

und Unruhe geschaffen. Sie schreiben mit Ihrem Konzept<br />

überwiegend veraltete Strukturen fort. Ex-General<br />

Schmückle nannte dieses Reduzierungskonzept<br />

eine schlampige Arbeit und eine Zumutung für Kommunen<br />

und Truppe.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Sie haben in einigen besonders strukturschwachen<br />

Räumen die Reduzierung der Bundeswehr ohne<br />

Rücksicht auf die angekündigte Reduzierung alliierter<br />

Truppen oben draufgepackt.<br />

Bei allen diesen Ungereimtheiten und Versäumnissen<br />

zeigt sich: Hier ist eine Bundesregierung am<br />

Werk, die weder handwerklich noch konzeptionell in<br />

der Lage ist, schwierige Fragen unserer Zeit rechtzeitig<br />

und gut zu lösen.<br />

Wir fordern Sie erstens auf, endlich parallel zur Abrüstungsplanung<br />

ein Konversionssonderprogramm<br />

vorzulegen, das den wirtschaftlichen Folgen von Abrüstung,<br />

Truppenreduzierung und Standortauflösung<br />

Rechnung trägt.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Wir fordern Sie zweitens auf, die dafür notwendigen<br />

Verhandlungen mit den Ländern und den betroffenen<br />

Gemeinden zu führen und am 30. September 1991<br />

abzuschließen.<br />

Wir fordern Sie drittens auf, Sozialpläne zu entwikkeln<br />

und ein schlüssiges Konzept zur Überwindung<br />

der Auswirkungen auf die Zivilbeschäftigten vorzulegen,<br />

ein Konzept, das auch wirklich weiterträgt.<br />

Wir verlangen viertens von der Bundesregierung,<br />

daß sie endlich Schluß macht mit der absonderlichen<br />

Vorstellung, die Strukturerneuerung in den strukturschwachen<br />

Regionen sei vom Markt allein zu leisten.<br />

Da bedarf es wirklich einer massiven besonderen Anstrengung<br />

und auch besonderer Rahmenbedingungen.<br />

Fünftens. Wir fordern die Bundesregierung auf,<br />

endlich eine großzügige Regelung über die Abgabe<br />

von Grundstücken an die Gemeinden vorzulegen.<br />

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Das ist alles<br />

im Fluß!)<br />

Wir fordern, die Grundstücke altlastenfrei und verbilligt<br />

abzugeben, mit einem Rabatt von bis zu 80 %, in<br />

besonderen Fällen kostenlos.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU:<br />

110 %!)<br />

Wir verlangen zugleich auch Klarheit und Durchsichtigkeit<br />

dieser Regelungen.<br />

Sechstens. Wir fordern eine bessere Abstimmung<br />

des Bundeswehrkonzeptes mit der Planung der Alliierten.<br />

Siebtens. Wir fordern die Bundesregierung auf,<br />

endlich bei der Beschaffung, insbesondere bei Großprojekten,<br />

rigoros zu streichen. Die dort bisher verschwendeten<br />

Mittel werden dringend gebraucht.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Achtens. Wir unterstützen Sie bei allem, was sozialen<br />

Sinn für die betroffenen Menschen und Weitsicht<br />

erkennen läßt. Dahin bewegen müssen Sie sich allerdings<br />

schon selbst.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />

Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner<br />

das Wort erteile, noch ein kurzer Hinweis zur Fragestunde:<br />

Es ist eine Unklarheit aufgetreten, was<br />

denn mit den heute nicht beantworteten Fragen geschieht.<br />

Sie alle werden natürlich schriftlich beantwortet,<br />

weil wir in dieser Woche keine Fragestunde


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2613<br />

Vizepräsident Helmuth Becker<br />

mehr haben *). Es bedarf also nicht einer besonderen<br />

Beantragung.<br />

Als nächste Rednerin hat nun Frau Kollegin Claire<br />

Marienfeld das Wort.<br />

Claire Marienfeld (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frieden<br />

schaffen mit weniger Waffen! — Jetzt sind wir soweit,<br />

und nun ist es nicht recht.<br />

(Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]:<br />

Wem denn? — Widerspruch bei der SPD)<br />

Die von uns allen politisch gewollte und vertraglich<br />

vereinbarte Reduzierung unserer Truppen bis Ende<br />

1994 mit der Überwindung der deutschen Teilung und<br />

veränderten Sicherheitsbedingungen in Europa darf<br />

jetzt nicht unter regionalpolitischen Gesichtspunkten<br />

zerredet werden.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP<br />

— Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/<br />

GRÜNE]: Das sagen Sie mal Ihren Kollegen!<br />

— Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Aber<br />

tun müssen Sie was!)<br />

Die Verringerung unserer Streitkräfte bei gleichzeitiger<br />

Vergrößerung unseres Ter ritoriums bedingt eine<br />

Neuaufteilung und zwangsweise Verlagerung bzw.<br />

Auflösung von Einheiten und Verbänden der Bundeswehr.<br />

370 000 Soldaten können eben nur auf eine<br />

bestimmte Anzahl von Standorten sinnvoll verteilt<br />

werden.<br />

(Zurufe von der SPD: Richtig! — Das ist doch<br />

logisch!)<br />

„Abrüstung ja, aber nicht bei mir" ist kein brauchbares<br />

Planungsprinzip.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Erstes Kriterium für die Reduzierung ist die Sicherstellung<br />

der militärischen Aufgabenerfüllung.<br />

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt war die Maßgabe,<br />

Ballungsräume zu entlasten und in strukturschwächeren<br />

Gebieten auch aus wirtschaftlichen<br />

Gründen geringere Reduzierungen vorzunehmen.<br />

(Manfred Opel [SPD]: Sie sollten sich mal<br />

einen besseren Redenschreiber zulegen!)<br />

— Herr Kollege Opel, im Gegensatz zu Ihnen schreibe<br />

ich meine Reden selbst.<br />

Meine Damen und Herren, ein weiteres Kriterium<br />

war die Akzeptanz der Bundeswehr in der Bevölkerung<br />

und bei den politisch Verantwortlichen -<br />

in den<br />

Städten und Gemeinden. Aber gerade da machen wir<br />

die Erfahrung, die alles auf den Kopf stellt: Ratsbeschlüsse<br />

in SPD-regierten Rathäusern, die noch vor<br />

einigen Monaten Gültigkeit hatten und die Forderungen<br />

nach Abzug zum Inhalt beinhalteten, werden<br />

*) Die Fragen 41 des Abgeordneten Rolf Schwanitz, 58, 59 des<br />

Abgeordneten Gerhard Schulz (Leipzig), 60, 61 Elisabeth<br />

Grochtmann, 62, 63 des Abgeordneten Krziskewitz, 64, 65 des<br />

Abgeordneten Gunnar Uldall, 79 und 80 des Abgeordneten<br />

Peter Conradi wurden zurückgezogen.<br />

Die schriftlich erteilten Antworten auf die übrigen Fragen<br />

werden in einem Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.<br />

heute revidiert. Plötzlich entdeckt man seine Liebe zur<br />

Bundeswehr.<br />

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Nen<br />

nen Sie doch mal ein paar Beispiele, damit<br />

wir dem nachgehen können!)<br />

Das Positive an dieser gesamten Diskussion ist für<br />

mich allerdings die Tatsache, daß damit in den betroffenen<br />

Städten und Gemeinden eine Überprüfung des<br />

eigenen Verhaltens gegenüber unseren Soldaten<br />

stattgefunden hat,<br />

(Beifall des Abg. Dr. Egon Jüttner [CDU/<br />

CSU])<br />

und daß, wenn man den Reaktionen glauben darf,<br />

Anzeichen von Bewußtseinswandel auch bei der SPD<br />

erkennbar sind. Ich hoffe, daß das so weitergeht.<br />

(Zuruf von der SPD: Machen Sie sich keine<br />

Hoffnungen!)<br />

Ich verkenne nicht, daß die vor Ort entstehenden<br />

Reduzierungen, Verlegungen und Auflösungen große<br />

strukturelle und wirtschaftliche Probleme mit sich<br />

bringen. Doch die SPD sollte sich mit massiver Kritik<br />

am Stoltenberg-Plan zurückhalten.<br />

(Dr. Peter Struck [SPD]: Stoltenberg-Plan,<br />

was ist das denn?)<br />

Die Bürger haben nicht vergessen, daß der sozialdemokratische<br />

Kanlzerkandidat Oskar Lafontaine eine<br />

Verringerung der Truppenstärke der Bundeswehr auf<br />

200 000 Soldaten durchsetzen wollte.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

— Hören Sie bitte weiter!<br />

Ganz abgesehen von der Frage, ob die Armee ihren<br />

Auftrag dann noch erfüllen könnte, hätte dies unweigerlich<br />

ganze Regionen ins wirtschaftliche Chaos geführt.<br />

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Mit Ih<br />

rer Regierung schon!)<br />

Es ist unglaubwürdig, wenn Sozialdemokraten<br />

jetzt, abgesehen von besonderen regionalen Überlegungen,<br />

generell um jeden Soldaten kämpfen.<br />

Wir sind nun gefordert, und wir werden auch sozial<br />

verträgliche Lösungen finden,<br />

(Manfred Opel [SPD]: Was denn zum Bei<br />

spiel? — Zuruf von der SPD: Das glauben Sie<br />

doch selbst nicht! — Albrecht Müller [Pleis<br />

- weiler] [SPD]: Sie haben ja bisher geschla<br />

fen!)<br />

vor allem für unsere Soldaten und insbesondere im<br />

Hinblick auf die Zivilbeschäftigten.<br />

Noch eines darf bei dieser Diskussion nicht unter<br />

den Tisch fallen: die Möglichkeiten der Städte und<br />

Gemeinden zur Umgestaltung des militärisch genutzten<br />

Geländes.<br />

(Zurufe von der SPD: Machen Sie doch Vor<br />

schläge! — Alles verschlafen in Rheinland<br />

Pfalz!)<br />

— Bitte, Herr Kollege.


2614 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Claire Marienfeld<br />

Es ist doch eine herrliche Vorstellung, wo vorher<br />

Kasernen waren, Schulen, Altenwohnungen und Altenheime<br />

zu finden. Das ist eine wunderschöne Vorstellung.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Darauf wollen wir uns in den nächsten Wochen konzentrieren.<br />

(Zuruf von der SPD: Das wird auch Zeit! —<br />

Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wieviel<br />

Rabatt gibt es?)<br />

Wenn wir und vor allem Sie von der SPD dies begreifen,<br />

hat dieser historische Vorgang, nämlich der<br />

Vollzug eines Riesenschrittes in Richtung Frieden in<br />

Europa, den Stellenwert, der ihm gebührt.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, nächste Rednerin ist die Frau Abgeordnete<br />

Jutta Braband.<br />

Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Ich möchte hier ausdrücklich<br />

darauf hinweisen, daß ich der Meinung bin, daß<br />

der Mißbrauch des Wortes „Frieden schaffen ohne<br />

Waffen" in diesem Zusammenhang ein starkes Stück<br />

ist.<br />

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Mit<br />

weniger Waffen!)<br />

Es wäre ja wirklich zu schön, denke ich, wenn er denn<br />

recht hätte, der Herr Wellershoff, und die Deutschen<br />

wären tatsächlich ein machtvergessenes und friedensverwöhntes<br />

Volk. Er hat aber nicht recht, jedenfalls<br />

nicht soweit es das Führungspersonal dieses Volkes<br />

angeht, denn sonst müßten wir uns heute nicht über<br />

ein Stationierungskonzept aus dem Hause Stoltenberg<br />

unterhalten. Die Bundeswehr wäre überhaupt<br />

kein Thema, denn es würde sie nicht mehr oder —<br />

schlechtestenfalls — nur rudimentär geben.<br />

Die Absicht der NATO, schnelle Eingreiftruppen zu<br />

installieren, und der Nichtverzicht auf den Ersteinsatz<br />

von Atomwaffen zeigen deutlich, daß es keineswegs<br />

etwa um einen Willen zu echter Abrüstung geht.<br />

Darum sind alle Gefechte um mögliche Truppenreduzierungen,<br />

Standortschließungen lediglich Scheingefechte,<br />

solange das eigentliche Konzept, mögliche internationale<br />

Konflikte auch mit militärischen Mitteln<br />

lösen zu wollen, nicht geändert wird. Offensichtlich<br />

wird, wie die Debatte der letzten Wochen zeigt, eine<br />

deutsche Beteiligung hieran nachdrücklich angestrebt.<br />

Stoltenbergs Ressortkonzept ist darum eben nicht<br />

mehr und nicht weniger als die Synthese aus der —<br />

machen wir uns nichts vor — vertraglich notwendig<br />

gewordenen Reduzierung des Personalbestandes, der<br />

strategisch notwendigen Anpassung an die Geländegewinne<br />

im Osten und den — allerdings nicht notwendigen,<br />

aber heiß ersehnten — Umstrukturierungsmaßnahmen<br />

zur Erhöhung der Schlagkraft und<br />

weltweiten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr.<br />

Daß dabei die Interessen der von Standortauflösung<br />

oder -reduzierung — in diesem Fall muß ich sogar<br />

sagen — betroffenen Städten und Gemeinden unter<br />

den Tisch fallen, daß sie nicht im Vorfeld konsultiert,<br />

sondern vor vollendete Tatsachen gestellt werden,<br />

daß es keine wirklichen Konversionskonzepte und<br />

-regelungen gibt, daß diese nicht einmal angestrebt<br />

werden, daß vielmehr in bekannter Manier gnadenloser<br />

Kahlschlag bet rieben wird, ist ebenso verwerflich<br />

wie kennzeichnend für die Politik dieser Regierung.<br />

Dort, wo sozial und ökologisch verträgliche Konversionskonzepte<br />

angesagt wären, allerdings, so<br />

meine ich, weit über das jetzt anstehende Maß hinaus,<br />

geht die Bundesregierung einen ähnlichen Weg, wie<br />

sie ihn schon bei der Auflösung und Eingliederung der<br />

Nationalen Volksarmee gegangen ist: Abwicklung<br />

einzig und allein auf dem Rücken der Menschen, die<br />

selbst sehen müssen, wie sie zurechtkommen.<br />

Dabei ist es natürlich nicht so, daß es keine sinnvollen,<br />

den Bedürfnissen der Menschen verpflichteten<br />

Konversionskonzepte gäbe oder diese nicht zu entwickeln<br />

wären. Sie liegen vor. Auch einzelne Städte<br />

und Gemeinden haben sich dahin gehend ihre Gedanken<br />

gemacht und sich engagiert. Solche Konzepte<br />

sind aber ebensowenig gewollt wie etwa die Möglichkeit<br />

für jede Bürgerin und jeden Bürger dieses Landes,<br />

über den Einsatz seiner Einkommensteuer für<br />

Militärausgaben selbst zu entscheiden.<br />

Der Grund für diese Verfahrensweise liegt weniger<br />

in der Unfähigkeit oder in besonderer Böswilligkeit<br />

des Herrn Stoltenberg, vielmehr schlicht an der Tatsache,<br />

daß Konversion eben nicht sein Anliegen ist, daß<br />

diese Regierung jeder — und sei es auch eine noch so<br />

kümmerliche — Form von Abrüstung, jeder Form von<br />

Truppenreduzierung, der Reduzierung der Zahl der<br />

Zivilbeschäftigten und der Standortreduzierung nur<br />

höchst widerwillig durch von außen gesetzten Zwang<br />

nachkommt. Folglich kann diese Regierung überhaupt<br />

kein Interesse an echter Konversion entwikkeln.<br />

Ihr das vorzuwerfen, hieße, ihr bessere Absichten<br />

zu unterstellen, als sie eigentlich hat. Insofern hat<br />

der Herr Wellershoff nur das gesagt, was Herr Stoltenberg<br />

vielleicht ändern will.<br />

Im übrigen möchte ich noch ein Wort zu den Damen<br />

und Herren der SPD sagen. Ihre ohne Frage berechtigte<br />

und angemessene Empörung über das Stoltenbergsche<br />

Ressortkonzept und seine absehbaren Folgen<br />

hätten wir uns schon weit früher gewünscht, nämlich<br />

als es um die nicht weniger unsoziale Abwicklung<br />

diverser Institutionen der Ex-DDR ging. Dagegen<br />

werden die Folgen des Ressortkonzepts tatsächlich<br />

nur ein Hauch im Wind sein, ohne daß ich sie damit<br />

verharmlosen will. Ich stelle dabei gewiß auch in<br />

Rechnung, daß Sie es als besondere Gemeinheit des<br />

Herrn Stoltenberg verstehen müssen,<br />

(Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]:<br />

Was heißt hier „Gemeinheit"? Das ist doch<br />

dummes Zeug, was Sie da reden!)<br />

wenn relativ mehr von der SPD als anders regierte<br />

Städte und Gemeinden betroffen sind.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist<br />

der Abgeordnete Jürgen Koppelin.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2615<br />

Jürgen Koppelin (FDP): Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Die Reduzierung unserer Streitkräfte<br />

bis zum Dezember 1994 auf 370 000 Soldaten ist<br />

von uns allen begrüßt worden. Diese internationale<br />

Verpflichtung hat u. a. dazu beigetragen, daß wir<br />

Deutschen unsere Einheit wiedererlangt haben.<br />

Es ist, so meine ich, dem Bundesminister der Verteidigung<br />

und seinem Haus dafür Anerkennung auszusprechen,<br />

daß es gelungen ist, innerhalb von wenigen<br />

Monaten ein Konzept vorzulegen, um das Ziel der<br />

Reduzierung zu erreichen.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Selten hat wohl der Entwurf eines Konzeptes den<br />

Deutschen <strong>Bundestag</strong> und seine Abgeordneten, aber<br />

auch die Landtage, die Landesregierungen und die<br />

Kommunen so beschäftigt und so bewegt wie jetzt die<br />

Vorlage zur Truppenreduzierung.<br />

Wer die Diskussion der letzten Wochen verfolgt und<br />

sich daran beteiligt hat, der kann sich allerdings des<br />

Eindrucks nicht erwehren, daß vielerorts nach dem<br />

Motto argumentiert wird: Truppenreduzierung ja,<br />

aber bitte nicht in meiner Kommune oder in meinem<br />

Wahlkreis.<br />

(Zurufe von der SPD)<br />

— Es ist so. Man verfolgt ja die Diskussion.<br />

(Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD])<br />

— Herr Opel, seien Sie doch nicht immer so vorlaut!<br />

(Walter Kolbow [SPD]: Wir sind hier im Par<br />

lament und nicht in der Schule!)<br />

— Wir kennen uns ja. Er kann nicht anders. — Ich<br />

hoffe, das geht nicht von meiner Zeit ab, Herr Präsident.<br />

Es zeigt sich heute, daß viele die Bundeswehr immer<br />

nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen<br />

haben. Ich bitte herzlich darum, die Diskussion<br />

um die Reduzierung etwas emotionsfreier zu führen,<br />

auch wenn man selber — das will ich gerne zugeben,<br />

Kollege Opel — von diesen Emotionen nicht ganz frei<br />

ist.<br />

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Er schürt sie zu<br />

mindest!)<br />

Aber eines muß doch gesagt werden — das sage ich<br />

nach der Aufregung in den Beiträgen eben zur linken<br />

Seite — : Ich finde es schon sehr interessant, wer sich<br />

plötzlich für die Bundeswehr einsetzt. Am besten arbeitet<br />

man ja mit Beispielen. Ich will gern eines aus<br />

Schleswig-Holstein nennen, Herr Kollege Opel: die<br />

Stadt Itzehoe. Zur 750-Jahr-Feier wird die - Bundeswehr<br />

ausgeladen, eine bestehende Patenschaft mit<br />

einem Boot der Ma rine wird aufgekündigt, und man<br />

weigert sich sogar, Geld von Soldaten anzunehmen,<br />

das diese für humanitäre Zwecke gesammelt haben.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wer hat<br />

denn da die Mehrheit?)<br />

— Ich verrate jetzt kein Geheimnis, Kollege Nolting,<br />

wenn ich bekanntgebe, daß in Itzehoe seit Jahren die<br />

SPD regiert und dort die Mehrheit hat. Nun plötzlich<br />

wird vorgeschlagen, daß dieser Standort Itzehoe erhalten<br />

bleiben soll. Man entdeckt sein Herz für die<br />

Bundeswehr.<br />

Ich will noch ein anderes Beispiel bringen. In Kiel<br />

soll ein Ausschuß zur Truppenreduzierung durch die<br />

Stadt gebildet werden. Man kommt nicht zu Potte,<br />

weil die Sozialdemokraten fordern, daß in diesem<br />

Ausschuß selbstverständlich auch die Kirchen und die<br />

Friedensgruppen beteiligt werden müssen. Ich will<br />

das nicht kommentieren, um mir nicht bei meiner ersten<br />

Rede einen Ordnungsruf einzuhandeln.<br />

(Dieter Heistermann [SPD]: Den können Sie<br />

aber schnell bekommen, wenn Sie so weiter<br />

reden!)<br />

Ich kann den Bundesminister der Verteidigung nur<br />

darin unterstützen, daß solche Standorte bei der Truppenreduzierung<br />

zuerst berücksichtigt werden. Da, wo<br />

die Bundeswehr in der Vergangenheit immer gern<br />

gesehen war, sollte man, wenn es geht, eine Reduzierung<br />

vermeiden. Das ist übrigens keine Abstrafung, so<br />

meine ich, sondern eine logische Konsequenz.<br />

Zum vorliegenden Konzept des Verteidigungsministeriums<br />

scheint es mir nötig, einige Anmerkungen zu<br />

machen.<br />

Für eine Entscheidung über die Standorte ist es<br />

wichtig und notwendig, zu wissen, wie viele Zivilmitarbeiter<br />

betroffen sind. Diese Zahlen haben wir heute<br />

im Ausschuß nachgeliefert bekommen. Ich meine, sie<br />

waren dringend notwendig.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Wenn ein Kleinstandort wie Tönning in Nordfriesland<br />

drei Soldaten ausweist, so mag man für die Streichung<br />

sein. Das mag einem leichtfallen. Man sieht das<br />

jedoch in einem anderen Licht, wenn man erfährt, daß<br />

an diesem Kleinstandort ca. 40 Zivilmitarbeiter beschäftigt<br />

sind.<br />

Die im Konzept genannten Ist-Zahlen vom 22. Mai<br />

scheinen nicht immer den tatsächlichen Zahlen zu<br />

entsprechen. Ich halte eine Überprüfung der Ist-Zahlen<br />

für notwendig.<br />

In den Ballungszentren ist nach meinem Eindruck<br />

nicht in dem Umfang reduziert worden, wie es wünschenswert<br />

gewesen wäre. Dafür sehen die Pläne leider<br />

eine starke Reduzierung in einigen strukturschwachen<br />

Gebieten vor. Ich will als Beispiel den<br />

Kreis Nordfriesland mit den Standorten Husum und<br />

vor allem Leck ansprechen, Kollege Opel. Ich halte es<br />

nicht für vertretbar, daß sich die Bundeswehr aus solchen<br />

Kreisen zurückzieht, in denen in der Vergangenheit<br />

andere Entwicklungen versäumt werden mußten,<br />

(Beifall des Abg. Manfred Opel [SPD])<br />

weil die Bundeswehr da war. Ich denke z. B. an den<br />

Fremdenverkehr. Er fand nicht statt, weil es die Bundeswehr<br />

gab.<br />

Wir müssen uns bei der Diskussion über die Truppenreduzierung<br />

stärker darüber Gedanken machen,<br />

welche Aufgaben unsere Teilstreitkräfte zukünftig im<br />

Rahmen der internationalen Aufgaben haben werden.<br />

Ich spreche hier besonders die Marine an und meine,<br />

daß die bisherigen Planungen zur Reduzierung der<br />

Marine bis zum Jahr 2005 nicht mehr den Gegebenheiten<br />

entsprechen.<br />

(Beifall des Abg. Manfred Opel [SPD])


2616 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Jürgen Koppelin<br />

Unter diesem Gesichtspunkt, denke ich, muß man sich<br />

noch einmal über die Marinestandorte unterhalten.<br />

Ich denke hier in Schleswig-Holstein z. B. an Kappeln<br />

und Neustadt.<br />

Dank möchte ich den Angehörigen der Bundeswehr<br />

bei dieser Gelegenheit sagen. Ich habe bei meinen<br />

Besuchen bei der Truppe in diesen Tagen bei den Soldaten<br />

großes Verständnis für die Reduzierung gefunden.<br />

Das ist, wenn man selber betroffen ist, nicht immer<br />

selbstverständlich.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)<br />

Wenig Verständnis habe ich allerdings dafür gefunden<br />

— das muß ich schon sagen, Herr Minister — , daß<br />

es vor der offiziellen Bekanntgabe der Reduzierungspläne<br />

eine merkwürdige Informationspolitik aus dem<br />

Ministerium heraus gegeben hat.<br />

(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies<br />

loch] [SPD])<br />

Das hatte nichts mit Fürsorgepflicht zu tun. Bei der<br />

Gelegenheit möchte ich auch sagen: Es wäre gut,<br />

wenn auch im Ministerium reduziert würde.<br />

Zum Schluß folgendes: Die Bundesregierung und<br />

die Landesregierung werden in den nächsten Monaten<br />

gemeinsam nach Lösungen suchen müssen, um<br />

den Kommunen zu helfen, die von der Reduzierung<br />

der Bundeswehr besonders betroffen sind. Das wird<br />

nicht einfach sein, besonders dann, wenn eine Landesregierung<br />

wie z. B. die von Schleswig-Holstein<br />

sich seit Jahren geweigert hat, überhaupt Wirtschaftsoder<br />

Verkehrspolitik zu betreiben. Die Bundesregierung<br />

wird das nicht ausgleichen können, was eine solche<br />

Landesregierung in der Vergangenheit versäumt<br />

hat.<br />

Vielen Dank für Ihre Geduld.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Koppelin,<br />

Sie haben die Redezeit natürlich überschritten.<br />

Aber ich weiß, wie es ist, wenn man hier das erste Mal<br />

das alles genau einteilen muß.<br />

Nun hat als nächste Frau Kollegin Vera Wollenberger<br />

das Wort.<br />

Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Herr Minister Stoltenberg,<br />

Sie haben am 24. Mai 1991 vor der Bundespressekonferenz<br />

überaus vollmundig erklärt, daß Sie<br />

— ich zitiere — „nachhaltige und breite Unterstützung<br />

der politischen und gesellschaftlichen - Kräfte unseres<br />

Landes brauchen, wenn die Neugestaltung der<br />

Bundeswehr in einer sinnvollen und menschlich vertretbaren<br />

Weise gelingen soll" . Das sind schöne<br />

Worte, aber leider in die Irre führende Worte; denn die<br />

Reduzierung vollzieht sich ohne vorherige Rücksprache<br />

mit den eigentlich Betroffenen. Das heißt, so undemokratisch<br />

die Aufrüstungsbeschlüsse waren, so<br />

undemokratisch ist die Art und Weise der an sich positiven<br />

Abrüstungsschritte.<br />

Wer von den betroffenen Landesregierungen, geschweige<br />

denn den Kreis- und Kommunalbehörden<br />

hatte in irgendeiner Phase die Möglichkeit, das von<br />

Herrn Stoltenberg präsentierte Werk zu unterstützen?<br />

Sie kannten es schlicht nicht, sie waren in keiner<br />

Phase in den Entstehungsprozeß einbezogen.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie müs<br />

sen mal an den <strong>Sitzung</strong>en teilnehmen!)<br />

— Die Kommunen können nicht an <strong>Sitzung</strong>en des<br />

Verteidigungsausschusses teilnehmen, tut mir leid,<br />

Herr Nolting.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nein,<br />

Sie!)<br />

— Ich hatte eben von den Kommunen und Ländern<br />

gesprochen. Hören Sie doch bitte richtig zu!<br />

(Zuruf von der SPD: Nicht verwirren las<br />

sen!)<br />

Dabei gab und gibt es genug willige und mit- und<br />

vorausdenkende Menschen; das wissen besonders<br />

meine Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß, in<br />

dem ständig Unterlagen eingehen, deren Berücksichtigung<br />

es gestattet hätte, den bevorstehenden Umgestaltungsprozeß<br />

der Bundeswehr wirklich sinnvoll zu<br />

vollziehen. Wissen Sie, Herr Minister Stoltenberg, irgendwie<br />

erinnert mich die jetzige Grundsituation in<br />

fataler Weise an die Situation, in der wir unlängst in<br />

der ehemaligen DDR im Zusammenhang mit der Auflösung<br />

der NVA und allen damit verbundenen Problemen<br />

waren. Damals, also vor einem Jahr, haben<br />

wir im Zeitraffer das durchlebt, was man aus Sicht von<br />

Bündnis 90/GRÜNE den alteingesessenen Bundesbürgern<br />

ersparen sollte, nämlich Konfusion statt Konversion.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei<br />

der SPD)<br />

Mit Rücksicht auf die betroffenen Menschen sollte<br />

sich diese katastrophale Situation nicht wiederholen.<br />

Meine Damen und Herren, auf einem Forum der<br />

Zeitschrift „Wehrtechnik" äußerte ein Brigadegeneral<br />

unlängst trefflich — Zitat — :<br />

Nach gängiger Definition ist Planung der gedankliche<br />

Vorgang, bei dem versucht wird, mit<br />

einer endlichen Menge an Ressourcen ein genau<br />

bestimmtes Ziel auf dem kosteneffektivsten Weg<br />

zu erreichen.<br />

Wie steht es nun mit Ihrem Ziel, Herr Stoltenberg?<br />

Dazu heißt es im Ressortkonzept, die Neuordnung der<br />

Stationierung könne sich nicht ausschließlich an den<br />

Belangen des zivilen Umfelds der Streitkräfte orientieren;<br />

Ziel müsse es sein, von der Belegung her lebensfähige<br />

Standorte zu erreichen, damit die ständigen<br />

Aufgaben im Frieden aufwandswirksam wahrgenommen<br />

werden können.<br />

Aber, Herr Minister, das Gesamtstationierungskonzept<br />

ist eindeutig nach vorrangig militärischen Kriterien<br />

erarbeitet worden, die sich nach wie vor nach<br />

Ihrem alten Feindbild ausrichten. Wie anders ist sonst<br />

die insgesamt hohe flächendeckende Stationierungsdichte<br />

zu erklären und das besonders augenfällig im<br />

Land Mecklenburg-Vorpommern, also unmittelbar an<br />

der Grenze zum polnischen Nachbarland? Wie anders,<br />

Herr Minister, ist die Planung der Luftwaffe zu<br />

verstehen, alle derzeitigen Standorte von höheren


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2617<br />

Vera Wollenberger<br />

Kommandobehörden und Divisionsstäben für die Stationierung<br />

zukünftiger Kommandostäbe zu erhalten?<br />

Eine Entscheidung, die sicher von unserem Nachbarn<br />

sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen wird.<br />

Was nun den Weg zu Ihrem, mit Verlaub, zweifelhaften<br />

Ziel betrifft, Herr Stoltenberg, so ist er mit<br />

Sicherheit alles andere als kosteneffektiv; denn das<br />

hätte er nur sein können, wären die Kommunen rechtzeitig<br />

in die Planung einbezogen worden, wäre vorher<br />

wirklich umfassend über Konversion in all ihrer Komplexität<br />

nachgedacht worden.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei<br />

der SPD)<br />

Bezogen auf das Territorium der fünf neuen Bundesländer<br />

heißt das, daß kein Bundesland für sich<br />

allein die Probleme bewältigen kann, die mit der Auflösung<br />

der NVA bzw. ihrer reduzierten Überführung<br />

in die Bundeswehr und dem Abzug der Westgruppe<br />

der sowjetischen Streitkräfte verbunden sind. Kein<br />

Bundesland kann allein und ausschließlich aus eigener<br />

Kraft verhindern, daß die Belegschaft ehemaliger<br />

Rüstungsbetriebe arbeitslos wird, wenn die Bundesregierung<br />

nicht bereit ist, in der Rechtsnachfolge des<br />

Bundes zur untergangenen DDR für die Folgen zentralstaatlichen<br />

Handelns einzustehen.<br />

Aus der Sicht der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE stehen<br />

vor allem zwei Probleme im Vordergrund. Zum<br />

einen geht es um die Landumnutzung für zivile<br />

Zwecke. Wir fordern, daß die Liegenschaften aus der<br />

militärischen Nutzung altlastenfrei entlassen werden.<br />

Dazu muß der Bund finanzielle Mittel für die Sanierung<br />

und zivile Erschließung bisher militärisch genutzter<br />

Liegenschaften bereitstellen. Einen zweiten<br />

Schwerpunkt sehen wir in der Schaffung und Sicherung<br />

von Arbeitsplätzen, also in der personellen Konversion.<br />

Da meine Redezeit schon abgelaufen ist, möchte ich<br />

nur noch schnell etwas zu dem Konzept der Zivilbeschäftigten<br />

sagen. Dieses Konzept wurde bezeichnenderweise<br />

erst heute vormittag im Verteidigungsausschuß<br />

verteilt und konnte deshalb nicht ausführlich<br />

beraten werden. Wir sind aber der Meinung, daß das<br />

Gesamtressortkonzept erst verabschiedet werden<br />

sollte, wenn über dieses Zivilpersonalkonzept ausführlich<br />

und abschließend beraten werden konnte.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei<br />

Abgeordneten der SPD)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile nunmehr<br />

dem Herrn Staatssekretär Klaus Beckmann - das<br />

Wort.<br />

Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr<br />

verehrten Damen! Meine Herren! Ich denke, wir sind<br />

uns alle einig, daß die Abrüstung uneingeschränkt zu<br />

begrüßen ist. Neben den damit verbundenen Chancen<br />

für die Sicherung des Friedens in Europa werden<br />

die Abrüstungsmaßnahmen mittel- bis langfristig<br />

auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen. Auf der<br />

anderen Seite — das ist jetzt in der Debatte deutlich<br />

geworden — ist auch jedem klar, daß diese Entwick<br />

lung ebenso negative Auswirkungen haben kann. Das<br />

wird ganz konkret sichtbar, wenn Truppen aus strukturschwachen<br />

Regionen abziehen.<br />

Der Bundesverteidigungsminister hat bei der<br />

Standortplanung einen Kriterienkatalog zugrunde<br />

gelegt, der u. a. auch regional-wirtschaftliche<br />

Aspekte einschließt. Das heißt, bei der Planung<br />

wurde, soweit dies möglich war, der Schließung von<br />

Standorten in Ballungsgebieten Vorrang vor der<br />

Schließung von Standorten in strukturschwachen Regionen<br />

gegeben. Daß dieser Grundsatz allerdings<br />

nicht immer gelten konnte, zeigt das vom Bundesverteidigungsministerium<br />

vorgelegte Ressortkonzept.<br />

Herr Kollege Koppelin hat eben darauf hingewiesen.<br />

Daraus ergibt sich nun die Schlußfolgerung, daß in<br />

den betroffenen strukturschwachen Regionen, für die<br />

die Einrichtungen der Bundeswehr ein wichtiger Arbeitgeber<br />

und auch Wirtschaftsfaktor sind, erheblicher<br />

Anpassungsbedarf eintreten wird. Gleiches gilt<br />

natürlich auch für die Regionen, die von einem Truppenabzug<br />

ausländischer Streitkräfte betroffen sind.<br />

Diese Regionen werden nicht in der Lage sein, allein<br />

aus eigener Kraft diese Folgen abzufangen. Es entsteht<br />

also Handlungsbedarf.<br />

Meine Damen und Herren, die seit Februar 1990<br />

eingerichtete interministerielle Arbeitsgruppe unter<br />

Federführung des Bundeswirtschaftsministers hat die<br />

Felder und Politikbereiche festgelegt, die für die erforderliche<br />

notwendige Flankierung in Betracht kommen.<br />

Lassen Sie sie mich wegen der Kürze der Zeit nur<br />

stichwortartig nennen:<br />

Erstens. Beschleunigung des Freigabeverfahrens<br />

für ehemalig militärisch genutzten Geländes.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Zweitens. Erhöhung der Preisabschläge beim Verkauf<br />

bundeseigener Liegenschaften.<br />

Drittens regionalpolitische Flankierung.<br />

Der Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe<br />

„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur"<br />

hat bereits im Januar dieses Jahres einen Grundsatzbeschluß<br />

für ein regionales Sonderprogramm für die<br />

Regionen getroffen, die erheblich vom Truppenabbau<br />

betroffen werden und die daher mit ähnlichen Problemen<br />

konfrontiert sind, wie sie früher an Stahlstandorten<br />

oder Küstenstandorten mit Werften anzutreffen<br />

waren.<br />

Viertens werden städtebauliche Maßnahmen oder<br />

Infrastrukturmaßnahmen greifen müssen. Dies sind<br />

einige Bereiche, die Möglichkeiten für eine Flankierung<br />

bieten und die geeignet sind, die Standortbestimmungen<br />

in den Regionen zu verbessern.<br />

Wenn ich mich nun hier auf die regionalen Flankierungsaspekte<br />

konzentriert habe, so bedeutet das nicht<br />

— das will ich unterstreichen — , daß nicht auch über<br />

soziale Maßnahmen nachgedacht wird. Es ist aber so,<br />

daß zivile Arbeitnehmer bei den Streitkräften im Falle<br />

einer Entlassung nicht in ein Vakuum fallen, sondern<br />

durch tarifvertragliche Regelungen oder durch die Instrumente<br />

des Arbeitsförderungsgesetzes weitgehend


2618 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann<br />

abgesichert sind; allerdings wird über zusätzliche<br />

Verbesserungen nachgedacht.<br />

Der hier, insbesondere auch von dem Kollegen Müller<br />

(Pleisweiler), geäußerten Kritik, die Bundesregierung<br />

hätte noch keine Entscheidungen getroffen, muß<br />

folgendes entgegengehalten werden:<br />

Erstens, verehrter Herr Kollege Müller, hätte ich<br />

anstatt dieser Kritik einmal Dank für die Friedenspolitik<br />

dieser Bundesregierung erwartet, die ja diese Abrüstung<br />

erst ermöglicht hat.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —<br />

Lachen bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Zweitens. Das endgültige Standortkonzept der<br />

Bundeswehr wird ja erst im August festgelegt.<br />

Drittens. Das Ressortkonzept zum Abbau der zivilen<br />

Arbeitsplätze bei der Bundeswehr liegt seit heute<br />

vor.<br />

Viertens. Die Abzugspläne der Alliierten Streitkräfte<br />

sind nur bruchstückhaft bekannt.<br />

Das heißt, die wirklich konkreten Entscheidungsgrundlagen<br />

fehlen noch weitgehend.<br />

Gleichwohl, Herr Präsident, meine Damen und Herren,<br />

wird der Bundeswirtschaftsminister im Rahmen<br />

seiner Zuständigkeiten alle Möglichkeiten zur Flankierung<br />

des Umstrukturierungsprozesses prüfen und<br />

sinnvolle Maßnahmen, insbesondere im Rahmen der<br />

Instrumentarien der Gemeinschaftsaufgabe, unterstützen.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, unser nächster Redner ist der Kollege Gerhard<br />

Neumann.<br />

Gerhard Neumann (Gotha) (SPD): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Der Bundesminister der<br />

Verteidigung führte anläßlich der Übernahme der Befehls-<br />

und Kommandogewalt über die Streitkräfte im<br />

beigetretenen Teil Deutschlands am 3. Oktober 1990<br />

aus: Die Bundeswehr und die deutsche Verteidigungspolitik<br />

stehen vor ihrer größten Herausforderung<br />

seit 1955, und zwar sowohl in menschlicher als<br />

auch in organisatorischer Hinsicht.<br />

Betrachtet man heute das am 24. Mai dieses Jahres<br />

vorgelegte Ressortkonzept für die Stationierung der<br />

Streitkräfte und die daraus resultierenden komplexen<br />

-<br />

Probleme der Kommunen, so wird schnell deutlich,<br />

daß die größte Herausforderung seit 1955 in organisatorischer<br />

Hinsicht in keiner Weise gemeistert wird.<br />

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Auf die menschlichen Probleme der Integration der<br />

NVA in die Bundeswehr wollen wir heute hier gar<br />

nicht erst eingehen. In welcher Situation befinden sich<br />

also die bisher militärisch genutzten Liegenschaften<br />

auf dem Gebiet der fünf neuen Länder? —<br />

Von den rund 3 320 NVA-Liegenschaften wurden<br />

vom BMVg bisher 1 230 zur weiteren Nutzung freigegeben.<br />

1 320 wurden als Wohnungen oder als Forstgelände<br />

unmittelbar an das BMF weitergeleitet. Rund<br />

770 Liegenschaften werden weiterhin militärisch genutzt.<br />

Die Liegenschaften der Sowjetarmee werden erst<br />

bis zum Jahre 1994 vollständig in Bundeseigentum<br />

übergegangen sein.<br />

Ein Übungsplatzkonzept, in das auch die Liegenschaften<br />

einbezogen werden, konnte trotz Stationierungsentscheidung<br />

bisher nicht vorgelegt werden.<br />

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Ferner ist dem Stationierungskonzept nicht zu entnehmen,<br />

welche Liegenschaften für die zivile Nutzung<br />

in Zukunft noch freigegeben werden sollen.<br />

Die Konfusion wird sogar noch größer, wenn es um<br />

den Erwerb der Liegenschaften aus NVA -Besitz geht.<br />

Sofern diese nämlich nicht für Bundesaufgaben benötigt<br />

werden, kann sie im Prinzip jeder Interessent erwerben,<br />

der bereit ist, nach haushaltsrechtlichen Bestimmungen<br />

den vollen Wert als Kaufpreis zu bezahlen.<br />

Dieser Verfahrensweg gilt auch für die finanziell<br />

angeschlagenen Kommunen der neuen Länder, die<br />

lediglich für die Flächen, die für Naherholungszwecke<br />

ausgewiesen sind, eine Art Vorkaufsrecht<br />

eingeräumt bekommen haben.<br />

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Un<br />

glaublich ist das!)<br />

Eine Subventionierung von Grundstücksveräußerungen<br />

für Naherholungszwecke ist nicht möglich.<br />

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Da sa<br />

niert sich der Finanzminister!)<br />

Wie aber sollen unter diesen Umständen ein zügiger<br />

Aufbau und die Herstellung der kommunalen Arbeitsfähigkeit<br />

gewährleistet werden?<br />

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />

Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />

Bundesministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer hat<br />

sich am 10. Mai dieses Jahres nachdrücklich dafür<br />

ausgesprochen, die zur Diskussion stehenden Liegenschaften<br />

möglichst schnell den Gemeinden zu übereignen.<br />

Ich zitiere: „In vielen Fällen könnten diese<br />

Liegenschaften kurzfristig der Wohnnutzung oder der<br />

gewerblichen Nutzung zugeführt werden."<br />

Warum war das BMVg oder zumindest das BMF als<br />

Vermögensverwalter bisher nicht in der Lage, ein entsprechendes<br />

Konzept vorzulegen?<br />

Auf meine Anfrage beim Verteidigungsministerium<br />

wurde mir lediglich mitgeteilt, daß die Kommunen<br />

bundeseigene Grundstücke für Verwaltungszwecke<br />

verbilligt kaufen bzw. nutzen können, wenn sie nicht<br />

selber über geeignete Grundstücke verfügen. Ich zitiere:<br />

„Den Gemeinden soll in diesen Fällen grundsätzlich<br />

ein Preisabschlag von 50 % vom Verkehrswert<br />

bzw. Nutzungsentgelt eingeräumt werden. "<br />

Ich frage Sie: Heißt dies im Klartext, daß die Gemeinden<br />

zunächst den Nachweis erbringen müssen,<br />

daß sie eine Liegenschaft tatsächlich für Verwaltungszwecke<br />

benötigen, bevor sie als Käufer in Betracht<br />

gezogen werden? Wer wird wann den Verkehrswert


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2619<br />

Gerhard Neumann (Gotha)<br />

der umweltverseuchten und oft in desolatem Zustand<br />

befindlichen Liegenschaften festlegen, die vielfach<br />

schon als Bauerwartungsland behandelt werden?<br />

Der von der Bundesregierung eingeschlagene Verfahrensweg<br />

ist unzureichend, was den Preis der Liegenschaften<br />

betrifft, unangemessen und deshalb<br />

nicht akzeptabel.<br />

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />

Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />

In das Preiskalkül müssen zumindest die Sanierungskosten<br />

der Liegenschaften einbezogen werden.<br />

Zu fordern ist die gesamte Übernahme der Kosten für<br />

die Altlastenbeseitigung durch den Bund.<br />

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />

Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />

Neue wehrtechnische Entwicklungen werden im<br />

Haushalt 1991 mit mehr als 3 Milliarden DM veranschlagt.<br />

Hinzu kommen 800 000 Millionen DM für das<br />

mehr als fragliche Waffensystem Jäger 90.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Neumann,<br />

ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.<br />

Gerhard Neumann (Gotha) (SPD): Mit Blick auf die<br />

sicherheitspolitische Lage in Europa sollte es jedem<br />

eingängig sein, daß diese Summe zur Sanierung der<br />

Altlasten auf NVA-Liegenschaften erheblich sinnvoller<br />

eingesetzt werden könnten. Als persönlich betroffener<br />

Abgeordneter aus den neuen Ländern kann ich<br />

Ihnen zudem versichern: Die Bevölkerung der ehemaligen<br />

DDR — und nicht nur sie — wüßte eine solche<br />

Umverteilung im Haushalt als den Beweis für einen<br />

verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern zu<br />

schätzen.<br />

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vera<br />

Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Ich muß Ihnen das<br />

Wort entziehen, Herr Kollege Neumann. Noch einen<br />

Schlußsatz bitte.<br />

(Zuruf von CDU/CSU: Der kriegt doch Senio<br />

renzuschlag, Herr Präsident!)<br />

Gerhard Neumann (Gotha) (SPD): Ich wollte nur<br />

noch darauf hinweisen, daß mit hochspezialisierten<br />

Analyse- und Meßlabors und umwelterfahrenen<br />

Wehrgeologen und vor allem mit dem Spürpanzer<br />

„Fuchs" ohne Schwierigkeiten die Beseitigung der<br />

ökologischen Schäden auf ehemaligem Militärgelände<br />

in den fünf neuen Ländern erfolgen könnte.<br />

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. -Vera<br />

Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE])<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Nun muß ich aber<br />

wirklich sagen: Es ist Schluß, Herr Kollege Neumann!<br />

Wir können das nicht machen.<br />

Ich will noch einmal auf unsere Regeln aufmerksam<br />

machen. Wenn wir allgemeine Debatten haben, kann<br />

es vorkommen, daß die Redezeit einmal etwas überzogen<br />

wird. Aber wir müssen bei unseren Regeln bleiben:<br />

Dies sind Fünfminutenreden; es darf nicht länger<br />

geredet werden. Ich muß wirklich, so unangenehm<br />

das auch ist, bei fünf Minuten abläuten.<br />

Nun hat als nächster das Wort unser Kollege Karl<br />

Stockhausen.<br />

Karl Stockhausen (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Außer Kritik und Vorwürfen<br />

habe ich von der SPD in den zwei Beiträgen nichts<br />

Konkretes gehört.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Meine Damen und Herren, ich möchte deutlich die<br />

Frage stellen: Welches Zeitverständnis haben Sie eigentlich?<br />

Wenn die SPD-regierten Länder vier Monate<br />

brauchen, um eine Stellungnahme zu der Planung<br />

abzugeben, dann muß man doch einmal fragen,<br />

welche Zeit es beansprucht, bis ein Verteidigungsminister,<br />

bis die Hardthöhe in der Lage ist, eine solche<br />

Herausforderung, wie sie die Entspannungspolitik im<br />

Gefolge hat, nämlich die Abrüstung, zu bewältigen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Zurufe von der SPD)<br />

Meine Damen und Herren, wir sind Gerhard Stoltenberg,<br />

unserem Verteidigungsminister, ausdrücklich<br />

dankbar — und wenn einmal einige undichte<br />

Stellen im Ministerium vorhanden sind, ist dafür nicht<br />

der Minister verantwortlich.<br />

(Zurufe von der SPD: Nein?! — Weitere Zu<br />

rufe von der SPD)<br />

— ach, passen Sie doch einmal auf; das mit Guillaume<br />

war noch viel schlimmer —,<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen und Zu<br />

rufe von der SPD)<br />

daß er den Erfolg unserer Politik, nämlich Frieden zu<br />

schaffen mit weniger Waffen, in dieser konkreten<br />

Form vorgelegt hat. Frieden schaffen mit weniger<br />

Waffen heißt natürlich auch: Frieden schaffen mit weniger<br />

Soldaten.<br />

Daß dies möglich wurde — auch daran muß man<br />

sich erinnern — , verdanken wir vor allen Dingen den<br />

Alliierten, insbesondere den USA, zu denen Sie immer<br />

ein distanziertes Verhältnis hatten.<br />

(Lachen und Widerspruch bei der SPD)<br />

Ich erwähne aber auch ausdrücklich Herrn Gorbatschow,<br />

der erkannt hat, daß man den Freiheitswillen<br />

von Völkern auf Dauer nicht mit militärischer Macht<br />

unterdrücken kann. Darum gilt unser Dank Gorbatschow,<br />

(Zuruf von der SPD: Seien Sie vorsichtig!)<br />

daß er den mutigen Schritt gewagt hat, die Völker des<br />

Warschauer Pakts ihren Weg selbst bestimmen zu lassen.<br />

Meine Damen und Herren, ich sage noch etwas,<br />

was Sie auch nicht gern hören: Es war ganz entscheidend,<br />

daß diese Bundesregierung und die sie tragenden<br />

Parteien durch den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses<br />

deutlich gemacht haben,<br />

(Klaus Lennartz [SPD]: Aha! Weitere Zurufe<br />

von der SPD)<br />

daß diese Bundesrepublik zu ihren Verpflichtungen<br />

im Rahmen der NATO steht. Meine Damen und Her-


2620 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Karl Stockhausen<br />

ren von der SPD, Sie haben Ihren ehemaligen Kanzler<br />

Schmidt im Regen stehengelassen.<br />

(Lachen bei der SPD — Albrecht Müller<br />

[Pleisweiler] [SPD]: Das war der falsche Zet<br />

telkasten — Gegenruf von der CDU/CSU:<br />

Der Tiefflieger Müller! — Weitere Zurufe von<br />

der SPD)<br />

Sie haben damals im alten Plenarsaal kein gutes Bild<br />

abgegeben, als Helmut Schmidt mit einer Handvoll<br />

Getreuen zu dem gestanden hat, was richtig war.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Ihre Prognosen „Beginn der Eiszeit" oder „Verstärkung<br />

des kalten Krieges" haben sich nicht realisiert,<br />

sondern unsere Überzeugung, daß eine wirksame Abrüstungspolitik<br />

nur auf unserem Weg erreicht werden<br />

kann, war richtig.<br />

Meine Damen und Herren, auch das sage ich heute<br />

hier: Voraussetzung war auch die Bereitschaft von<br />

Millionen junger deutscher Bürger, die ihrer Wehrpflicht<br />

nachgekommen sind und damit ihren Beitrag<br />

zur Verteidigung und zum Friedensdienst geleistet<br />

haben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Ich möchte der Bundesregierung und unserem Bundeskanzler<br />

Dr. Helmut Kohl ausdrücklich Dank aussprechen.<br />

Sie waren an diesem Erfolg durch ihren<br />

konsequenten Weg maßgeblich beteiligt und können<br />

ihn daher für sich in Anspruch nehmen, nicht dagegen<br />

Sie von der SPD.<br />

Meine Damen und Herren, ich wiederhole es: Wenn<br />

Sie für diesen Erfolg der Bundesregierung schon nicht<br />

Dank sagen können, dann hätte es Ihnen heute tatsächlich<br />

gut angestanden — die Chance dazu haben<br />

Sie gehabt —, wenigstens Ihren Respekt vor diesem<br />

einmaligen Erfolg zum Ausdruck zu bringen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der<br />

CDU/CSU: Selbst den haben Sie versagt!<br />

Das zeugt von wenig Größe!)<br />

Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten<br />

ist eine Vorleistung der Bundesrepublik. Legt<br />

man den Anfangsbestand Bundeswehr/NVA von<br />

620 000 Mann zugrunde, bedeutet das eine Reduzierung<br />

um 250 000 Soldaten. Dies bringt vor allen Dingen<br />

bei uns in den alten Bundesländern, in den Regionen,<br />

wo Standorte aufgegeben oder verringert werden,<br />

Probleme mit sich.<br />

(Zuruf von der SPD: Aha!)<br />

Die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter und die Wirtschaftskraft<br />

der Truppe sind für die Standorte - zu einem<br />

wichtigen Faktor geworden. Es geht um das<br />

Schicksal von Menschen, die um ihren Arbeitsplatz<br />

bangen, um Kommunen, die eine Beeinträchtigung<br />

ihrer Struktur in Kauf nehmen müssen. Hier wird die<br />

Bundesregierung — das ist gerade betont worden —<br />

ihrer Verpflichtung nachkommen, den betroffenen<br />

Menschen zu helfen. — Das rote Licht leuchtet schon<br />

auf; ich will nur noch zwei Sätze sagen.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Nein, eigentlich<br />

nicht, Herr Kollege Karl Stockhausen. So alte Routiniers<br />

müssen wissen, daß fünf Minuten jetzt um<br />

sind.<br />

(Heiterkeit)<br />

Karl Stockhausen (CDU/CSU): Gut, letzter Satz.<br />

Meine Damen und Herren von der SPD. Sie spekulieren<br />

bei den Bürgern auf die Gnade des Vergessens,<br />

(Lachen bei der SPD)<br />

die Ihnen in der Vergangenheit schon sehr oft zuteil<br />

wurde.<br />

(Lachen und Zurufe von der SPD)<br />

Wir werden es aber nicht zulassen, daß dies in Vergessenheit<br />

gerät.<br />

Schönen Dank.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Dieter Heistermann [SPD]: Den Satz hätten<br />

Sie sich sparen können! — Detlev von Larcher<br />

[SPD]: Wir danken Ihnen für die kon<br />

krete Vorgabe, die Sie gemacht haben!)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Liebe Kolleginnen,<br />

liebe Kollegen, der nächste Redner ist der Abgeordnete<br />

Günther Nolting.<br />

Günther Friedrich Nolting (FDP) : Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr wird auf<br />

370 000 Mann reduziert. Diese Reduzierung ist von<br />

uns politisch gewollt. Sie ist auch das Ergebnis einer<br />

erfolgreichen Außen- und Sicherheitspolitik. Herr<br />

Kollege Stockhausen, Sie werden Verständnis dafür<br />

haben, daß ich als FDP-Vertreter dies besonders erwähne.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Es besteht jetzt aber auch die Chance einer Umstrukturierung<br />

der Bundeswehr bis 1994. Ich erinnere<br />

nur an die Erhöhung der Führerdichte, die Verbesserung<br />

der Ausbildung und die Steigerung der Attraktivität.<br />

(Dieter Heistermann [SPD]: Und die Verlän<br />

gerung des Wehrdienstes!)<br />

Minister Stoltenberg hat ein insgesamt ausgewogenes<br />

Konzept vorgelegt. Herr Minister, ich danke Ihnen<br />

und Ihren Mitarbeitern im Ministerium hierfür ausdrücklich.<br />

Ich danke auch dafür, daß Sie uns heute die<br />

Vorlage für den zivilen Bereich übergeben haben,<br />

(Dieter Heistermann [SPD]: Das ist zu<br />

klein!)<br />

so daß wir in der Sommerpause weiterberaten können.<br />

Aus der Sicht der FDP sind noch gewisse Nachbesserungen<br />

in Einzelfragen nötig. Ein grundlegendes<br />

Infragestellen des vorgelegten Konzepts ist aus unserer<br />

Sicht, Herr Kollege, aber nicht angebracht. Sie wissen,<br />

daß die Ministerpräsidenten angeschrieben wurden.<br />

Sie sollen zu den Stationierungsplanungen Stellung<br />

beziehen. Wir gehen davon aus, daß bei den Eingaben,<br />

die uns erreichen werden, auch die Interessen<br />

der Kommunen berücksichtigt werden.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2621<br />

Günther Friedrich Nolting<br />

Eine Fristverlängerung bis Ende September, die die<br />

Länder jetzt fordern, ist für uns nicht akzeptabel. Sie<br />

kann nicht akzeptabel sein;<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

denn ich sage Ihnen: Die betroffenen Soldaten, ihre<br />

Familien, die zivilen Mitarbeiter und die Regionen<br />

und Standorte müssen jetzt endlich Planungssicherheit<br />

haben.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Zu geringfügigen Fristverlängerungen können wir<br />

uns bestimmt noch äußern.<br />

Die SPD hat noch im letzten Jahr eine Reduzierung<br />

der Bundeswehr auf 200 000 Mann gefordert. Davon<br />

ist jetzt, wo es darum geht, Standorte auszudünnen<br />

oder aufzulösen, natürlich nichts mehr zu hören.<br />

Wenn man alle Forderungen der SPD-Vertreter im<br />

Verteidigungsausschuß nach Verbesserungen und<br />

Zuschlägen zusammenzählt, dann dürften wir die<br />

Bundeswehr nicht verkleinern, sondern müßten ihre<br />

Stärke um einige hunderttausend Mann erhöhen.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —<br />

Dieter Heistermann [SPD]: Märchenerzähler<br />

Nolting!)<br />

— Ich beweise Ihnen das. — Dieses Verfahren ist<br />

schlicht und einfach unredlich.<br />

(Dieter Heistermann [SPD]: „Es war ein<br />

mal" !)<br />

Hier stellt sich Frau Matthäus-Maier für die SPD-<br />

Fraktion hin, und fordert drastische Kürzungen des<br />

Verteidigungshaushalts, die auch zu Lasten der Bundeswehrsoldaten<br />

gingen; gleichzeitig beginnt Herr<br />

Lafontaine das strukturpolitische Gejammer, weil in<br />

seinem Land nur um ein Prozent gekürzt wird.<br />

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Viel zuwe<br />

nig!)<br />

Plötzlich hat die SPD die Liebe zur Bundeswehr entdeckt.<br />

Das haben wir soeben auch bei Herrn Müller<br />

erlebt.<br />

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Eine<br />

späte Liebe!)<br />

Herr Müller, Ihnen und Ihrer Partei sage ich dazu: Sie<br />

möchten die Bundeswehr doch am liebsten in den<br />

Kasernen verstecken. Ich erinnere an den Gelöbnisbeschluß<br />

Ihres vorletzten Bundesparteitags.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —<br />

Lachen bei der SPD)<br />

-<br />

Für die FDP ist wichtig, daß es bei der Umsetzung<br />

des Konzepts nicht zu einem Verschiebebahnhof für<br />

Soldaten kommen darf. Die Zahl der Umzüge muß<br />

möglichst geringgehalten werden. Die Soldaten und<br />

ihre Familien dürfen keine beliebige Manövriermasse<br />

sein.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Sie dürfen nicht die Verlierer dieser erfolgreichen Abrüstungspolitik<br />

sein. Dies gilt auch für den zivilen<br />

Bereich.<br />

(Zuruf von der SPD: Eben!)<br />

Im weiteren Verlauf der Beratungen der Standortkonzeption<br />

müssen die anderen Ministerien einbezogen<br />

werden. Der Kollege Beckmann hat darauf hingewiesen.<br />

Dies muß eine Gemeinschaftsaufgabe sein.<br />

Ich erinnere an die Standortschließung bei Stahl<br />

und Kohle, wo schon fast der nationale Nostand ausgerufen<br />

wurde und eine Sondersitzung die andere<br />

jagte. Hier aber geht es um weit über 100 000 Soldaten<br />

und Zigtausende von Zivilbeschäftigten und ihre<br />

Familien, also eine Größenordnung, die noch nie dagewesen<br />

ist.<br />

Deshalb handelt es sich um eine Aufgabe der gesamten<br />

Regierung und des gesamten Parlaments, und<br />

ich beziehe die Opposition ausdrücklich ein, weil ich<br />

noch nicht die Hoffnung aufgegeben habe, daß Sie zu<br />

einem Konsens in der Lage sind.<br />

Ausschließen möchte ich hier ausdrücklich die Kollegin<br />

von der PDS, die sich hier als Spreche rin der<br />

Nachfolgeorganisation der SED hinstellt, uns hier<br />

Vorschriften macht, aber an keiner <strong>Sitzung</strong>, als das<br />

Stationierungskonzept beraten wurde, teilgenommen<br />

hat. Ich frage Sie: Woher nehmen Sie eigentlich Ihre<br />

Informationen? Wenn Sie dann hier als Spreche rin der<br />

SED-Nachfolgeorganisation uns etwas über Abrüstung<br />

erzählen wollen, dann darf ich Sie doch wohl<br />

daran erinnern, daß es die SED war, die ihr Land bis in<br />

den letzten Winkel aufgerüstet hat. Unter diesen Folgen<br />

leiden unsere Mitbürger noch heute, und Sie tragen<br />

dafür die Verantwortung.<br />

Ich bedanke mich.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, das Wort hat nunmehr der Bundesminister der<br />

Verteidigung, Herr Gerhard Stoltenberg.<br />

Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Verteidigung:<br />

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!<br />

Seit der Vorlage und Begründung des Stationierungskonzepts<br />

für die Standorte der Soldaten am 24. Mai<br />

erleben wir in der Öffentlichkeit eine beite, ganz<br />

überwiegend sachbezogene Debatte. Ich will das unterstreichen.<br />

Wir haben seitdem über acht Stunden im Verteidigungsausschuß<br />

diskutiert — heute morgen noch über<br />

die schon erwähnte Folgevorlage für die zivilen Mitarbeiter<br />

der Streitkräfte. Ich hebe das auch hervor,<br />

weil es schon erstaunlich ist, wie Hauptsprecher der<br />

Opposition — Kollege Müller als erster — hier lustig<br />

drauflosreden, die an keiner dieser Beratungen teilgenommen<br />

haben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Von Sachkenntnis ungetrübt übernehmen Sie den<br />

polemischen Teil, und das im Namen einer Partei, die<br />

ja leider im letzten Jahr bewiesen hat — daran ist<br />

schon ein ganzes Jahr lang von Oskar Lafontaine bis<br />

Egon Bahr erinnert worden — , daß sie eine Bundeswehr<br />

von etwa 200 000 Mann wollte. Wenn wir das<br />

umsetzen müßten, würden wir unsere sicherheitspolitische<br />

Verantwortung mißachten und einen Kahlschlag<br />

bei den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern<br />

machen, der vollkommen unvertretbar wäre.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


2622 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg<br />

Also, Herr Müller, mäßigen Sie sich vor dem Hintergrund<br />

dieser Debatten. Sie gehören auch zu denen,<br />

die mit massiver Emotionalität die Übungen der Luftwaffe<br />

vor zwei, drei Jahren in ihrem Heimatland bekämpft<br />

haben und heute erklären, die Luftwaffe<br />

müsse hierbleiben.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Tiefflug kommt<br />

von Tiefflieger, Herr Müller!)<br />

Die Soldaten müssen als Mitbürger in ihrer Verantwortung<br />

ernstgenommen und nicht plötzlich als Wirtschaftsfaktor<br />

entdeckt werden, wenn man über sie<br />

redet.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Wir haben dieses Angebot zur Diskussion mit den<br />

Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und allen<br />

anderen Interessierten gemacht, und wir spüren,<br />

daß es von vielen ernstgenommen wird. Es ist auch<br />

möglich — ich habe dies heute im Ausschuß gesagt<br />

—, wenn wir die abschließenden Entscheidungen<br />

für diesen Bereich im August treffen, noch Stellungnahmen<br />

bis gegen Ende Juli in die Schlußwürdigung<br />

einzubeziehen. Aber dann muß entschieden<br />

werden. Herr Kollege Nolting hat als letzter überzeugend<br />

die Gründe genannt, warum wir das nicht immer<br />

weiter verschleppen dürfen.<br />

Man muß auch den jetzigen Diskussionsprozeß in<br />

vier Stufen der Entscheidungsfindung über eine<br />

grundlegende Reform der Bundeswehr sehen.<br />

Wir haben nach sorgfältiger Beratung über eine<br />

drastische Straffung und Vereinfachung der Führungsorganisation<br />

der Kommandobehörden der Bundeswehr<br />

entschieden. Wir sind jetzt im Entscheidungsprozeß<br />

über die Stationierung der Soldaten und<br />

die Standorte für die zivilen Mitarbeiter in den Streitkräften.<br />

Wir wollen im September — ich habe das<br />

heute im Ausschuß ausführlicher vorgetragen — dann<br />

ein grundlegendes Reformkonzept vorlegen, natürlich<br />

auch mit einer notwendigen Rückführung für fast<br />

100 000 Mitarbeiter allein in Westdeutschland bei der<br />

übrigen Bundeswehrverwaltung und im Bereich der<br />

technischen Einrichtungen, der sogenannten Rüstungsorganisation.<br />

Das kann man auch nicht alles<br />

übers Knie brechen; denn hier geht es um zwei Dinge:<br />

die vielbeschworene, von uns ernstgenommene Verantwortung<br />

für die Menschen, aber auch um eine für<br />

die Aufgaben der Bundeswehr sinnvolle Zukunftsorganisation.<br />

Ich will einmal im Deutschen <strong>Bundestag</strong> sagen, daß<br />

hier in einer ungewöhnlich engagierten Weise gearbeitet<br />

wird, daß die Belastung für diejenigen, die die<br />

Hauptarbeit leisten, an die Grenze dessen geht, was<br />

man ihnen zumuten kann.<br />

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wieviel<br />

arbeiten denn daran?)<br />

— Alles in allem geht es in die Tausende, wenn wir die<br />

Rückkopplungen in die Kommandobereiche und Verwaltungen<br />

sehen, und im Ministerium sind es sicher<br />

auch weit über tausend.<br />

Herr Kollege Müller, es gibt natürlich auch noch<br />

andere Aufgaben. Seit dem 3. Oktober stehen wir vor<br />

der Aufgabe, die alten Strukturen der NVA aufzulösen<br />

und mit dem Aufbau der neuen Bundeswehr zu<br />

beginnen. Wir haben die Aufgabe, uns an den internationalen<br />

Diskussionen über die neue Konzeption<br />

des Bündnisses über Rüstungskontrolle und Reform<br />

zu beteiligen.<br />

Insofern ist das eine große Zeit der Gestaltung, bei<br />

der wir in der Tat vor dem, was an tiefgreifenden<br />

Änderungen kommt, die Verantwortung für die Menschen<br />

zu beachten haben, hier für die Soldaten und<br />

zivilen Mitarbeiter. Ich hoffe, daß wir so zu tragfähigen<br />

Ergebnissen kommen, die der Zukunft und den<br />

Betroffenen gerecht werden.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Helmut Becker: Meine Damen und<br />

Herren, nächste Rednerin ist Frau Kollegin B rigitte<br />

Schulte.<br />

Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Herr Präsident!<br />

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Stoltenberg,<br />

es ist schon erstaunlich, was Sie zu Ihrem Konzept<br />

heute vorgetragen haben. Wir haben dieses<br />

große Werk ja unvollständig erhalten, und in der militärischen<br />

Konzeption ist es auch für den Fachmann<br />

nicht durchschaubar. Sie hatten es ja nicht nötig, uns<br />

vorher zu erklären, warum denn im Jahre 1995 der<br />

Umfang des Heeres mit 255 400, der Luftwaffe mit<br />

82 400 und der Marine mit 32 200 Soldaten der Stein<br />

der Weisen ist.<br />

Im Gegenteil, allen Angeboten der SPD-Opposition<br />

entgegen haben Sie mit uns kein Gesamtkonzept über<br />

moderne Streitkräfte erarbeitet. Ich habe immer den<br />

Verdacht — auch die Soldaten empfinden das inzwischen<br />

draußen so —, daß diese Bundesregierung die<br />

Bundeswehr als ihre Privatarmee versteht und nicht<br />

als Gesamtaufgabe der Gesellschaft.<br />

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/<br />

CSU: Das sagen Sie! — Weitere Zurufe von<br />

der CDU/CSU)<br />

Bei einer solchen Haltung konnten Sie auch nicht erwarten,<br />

daß die Regierungschefs Ihnen ernsthaft auf<br />

das vorgelegte Konzept eine Antwort geben konnten.<br />

Das haben doch nicht einmal die CDU- und CSUgeführten<br />

Länder getan.<br />

(Zuruf von der SPD: Das ist die Wahrheit! —<br />

Zuruf von der FDP: Herr Schäfer, Niedersachsen!)<br />

Meiner Meinung nach haben Sie in diesem riesigen<br />

Konzept selber zugeben müssen, daß es unvollständig<br />

ist, weil, als Sie es am 24. Mai vorlegten — Herr<br />

Stockhausen, Sie hätten es sich ansehen sollen —,<br />

(Karl Stockhausen [CDU/CSU]: Ich habe es<br />

angeguckt!)<br />

noch immer kein Niederschlag der zivilen Mitarbeiter<br />

drin war. Was Sie uns heute über die zivilen Mitarbeiter<br />

geboten haben, ist unvollständig, ist wieder<br />

eine Täuschung der Bevölkerung und erlaubt es wieder<br />

nicht, den Flächenlandministerpräsidenten eine<br />

entsprechende Antwort zu geben.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2623<br />

Brigitte Schulte (Hameln)<br />

Meine Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nur<br />

das Beispiel Niedersachsen sagen.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das hätte<br />

uns auch gewundert, wenn Sie nichts gesagt<br />

hätten!)<br />

Niedersachsen hatte — Herr Kollege Nolting, hören<br />

Sie doch einmal zu — 106 000 Soldaten als Friedensumfang.<br />

Es hat jetzt nach den Aussagen von Herrn<br />

Stoltenberg gerade noch 86 000 Soldaten. Das liegt an<br />

der Verkürzung der Wehrdienstzeit und dem Abbau<br />

von Truppenteilen. Es soll 1994, das wissen wir seit<br />

dem 24. Mai, knapp 60 000 Soldaten haben. Das bedeutet<br />

— und darum kümmern sich Sozialdemokraten<br />

— , daß sich der Verteidigungsumfang in Friedenszeiten<br />

um 40 % erfreulicherweise verkleinert. Nur,<br />

was bedeutet das in den Folgen für die Region? Das<br />

bedeutet doch auch, daß wir — und das geben Sie<br />

selbst an — über 20 000 Arbeitsplätze für Berufs- und<br />

Zeitsoldaten verloren haben, allein in diesen letzten<br />

Jahren über 16 000. Das sind Einschnitte, die ganz<br />

besonders die Flächenstaaten treffen. Es lag doch<br />

nicht an uns, Herr Kollege Nolting, daß gerade diese<br />

Länder in der Fläche mit militärischen Ausstattungen<br />

besonders stark waren.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Es war doch die politische Lage und nicht die Lage der<br />

SPD oder der CDU/CSU und der FDP. Wir müssen das<br />

auffangen, denn es kommen zu diesem Abbau von<br />

Arbeitsplätzen bei Berufs- und Zeitsoldaten noch<br />

weit über 10 000 allein in Niedersachsen hinzu. Der<br />

Minister hat uns heute ja nur ein halbes Ergebnis<br />

gegeben. Meine Informationen sagen, daß wir über<br />

50 000 zivile Arbeitsplätze verlieren werden. Das ist in<br />

der Tat, meine Damen und Herren, viel mehr, als wir<br />

alle angenommen haben.<br />

Deswegen stimme ich dem Kollegen Müller zu: Dies<br />

ist eine wirtschaftliche Frage. Dies ist eine eminente<br />

strukturpolitische Frage. Deswegen haben wir sie<br />

zum Gegenstand einer Diskussion für Wirtschaftspolitiker<br />

und Verteidigungspolitiker gemacht.<br />

Ich bin sehr dankbar, Herr Stoltenberg, daß auf unsere<br />

Initiative hin wenigstens die Industrie- und Handelskammern<br />

und die Handwerkskammern in Niedersachsen<br />

versucht haben, diese Problematik aufzuarbeiten.<br />

(Beifall bei der SPD — Günther Friedrich<br />

Nolting [FDP]: Die haben das freiwillig ge<br />

macht!)<br />

— Herr Nolting, wenn Sie sich einmal unterrichten<br />

-<br />

würden! Wir haben Sie zu Gesprächen eingeladen.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ich habe<br />

mit den Leuten gesprochen!)<br />

— Sie sind unheimlich schlau, das ist ganz klar.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Die haben<br />

das auf freiwilliger Basis gemacht, weil Ihre<br />

Landesregierung nicht fähig ist!)<br />

— Wenn Sie so klug sind, wie Sie sich geben, dann<br />

sage ich Ihnen: Wir als SPD-Fraktion haben diese<br />

Thematik bereits am 4. Februar 1991 angesprochen,<br />

als uns die Regierung noch keine Antwort geben<br />

wollte.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Die Industrie- und Handelskammer — ich stelle Ihnen<br />

den Brief zur Verfügung — hat uns das mitgeteilt.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP] : Hatte ich<br />

vor Ihnen!)<br />

Wir brauchen einen Strauß an Antworten.<br />

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Einen<br />

Strauß, den brauchen wir in der Tat!)<br />

Deshalb verlangt die SPD-Fraktion ein Abrüstungsfolgengesetz,<br />

in dem eben nicht nur die Arbeitnehmer,<br />

zivile wie militärische, berücksichtigt werden,<br />

sondern auch die Schaffung neuer ziviler Arbeitsplätze<br />

erreicht wird,<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

die Liegenschaften eine Rolle spielen. Meine Kolleginnen<br />

und Kollegen, erst dann kann eine ordentlich<br />

arbeitende Landesregierung auch eine Antwort geben.<br />

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das<br />

wäre prospektiv im Jahre 2010!)<br />

Fragen Sie doch einmal Ihre bayerische Landesregierung,<br />

was sie von diesen Konzepten hält!<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete<br />

Dr. Egon Jüttner.<br />

Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns: Als im<br />

Sommer des vergangenen Jahres unser Bundeskanzler<br />

bei seinem Treffen mit Gorbatschow die Verringerung<br />

der Bundeswehr von 495 000 auf 370 000 Mann<br />

vereinbarte, da waren wir alle erleichtert. Helmut<br />

Kohl hatte damals Einigkeit mit der Sowjetunion über<br />

alle äußeren Aspekte der deutschen Einheit erzielt, so<br />

auch über die Zugehörigkeit des vereinten Deutschland<br />

zur NATO, über den Abzug aller sowjetischen<br />

Truppen bis 1994, aber auch über die Reduzierung der<br />

Streitkräfte des vereinten Deutschlands. Die Reduzierung<br />

der Streitkräfte ist eine schwierige Operation<br />

und bedeutet für die Bundeswehr einen tiefgreifenden<br />

Umbruch. Sie ist eine große Herausforderung für<br />

die Verantwortlichen. Diese müssen nicht nur die Reduzierung,<br />

sondern auch die weitreichendste Strukturreform<br />

der Bundeswehr seit ihrer Gründung und<br />

gleichzeitig den Aufbau der Bundeswehr in den<br />

neuen Bundesländern bewältigen. Dafür sollten wir<br />

den Herren auf der Hardthöhe einmal herzlich danken!<br />

Meine Damen und Herren, das Ressortkonzept für<br />

die Stationierung der Streitkräfte ist eine hervorragende<br />

Entscheidungsgrundlage. Die Vorschläge<br />

orientieren sich an Kriterien, über die allgemein Konsens<br />

besteht. Konsens besteht auch über die Grundsätze,<br />

die dem Ressortkonzept zugrunde liegen.


2624 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Egon Jüttner<br />

Meine Damen und Herren, es war vorauszusehen,<br />

daß es bei manchen Vorschlägen des Ressortkonzepts<br />

Enttäuschung und auch Kritik Betroffener geben<br />

würde. Kein Verständnis aber kann man für jene Politiker<br />

haben, die noch vor kurzer Zeit die Bundeswehr<br />

auf einen unverantwortlich niedrigen Stand zurückführen<br />

wollten,<br />

(Dieter Heistermann [SPD]: Die FDP!<br />

„230 000!" Da sitzen sie doch !)<br />

jetzt aber das Ressortkonzept kritisieren und erstaunlich<br />

schnell ihr Herz für die Bundeswehr entdeckt<br />

haben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Wie glaubwürdig ist Ihr Eintreten für die Erhaltung<br />

von Standorten, und wie ernsthaft ist Ihre Kritik am<br />

Vorschlag des Verteidigungsministers?<br />

Im Einzelfall mag das Ressortkonzept sicher manch<br />

unliebsamen Vorschlag enthalten. Man darf es aber<br />

nicht allein unter lokal- oder regionalpolitischen Gesichtspunkten<br />

sehen, sondern muß es als Ganzes beurteilen.<br />

Dann kommt man zu dem Schluß, daß es,<br />

gemessen an seinen Vorgaben und Rahmenbedingungen,<br />

insgesamt das Ziel, den künftigen Aufgaben<br />

der Bundeswehr gerecht zu werden, und gleichzeitig<br />

die Vorgabe, die Personalstärke auf 370 000 zu reduzieren,<br />

erfüllt.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Heister<br />

mann [SPD]: Hoffentlich holt Sie das nicht<br />

eines Tages wieder ein, was Sie hier sa<br />

gen!)<br />

Dies sollte auch die Opposition zur Kenntnis nehmen!<br />

Die Länder sind frühzeitig vom Verteidigungsminister<br />

in die Planungen einbezogen worden. Nun haben<br />

sie vor der endgültigen Entscheidung noch einmal die<br />

Möglichkeit, sich zu äußern und Vorschläge zu unterbreiten.<br />

Diese Vorschläge müssen sorgfältig und<br />

ernsthaft geprüft werden.<br />

Die Regierung beispielsweise meines Bundeslandes<br />

Baden-Württemberg war von Anfang an damit einverstanden,<br />

Ballungsräume zu entlasten und den ländlichen<br />

Raum zu stärken. Im Ressortkonzept ist dieser<br />

Grundsatz im wesentlichen eingehalten worden. Das<br />

zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß das Heer um 33 %<br />

verringert wird, gleichzeitig aber die Standorte nur<br />

um 12 % vermindert werden. Das bedeutet, daß die<br />

überwiegende Zahl der Standorte in strukturschwachen<br />

Gebieten erhalten bleibt. Den Forderungen der<br />

CDU-Landesgruppe und der Landesregierung - Baden-Württemberg<br />

wurde somit weitgehend entsprochen.<br />

Schließlich gibt es bei uns noch vier Standorte,<br />

für deren Erhalt wir uns weiterhin einsetzen.<br />

Meine Damen und Herren, die Schließung von<br />

Standorten bedeutet stets, auch in einer strukturstarken<br />

Gegend, einen Verlust an Beschäftigungsmöglichkeiten,<br />

einen Verzicht auf Kaufkraft und überdies<br />

einen Verlust an heimatnahem Einsatz Wehrpflichtiger.<br />

Ich halte es deshalb für dringend erforderlich, daß<br />

sich im Zuge der Auflösung und Reduzierung von<br />

Standorten die Bundesministerien der Verteidigung,<br />

sowie für Wirtschaft und Arbeit nicht nur um wirtschaftsschwache,<br />

sondern um alle betroffenen Regionen,<br />

Gemeinden und Städte kümmern.<br />

(Dieter Heistermann [SPD]: Nennen Sie da<br />

bei auch noch den Finanzminister!)<br />

Ich meine, es muß in allen vom Bundeswehrabzug<br />

betroffenen Standorten bei der Reduzierung des Zivilpersonals<br />

stufenweise und sozialverträglich vorgegangen<br />

werden. Wirtschaftsstrukturelle Hilfen müssen<br />

gegeben werden; Konzepte für den heimatnahen<br />

Einsatz Wehrdienstleistender müssen vorgelegt werden;<br />

für ältere Mitarbeiter muß die Möglichkeit des<br />

vorzeitigen Ausscheidens vorgesehen werden. Darüber<br />

hinaus müssen schon bald auch im Verwaltungsbereich<br />

Entscheidungen getroffen werden. Auch hier<br />

wollen die Betroffenen wissen, ob beispielsweise<br />

Standortverwaltungen aufgelöst, verlegt oder zusammengefaßt<br />

werden.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Manfred Opel<br />

[SPD]: Natürlich wollen die das wissen! —<br />

Detlev von Larcher [SPD]: Dann man tau!)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Manfred<br />

Opel.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Der General a. D.!<br />

— Günther Friedrich Nolting [FDP]: Uns<br />

bleibt nichts erspart!)<br />

Manfred Opel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Ach wissen Sie, Herr Nolting, kurz,<br />

knapp, schnell, präzise und falsch — das kann ich<br />

auch. Das will ich aber nicht machen.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Da sind<br />

Sie gerade dabei!)<br />

Meine Damen und Herren, selbstverständlich<br />

freuen wir uns über die Erfolge bei der Abrüstung,<br />

aber wir möchten auch, daß die europa- und weltweite<br />

Abrüstung weitergeht.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Wir können nicht bei 370 000 Soldaten stehen bleiben.<br />

Deswegen muß die Abrüstung so strukturiert<br />

werden, daß sie auch zukunftssicher ist, daß sie der<br />

Bevölkerung Chancen bietet und für sie attraktiv ist,<br />

damit sie angenommen wird. Genau hier setzt unsere<br />

Kritik an.<br />

Wir wissen natürlich auch, daß Abrüstung nicht<br />

ohne potentielle soziale, wirtschaftliche und strukturelle<br />

Folgewirkungen durchzuführen ist.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dann sa<br />

gen Sie das doch öffentlich!)<br />

Abrüstung muß deshalb Hand in Hand gehen mit<br />

überzeugenden Ausgleichsmaßnahmen. Hier sind Sie<br />

eine Antwort schuldig geblieben, Herr Nolting.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Die dringende Frage ist nicht, o b man abrüstet, son<br />

dern, wie man abrüstet. Deswegen brauchen wir ein<br />

„Gesamtkonzept Abrüstung".<br />

Der erste Entwurf der Hardthöhe zur Reduzierungsplanung<br />

kam nicht nur mit großer Verspätung, son-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2625<br />

Manfred Opel<br />

dern erwies sich auch, wie Sie ja selbst gesagt haben,<br />

als höchst unvollständig und unausgewogen.<br />

(Günther F riedrich Nolting [FDP]: Sie haben<br />

nicht zugehört!)<br />

Würde das sogenannte Ressortkonzept in der vorliegenden<br />

Form umgesetzt, wären vermeidbare Nachteile<br />

und soziale Härten bei den betroffenen Bundeswehrangehörigen,<br />

Gemeinden und Regionen die<br />

Folge. Vor allem die Soldaten vermögen aus dem Konzept<br />

nicht zu erkennen, wie ihre sozialen Belange<br />

wahrgenommen werden sollen. Das aber haben diejenigen<br />

— in erster Linie in den Standortgemeinden —,<br />

die in der Vergangenheit viel in Kauf genommen haben,<br />

um den Frieden in Europa zu sichern, nicht verdient.<br />

Um es klar zu sagen: Das Ressortkonzept des<br />

Verteidigungsministers ist sozial- und strukturpolitisch<br />

unakzeptabel.<br />

Den Plänen des Verteidigungsministers fehlt insbesondere<br />

die Ausrichtung auf ein politisches, strategisches<br />

und operatives Konzept. So werden lediglich<br />

überwiegend veraltete Strukturen fortgeschrieben.<br />

Die Beschaffung der Dinosauriersysteme des Kalten<br />

Krieges wird fortgesetzt, als sei in der Zwischenzeit<br />

überhaupt nichts geschehen.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Die Aufgabenteilung zwischen den Teilstreitkräften<br />

wurde nicht neu definiert, obgleich eine Umplanung<br />

zugunsten der Ma rine — hier trete ich Ihnen bei,<br />

Herr Koppelin — dringend geboten ist.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Militärisches<br />

Fossil!)<br />

Fazit: Das sogenannte Ressortkonzept ist auch politisch<br />

und militärisch nicht tragfähig.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien,<br />

wir laufen ernsthaft Gefahr, die „Friedensdividende"<br />

zu verspielen. Das sollten Sie sich einmal zu<br />

Gemüte führen.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nennen<br />

Sie uns mal Ihr Konzept!)<br />

Man nehme nur einmal das Beispiel des Landesteils<br />

Schleswig im Norden Schleswig-Holsteins. Da läßt<br />

der Verteidigungsminister ausgerechnet eine der<br />

strukturschwächsten Regionen dieser Republik am<br />

meisten bluten. Das beweist das heute veröffentlichte<br />

Konzept für die „Zivilbediensteten bei den Streitkräften"<br />

sogar verstärkt. Die diesbezüglichen Ausführungen<br />

des Kollegen Koppelin sind richtig, und ich<br />

schließe mich ihnen an. Im übrigen, Herr Kollege<br />

-<br />

Koppelin,<br />

wurde Itzehoe vom Verteidigungsminister ja<br />

schon bestraft. Dort wurde der Standort sang- und<br />

klanglos geschlossen. Die zahlreichen und konstruktiven<br />

Alternativvorschläge, die wir gemacht haben,<br />

stießen beim Minister auf taube Ohren.<br />

Wir benötigen dringend die Aufschlüsselung der<br />

zukünftigen Personalstruktur nach Dienstgraden und<br />

Laufbahnen. Wir brauchen endlich die Vergleichszahlen<br />

für alle zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr<br />

und nicht nur für einen Teil. Wir müssen die Planzahlen<br />

in Jahresschritten präzise genannt erhalten. Die<br />

Bürgermeister und Landräte wissen nämlich im Mo<br />

ment nicht, wie ihre Planung vor Ort aussieht. Es<br />

herrscht dort absolute Unsicherheit.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Wir brauchen ein Abrüstungsfolgen-Gesetz mit folgenden<br />

drei Elementen: erstens ein Konzept für soziale<br />

Konversion in Form von sozialer Absicherung<br />

der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr<br />

sowie für alle anderen Betroffenen, zweitens ein<br />

Konzept zur Standortekonversion für wirtschaftliche<br />

Hilfen, in erster Linie für die betroffenen Kommunen,<br />

drittens ein Konzept für Rüstungskonversion, bestehend<br />

vor allem aus Überleitungsmaßnahmen von der<br />

Rüstungsproduktion in die zivile Produktion. Wichtig<br />

ist, daß wir damit weiterkommen, daß Sicherheit vor<br />

Ort entsteht.<br />

Vorzuwerfen ist dem Verteidigungsminister vor allem<br />

auch, daß er seine Planungsarbeit wie seine Privatsache<br />

gefahren hat. Er hätte Gemeinden, Kreise,<br />

Länder, Berufsverbände, Personalräte, Vertrauenspersonen,<br />

Gewerkschaften und andere Betroffene von<br />

Anfang an beteiligen müssen. Dann wären die eklatanten<br />

Fehler, die nun leider zu verzeichnen sind, vermeidbar<br />

gewesen.<br />

So haben wir heute Gemeinden, die ihre Soldaten<br />

loswerden wollen, sie aber behalten müssen; und umgekehrt<br />

solche, die ihre Soldaten behalten wollen, sie<br />

aber abgeben müssen. Genau das hätte man durch<br />

Offenheit von Anfang an anders machen können.<br />

Wir hoffen, daß der Verteidigungsminister endlich<br />

Einsicht zeigt, sich kooperationswillig sowie vor allem<br />

kooperationsfähig erweist und daß wir die Planung in<br />

der Substanz in dem Sinne, wie ich es gesagt habe,<br />

noch im Laufe der nächsten Monate grundlegend korrigieren<br />

können.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, nächster Redner ist unser Kollege Hans Raidel.<br />

Hans Raidel (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine<br />

sehr verehrten Damen und Herren! Wir führen heute<br />

eine ganz erstaunliche Debatte: Die SPD spielt sich als<br />

Gralshüter der Bundeswehr auf.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Plötzlich heißt es: Abrüsten ja, aber nicht bei uns.<br />

Schärfste Kritiker des Militärs wandeln sich, Wendehälsen<br />

gleich, aus regionalem Egoismus und mit Blick<br />

auf die Stimmung im eigenen Wahlkreis zu Freunden<br />

soldatischer Präsenz.<br />

(Gudrun Weyel [SPD]: Sie kennen sich nicht<br />

aus! — Josef Vosen [SPD]: Wer hat Ihnen das<br />

aufgeschrieben?)<br />

— Ich würde an Ihrer Stelle Ihre Phrasendreschmaschine<br />

in der Scheune stehen lassen!<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Meine Damen und Herren, die Verringerung der<br />

Bundeswehrstärke auf rund 370 000 Mann und der<br />

gleichzeitige Aufbau demokratischer Streitkräfte in


2626 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Hans Raidel<br />

den neuen Bundesländern sowie der Abzug der sowjetischen<br />

Truppen sind der Erfolg der Sicherheitsund<br />

Außenpolitik dieser Regierung. Die Bundeswehr<br />

erfährt mit der vorliegenden Entscheidung die größte<br />

Umstrukturierung in ihrer Geschichte. Ziel ist dabei<br />

weiterhin, die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten.<br />

Wirtschaftliche Interessen sind zwar, wo immer<br />

es geht, zu berücksichtigen, haben sich aber letztlich<br />

dem Sicherheitsziel unterzuordnen.<br />

Um die militärischen Interessen mit denen der Länder<br />

soweit wie möglich zu harmonisieren, erfolgte die<br />

Stationierungsplanung unter Anlegung eines umfassenden<br />

Kriterienkatalogs: a) Sicherstellung der militärischen<br />

Aufgabenerfüllung, b) politische und gesellschaftliche<br />

Akzeptanz, c) Lebensfähigkeit der Standorte.<br />

Meine Damen und Herren, das vorgelegte Konzept<br />

ist in sich schlüssig und erfüllt die gestellten Ansprüche.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Glauben Sie das<br />

selber?)<br />

Ich darf Ihnen, Herr Minister, und allen Mitarbeitern<br />

Ihres Hauses, insbesondere den Planungsstäben,<br />

herzlich für die enorme Fleißarbeit danken. Dieses<br />

Konzept ist ausgewogen; es hat Hand und Fuß.<br />

Wir wissen, am Truppenabbau geht kein Weg vorbei.<br />

Das darf uns aber nicht den Blick auf die großen<br />

Probleme verstellen, die sich für einzelne Städte und<br />

Gemeinden ergeben, wenn die Soldaten abziehen.<br />

Kaufkraft geht verloren; Infrastruktureinrichtungen,<br />

die für die Bundeswehrangehörigen und ihre Familien<br />

geschaffen wurden, stehen leer.<br />

Als bayerischer Abgeordneter darf ich mir erlauben,<br />

insbesondere auf die bayerischen Probleme hinzuweisen,<br />

die z. B. in Ostbayern, insbesondere in Niederbayern<br />

und der Oberpfalz, oder auch in Nordschwaben<br />

entstehen.<br />

Flankierende Maßnahmen sind nötig. Aus meiner<br />

Sicht sind diese flankierenden gesetzgeberischen<br />

Maßnahmen: erstens das Personalstärkegesetz für die<br />

Reduzierung des Soldatenumfanges, zweitens eine<br />

Vorschrift zur sozial verträglichen Reduzierung des<br />

Zivilpersonals und drittens eine Konzeption, die die<br />

wirtschaftlichen und strukturellen Auswirkungen in<br />

den neuen Stationierungsplanungen auf die Standorte<br />

berücksichtigt.<br />

Die Bundesregierung muß in Abstimmung mit den<br />

Ländern rechtzeitig Vorbereitungen treffen, um geeignete<br />

Maßnahmen einleiten zu können, z. B. aus der<br />

Programmförderung der regionalen Wirtschaftsstruktur.<br />

(Josef Vosen [SPD]: Das ist doch überholt!)<br />

Zudem sollten alle bisher militärisch genutzten Liegenschaften<br />

auf die Möglichkeit ihrer zivilen Folgenutzung<br />

geprüft werden. Als Alternative nenne ich<br />

z. B. die Nutzung für den Wohnungsbau. Hier ist dem<br />

Finanzminister herzlich zu danken, daß das Konzept<br />

für die Abgabe von Bauland deutlich verbessert worden<br />

ist:<br />

(Josef Vosen [SPD]: Viel zu teuer!)<br />

30 % bisher und in möglichen weiteren Fällen über<br />

diese 30 % hinaus. Diese Preisbevorzugungen sollten<br />

sich auf alle der Öffentlichkeit dienenden Einrichtungen<br />

der Länder, Bezirke und Gemeinden erstrekken.<br />

Meine Damen und Herren, die vor Ort entstehenden<br />

wirtschaftlichen und strukturellen Probleme bei<br />

Auflösung bzw. Verlegung von Bundeswehreinheiten<br />

sind politisch sicherlich nicht zu unterschätzen. Dennoch<br />

muß dem Ministerium bescheinigt werden, daß<br />

mit dem vorgelegten Ressortkonzept eine schlüssige<br />

und den künftigen Aufgaben der Bundeswehr gerecht<br />

werdende Stationierungsplanung vorgelegt wurde.<br />

Herzlichen Dank.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt<br />

hat nunmehr der Abgeordnete Thomas Kossendey<br />

das Wort.<br />

Thomas Kossendey (CDU/CSU) : Herr Präsident!<br />

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich die Reden<br />

der Kollegen von der Opposition hörte, fiel mir Ihr<br />

Bürgermeister Momper ein. Er hat den Ausdruck vom<br />

„Rumeiern" geprägt. Sehr viel mehr war es eigentlich<br />

nicht, was Sie heute geboten haben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Sie haben viel geredet, viel lamentiert, aber eigentlich<br />

wenig Konstruktives beigetragen.<br />

(Detlev von Larcher [SPD]: Das machen Sie<br />

jetzt!)<br />

Das kollektive In-die-Kissen-Schluchzen, das Sie<br />

hier demonstriert haben, kann Politik nicht ersetzen.<br />

Die Bürger wollen wissen: Was wollen die Sozialdemokraten<br />

nun eigentlich?<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Das wissen die<br />

doch selber nicht! — Dieter Heistermann<br />

[SPD]: Wir wollen wissen, was die Regierung<br />

will!)<br />

Daß Sie reduzieren wollen, haben wir gehört. Aber<br />

eines würde uns natürlich interessieren: Wieviel und<br />

wo würden Sie reduzieren? Was ist eigentlich aus Ihren<br />

hochtrabenden Plänen geworden?<br />

Mit einem Irrtum unserer Kollegen möchte ich einmal<br />

aufräumen: Die SPD sprach immer von 200 000<br />

Mann. Ich habe hier eine Überschrift aus einer politischen<br />

Zeitung: „Der roten Heidi reichen 100 000<br />

Mann",<br />

(Josef Vosen [SPD]: Für die Heidi allein! —<br />

Heiterkeit)<br />

— Für Heidi allein? Ja, gut.<br />

Mich würde eigentlich interessieren: Wann legen<br />

Sie die Liste der Standorte vor, die wir dann schließen<br />

müßten? Wie sagen Sie das den Zivilbediensteten?<br />

Wie sagen Sie das den Soldaten?<br />

Eines, meine Herren und Damen, wollen wir Ihnen<br />

nicht durchgehen lassen: Jahr für Jahr seit 1988 pachten<br />

Sie die Schlagzeilen der Wochenendzeitungen mit<br />

immer niedrigeren Zahlen für die Bundeswehr. Wenn


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2627<br />

Thomas Kossendey<br />

es wirklich ernst wird, dann fangen Sie an zu jammern.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Jetzt ziehen Sie — ich habe das in Niedersachsen erlebt<br />

— wie ein mehr oder weniger gut organisierter<br />

Haufen professioneller Klageweiber durchs Land, bejammern<br />

den Abbau der Bundeswehr und beschwören<br />

Ihre Liebe zu den Soldaten.<br />

(Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Wo sind<br />

denn die Klageweiber? — Gegenruf von der<br />

CDU/CSU: In der Südpfalz zuvorderst!)<br />

Jede Garnison ist auf einmal strukturpolitisch sehr<br />

wichtig. Was wäre denn wohl mit 100 000 Mann? Wo<br />

blieben denn Standorte, die wir in der letzten Zeit in<br />

der Diskussion hatten.<br />

Wenn ich Sie dann vom Strukturfaktor Bundeswehr<br />

reden höre, der ganz wichtig sei, und daß viele Regionen<br />

geradezu veröden würden, wenn die Bundeswehr<br />

wegginge, kann ich Ihnen nur eines sagen: Wer Soldaten<br />

in erster Linie als Strukturfaktoren sieht, der<br />

baut keine gute Basis für eine verantwortungsvolle<br />

Zusammenarbeit für die Zukunft.<br />

(Beifall des Abg. Albrecht Müller [Pleiswei<br />

ler] [SPD])<br />

Denn zu einer guten Zusammenarbeit mit Soldaten<br />

und der Bundeswehr gehört mehr. Da muß auch die<br />

innere Bejahung des Auftrages der Bundeswehr und<br />

der Sicherheitspolitik hinzukommen.<br />

(Josef Vosen [SPD]: Das brauchen Sie uns<br />

doch nicht zu erzählen!)<br />

Das lassen Sie vermissen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Ihre Liebesschwüre an die Soldaten erinnern mich<br />

ein bißchen an die Mitgiftjäger. Sie wollen zwar mit<br />

der Braut nicht viel zu tun haben; aber die Mitgift<br />

interessiert alle.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Heister<br />

mann [SPD]: Das ist eine alte Schallplatte!)<br />

Das ist für politische Arbeit zu wenig.<br />

Strukturfaktor Soldat ist vielleicht auch aus einer<br />

anderen Sicht problematisch: Wir würden der Bundeswehr,<br />

glaube ich, eine viel zu große Verantwortung<br />

auf den Buckel binden, wenn wir sie auch noch<br />

für die Strukturpolitik in unserem Lande verantwortlich<br />

machen wollten. Wer so denkt, wird zum - Schluß<br />

noch Fregatten bauen, weil es den Werften schlechtgeht.<br />

Ich mag gar nicht daran denken: Vielleicht kommen<br />

Sozialdemokraten noch auf die Idee, wegen irgendeiner<br />

industriepolitischen Misere in Bayern den<br />

Jäger 90 zu bauen. So eine Logik fände ich nicht gerade<br />

prima.<br />

Mich hat die Rede der Kollegin Schulte beeindruckt,<br />

die im Augenblick nicht mehr da sein kann.<br />

(Zuruf des Abg. Manfred Opel [SPD])<br />

— Herr Opel, seien Sie vorsichtig. Sie sind eines der<br />

wenigen gelungenen Beispiele für personelle Konver<br />

sion. Aber wir können nicht jedem Soldaten eine solche<br />

Zukunft bieten.<br />

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und<br />

der FDP)<br />

Sorgen machen mir die Zivilbediensteten; lassen<br />

Sie mich das ganz deutlich sagen. Hier wird es unser<br />

aller Anstrengung bedürfen — der Anstrengung der<br />

Regierung und des Parlamentes, und zwar beider Seiten<br />

des Parlamentes — , um allen eine sozialverträgliche<br />

Lösung zu bringen. Aber das Schema zieht nicht,<br />

daß Sie erst die Leute in Panik bringen, uns diese<br />

Panik vorhalten und dann meinen, wir seien dafür<br />

verantwortlich, Rezepte für die Beruhigung der Menschen<br />

zu bringen, die Sie erst in Panik gebracht haben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Zum Schluß möchte ich in fünf Punkten zusammenfassen,<br />

was mir in den nächsten Wochen wichtig erscheint.<br />

Das Konzept von Minister Stoltenberg, das<br />

gut und schnell ausgearbeitet worden ist, ist aus meiner<br />

Sicht in einigen Punkten nachbesserungsbedürftig.<br />

Das werden wir leisten. Ich denke dabei insbesondere<br />

an den Nordwesten unseres Vaterlandes.<br />

Zweiter Punkt: Wir müssen das Rahmenkonzept für<br />

eine Hilfe in Zukunft sowohl für die Soldaten als auch<br />

für die Zivilbediensteten präziser fassen. Ich denke, in<br />

der Sondersitzung am 5. August werden wir dazu einiges<br />

erfahren. Es darf nämlich nicht passieren — mit<br />

den 370 000 Mann sind wir ja im Wort — , daß wir ein<br />

Gesetz vorlegen und keiner von der Bundeswehr<br />

weggehen will, weil nämlich auf einmal der Arbeitsplatz<br />

ganz wichtig ist.<br />

Wir müssen drittens die wirtschaftlichen Ausgleichsmaßnahmen,<br />

von denen Herr Staatssekretär<br />

Beckmann sprach, den Kommunen sehr schnell und<br />

sehr präzise darlegen.<br />

(Josef Vosen [SPD]: Sehr richtig! — Albrecht<br />

Müller [Pleisweiler] [SPD]: Das haben alle<br />

schon zweimal gesagt!)<br />

Wenn ich richtig informiert bin, wird das am 26. Juni<br />

klarer werden.<br />

Ein vierter Punkt betrifft die Frage der Grundstücke.<br />

30 % kann für mich nicht das letzte Wort sein.<br />

Darüber werden wir mit dem Finanzminister zu diskutieren<br />

haben. Wir sollten das Problem durchaus differenziert<br />

betrachten. Es gibt durchaus Regionen, die<br />

100 % bezahlen können, und es gibt Regionen, die<br />

höchstens 30 bis 40 % bezahlen können.<br />

(Josef Vosen [SPD]: Und das ist noch zu<br />

viel!)<br />

Da werden wir ein differenziertes Konzept vorlegen.<br />

Ich fordere Sie auf, im Sinne der Reden des Kollegen<br />

Opel und der Kollegin Schulte — bei den anderen<br />

habe ich kaum Ansätze entdeckt — , als Opposition<br />

daran mitzuwirken, daß wir das zum Wohle der Soldaten<br />

und der Zivilbediensteten der Bundeswehr machen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Josef Vosen [SPD]: Ganz vernünftiger Schluß<br />

von Ihnen!)


2628 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, die beschlossene Redezeit ist zu Ende. Ich<br />

schließe daher die Aussprache.<br />

Ich mache Sie auf folgendes aufmerksam: Es ist<br />

interfraktionell vereinbart, daß diese <strong>Sitzung</strong> um<br />

16.30 Uhr unterbrochen werden soll. Nun gibt es inzwischen<br />

eine neue interfraktionelle Vereinbarung,<br />

die sich auf die Aktuelle Stunde, auf den Zusatzpunkt<br />

9, bezieht. Mir haben die Fraktionen mitgeteilt,<br />

daß sie für die Aktuelle Stunde jeweils nur einen Redner<br />

benennen. Unter diesen Voraussetzungen möchte<br />

ich diesen Tagesordnungspunkt, Zusatzpunkt 9, aufrufen.<br />

Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist<br />

nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.<br />

Ich rufe auf:<br />

Aktuelle Stunde<br />

Verhalten der Bundesregierung bezüglich der<br />

geplanten Einlagerung von radioaktiven Abfällen<br />

in das Zwischenlager Gorleben und Berücksichtigung<br />

der Bedenken der betroffenen<br />

Bevölkerung und der Landesregierung von<br />

Niedersachsen<br />

Die Gruppe PDS/Linke Liste hat eine Aktuelle Stunde<br />

zu diesem Thema verlangt.<br />

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete<br />

Jutta Braband.<br />

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Schon<br />

wieder! Muß das denn sein, Herr Präsi<br />

dent?)<br />

Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Zu Ihrer Freude,<br />

das muß sein! Es hat sich offenbar sonst niemand gefunden,<br />

der zu diesem Thema etwas sagen möchte.<br />

(Unruhe)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Entschuldigen Sie<br />

bitte. — Darf ich Sie um Ruhe bitten, meine Kolleginnen<br />

und Kollegen, damit die Rednerin zu Wort kommen<br />

kann! — Bitte sehr, Frau Braband.<br />

Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! „Es gibt — das wird immer<br />

augenscheinlicher — eine real existierende Kumpanei<br />

zwischen der Atomlobby auf der einen Seite und<br />

Herrn Töpfer auf der anderen Seite."<br />

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ein<br />

ganz schlechter Einstieg, Frau Kollegin!<br />

Aber das sind wir ja von Ihnen gewöhnt!)<br />

Das ist ein Zitat vom Ministerpräsidenten von Niedersachsen,<br />

von Herrn Schröder.<br />

-<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem<br />

Bündnis 90/GRÜNE — Zuruf von der FDP:<br />

Aber dadurch wird es ja nicht besser!)<br />

— Nein, natürlich nicht, aber vielleicht beschäftigen<br />

Sie sich einmal mit dem Inhalt dieses Satzes.<br />

Der gewalttätige Polizeieinsatz gegen Atomkraftgegner<br />

und -gegnerinnen in Gorleben und Lüchow<br />

auf Anweisung der Bundesregierung offenbart das<br />

häßliche Gesicht der Atomenergie. In Gorleben haben<br />

wir ein Stück Atomstaat in Aktion gesehen. Mit einem<br />

brutalen Einsatz wurde gestern die Einlagerung des<br />

Transnuklear-Skandal-Atommülls aus Mol in das<br />

Zwischenlager Gorleben gegen den Widerstand der<br />

Bevölkerung der Region mit Gewalt durchgesetzt.<br />

Wie zum Hohn erreichte uns diese Woche wieder<br />

einmal die Nachricht von einem Störfall in den Hanauer<br />

Nuklearbetrieben, auf Grund dessen das hessische<br />

Umweltministerium nun endlich die Konsequenzen<br />

gezogen und die Anlage stillgelegt hat.<br />

Die Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft<br />

erweist sich als Geschichte der Pleiten, wie Brüter,<br />

Hochtemperaturreaktor und Wiederaufarbeitungsanlage<br />

in Wackersdorf belegen. Sie ist aber auch<br />

die Geschichte der Skandale und von Abgründigkeiten<br />

um Transnuklear und große RWE-Vorstandsehrenworte<br />

um Biblis A. Zwischenlagerung und Erkundungsbergwerk<br />

zur Endlagerung in Gorleben, Pilotkonditionierungsanlage<br />

usw., finde ich, sind untaugliche<br />

Ergebnisse des Versuchs der Bundesregierung,<br />

der Atomwirtschaft einen Entsorgungspfad freizuklopfen.<br />

Der Kampf der Bürgerinitiative dagegen ist<br />

bekannt.<br />

Was wir in dieser Woche erleben, ist ein Vorgeschmack<br />

auf das, was kommt, wenn in den nächsten<br />

Jahren die Kompaktlager für abgebrannte Brennelemente<br />

in den Atomkraftwerken voll sein werden. Tausende<br />

von Waggonladungen mit mehr oder minder<br />

radioaktiven Abfällen werden pro Jahr durch das<br />

Land fahren, mit erheblichen Risiken für die Bevölkerung<br />

und gegen ihren Willen.<br />

Das handstreichartige Vorgehen dieser Tage beweist,<br />

in welcher Situation sich das befindet, was<br />

Atomwirtschaft und Bundesregierung als Entsorgung<br />

bezeichnen. Ihnen steht der Atommüll bis zum Hals.<br />

Sie wissen nicht, wie es in den nächsten Jahren, wenn<br />

erst der gesamte Atommüll aus La Hague und Sellafield<br />

zurückgenommen werden muß, weitergehen<br />

soll. Was sie wissen, ist: Es gibt weltweit kein geeignetes<br />

Endlager für Atommüll, in dem das strahlende<br />

Erbe unserer Epoche für Zehntausende von Jahren<br />

wirklich sicher eingeschlossen ist. Trotzdem wollen<br />

sie den Atommüll unter den Teppich der Gorlebener<br />

Salzstöcke kehren, im Schacht Konrad und Morsleben<br />

verschwinden lassen nach dem Motto: Aus den Augen,<br />

aus dem Sinn, und nach uns die Sintflut. Sie<br />

behaupten lediglich: Atomenergie ist sicher und verantwortbar.<br />

Der Transnuklear-Skandal findet in diesen Wochen<br />

mit diesem Einlagerungsskandal seine Fortsetzung.<br />

Selbst die Landesregierung Niedersachsens hatte erhebliche<br />

Bedenken gegen die Einlagerung des Transnuklear-Atommülls<br />

aus Mol erhoben, da Zusammensetzung<br />

und Herkunft des Abfalls weitgehend unbekannt<br />

sind. Trotzdem bestand Atomminister Töpfer<br />

auf der Einlagerung und machte von seinem Weisungsrecht<br />

Gebrauch. Der Polizeieinsatz ist daher<br />

nicht nur vom Innenminister Niedersachsens zu verantworten,<br />

sondern vor allem von Herrn Töpfer<br />

selbst.<br />

Unverständlich ist allerdings, daß die rosa-grüne<br />

Landesregierung in Hannover<br />

(Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und<br />

der FDP)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2629<br />

Jutta Braband<br />

nicht alle rechtlichen und politischen Mittel zur Verhinderung<br />

der Einlagerung ausschöpfte. Angesichts<br />

der Brisanz des Themas und des Anspruchs der niedersächsischen<br />

Koalition hätten wir etwas mehr Widerstandsgeist<br />

erwartet.<br />

Ich frage: Was wäre denn geschehen, wenn Niedersachsen<br />

der Anweisung des Atomministers nicht<br />

Folge geleistet hätte? Hätte Herr Töpfer womöglich<br />

eine Erzwingungshaft für Frau Griefahn erwirkt?<br />

Wahrscheinlich nicht. Die Sache wäre vor dem Bundesrat<br />

verhandelt worden, und hier hätte sich die SPD<br />

nun endlich zu ihrer Forderung nach dem Ausstieg<br />

aus der Atomenergie praktisch bekennen können und<br />

müssen.<br />

Der Polizeieinsatz im Wendland offenbart: Atomenergie<br />

ist nicht nur umweltunverträglich, sondern<br />

auch sozial unverträglich und demokratiefeindlich.<br />

Hier zeigt sich, daß statt Abbau der Mitwirkungsrechte<br />

des und der einzelnen, z. B. im Verkehrswege<br />

Beschleunigungsgesetz, gerade der Ausbau dieser<br />

Rechte dringend nötig ist. Nur der Ausbau dieser<br />

Rechte ist eine Garantie dafür, daß Proteste von Bürgerinnen<br />

und Bürgern nicht kriminalisiert werden<br />

können, ebenso wie dafür, daß die Lösung von Problemen<br />

der ganzen Gesellschaft nicht mit polizeistaatlichen<br />

Mitteln erfolgt. Denn was Atomminister Töpfer<br />

hier versucht hat, ist offensichtlich eine Delegierung<br />

des Problems an die Landespolizei von Niedersachsen.<br />

Statt sich hierfür mißbrauchen zu lassen, sollte die<br />

Polizei nicht nur von der Landesregierung, sondern<br />

vor allem von der Bundesregierung eine politische<br />

Lösung im Sinne der Bürgerinnen und Bürger dieses<br />

Landes verlangen, die — ich sagte es schon einmal —<br />

zu 70 % den Ausstieg aus der Atomenergie fordern.<br />

Ich möchte hier noch einmal daran erinnern, daß<br />

sich der, der hier in diesem Hause ständig von der<br />

friedlichen Revolution in der DDR redet und die F riedlichkeit<br />

der Veränderungen begrüßt, auch daran erinnern<br />

möge, daß die Friedlichkeit durchaus darin bestanden<br />

hat, daß Menschen gegen eine Regierung<br />

demonstriert haben, daß sie Blockaden gemacht, Kerzen<br />

angezündet haben usw. Stellen Sie sich endlich<br />

dieser Situation!<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem<br />

Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Braband, wir<br />

haben Ihre Redezeit verlängert, weil es eingangs hier<br />

nicht ruhig war. Ich will Sie nur darauf aufmerksam<br />

machen.<br />

-<br />

Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Klaus Harries.<br />

Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine<br />

sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein<br />

starkes Stück: Wir haben Störfälle und reden seit Jahren<br />

in aller Öffentlichkeit, verehrte Frau Braband, darüber.<br />

Sie haben in der früheren DDR bei uns nicht<br />

genehmigungsfähige Kraftwerke gehabt, die wir<br />

durch Entscheidung unseres Bundesumweltministers<br />

erst abstellen mußten. Darüber konnte bei Ihnen nie<br />

mals geredet werden. Über diesen Unterschied sollten<br />

Sie bitte einmal nachdenken.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Daß bei der Fraktion der PDS das Bewußtsein für<br />

unsere verfassungsmäßige Ordnung, für unseren<br />

Rechtsstaat noch nicht ausgeprägt ist, meine Damen<br />

und Herren, das kann ich beinahe noch nachvollziehen,<br />

daß es aber Lücken in der Beachtung und Anwendung<br />

der Rechtsnormen bei der niedersächsischen<br />

Landesregierung gibt, halte ich für bedenklich.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Zurufe von der SPD)<br />

Meine Damen und Herren, wenn wir dazu kommen,<br />

daß ein Bundesland auf Grund von Bundesgesetzen<br />

nur noch dann tätig wird, wenn eine Weisung ergeht<br />

oder wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet,<br />

dann ist das auf die Dauer unerträglich und bekommt<br />

unserem Verfassungsstaat nicht gut. Auch<br />

darüber bitte ich Sie einmal nachzudenken.<br />

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP<br />

— Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Aufkündi<br />

gung der Bundestreue ist das!)<br />

Es bedurfte erst einer rechtmäßigen Anweisung des<br />

Bundesumweltministers, um die Rückführung radioaktiver<br />

Abfälle aus Belgien in das genehmigte Zwischenlager<br />

Gorleben zuzulassen. Erst auf Weisung<br />

des Bundesumweltministers hat die niedersächsische<br />

Landesregierung die rechtswidrige und eine Nötigung<br />

darstellende Blockade von etwa 100 bis 150 Jugendlichen<br />

in Lüchow beseitigt.<br />

Dank sage ich an dieser Stelle, meine Damen und<br />

Herren, der Polizei, die beispielhaft und vorbildlich<br />

gehandelt hat und gegen diesen Rechtsbruch vorgegangen<br />

ist. Dank sage ich den Tausenden von Einwohnern<br />

des Kreises Lüchow-Dannenberg, die keineswegs<br />

alle für die Kernenergie sind, aber sich an<br />

rechtswidrigen Maßnahmen nicht beteiligt haben,<br />

sondern ohne Hyste rie und mit Gelassenheit das Vorgehen<br />

und die Vorgänge, glaube ich, sehr, sehr kritisch<br />

verfolgt haben.<br />

Der Bundesumweltminister hat mit seiner Weisung<br />

im Rahmen der Gesetze gehandelt. Die Abfälle aus<br />

Mol waren bedenkenlos nach Gorleben zu bringen,<br />

und zwar einfach deswegen, weil der Herkunftsort<br />

völlig unstrittig war.<br />

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist<br />

leider nicht wahr!)<br />

Neckarwestheim und Krümmel waren die Lieferanten.<br />

Es war überhaupt kein Rechtsgrund gegeben, um<br />

den Transport in der Polizeikaserne zu stoppen.<br />

Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik<br />

Deutschland war auf Grund bestehender Verträge<br />

nicht nur zur Abnahme dieser überschaubaren Atommülltransporte<br />

verpflichtet. Sie ist auch verpflichtet, in<br />

Zukunft ohne Störung, regelmäßig und auch sicher all<br />

die Fässer aus Mol zurückzunehmen, zu deren Abnahme<br />

wir vertraglich verpflichtet sind.<br />

Wir reden immer mehr, wir reden intensiv und mit<br />

Recht vom europäischen Wirtschaftsraum. Dazu gehören<br />

auch immer mehr Absprachen zur Behandlung


2630 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Klaus Harries<br />

der Energie im weitesten Sinne. Zuverlässigkeit und<br />

Berechenbarkeit sind gerade auf diesem Gebiet nötig.<br />

Wir haben geschlossene Verträge einzuhalten. Da<br />

kann man vor Ort nicht so eine kleinkarierte — entschuldigen<br />

Sie diesen Ausdruck — rechtswidrige<br />

Politik machen.<br />

(Jutta Braband [PDS/Linke Liste]: Sie nen<br />

nen die Reaktion der Bevölkerung kleinka<br />

riert?)<br />

Ich habe den Skandal in Hanau keineswegs vergessen.<br />

Der <strong>Bundestag</strong> hat sich durch einen von ihm eingesetzten<br />

Untersuchungsausschuß<br />

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Den<br />

Sie nicht wollten!)<br />

über drei Jahre mit Vertretern aller Fraktionen eingehend<br />

mit diesem Skandal befaßt. Dabei ist nichts unter<br />

den Teppich gekehrt worden. Alles ist aufgedeckt,<br />

alles ist diskutiert worden.<br />

(Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Aber nichts<br />

unternommen worden!)<br />

Die Ursachen sind beseitigt. Die Ursachen sind behoben.<br />

Der Bund hat gehandelt. Die Rechtsgrundlage ist<br />

da, um in Zukunft die Entsorgung vorzunehmen.<br />

Meine Damen und Herren, vergessen Sie nicht<br />

— ich richte diesen Appell insbesondere an die niedersächsische<br />

Landesregierung — : Bei der Entsorgung<br />

sitzen wir — ganz egal, wie wir zur Kernenergie<br />

stehen — in einem Boot. Das sollte uns zu einer gemeinsamen<br />

Verantwortung und zu einem gemeinsamen<br />

Handeln auch in Zukunft bringen. Dagegen hat<br />

man in Niedersachsen verstoßen.<br />

Schönen Dank.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Als nächster Redner<br />

hat unser Kollege Arne Fuhrmann das Wort.<br />

Arne Fuhrmann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Herr Kollege Har ries, ich würde<br />

schon Wert darauf legen, daß Sie sich nicht darauf<br />

beschränken zu sagen — so kenne ich das aber von<br />

Ihnen, und wir kennen uns aus dem Wahlkreis gut<br />

genug — , 150 junge Leute — wenn ich Sie richtig interpretiere,<br />

haben Sie nur vergessen dazuzusetzen:<br />

„Randalierer" — waren in Gorleben.<br />

(Heinrich Seesing [CDU/CSU]: Das sagen<br />

Sie!)<br />

-<br />

Herr Harries, in Gorleben waren 250 Menschen. Davon<br />

war mindestens ein Drittel älter als 60 Jahre.<br />

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Das ändert<br />

nichts an der Nötigung!)<br />

Ich bitte, irgendwann einmal zur Kenntnis zu nehmen,<br />

daß es sich hier nicht um einzelne junge Leute handelt,<br />

sondern um den Querschnitt der Bevölkerung<br />

aus der Region.<br />

(Beifall bei der SPD — Dr. Paul Laufs [CDU/<br />

CSU]: Verteidigen Sie jetzt die Blockierer<br />

und die Nötigung?)<br />

Mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, würde ich<br />

gerne ein Zitat aus dem heutigen „General-Anzeiger"<br />

verlesen:<br />

Mir Hilfe starker Polizeikräfte sind gestern drei<br />

Atommüll-Container in das Zwischenlager Gorleben<br />

eingelagert worden. Am selben Tag wurde<br />

die Plutonium-Verarbeitung in Hanau vorläufig<br />

eingestellt. In einem Gutachten wurden Zweifel<br />

an der Sicherheit des Atomkraftwerkes Stade geäußert.<br />

Die Verwirrung der Bürger ist komplett. Aber wir wissen<br />

ganz genau: Es bringt uns nicht ein Stück weiter,<br />

wenn wir alle verwirrt in der Gegend herumgucken.<br />

Wir müssen vielmehr tatsächlich etwas tun.<br />

In der niedersächsischen Gemeinde Gorleben im<br />

Landkreis Lüchow-Dannenberg wird einfach häufiger<br />

demonstriert, verweigert und blockiert als sonst irgendwo<br />

in der Bundesrepublik. Aber die Betroffenheit<br />

der Menschen in dieser Region kann nur derjenige<br />

begreifen und nachvollziehen, der immer wieder<br />

mit den Bürgern vor Ort spricht, sich mit ihnen auseinandersetzt<br />

und versteht, daß a) ein atomares Zwischenlager,<br />

b) die Erkundung und Vorbereitung eines<br />

atomaren Endlagers und c) die Baustelle für eine Pilotkonditionierungsanlage<br />

auch hartgesottene Kernkraftbefürworter,<br />

Herr Har ries, als Bedrohung des eigenen<br />

Lebensraumes und Gefahrenquelle ganz<br />

realen Ausmaßes erkennen.<br />

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Sie wissen doch,<br />

daß das alles nicht stimmt! — Lachen bei der<br />

SPD)<br />

—Herr Harries, wir können uns gerne darüber nochmals<br />

persönlich unterhalten.<br />

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Aber es ist wirk<br />

lich Unsinn!)<br />

Aber an dieser Stelle werde ich einfach weiterfahren<br />

in meinen Ausführungen.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Gehen Sie<br />

einmal darauf ein!)<br />

—Bevor Sie so etwas sagen, empfehle ich Ihnen, den<br />

Kopf und nicht nur den Kehlkopf zu benutzen, Herr<br />

Kollege.<br />

(Beifall bei der SPD — Dr. Paul Laufs [CDU/<br />

CSU]: Ich bin sehr oft in Gorleben gewesen<br />

und habe mir das angesehen! — Harald<br />

B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Verschärfen<br />

Sie nicht die Debatte, Herr Laufs!)<br />

Ich hätte gerne den Bundesumweltminister angesprochen.<br />

Er beweist zwar seine Chemiebeständigkeit,<br />

indem er durch den Rhein kreuzt, und er erschreckt<br />

die letzten Seehunde durch unangebrachte<br />

Ausflüge ins Wattenmeer, aber die Sorgen und Ängste<br />

der Frauen, Kinder und Männer im Kreis Lüchow<br />

Dannenberg sind ihm nur aus Fernsehen, Funk und<br />

Presse bekannt. Ich nehme an, er ist äußerst selten da.<br />

Ich habe ihn dort bisher jedenfalls noch nie gesehen.<br />

Der Gebrauch der Weisungsbefugnis im Fall der<br />

drei Container, von denen die Herkunft des einen<br />

noch immer nicht zweifelsfrei geklärt ist, mag zwar<br />

rechtlich so in Ordnung sein — das ist gar nicht die


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2631<br />

Arne Fuhrmann<br />

Debatte — , sie zeigt aber sehr deutlich, wie wenig<br />

sensibel und überlegt der Bundesumweltminister das<br />

Risiko einer Eskalation vor Ort in Kauf nahm und nach<br />

der Hauruckmethode ohne Rücksicht auf die explosive<br />

Stimmung<br />

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wer hat die<br />

denn geschaffen?)<br />

und die zu diesem Zeitpunkt erheblich gestörten Umfeldbedingungen<br />

in Gorleben reagiert hat.<br />

Ich würde mir wünschen, daß mehr verantwortliche<br />

Politiker den Mut hätten, gelegentlich gegen den Stachel<br />

zu löcken und so, wie Frau Griefahn das getan<br />

hat, mit Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen<br />

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Es ist unerhört,<br />

was Sie sagen!)<br />

auf die berechtigten Wünsche und Hoffnungen der<br />

Menschen einzugehen.<br />

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste<br />

— Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Anschlag auf<br />

den Rechtsstaat!)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat nunmehr<br />

der Abgeordnete Dr. Karl-Hans Laermann.<br />

Dr.-ing. Karl-Hans Laermann (FDP): Herr Präsident!<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist<br />

schon erstaunlich, wie man die Tatsachen verdrehen<br />

kann und wie man in einer solchen Diskussion, wo<br />

Sachlichkeit sicher angebracht wäre, nur noch in Polemik<br />

macht.<br />

(Beifall des Abg. Günther F riedrich Nolting<br />

[FDP] — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Wie<br />

wahr!)<br />

Ich möchte von einer Prämisse ausgehen. Alle<br />

— diejenigen, die für Kernenergie sind, und vor allen<br />

Dingen die, die gegen Kernenergie sind — müßten<br />

ein ausgesprochenes Interesse haben, dafür zu sorgen,<br />

daß die Entsorgungsmöglichkeiten endlich realisiert<br />

werden.<br />

(Zuruf von der PDS/Linke Liste)<br />

— Wo wollen Sie denn hin mit Ihrem Schrott aus<br />

Greifswald? Das waren doch Sie, die das -<br />

Ding da<br />

gebaut haben. Das wäre ja noch in Bet rieb, wenn die<br />

SED weiter am Ruder geblieben wäre.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Es steht doch wohl außer Zweifel, daß der radioaktive<br />

Abfall in Mol, der aus der Bundesrepublik<br />

stammt, wieder zur ordnungsgemäßen Entsorgung<br />

und Endlagerung zurückgenommen werden muß. Ich<br />

kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand daran<br />

Zweifel hat.<br />

Die Umstände, unter denen der Abfall nach Mol<br />

transportiert wurde, sind u. a. auch in dem Untersuchungsausschuß<br />

Transnuklear-Skandal untersucht<br />

und weitgehend oder, sagen wir, hinlänglich aufgeklärt<br />

worden.<br />

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Dem<br />

Versuch einer Aufklärung unterworfen wor<br />

den!)<br />

Ich hoffe, wir sind uns darin einig, daß es keinen<br />

Müllexport geben darf.<br />

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das<br />

machen wir doch! Gerade Atommüll!)<br />

— Wo? Sie wollen das doch jetzt mit Ihrer Weigerung,<br />

den wieder zurückzunehmen.<br />

(Dietmar Schütz [SPD]: Nein, Herr Kollege<br />

Laermann, der Bundesumweltminister will<br />

es, egal wo es herkommt!)<br />

Deswegen, denke ich, ist die Bundesrepublik verpflichtet,<br />

den aus der Bundesrepublik stammenden<br />

Müll aus Mol auch wieder zurückzunehmen und hier<br />

zu entsorgen.<br />

(Dietmar Schütz [SPD]: Das ist sehr rich<br />

tig!)<br />

Ich füge mit gleichem Nachdruck hinzu, daß wir auch<br />

keinen Müllimport wollen. Auch dies ist eine klare<br />

Position der Bundesregierung. Ich glaube, daran<br />

brauchen wir nicht zu zweifeln.<br />

Daß niemand in Parlament und Regierung, auch<br />

nicht die niedersächsische Landesregierung, Belgien<br />

zumutet, Müll aus der Bundesrepublik zu lagern,<br />

dürfte doch wohl einmütige Auffassung sein. Ich kann<br />

mir nicht vorstellen, daß es jemand hier im Hause und<br />

in der Bundesrepublik gibt, der Belgien zumutet, die<br />

Entsorgung des Mülls, der zweifelsfrei aus unserem<br />

Land gekommen ist, zu übernehmen. Das kann doch<br />

wohl niemand wollen. Dazu müssen Sie hier Stellung<br />

nehmen.<br />

(Dietmar Schütz [SPD]: Leider können wir<br />

das nicht!)<br />

Es wäre auch schon interessant zu erfahren, was das<br />

niedersächsische Ministerium für Umwelt bewogen<br />

hat, die Herkunft des atomaren Abfalls auf bloße Vermutungen<br />

hin — Herr Kollege, auf bloße Vermutungen<br />

hin! — zu bezweifeln, obwohl deren Ursprungsherkunft<br />

durch verschiedene unabhängige Überwachungsinstitutionen<br />

zweifelsfrei festgestellt wurde.<br />

(Arne Fuhrmann [SPD]: Wenn! Sie ist aber<br />

nicht zweifelsfrei festgestellt!)<br />

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Es handelt sich<br />

dabei nicht um hochradioaktiven Müll —<br />

(Arne Fuhrmann [SPD]: Spielt doch keine<br />

Rolle!)<br />

auch den Eindruck dürfen wir in der Öffentlichkeit<br />

nicht erwecken — , sondern um rund 4 000 kg preßbarer<br />

Mischabfälle. In den Containern sind Putzwolle,<br />

Putzlappen, Kleidungsstücke, schwach radioaktiv belastet,<br />

aus den Einrichtungen und etwa 2 500 kg Glaswolle,<br />

die bei Umbauarbeiten in einem Kernkraftwerk<br />

in der Bundesrepublik angefallen sind.<br />

Es wäre geradezu grotesk, wenn das niedersächsische<br />

Ministerium für Umwelt die Verbringung der<br />

Container in das Zwischenlager Gorleben etwa nur


2632 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann<br />

deshalb abgelehnt haben sollte, weil als Ursprungshinweis<br />

zwei deutsche Kernkraftwerke angegeben<br />

wurden, sich aber bei Verzicht auf diesen Hinweis<br />

nicht von vornherein geweigert hätte, den Müll in<br />

Gorleben zwischenzulagern. Darauf hätten wir doch<br />

gerne eine Antwort.<br />

Ich darf abschließend — die Uhr läuft — feststellen:<br />

Ich verstehe nicht den anhaltenden Widerstand einiger<br />

Gruppen gegen die Realisierung von Zwischenund<br />

Endlagermöglichkeiten für schwach-, mittelund,<br />

ich füge hinzu, auch hochradioaktiven Abfall.<br />

Wer aus der Kernenergienutzung aussteigen will,<br />

(Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie<br />

wollen doch permanent mehr Müll produzie<br />

ren!)<br />

muß doch ein besonderes, ausgeprägtes Interesse<br />

daran haben, daß Endlagermöglichkeiten geschaffen<br />

werden. Wo wollen Sie denn damit hin? Wollen Sie<br />

das in der Gegend liegen lassen? Das ist unverantwortlich.<br />

Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Meine Damen und Herren, ich möchte auch darauf<br />

hinweisen, daß unsere Zwischenlager, die Landessammelstellen,<br />

ja nicht voll sind mit atomarem Abfall,<br />

mit schwach-, mittel-radioaktivem Abfall aus den<br />

Kernkraftwerken. Wer dies einer Öffentlichkeit suggerieren<br />

will, verhält sich nun wirklich schändlich;<br />

denn es ist ja wohl klar — und das muß man auch noch<br />

einmal sagen — , daß wir auch die Verpflichtung haben,<br />

die Menge des nuklearen Mülls, schwach- und<br />

mittelradioaktiv, aus den medizinischen Bereichen,<br />

aus den Forschungsinstituten ordnungsgemäß und relativ<br />

sicher zu entsorgen.<br />

Ich denke, angesichts dieser Verpflichtung müssen<br />

Sie sagen, wo Sie das machen wollen. Das Floriansprinzip<br />

hilft uns hier überhaupt nicht. Insofern denke<br />

ich, daß auch der Bundesumweltminister Töpfer hier<br />

verantwortlich gehandelt hat.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Klaus<br />

Dieter Feige.<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr<br />

Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />

Herr Harries ist gerade rausgegangen, aber noch einmal<br />

zu seinen Worten. Wir sind damals auch mit der<br />

Meinung angetreten, Freiheit ist immer die Freiheit<br />

der anders Denkenden. Mir passiert es in - der letzten<br />

Zeit auch häufiger, daß ich als Atomkraftgegner kriminalisiert<br />

werde. In dieser Form muß ich das für die,<br />

die dort in Gorleben einfach ihre persönliche Angst<br />

geäußert haben, die dort einen passiven Protest artikulieren<br />

wollten, zurückweisen. Diese Menschen sollten<br />

nicht kriminalisiert werden.<br />

(Dr. Pauls Laufs [CDU/CSU]: Wer verhält<br />

sich kriminell?)<br />

Das ist für mich unangenehm und unerträglich.<br />

Der gestrige Polizeieinsatz gegen die besorgten<br />

Bürgerinnen und Bürger hat mir gezeigt, daß eigentlich<br />

die Bundesregierung mit ihrem Latein am Ende<br />

ist. Weisungen an die Bundesländer können nicht darüber<br />

hinwegtäuschen, daß die Bundesregierung über<br />

kein akzeptables Konzept für die Atommüllentsorgung<br />

verfügt.<br />

(Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Das ist doch eine<br />

absolut unsinnige Behauptung!)<br />

— Drauf kommen wir gleich noch zurück.<br />

Für mich ist das mit der Herkunft vielleicht nicht so<br />

primär. Entscheidend ist, daß überhaupt versucht<br />

wird, Atommüll einzulagern, ohne daß solch ein Konzept<br />

vorliegt. Dies ist ein erneuter Beweis dafür, wie<br />

verantwortungslos im Umweltministerium mit der<br />

Meinung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung<br />

umgegangen wird.<br />

Auch wenn ich den Unterschied zwischen DDR und<br />

Bundesrepublik Deutschland durchaus kenne, die Erscheinungsbilder<br />

sind gleich in der Form des Umgangs<br />

mit einer angeblichen Minderheit. Dabei ist das<br />

in diesem Fall eine Mehrheit.<br />

Aber nicht nur die Entsorgungsfrage des Atommülls<br />

insgesamt ist ungelöst, nein die gesamte Atompolitik<br />

der Regierung steht auf tönernen Füßen. Es muß nicht<br />

immer wieder auf Tschernobyl oder Harrisburg verwiesen<br />

werden, um die Unwägbarkeiten und die Gefahren<br />

der Atomenergie zu verdeutlichen. Genügt es<br />

nicht, daß wir alljährlich allein in der Bundesrepublik<br />

mehr als 300 kleinere oder größere Störfälle zu verzeichnen<br />

haben?<br />

Wie war das denn am Montag in Hanau, als mehrere<br />

Arbeiter radioaktiv verseucht wurden? Von einer<br />

prompten Reaktion aus dem Bundesministerium war<br />

nichts zu verspüren. Herr Fischer, der grüne Minister<br />

— nicht rosa-grün aus der rot-grünen Fraktion — hat<br />

in verantwortungsvoller Weise gehandelt. Am Dienstag<br />

hat dann erst Herr Töpfer eine nachträgliche Reaktion<br />

gezeigt. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß<br />

nach dieser Schwachstellenanalyse diese Atomfabriken<br />

in Hanau für immer geschlossen werden müssen.<br />

Hanau ist ja schon berühmt-berüchtigt. Der Zwischenfall<br />

dort hat erneut gezeigt, daß es keine sichere<br />

Atomkraftnutzung gibt. Auch für diejenigen, die glauben,<br />

die drohende Klimakatastrophe bzw. die notwendige<br />

massive CO2-Reduzierung rechtfertige eine<br />

Renaissance der Atomenergie, wiederhole ich: Nur<br />

der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie ermöglicht<br />

ein ökologisches und dauerhaftes Energiesystem.<br />

Zentrale Großstrukturen verhindern dagegen<br />

die Nutzung von dezentralen Energieeinsparpotentialen<br />

und der Abwärmenutzung in größerem Maßstab.<br />

Wenn Sie nach der Entsorgung fragen, so sage ich:<br />

Wenn klar ist, wieviel tatsächlich noch zu entsorgen<br />

ist, wenn der Zeitpunkt einmal festliegt, dann sind wir<br />

durchaus bereit, uns auch aktiv an der Lösung für eine<br />

Endlagerung zu beteiligen. Aber solange diese Gesamtmenge<br />

nicht klar ist, wird immer wieder nach<br />

neuen Lagerstätten zu suchen sein. Genau das ist<br />

nicht das Konzept, das wir durchstehen können.<br />

Atomkraftwerke stellen keinen schnell verfügbaren<br />

Beitrag zur CO2-Verminderung dar. Jede Mark, die in<br />

die Energieeinsparung investiert wird, vermeidet sie-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2633<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige<br />

benmal mehr CO2 als eine Mark, die in den Ausbau<br />

der Atomenergie fließt.<br />

Die Strahlenbelastung von Atomkraftwerken ist<br />

schon im Normalbetrieb für die Umgebung nicht zumutbar.<br />

In der Debatte wurde gesagt: Das ist ja nur<br />

schwach radioaktiv. Dafür, daß jemand Krebs bekommt,<br />

reicht bereits eine ganz, ganz kleine Dosis.<br />

Dann ist es egal, ob das schwach oder stark radioaktiv<br />

ist. Auf Dauer ist die gesamte nukleare Prozeßkette<br />

nicht nur umweltbelastend, sondern stellt auch eine<br />

permanente Gefährdung des menschlichen Lebens<br />

dar.<br />

Deshalb ist jegliche weitere Diskussion über den<br />

Einsatz oder gar Ausbau der Atomenergie eine Diskussion<br />

von vorgestern und gegen die Mehrheit der<br />

Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gerichtet.<br />

Damit werden eine fortschrittliche, zukunftsorientierte<br />

und überlebensfähige Energiepolitik und der<br />

dafür notwendige Innovationsschub der Wirtschaft<br />

verhindert.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li<br />

ste)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />

Damen und Herren, zur Geschäftslage: Wenn wir<br />

jetzt die <strong>Sitzung</strong> unterbrechen und um 18 Uhr fortsetzen,<br />

dann ist nach den interfraktionellen Vereinbarungen<br />

damit zu rechnen, daß wir die <strong>Sitzung</strong> morgen<br />

früh zwischen 2 Uhr und 2.30 Uhr beenden.<br />

Infolgedessen haben offenbar jetzt eine Reihe von<br />

Kolleginnen und Kollegen in dieser Aktuellen Stunde<br />

Reden zu Protokoll gegeben. Ich muß Sie aber alle<br />

fragen, ob Sie damit einverstanden sind, weil wir von<br />

der Geschäftsordnung abweichen. — Ich höre und<br />

sehe keinen Widerspruch. Dann haben wir diese Abweichung<br />

von der Geschäftsordnung heute und für<br />

diesen Fall so gebilligt. Ich danke Ihnen. *)<br />

Wie bereits heute morgen angekündigt, haben sich<br />

die Fraktionen darauf verständigt, daß die <strong>Sitzung</strong><br />

jetzt bis 18.00 Uhr unterbrochen wird. Die <strong>Sitzung</strong> soll<br />

dann mit der namentlichen Abstimmung über den<br />

Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung<br />

des Grundgesetzes (Artikel 146) fortgesetzt werden.<br />

Ich unterbreche die <strong>Sitzung</strong>.<br />

(Unterbrechung von 16.46 bis 18.00 Uhr)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegen!<br />

Liebe Kolleginnen! Die unterbrochene <strong>Sitzung</strong> ist<br />

wiedereröffnet.<br />

-<br />

Wir kommen jetzt noch einmal zum Tagesordnungspunkt<br />

5 zurück, und zwar, wie wir es heute mittag<br />

beschlossen haben, zur Einzelberatung und Abstimmung<br />

über den Gesetzentwurf der Fraktion der<br />

SPD zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 146).<br />

Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache<br />

12/794, den Gesetzentwurf abzulehnen.<br />

Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2,<br />

Einleitung und Überschrift auf. Die Fraktion der SPD<br />

verlangt dazu namentliche Abstimmung. Ich eröffne<br />

die Abstimmung. —<br />

*) Anlage 5<br />

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das<br />

seine Stimme abgeben möchte? — Das ist der Fall. Ich<br />

bitte Sie aber, einen Zahn zuzulegen; das wäre ganz<br />

reizend. In einer halben Minute schließe ich die Abstimmung.<br />

—<br />

Ist jetzt womöglich noch ein Mitglied des Hauses<br />

anwesend, das seine Stimme abgeben möchte? —<br />

Dies ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung<br />

und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu<br />

beginnen.<br />

(Unruhe)<br />

Ich bitte des weiteren die Kollegen, wieder Platz zu<br />

nehmen, die Gespräche über Berlin und Bonn und das<br />

Verfahren einzustellen und dem weiteren Verlauf der<br />

Debatten zu folgen.<br />

(Anhaltende Unruhe)<br />

— Dies ist eine ernstgemeinte Aufforderung an alle<br />

Seiten des Hauses, insbesondere an die von mir aus<br />

gesehen rechte Seite.<br />

Kann ich davon ausgehen, daß die Beratungen fortgesetzt<br />

werden können? Man kann auch im Sitzen<br />

über Berlin und Bonn diskutieren. — Ich sehe keinen<br />

Widerspruch. Wir können also mit den Beratungen<br />

fortfahren.<br />

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:<br />

Beratung des Berichts des Petitionsausschusses<br />

(2. Ausschuß)<br />

Bitten und Beschwerden an den Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong><br />

Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des<br />

Deutschen <strong>Bundestag</strong>es im Jahre 1990<br />

— Drucksache 12/683 —<br />

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind dafür<br />

zwei Stunden vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch?<br />

— Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.<br />

Das Wort hat der Abgeordnete Gero Pfennig.<br />

Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />

Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte Ihnen<br />

den Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr<br />

1990 vorstellen.<br />

Der Berichtszeitraum ist weitgehend von der Wiedervereinigung<br />

Deutschlands bestimmt, die sich im<br />

Jahr 1990 vollzog. Zahlreiche Petitionen betreffen Folgen<br />

der Wiedervereinigung. Im schriftlichen Be richt<br />

und seinen Beispielen wird dies nur dort deutlich, wo<br />

Gesetzgebungsmaßnahmen des Bundes oder bestimmte<br />

Regelungen im Einigungsvertrag vorgeschlagen<br />

wurden.<br />

Erst mit dem Tag der Einheit und dem rechtlichen<br />

Beginn exekutiver und legislativer Zuständigkeit des<br />

Bundes für das neue Bundesgebiet schnellte die Zahl<br />

der Einzelbeschwerden steil nach oben. Hiervon<br />

konnten in der 11. Legislaturperiode nur noch die wenigsten<br />

bearbeitet werden.<br />

Vor allem durch die aus der ehemaligen DDR und<br />

dem neuen Bundesgebiet eingegangenen ca. 2 750<br />

Petitionen stieg 1990 die Zahl der Eingaben auf rund<br />

16 500. Sie liegt damit im Vergleich zu den Vorjahren,<br />

*) Ergebnis Seite 2638 B


2634 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Gero Pfennig<br />

ja im Vergleich zu den letzten zehn Jahren eindeutig<br />

an der Spitze.<br />

Auch beim Vergleich der Legislaturperioden liegt<br />

die 11. Legislaturperiode mit 52 528 Eingängen insgesamt,<br />

also mit den Sammelpetitionen und den anderen,<br />

weit an der Spitze. Schon jetzt kann die Prognose<br />

für das Jahr 1991 gewagt werden, daß die Zahl der<br />

Eingaben nochmals kräftig, auf ca. 20 000 wachsen<br />

wird.<br />

Dies stellt die Kollegen im Ausschuß, aber auch den<br />

Ausschußdienst vor erhebliche Probleme. Täglich gehen<br />

Zuschriften aus dem gesamten Bundesgebiet ein.<br />

Übrigens, die größte Steigerung unter den Bundesländern<br />

kam aus Berlin unter Einbeziehung des Ostteils<br />

der Stadt. Ab dem Beitritt am 3. Oktober 1990 kamen<br />

von dort insgesamt 883 Zuschriften, d. h. pro 1 Million<br />

Bevölkerung 350. Zum Vergleich: Aus Hamburg kamen<br />

256, aus Nordrhein-Westfalen 254, wobei man<br />

allerdings wissen muß, daß Nordrhein-Westfalen als<br />

bevölkerungsreichstes Bundesland natürlich mit 26 %<br />

aller Petitionen weit an der Spitze liegt. Gegenstand<br />

der Eingaben aus dem Beitrittsgebiet waren die Währungsunion,<br />

die Fragen der Anpassung von Löhnen,<br />

Gehältern und Renten sowie der Eigentumsordnung<br />

von Grundstücken. Hinzu kommen die Forderungen<br />

vieler Petenten nach strafrechtlicher, beruflicher und<br />

verwaltungsrechtlicher Rehabilitierung, weil das Rehabilitierungsgesetz<br />

der ehemaligen DDR nur in Teilen<br />

weitergilt.<br />

Rund 270 Petenten begehrten die Wiedergutmachung<br />

von Schäden, die in der Folge zwangsweiser<br />

Aussiedlung aus dem früheren Grenzgebiet der DDR<br />

zur Bundesrepublik Deutschland entstanden waren.<br />

Natürlich ist auch die Stasi-Problematik Gegenstand<br />

zahlreicher Eingaben gewesen.<br />

Bei den Eigentumsverhältnissen spielten sowohl<br />

Fragen aus dem neuen Bundesgebiet als auch aus<br />

dem alten Bundesgebiet, darunter übrigens auch von<br />

sehr vielen früheren Flüchtlingen, eine Rolle und auch<br />

die Frage der Rückgabe zwischen 1945 und 1949 enteigneten<br />

Eigentums.<br />

Der Petitionsausschuß hat zu allem eine Stellungnahme<br />

abgegeben und insbesondere die Bundesregierung<br />

gebeten, möglichst schnell Fragen wie etwa<br />

der Aussiedlung aus dem Sperrgebiet zu klären. Einzelfragen<br />

können wir als Petitionsausschuß des <strong>Bundestag</strong>es<br />

nicht regeln, weil hier die Kommunal- und<br />

Landesbehörden zuständig sind. Deswegen werden<br />

diese Petitionen an die Eingabeausschüsse der sechs<br />

östlichen Bundesländer weitergegeben.<br />

Der Zusammenhang zwischen Vereinigung und<br />

Zunahme der Eingaben besteht im weitesten Sinne<br />

auch bei der Kriegsfolgengesetzgebung. Viele Bürger<br />

aus dem Beitrittsgebiet begehren Lastenausgleich für<br />

Vertreibungsschäden. Auch sind Forderungen im Zusammenhang<br />

mit Kriegsgefangenenentschädigung<br />

und Häftlingshilfe erhoben worden.<br />

Der Petitionsausschuß hat auch insoweit ein Überdenken<br />

der geltenden Gesetzgebung gefordert und<br />

der Bundesregierung alle Petitionen als Mate rial im<br />

Jahre 1991 nach Abschluß der Grundverfahren überwiesen.<br />

Zu den einzelnen Ressorts. Eine deutliche Steigerung<br />

der Zahl der Petitionen hat es im Bereich des<br />

Bundesjustizministers und des Bundesministers des<br />

Innern sowie des Finanzministers und beim früheren<br />

Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen gegeben.<br />

Beim zuletzt genannten Ressort gingen früher<br />

viele Petitionen mit der Bitte um Unterstützung bei<br />

Übersiedlungen und Häftlingsfreikäufen ein. Im<br />

Jahre 1990 hat sich das mehr auf Fragen des Einigungsvertrages<br />

verschoben.<br />

Insgesamt ist also im Jahre 1990 eine gewisse Verlagerung<br />

der Schwerpunkte der Eingaben festzustellen.<br />

Beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung<br />

verzeichnete man trotz vieler neuer Eingaben<br />

aus dem neuen Bundesgebiet einen leichten Rückgang<br />

und dafür einen starken Anstieg beim Bundesminister<br />

der Justiz. Bei den Fragen der Staatssicherheit,<br />

die ich noch einmal aufgreifen möchte, also Eingaben,<br />

die vor allen Dingen an das Innenministerium<br />

weitergegeben wurden, haben die berufliche Zurücksetzung,<br />

überhaupt die Verfolgung und — nach Beginn<br />

der Vereinigung im Oktober 1990 — auch vor<br />

allen Dingen die Frage von Stasi-Mitarbeitern in den<br />

Arbeitsämtern eine große Rolle gespielt. Hier hat der<br />

Petitionsausschuß die entsprechenden Hinweise über<br />

das Bundesministerium für Arbeit an die Landesanstalt<br />

gegeben. Ich kann heute feststellen, daß beispielsweise<br />

20 Leiter von Arbeitsämtern auf Grund<br />

der Hinweise, die wir gegeben haben, abgelöst worden<br />

sind.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Pfennig,<br />

darf ich Sie einmal — nicht zu Lasten Ihrer Zeit —<br />

ganz kurz unterbrechen? — Darf ich darum bitten, daß<br />

die Stehkonferenz hinten im Saale außerhalb des Saales<br />

oder im Sitzen stattfindet, aber dann so ruhig, daß<br />

der Redner nicht gestört wird und die anderen dem<br />

Redner folgen können. Ich bedanke mich ganz herzlich.<br />

(Beifall bei allen Fraktionen)<br />

Herr Abgeordneter, Sie haben wieder das Wort.<br />

Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Wie Sie wissen und<br />

wie ich hier schon einmal vorgetragen hatte, hatte die<br />

Volkskammer der ehemaligen DDR einen eigenen<br />

Petitionsausschuß gebildet, dessen Vorsitzender unser<br />

heutiger Kollege Göttsching gewesen ist. Nach<br />

dem Beitritt lagen dort noch eine Reihe unbearbeiteter<br />

Zuschriften. Diese sind unter Mithilfe von Ausschußmitarbeitern<br />

unseres Petitionsausschusses aufgearbeitet<br />

worden und — soweit sie in die Länderzuständigkeit<br />

fielen — an die Petitionsausschüsse in den<br />

sechs östlichen Bundesländern zur Weiterbearbeitung<br />

gegeben worden.<br />

Beim Rückblick auf die Eingänge des Ausschusses<br />

im Jahre 1990 ist in quantitativer Hinsicht vielleicht<br />

am bemerkenswertesten, daß sich neben den Zuschriften<br />

aus dem neuen Bundesgebiet insbesondere<br />

die Zahl der Sammeleingaben mit vielen Unterschriften<br />

merklich erhöht hat. Sie erreichten rund 460 000<br />

gegenüber 300 000 im Vorjahr. Allein 320 000 Bürger<br />

forderten beispielsweise ein sofortiges Verbot der<br />

Herstellung und des Verbrauchs von FCKW.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2635<br />

Dr. Gero Pfennig<br />

Wir nehmen als Ausschuß derartige Sammelpetitionen<br />

sehr ernst, weil sie sich insbesondere mit Umweltanliegen<br />

beschäftigen. Wir werden auch in der jetzigen<br />

Legislaturperiode alles tun, damit die Umweltpetitionen<br />

in Zusammenarbeit mit dem zuständigen<br />

Fachausschuß einer sachgerechten Erledigung zugeführt<br />

werden.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />

SPD)<br />

Die Sammelpetitionen enthielten darüber hinaus<br />

vielfach Forderungen gegen Lärmbelästigung durch<br />

militärische Einrichtungen, aber auch gegen Lärmbelästigung<br />

durch zivile Einrichtungen wie z. B. die Eisenbahn.<br />

In vielen Fragen hat sich allein durch den<br />

Ablauf der Zeit manche Petition gegen Flugplätze,<br />

Truppenübungsplätze, Schießplätze oder gegen Tiefflugübungen<br />

erledigt.<br />

Wir haben einen großen Teil der 16 497 Einzeleingaben<br />

für das Ressort des Bundesministers für Arbeit<br />

und Sozialordnung verzeichnet, wie ich bereits sagte:<br />

insgesamt 3 300. Bei diesen Bitten ging es vorwiegend<br />

um Rentensachen, insbesondere wenn sie aus dem<br />

Beitrittsgebiet kamen. Aber auch Fragen etwa der<br />

Kindererziehungszeiten spielten eine Rolle, beispielsweise<br />

die Anerkennung von Kindererziehungszeiten<br />

für Kindererziehung im Ausland, Fragen der Rentensteigerung<br />

durch Kindererziehungszeiten und vieles<br />

andere mehr. Ich glaube, auch hier hat der Ausschuß<br />

jedem Petenten in zufriedenstellender Weise die erforderliche<br />

Auskunft gegeben und in Einzelfällen<br />

auch weitergeholfen.<br />

Insgesamt, so möchte ich zu dem Bereich des Bundesministers<br />

für Arbeit bemerken, ist die Zahl der<br />

Petitionen wohl auch deswegen etwas rückläufig,<br />

weil kaum noch Petitionen zum Thema Gesundheitsreform<br />

eingehen,<br />

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Sie haben resi<br />

gniert!)<br />

die im Vorjahr eine große Rolle gespielt hatten.<br />

Der Tätigkeitsbericht enthält erneut zahlreiche Beispiele<br />

betreffend die Integration behinderter Menschen.<br />

Es macht deshalb ausgesprochen betroffen,<br />

wenn bei der Eingabe eines Rollstuhlfahrers, der seit<br />

1953 bei einer Behörde im Beitrittsgebiet, also in der<br />

ehemaligen DDR, tätig war, von einem unserer Ministerien<br />

in der Antwort folgendes bemerkt wird: „Aus<br />

dem Schriftwechsel, der hier vorliegt, ist zu entnehmen,<br />

daß Herr L. selbst auf einem täglichen Weg zur<br />

Arbeit und zurück eine Gefährdung für sich und andere<br />

im Straßenverkehr darstellt. Schon aus - Gründen<br />

der Fürsorge hätte Herr L. beim ... Dienst der ehemaligen<br />

DDR nicht beschäftigt werden dürfen. " Ich<br />

finde, daß ist eine grobe Entgleisung. Der Ausschuß<br />

wird solche Entgleisungen nicht hinnehmen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD<br />

und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie der Abg.<br />

Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])<br />

Der Bericht weist aus, daß der <strong>Bundestag</strong> auf Empfehlung<br />

des Petitionsausschusses in einer Reihe von<br />

Fällen gegenüber der Bundesregierung mit dem Ersuchen<br />

vorgegangen ist, einer Petition abzuhelfen, weil<br />

das Anliegen als berechtigt angesehen worden war.<br />

Dennoch ist die Bundesregierung in zwei Fällen bei<br />

ihrer ablehnenden Haltung geblieben, ohne daß neue<br />

Argumente oder Tatsachen geliefert wurden.<br />

Es ist zwar richtig — wir haben das auch früher<br />

schon als Petitionsausschußmitglieder an dieser Stelle<br />

gesagt — , daß Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es in Form von<br />

Berücksichtigungsbeschlüssen die Bundesregierung<br />

rechtlich nicht verpflichten, diesem Ersuchen zu entsprechen.<br />

Der Ausschuß geht jedoch davon aus, daß<br />

der gegenseitige Respekt, den die Verfassungsorgane<br />

einander schulden, und die Achtung vor dem Grundrecht<br />

des Art. 17 GG die Bundesregierung zumindest<br />

politisch verpflichten, das ihr Mögliche zu tun, um<br />

dem Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es gerecht zu werden.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />

FDP, der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Der Ausschuß hat deshalb in all den Fällen, in denen<br />

die Bundesregierung einem solchen Beschluß<br />

nicht entsprochen hat, sehr gründlich die Gründe für<br />

die Nichtbefolgung geprüft. Der Ausschuß hält es übrigens<br />

auch nicht für vertretbar, wenn erst zum Zeitpunkt<br />

der Antwort auf einen Berücksichtigungsbeschluß<br />

Gründe nachgeschoben werden, die einer<br />

Abhilfe der Petition entgegenstehen; denn dieses<br />

hätte vorher geschehen können und dann vom Ausschuß<br />

ausreichend geprüft werden können. Diese<br />

Verhaltensweise muß ich im Namen des Ausschusses<br />

nachdrücklich beanstanden.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />

FDP, der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Der Ausschuß wird übrigens genausowenig hinnehmen,<br />

daß die Bundesregierung auf Grund einer anderen<br />

Wertung eine Befolgung von Beschlüssen in solchen<br />

Fällen verweigert, in denen der Ausschuß auch<br />

nach Prüfung der Gegenargumente der Bundesregierung<br />

im Rahmen des geltenden Rechts einen Handlungsspielraum<br />

gesehen hat. Der Ausschuß wird, wie<br />

erst jetzt wieder verschiedentlich geschehen, die Verantwortlichen<br />

dann in den Ausschuß laden und auf<br />

Befolgung der Beschlüsse des <strong>Bundestag</strong>es drängen<br />

und durch entsprechende Fristsetzungen das Verfahren<br />

weiter begleiten.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)<br />

Wir wissen aus der Vergangenheit, daß dies häufig<br />

doch noch zu einer Änderung der Haltung der Regierung<br />

geführt hat und deshalb etliche Fälle nach mehreren<br />

Jahren noch erfolgreich abgeschlossen werden<br />

konnten.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der<br />

FDP und der SPD)<br />

Ich möchte mich abschließend bei den Petitionsausschüssen<br />

der Länder und beim Petitionsausschuß des<br />

Europäischen Parlaments für die gute Zusammenarbeit<br />

im Berichtsjahr bedanken. Sie haben vielleicht<br />

gelesen, daß wir in diesem Jahr eine sehr erfolgreiche<br />

Zusammenkunft mit den Petitionsausschüssen aus<br />

unseren 16 Bundesländern hatten, die sich auf meine<br />

Einladung hin mit dem Petitionsausschuß des <strong>Bundestag</strong>es<br />

in Berlin getroffen haben, wo wir unsere Kontakte<br />

vertieft haben und die Erfahrungen bei der Bear-


2636 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Gero Pfennig<br />

beitung von Petitionen, die Bund und Länder gleichzeitig<br />

betreffen, austauschen konnten.<br />

Allen Mitgliedern des Ausschusses möchte ich herzlich<br />

danken. Sie müssen nicht nur den Eingabenzuwachs<br />

bewältigen, sie sind durch Tätigkeit im Petitionsausschuß<br />

und der Mitgliedschaft in den Fachausschüssen<br />

auch einer Doppelbelastung ausgesetzt. Der<br />

gleiche Dank gilt den Mitarbeitern des Petitionsausschusses,<br />

die, wie ich es dargestellt habe, eine enorme<br />

Mehrarbeit schon im Jahre 1990 und fortgesetzt jetzt<br />

auch 1991 bewältigen müssen.<br />

Allen Bürgern, die sich mit ihren Sorgen an den<br />

Petitionsausschuß gewandt haben, darf ich versichern,<br />

daß der Ausschuß in seinem Bemühen nicht<br />

nachlassen wird, berechtigte Interessen engagiert zu<br />

vertreten.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der<br />

Kollege Horst Peter.<br />

Horst Peter (Kassel) (SPD): Frau Präsidentin! Meine<br />

Damen und Herren! Wir beraten heute über den letzten<br />

Jahresbericht des Petitionsausschusses der vergangenen<br />

Legislaturperiode, deshalb ein knapper<br />

Rückblick auf die vergangene Legislaturperiode. Wir<br />

hatten in den Debatten der letzten Jahresberichte drei<br />

Streitpunkte: Erstens. Gibt es einen Unterschied zwischen<br />

politischen Petitionen und p rivaten Anliegen?<br />

Zweitens. Gibt es die Notwendigkeit, Massenpetitionen<br />

anders als Einzelpetitionen zu behandeln? Drittens.<br />

Ist der Petitionsausschuß ein Überausschuß, der<br />

auch fachpolitische Problemstellungen zu entscheiden<br />

hat?<br />

Inzwischen bin ich der Auffassung, daß sich diese<br />

Streitpunkte im Lichte unserer neuen Grundsätze als<br />

scheinbare Streitpunkte erwiesen haben. Ich bin nun<br />

wirklich kein Feind von Konfrontation,<br />

(Zuruf des Abg. Bernd Reuter (SPD])<br />

— ich gehe keinem Streit aus dem Wege, kann man<br />

auch sagen —, aber die neuen Grundsätze haben die<br />

richtige Konfliktlinie dargestellt. Wir sind im Petitionsausschuß<br />

über die Behandlung von Verfahren<br />

weitgehend einig und können uns dann oft gemeinsam<br />

an der Verwaltung, an der Bundesregierung, am<br />

Arbeitsamt, an der Krankenversicherung usw. abarbeiten,<br />

und das ist, glaube ich, die richtige Zielstellung<br />

im Interesse der Petenten.<br />

Die Ursache dafür sind unsere Verfahrensgrundsätze.<br />

Wir haben uns Mühe gegeben, die Voten differenzierter<br />

zu gestalten. So ist es möglich, die Unterschiede<br />

zwischen politischen und p rivaten Anliegen,<br />

zwischen Einzel- und Massenpetitionen und auch die<br />

Frage, ob der Petitionsausschuß ein übergreifender<br />

Ausschuß ist, auszugleichen. Wir haben uns mit den<br />

neuen Grundsätzen auch die Möglichkeit eröffnet,<br />

den Bundesrechnungshof einzuschalten, wenn es uns<br />

sinnvoll erscheint, das Bundesversicherungsamt einzuschalten,<br />

um in dem Bereich, in dem wir oft machtlos<br />

sind — bei Verhaltensweisen der Sozialversicherungen<br />

—, einen Zugriff zu erhalten. Wir haben ja das<br />

Problem, daß unser Zugriff im Sozialversicherungsbereich<br />

durch die Aufgabe, die die Selbstverwaltung<br />

wahrnimmt, gebremst ist. Ich werde im Laufe dieses<br />

Beitrags verdeutlichen, daß das für Petenten manchmal<br />

eine sehr schwierige Sache ist.<br />

Wir haben auch die kritische Auseinandersetzung<br />

mit den Stellungnahmen der Regierung auf Berücksichtigungs-<br />

und Erwägungsbeschlüsse zu unserer<br />

ständigen Praxis gemacht. Darauf ist der Vorsitzende<br />

des Ausschusses eingegangen; darauf wird dann mit<br />

weniger Verpflichtung zur Zurückhaltung auch der<br />

Kollege Reuter noch eingehen.<br />

Mir ist aus dem inzwischen klargeworden: Die<br />

Trennung in Petitionen mit privatem oder politischem<br />

Anliegen ist eine Scheinalternative, wenn man<br />

so will: ein antiquierter Streit. Jede Petition hat eine<br />

politische Dimension. Der Unterschied liegt in der<br />

Reichweite des Anliegens.<br />

Beispiel 1: Ein Petent aus Norddeutschland bezog<br />

nach Abschluß seines Studiums von Juli bis Dezember<br />

1989 Arbeitslosenhilfe. Er bewarb sich im gesamten<br />

Bundesgebiet und erhielt im Dezember 1989 eine<br />

mündliche Zusage in Frankfurt am Main. Dort suchte,<br />

fand und renovierte er mit Freunden bis Ende Dezember<br />

eine Wohnung. Seinen schriftlichen Arbeitsvertrag<br />

erhielt er erst am 6. Januar 1990. Am 8. Januar<br />

— die Daten sind wichtig — schrieb er seinem zuständigen<br />

Arbeitsamt, daß er einen Arbeitsvertrag abgeschlossen<br />

habe, der ab dem 1. Januar 1990 gelte und<br />

den er seit dem 2. Januar 1990 erfülle. Des weiteren<br />

fragte er nach Rückzahlungsmodalitäten für eventuell<br />

zuviel erhaltene Arbeitslosenhilfe. Außerdem bat er<br />

um Informationen über Beihilfe zu seinen Umzugskosten.<br />

Am 25. Januar teilte ihm das Arbeitsamt mit, daß<br />

sein Antrag auf Gewährung von Umzugskosten verspätet<br />

erfolgt sei — spätestens bis zum Tag der Arbeitsaufnahme<br />

oder am Tag des Umzugs —, und<br />

übersandte als Beleg nunmehr das entsprechende<br />

Merkblatt.<br />

Mit Schreiben vom 20. Februar erteilte ihm das Arbeitsamt<br />

darüber hinaus noch eine förmliche Verwarnung<br />

für seine verspätete Meldung der Arbeitsaufnahme<br />

bezüglich der Zeit vom 2. bis 10. Januar 1990,<br />

sah aber „ausnahmsweise" von einem Verwarnungsgeld<br />

ab.<br />

In der Stellungnahme gegenüber dem Petitionsausschuß<br />

schreibt das Arbeitsamt im Ap ril 1990 zur Begründung<br />

der Ablehnung der Umzugskostenhilfe unter<br />

anderem: „Er hat durch die Durchführung des<br />

Umzugs faktisch bewiesen, daß er auf die Hilfe des<br />

Arbeitsamtes nicht unbedingt angewiesen war." Die<br />

arbeitsverwaltungsbehördliche Posse findet ihren Höhepunkt<br />

in einem Bescheid vom 10. September 1990,<br />

in dem das Arbeitsamt die Arbeitslosenhilfe in Höhe<br />

von 32,10 DM für den 1. Januar 1990 zurückfordert,<br />

da er insoweit die Arbeitsaufnahme nicht richtig mitgeteilt<br />

habe.<br />

Deutlicher als der Petent allerdings in seinem<br />

Schreiben vom 8. Januar 1990 kann man die maßgeblichen<br />

Daten nicht formulieren. Das Arbeitsamt hat<br />

demnach neun Monate später faktisch bewiesen, daß<br />

es der Lektüre einfachster Schreiben nicht unbedingt<br />

gewachsen war. Die Reichweite dieser Petition geht<br />

dahin: Der Arbeitsverwaltung am zuständigen Ort ist


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2637<br />

Horst Peter (Kassel)<br />

klarzumachen, daß Bürgerinnen und Bürger Anspruch<br />

auf angemessene Behandlung haben.<br />

(Beifall bei allen Fraktionen)<br />

Da also die Petition in der dargestellten Form notwendig<br />

wurde, wäre das zuständige Arbeitsamt gut beraten,<br />

einmal ein Verhältnis zu den Bürgerinnen und<br />

Bürgern, die Anliegen vorbringen, zu überprüfen.<br />

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)<br />

Die vielen Eingaben zur Gesetzgebung oder auch<br />

die Eingaben gegen staatliche Großprojekte, einzeln<br />

oder in Gemeinschaft mit anderen, insbesondere die<br />

vielen Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern aus<br />

den neuen Bundesländern, tragen ihre politische<br />

Reichweite in sich.<br />

Ich will im folgenden eine Eingabe darstellen, bei<br />

der sich die politische Reichweite im Verlauf der Behandlung<br />

erst erschloß. Es geht um die Eingabe eines<br />

Chemiearbeiters, der als Mitarbeiter der BASF Ludwigshafen<br />

im November 1953 bei einem Betriebsunfall<br />

durch ausströmende Halogenwasserstoffe — Dioxine<br />

sind damit gemeint — eine Vergiftung erlitt.<br />

Wegen der unmittelbaren gesundheitlichen Schädigungen<br />

erhielt er von der Berufsgenossenschaft Chemie<br />

eine Unfallrentenleistung. Im März wurde die<br />

Rente nicht mehr gewährt, da die Berufsgenossenschaft<br />

Chemie nach den gutachtlichen Stellungnahmen<br />

der damaligen Werksärztin des Unfallbetriebs<br />

eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit<br />

nicht mehr als gegeben ansah. Man beachte:<br />

Der Werksärztin des Unfallbetriebs!<br />

Von diesem Zeitpunkt an kämpfte der Petent um<br />

seine Unfallrente. 1985 wandte er sich erstmals an den<br />

Petitionsausschuß wegen Anerkennung seiner sich<br />

verschlechternden Krankheitsbefunde als Berufskrankheit<br />

— vergeblich, da die Gutachter eine Kausalität<br />

zwischen der Dioxinexposition und den Krankheitsbefunden<br />

nicht als gegeben ansahen.<br />

1987 kam es zu einer erneuten Petition, diesmal<br />

wegen einer rückwirkenden Rentenzahlung ab 1955,<br />

dem Zeitpunkt des Rentenentzugs, für die im März<br />

1987 gewährte Minderung der Erwerbsfähigkeit von<br />

20 % und einer Erhöhung seines MdE-Prozentsatzes.<br />

Inzwischen war die Einschätzung von krankheitsverursachenden<br />

Auswirkungen von Dioxin in der Wissenschaft<br />

weiter vorangeschritten.<br />

Hier sind wir am Beginn der Ausweitung der Eingabe,<br />

hin zur politischen Reichweite für den Berichterstatter.<br />

Wir haben im Ausschuß insgesamt drei Anhörungen<br />

gemacht. Wir haben in der Auseinandersetzung<br />

mit der Berufsgenossenschaft, durch Einschaltung<br />

von Experten, durch Anhörung von Vertretern<br />

der Bundesregierung, durch Einschaltung des Bundesversicherungsamtes,<br />

durch Einladung von alternativen<br />

Experten, durch die Bemühung, eine Einigung<br />

mit dem Geschäftsführer der Berufsgenossenschaft<br />

Chemie herbeizuführen, versucht, dem prinzipiell<br />

schwächeren Teil — die Beweislast liegt nicht bei der<br />

Berufsgenossenschaft, sondern bei dem Petenten als<br />

dem betroffenen Versicherten — , also dem Petenten,<br />

zu seinem Recht zu verhelfen.<br />

Dabei stellte sich — das ist die Dimension für die<br />

Gesetzgebung — heraus, daß § 44 Abs. 4 des SGB X<br />

ein überwindbares Hindernis für eine weitere Rückwirkung<br />

der Petition war. Ich meine, wir haben den<br />

vielen Fällen nachzugehen, bei denen es nicht um<br />

zuviel oder zuwenig gezahlte Renten, sondern darum<br />

geht, anzuerkennen, daß jemand wegen eines Berufsunfalls<br />

vom Zeitpunkt des Eintretens dieses Unfalls an<br />

Ansprüche haben muß.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP<br />

und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Der Ansatz, die MdE, die Minderung der Erwerbsfähigkeit,<br />

zu erhöhen, steht in Widerspruch zur Praxis<br />

der Berufsgenossenschaft Chemie bei der Gewährung<br />

der Unfallrente aus dem Unfall von 1953 für den Petenten<br />

und für weitere 78 Personen, die sich für mich<br />

als Skandal darstellt. Für mich ist die Verhaltensweise<br />

der Berufsgenossenschaft Chemie an vier Punkten zu<br />

kritisieren.<br />

Ich werfe ein Verschleiern der tatsächlich vom Unfall<br />

betroffenen Personengruppe durch Einbeziehung<br />

weiterer Dioxinfälle bei der BASF vor, wodurch Kausalitätsaussagen<br />

erschwert wurden.<br />

Ich werfe das Heranziehen von Gutachtern vor, die<br />

inzwischen in der wissenschaftlichen Diskussion<br />

höchst umstritten sind. Auf diese Weise wurden Gutachten<br />

erstellt, die es dem Versicherten teilweise unmöglich<br />

gemacht haben, schon frühzeitig zu seinem<br />

Unfallrentenanspruch zu kommen.<br />

- Ich werfe das Nichtheranziehen einer Mortalitäts<br />

und Morbiditätsstudie der Unfallkohorten des Unfalls<br />

von 1953 im Auftrag der BASF vor. Kausalitätsvermutungen<br />

im Hinblick auf den Fall des Petenten, werden<br />

dadurch unmöglich gemacht.<br />

Der Absprache, die sich aus einem Gespräch mit<br />

dem Ausschußvorsitzenden und den Berichterstattern<br />

des Ausschusses ergab, jede Chance zu nutzen, um in<br />

einem sozialgerichtlichen Verfahren einen Vergleich<br />

mit dem Petenten über die Höhe der MdE zu erreichen,<br />

und die eine Brücke darstellte, ist der Geschäftsführer<br />

der Berufsgenossenschaft Chemie nicht nachgekommen,<br />

sondern im Gegenteil: Er hat dann, als<br />

von uns angeregte Gegengutachten zur Feststellung<br />

einer höheren Minderung der Erwerbstätigkeit führten,<br />

seinerseits Gegengutachten in Auftrag gegeben,<br />

und zwar unter Einbeziehung einer Dioxin-Studie der<br />

BG Chemie, die wissenschaftlich nicht unstrittig ist,<br />

ebenfalls keine klare Kohorte darstellt.<br />

Ich werfe dem Geschäftsführer vor, daß er die vom<br />

Petitionsausschuß eingeladenen Experten nachträglich<br />

in einer Form unter Druck gesetzt hat, die eigentlich<br />

eine Mißachtung des Auftrags des Petitionsausschusses<br />

darstellt, die wir uns nicht gefallen lassen<br />

können.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Das Ganze führt zu einer verschleppenden Behandlung.<br />

Wenn wir uns vor Augen führen, daß die Krankheitsauswirkungen<br />

von Dioxin tödliche Folgen haben<br />

können, kann eine schleppende Behandlung zur Erledigung<br />

der Fälle. durch Tod der Anspruchsteller führen.<br />

Das ist eine Verfahrenspraxis, die wir einfach<br />

nicht akzeptieren können.<br />

Das Fazit: § 44 Abs. 4 ist überprüfungsbedürftig.<br />

Deshalb haben wir Regierung und Fraktionen des


2638 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Horst Peter (Kassel)<br />

<strong>Bundestag</strong>es die Petition zur Kenntnis gegeben. Wir<br />

meinen, hier ist es möglich, eine Gesetzesinitiative zu<br />

starten. Das ist auch notwendig.<br />

Die Beschwerde über die berufsgenossenschaftliche<br />

Behandlung ist nach unserer Auffassung berechtigt.<br />

Deshalb haben wir das Bundesversicherungsamt<br />

zur Überprüfung der berufsgenossenschaftlichen Behandlung<br />

der Opfer des Dioxinunfalls eingeschaltet.<br />

Wichtig ist das vor allen Dingen für die Behandlung<br />

der weiteren anstehenden Petitionen aus diesem Fall.<br />

Wichtig ist das auch für Petitionen bezüglich anderer<br />

Berufskrankheiten. Wichtig ist es für die Veränderung<br />

der Praxis der Gutachterbenennung durch die Berufsgenossenschaften.<br />

Wichtig ist es vor allen Dingen, um<br />

gesetzliche Regelungen zu finden, die durch eine Umkehr<br />

der Beweislast den Schwächeren in dieser ungleichen<br />

Auseinandersetzung stärker werden lassen,<br />

indem nämlich die schädigenden Unternehmen beweisen<br />

müssen, ob eine Schädigung durch die Arbeit<br />

an einem Arbeitsplatz in einem solchen Unternehmen<br />

ausgeschlossen werden kann.<br />

Eine offene Frage ist: Angesichts der Satzungszwecke<br />

der Träger der Unfallversicherung, der Vorsorge<br />

zur Vermeidung von Unfällen und der Versicherung<br />

im Falle von Unfällen im Interesse ihrer Versicherten<br />

frage ich: Wo ist die Selbstverwaltung, die<br />

sich kritisch mit dem Verhalten des Geschäftsführers<br />

der BG Chemie auseinandersetzt und die prüft, ob er<br />

weiter tragbar ist?<br />

Hervorzuheben ist, daß in der Behandlung dieser<br />

Petition der Ausschuß an einem Strang und alle in die<br />

richtige Richtung gezogen haben. Zu danken ist dem<br />

Petenten, der einer der wenigen ist, der sein Anliegen<br />

zäh in einer unterlegenen Position vorangetragen<br />

hat.<br />

Die Schlußfolgerung lautet: Die Trennung in private<br />

und politische Eingaben ist nicht haltbar. Die<br />

Frage ist, wie die Eingaben mit großer politischer<br />

Reichweite für die Zukunft zu behandeln sind.<br />

Hier zum Schluß ein Vorschlag: Wir müssen zukünftig<br />

prüfen, ob durch eine Änderung der Geschäftsordnung<br />

Fachausschüsse durch den <strong>Bundestag</strong> auf Überweisungsbeschluß<br />

des Petitionsausschusses eingeschaltet<br />

werden können, so wie es der Petitionsausschuß<br />

des Europäischen Parlaments geregelt hat. Dadurch<br />

kann das Petitionsverfahren als Teilhaberecht<br />

der Bürgerinnen und Bürger nur effektiver gestaltet<br />

werden.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bevor ich nun den<br />

nächsten Redner aufrufe, möchte ich Ihnen das von<br />

den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen<br />

Abstimmung bekanntgeben, und zwar über die<br />

zweite Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung<br />

des Art. 146 des Grundgesetzes.<br />

Die Schriftführer haben folgendes Ergebnis ermittelt.<br />

Es wurden 599 Stimmen abgegeben. Davon war<br />

keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 237 Kollegen<br />

und Kolleginnen gestimmt. Mit Nein haben 358 gestimmt.<br />

Vier haben sich der Stimme enthalten.<br />

Endgültiges Ergebnis<br />

Abgegebene Stimmen: 598;<br />

Ja<br />

ja: 237<br />

nein: 357<br />

enthalten: 4<br />

SPD<br />

Frau Adler<br />

Andres<br />

Bachmaier<br />

Frau Barbe<br />

Bartsch<br />

Becker (Nienberge)<br />

Bernrath<br />

Beucher<br />

Bindig<br />

Frau Blunck<br />

Dr. Böhme (Unna)<br />

Börnsen (Ritterhude)<br />

Brandt<br />

Frau Brandt-Elsweier<br />

Büchner (Speyer)<br />

Dr. von Bülow<br />

Büttner (Ingolstadt)<br />

Frau Bulmahn<br />

Frau Burchardt<br />

Bury<br />

Frau Caspers-Merk<br />

Catenhusen<br />

Conradi<br />

Frau Dr. Däubler-Gmelin<br />

Daubertshäuser<br />

Dr. Diederich (Berlin)<br />

Diller<br />

Frau Dr. Dobberthien<br />

Dreßler<br />

Duve<br />

Ebert<br />

Dr. Eckardt<br />

Dr. Ehmke (Bonn)<br />

Eich<br />

Dr. Elmer<br />

Erler<br />

Esters<br />

Ewen<br />

Frau Ferner<br />

Frau Fischer<br />

(Gräfenhainichen)<br />

Fischer (Homburg)<br />

Formanski<br />

Frau Fuchs (Köln)<br />

Frau Fuchs (Verl)<br />

Fuhrmann<br />

Frau Ganseforth<br />

Gansel<br />

Dr. Gautier<br />

Gilges<br />

Dr. Glotz<br />

Graf<br />

Großmann<br />

Haack (Extertal)<br />

Habermann<br />

Hacker<br />

Frau Hämmerle<br />

Hampel<br />

Frau Hanewinckel<br />

Frau Dr. Hartenstein<br />

Hasenfratz<br />

Dr. Hauchler<br />

Heistermann<br />

Heyenn<br />

Hiller (Lübeck)<br />

Hilsberg<br />

Dr. Holtz<br />

Horn<br />

Huonker<br />

Ibrügger<br />

Frau Iwersen<br />

Frau Jäger<br />

Frau Janz<br />

Jaunich<br />

Dr. Jens<br />

Jungmann (Wittmoldt)<br />

Frau Kastner<br />

Kastning<br />

Kirschner<br />

Frau Klemmer<br />

Dr. sc. Knaape<br />

Körper<br />

Frau Kolbe<br />

Kolbow<br />

Koltzsch<br />

Koschnick<br />

Kretkowski<br />

Kubatschka<br />

Dr. Kübler<br />

Kuessner<br />

Dr. Küster<br />

Kuhlwein<br />

Lambinus<br />

Frau Lange<br />

von Larcher<br />

Leidinger<br />

Lennartz<br />

Frau Dr. Lucyga<br />

Frau Marx<br />

Frau Mascher<br />

Matschie<br />

Dr. Matterne<br />

Frau Matthäus-Maier<br />

Frau Mattischeck<br />

Meckel<br />

Frau Mehl<br />

Meißner<br />

Dr. Mertens (Bottrop)<br />

Dr. Meyer (Ulm)<br />

Mosdorf<br />

Müller (Düsseldorf)<br />

Müller (Pleisweiler)<br />

Müller (Schweinfurt)<br />

Frau Müller (Völklingen)<br />

Müntefering<br />

Neumann (Bramsche)<br />

Neumann (Gotha)<br />

Frau Dr. Niehuis<br />

Dr. Niese<br />

Frau Odendahl<br />

Oesinghaus<br />

Oostergetelo<br />

Opel<br />

Ostertag<br />

Frau Dr. Otto<br />

Paterna<br />

Dr. Penner<br />

Peter (Kassel)<br />

Dr. Pfaff<br />

Dr. Pick<br />

Purps<br />

Reimann<br />

Rempe<br />

Frau von Renesse<br />

Frau Rennebach<br />

Reuter<br />

Rixe<br />

Schäfer (Offenburg)<br />

Frau Schaich-Walch<br />

Schanz<br />

Scheffler<br />

Schily<br />

Schluckebier<br />

Schmidbauer (Nürnberg)<br />

Frau Schmidt (Aachen)<br />

Frau Schmidt (Nürnberg)<br />

Schmidt (Salzgitter)<br />

Frau Schmidt-Zadel<br />

Dr. Schmude<br />

Dr. Schnell


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2639<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt<br />

Schreiner<br />

Frau Schröter<br />

Schröter<br />

Schütz<br />

Dr. Schuster<br />

Schwanhold<br />

Schwanitz<br />

Seidenthal<br />

Frau Seuster<br />

Sielaff<br />

Frau Simm<br />

Singer<br />

Frau Dr. Skarpelis-Sperk<br />

Frau Dr. Sonntag-Wolgast<br />

Sorge<br />

Dr. Sperling<br />

Frau Steen<br />

Stiegler<br />

Dr. Struck<br />

Tappe<br />

Frau Terborg<br />

Dr. Thalheim<br />

Thierse<br />

Tietjen<br />

Frau Titze<br />

Toetemeyer<br />

Urbaniak<br />

Vergin<br />

Verheugen<br />

Dr. Vogel<br />

Voigt (Frankfurt)<br />

Vosen<br />

Wagner<br />

Wallow<br />

Waltemathe<br />

Walter (Cochem)<br />

Walther (Zierenberg)<br />

Wartenberg (Berlin)<br />

Frau Dr. Wegner<br />

Weiermann<br />

Frau Weiler<br />

Weis (Stendal)<br />

Weißgerber<br />

Weisskirchen (Wiesloch)<br />

Welt<br />

Dr. Wernitz<br />

Frau Wester<br />

Frau Westrich<br />

Frau Wettig-Danielmeier<br />

Frau Dr. Wetzel<br />

Frau Weyel<br />

Dr. Wieczorek<br />

Wieczorek (Duisburg)<br />

Frau Wieczorek-Zeul<br />

Wiefelspütz<br />

Wimmer (Neuötting)<br />

Dr. de With<br />

Wittich<br />

Frau Wohlleben<br />

Frau Wolf<br />

Frau Zapf<br />

Dr. Zöpel<br />

Zumkley<br />

FDP<br />

Grünbeck<br />

PDS/LL<br />

Frau Bläss<br />

Frau Braband<br />

Dr. Briefs<br />

Frau Dr. Enkelmann<br />

Frau Dr. Fischer<br />

Dr. Gysi<br />

Henn<br />

Dr. Heuer<br />

Frau Dr. Höll<br />

Frau Jelpke<br />

Dr. Keller<br />

Frau Lederer<br />

Dr. Modrow<br />

Dr. Riege<br />

Dr. Schumann (Kroppenstedt)<br />

Frau Stachowa<br />

Bündnis 90/GRÜNE<br />

Dr. Feige<br />

Frau Köppe<br />

Poppe<br />

Schulz (Berlin)<br />

Dr. Ullmann<br />

Weiß (Berlin)<br />

Frau Wollenberger<br />

Fraktionslos<br />

Lowack<br />

Nein<br />

CDU/CSU<br />

Adam<br />

Dr. Altherr<br />

Frau Augustin<br />

Augustinowitz<br />

Bargfrede<br />

Dr. Bauer<br />

Frau Baumeister<br />

Bayha<br />

Belle<br />

Frau Dr. Bergmann-Pohl<br />

Bierling<br />

Dr. Blank<br />

Frau Blank<br />

Dr. Blens<br />

Bleser<br />

Dr. Blüm<br />

Böhm (Melsungen)<br />

Frau Dr. Böhmer<br />

Börnsen (Bönstrup)<br />

Dr. Bötsch<br />

Bohl<br />

Bohlsen<br />

Borchert<br />

Brähmig<br />

Breuer<br />

Frau Brudlewsky<br />

Brunnhuber<br />

Bühler (Bruchsal)<br />

Büttner (Schönebeck)<br />

Buwitt<br />

Carstens (Emstek)<br />

Carstensen (Nordstrand)<br />

Dehnel<br />

Frau Dempwolf<br />

Deres<br />

Deß<br />

Frau Diemers<br />

Doppmeier<br />

Doss<br />

Dr. Dregger<br />

Echternach<br />

Ehlers<br />

Ehrbar<br />

Frau Eichhorn<br />

Engelmann<br />

Eylmann<br />

Frau Eymer<br />

Frau Falk<br />

Dr. Faltlhauser<br />

Feilcke<br />

Dr. Fell<br />

Fischer (Hamburg)<br />

Frau Fischer (Unna)<br />

Fockenberg<br />

Francke (Hamburg)<br />

Frankenhauser<br />

Dr. Friedrich<br />

Fritz<br />

Fuchtel<br />

Ganz (St. Wendel)<br />

Frau Geiger<br />

Geis<br />

Dr. Geißler<br />

Dr. von Geldern<br />

Gerster (Mainz)<br />

Gibtner<br />

Dr. Göhner<br />

Göttsching<br />

Dr. Götzer<br />

Gres<br />

Frau Grochtmann<br />

Gröbl<br />

Grotz<br />

Dr. Grünewald<br />

Günther (Duisburg)<br />

Frhr. von Hammerstein<br />

Harries<br />

Haschke (Großhennersdorf)<br />

Haschke (Jena-Ost)<br />

Frau Hasselfeldt<br />

Hauser (Esslingen)<br />

Hauser (Rednitzhembach)<br />

Hedrich<br />

Heise<br />

Frau Dr. Hellwig<br />

Helmrich<br />

Dr. Hennig<br />

Dr. h. c. Herkenrath<br />

Hinsken<br />

Hintze<br />

Hörsken<br />

Hörster<br />

Dr. Hoffacker<br />

Hollerith<br />

Dr. Hornhues<br />

Hornung<br />

Hüppe<br />

Jäger<br />

Frau Jaffke<br />

Jagoda<br />

Janovsky<br />

Frau Jeltsch<br />

Dr. Jobst<br />

Dr. Jüttner<br />

Junghanns<br />

Dr. Kahl<br />

Kalb<br />

Kampeter<br />

Dr. Kappes<br />

Frau Karwatzki<br />

Kauder<br />

Keller<br />

Kiechle<br />

Kittelmann<br />

Klein (Bremen)<br />

Klein (München)<br />

Klinkert<br />

Köhler (Hainspitz)<br />

Dr. Köhler (Wolfsburg)<br />

Dr. Kohl<br />

Kolbe<br />

Frau Kors<br />

Koschyk<br />

Kossendey<br />

Kraus<br />

Dr. Krause (Börgerende)<br />

Dr. Krause (Bonese)<br />

Krause (Dessau)<br />

Krey<br />

Kriedner<br />

Kronberg<br />

Dr.-Ing. Krüger<br />

Krziskewitz<br />

Lamers<br />

Dr. Lammert<br />

Lamp<br />

Lattmann<br />

Dr. Laufs<br />

Laumann<br />

Frau Dr. Lehr<br />

Dr. Lieberoth<br />

Frau Limbach<br />

Link (Diepholz)<br />

Lintner<br />

Dr. Lippold (Offenbach)<br />

Dr. sc. Lischewski<br />

Louven<br />

Lummer<br />

Dr. Luther<br />

Frau Männle<br />

Magin<br />

Dr. Mahlo<br />

de Maizière<br />

Frau Marienfeld<br />

Marschewski<br />

Dr. Mayer (Siegertsbrunn)<br />

Meckelburg<br />

Meinl<br />

Frau Dr. Merkel<br />

Frau Dr. Meseke<br />

Dr. Meyer zu Bentrup<br />

Frau Michalk<br />

Michels<br />

Dr. Möller<br />

Müller (Kirchheim)<br />

Müller (Wadern)<br />

Müller (Wesseling)<br />

Nelle<br />

Dr. Neuling<br />

Neumann (Bremen)<br />

Nitsch<br />

Frau Nolte<br />

Dr. Olderog<br />

Ost<br />

Oswald<br />

Dr. Päselt<br />

Dr. Paziorek<br />

Petzold<br />

Pfeffermann<br />

Frau Pfeiffer<br />

Dr. Pfennig<br />

Dr. Pflüger<br />

Dr. Pinger<br />

Pofalla<br />

Dr. Pohler<br />

Frau Priebus<br />

Dr. Probst<br />

Dr. Protzner<br />

Pützhofen<br />

Frau Rahardt-Vahldieck<br />

Raidel<br />

Rauen<br />

Rawe<br />

Reddemann<br />

Reichenbach<br />

Dr. Reinartz<br />

Frau Reinhardt<br />

Repnik<br />

Dr. Rieder<br />

Dr. Riesenhuber<br />

Rode (Wietzen)<br />

Frau Rönsch (Wiesbaden)<br />

Frau Roitzsch (Quickborn)<br />

Romer<br />

Dr. Rose<br />

Rossmanith<br />

Roth (Gießen)<br />

Rother<br />

Dr. Ruck<br />

Rühe<br />

Dr. Rüttgers<br />

Sauer (Salzgitter)<br />

Sauer (Stuttgart)<br />

Scharrenbroich<br />

Frau Schätzle<br />

Dr. Schäuble


2640 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt<br />

Schartz (Trier)<br />

FDP<br />

Schemken<br />

Scheu<br />

Schmalz<br />

Schmidbauer<br />

Schmidt (Fürth)<br />

Dr. Schmidt (Halsbrücke)<br />

Schmidt (Mühlheim)<br />

Frau Schmidt (Spiesen)<br />

Schmitz (Baesweiler)<br />

von Schmude<br />

Dr. Schneider (Nürnberg)<br />

Dr. Schockenhoff<br />

Graf von Schönburg-Glauchau<br />

Dr. Scholz<br />

Frhr. von Schorlemer<br />

Dr. Schreiber<br />

Dr. Schroeder (Freiburg)<br />

Schulhoff<br />

Dr. Schulte<br />

(Schwäbisch Gmünd)<br />

Schulz (Leipzig)<br />

Schwalbe<br />

Schwarz<br />

Dr. Schwarz-Schilling<br />

Dr. Schwörer<br />

Seehofer<br />

Seesing<br />

Seibel<br />

Seiters<br />

Skowron<br />

Dr. Sopart<br />

Frau Sothmann<br />

Spilker<br />

Spranger<br />

Dr. Sprung<br />

Dr. Stavenhagen<br />

Frau Steinbach-Hermann<br />

Dr. Stercken<br />

Dr. Frhr. von Stetten<br />

Stockhausen<br />

Dr. Stoltenberg<br />

Strube<br />

Stübgen<br />

Frau Dr. Süssmuth<br />

Susset<br />

Tillmann<br />

Dr. Töpfer<br />

Dr. Uelhoff<br />

Uldall<br />

Frau Verhülsdonk<br />

Vogel (Ennepetal)<br />

Vogt (Düren)<br />

Dr. Voigt (Northeim)<br />

Dr. Vondran<br />

Dr. Waffenschmidt<br />

Dr. Waigel<br />

Graf von Waldburg-Zeil<br />

Dr. Warnke<br />

Dr. Warrikoff<br />

Werner (Ulm)<br />

Frau Wiechatzek<br />

Dr. Wieczorek (Auerbach)<br />

Frau Dr. Wilms<br />

Wilz<br />

Wimmer (Neuss)<br />

Frau Dr. Wisniewski<br />

Wissmann<br />

Dr. Wittmann<br />

Wittmann (Tännesberg)<br />

Wonneberger<br />

Frau Wülfing<br />

Würzbach<br />

Frau Yzer<br />

Zeitlmann<br />

Zöller<br />

SPD<br />

Frau Albowitz<br />

Frau Dr. Babel<br />

Baum<br />

Beckmann<br />

Bredehorn<br />

Cronenberg (Arnsberg)<br />

Eimer (Fürth)<br />

Engelhard<br />

van Essen<br />

Dr. Feldmann<br />

Friedhoff<br />

Friedrich<br />

Funke<br />

Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink<br />

Gallus<br />

Ganschow<br />

Gattermann<br />

Gries<br />

Grüner<br />

Günther (Plauen)<br />

Dr. Guttmacher<br />

Hackel<br />

Hansen<br />

Dr. Haussmann<br />

Heinrich<br />

Dr. Hirsch<br />

Frau Dr. Hoth<br />

Dr. Hoyer<br />

Hübner<br />

Irmer<br />

Kleinert (Hannover)<br />

Kohn<br />

Dr. Kolb<br />

Dr.-Ing. Laermann<br />

Dr. Graf Lambsdorff<br />

Frau Leutheusser<br />

Schnarrenberger<br />

Lüder<br />

Lühr<br />

Dr. Menzel<br />

Nolting<br />

Otto (Frankfurt)<br />

Paintner<br />

Frau Dr. Pohl<br />

Richter (Bremerhaven)<br />

Dr. Röhl<br />

Schäfer (Mainz)<br />

Schmidt (Dresden)<br />

Dr. Schmieder<br />

Schüßler<br />

Frau Sehn<br />

Frau Seiler-Albring<br />

Frau Dr. Semper<br />

Dr. Solms<br />

Dr. Starnick<br />

Frau Dr. von Teichman und<br />

Logischen<br />

Thiele<br />

Dr. Thomae<br />

Timm<br />

Türk<br />

Frau Walz<br />

Dr. Weng (Gerlingen)<br />

Wolfgramm (Göttingen)<br />

-<br />

Frau Würfel<br />

Zurheide<br />

Zywietz<br />

Enthalten<br />

Frau Dr. Leonhard-Schmid<br />

SPD<br />

Steiner<br />

Frau Homburger<br />

Niggemeier<br />

Koppelin<br />

Damit ist dieser Gesetzentwurf abgelehnt.<br />

Nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung unterbleibt<br />

damit jede weitere Beratung. Damit ist das<br />

Durchführungsgesetz zum Volksentscheid, die dafür<br />

vorauszusetzende Grundgesetzänderung, abgelehnt<br />

worden. Ich kann wohl davon ausgehen, daß wir<br />

deshalb über den Entwurf eines Durchführungsgesetzes<br />

heute nicht mehr weiter beraten müssen. — Darüber<br />

besteht Einverständnis. Dann ist das so beschlossen.<br />

Nun rufe ich als nächsten Redner den Kollegen<br />

Günther Nolting auf.<br />

Günther Friedrich Nolting (FDP) : Frau Präsidentin!<br />

Meine Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung:<br />

Wie wichtig der Jahresbericht 1990 des Petitionsausschusses<br />

von der Regierung genommen wird,<br />

zeigt sich u. a. an der großen Anzahl der anwesenden<br />

Regierungsvertreter.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />

SPD)<br />

Dies ist nicht nur quantitativ, sondern vor allen Dingen<br />

auch qualitativ gemeint.<br />

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der<br />

Vorsitzende des Petitionsausschusses, Herr Dr. Pfennig,<br />

hat schon auf folgendes hingewiesen: Im Jahre<br />

1990 sind insgesamt 16 497 Eingaben beim Petitionsausschuß<br />

eingegangen. Dies ist eine deutliche Zunahme<br />

gegenüber dem Vorjahr, die sich neben der<br />

generell steigenden Tendenz bei der Zahl von Eingaben<br />

vor allem auf die neuen Bundesländer zurückführen<br />

läßt. 16,5 % der Eingaben kamen aus den neuen<br />

Bundesländern, obwohl die Vereinigung erst am<br />

3. Oktober — sie wirkt sich also nur auf ein Viertel des<br />

Berichtszeitraumes aus — vollzogen wurde. Dies ist<br />

zweifellos ein wesentliches Merkmal dieses Jahresberichtes.<br />

Die neuen Bundesbürger haben ihr Petitionsrecht<br />

nicht nur entdeckt, sondern auch gleich in großem<br />

Maße in Anspruch genommen.<br />

Das deutet auf die vielen Probleme im sozialen und<br />

rechtlichen Bereich hin. Die Verwaltung befindet sich<br />

teilweise noch im Aufbau. Die Bürger haben oft für<br />

ihre Schwierigkeiten noch nicht den für uns alte Bundesbürger<br />

selbstverständlichen Ansprechpartner in<br />

einem bestimmten Amt und wenden sich daher in<br />

ihrer teilweise vorhandenen Verzweiflung an den Petitionsausschuß<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es. Mancher<br />

dieser Petenten war froh, bei dieser Institution<br />

einfach seinen Kummer loszuwerden und einmal in<br />

einem Brief alle Sorgen darstellen zu können, ohne<br />

daß er tatsächlich die Hilfe des Ausschusses erwartete.<br />

Im Mittelpunkt der Eingaben stand dabei die persönliche<br />

Betroffenheit der Menschen, vor allem die<br />

Gefährdung und der Abbau von Arbeitsplätzen, das<br />

Rentenniveau und die Neugestaltung der Preise nach<br />

Einführung der Sozialen Marktwirtschaft.<br />

Einen erheblichen Anstieg der Zahl der Petitionen<br />

im Fachbereich des Bundesministers der Justiz lösten


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2641<br />

Günther Friedrich Nolting<br />

die ungeklärten Grundeigentumsfragen in den neuen<br />

Bundesländern aus. Da der Sachverhalt zu einer Petition<br />

erst sorgfältig recherchiert wird, konnten nur wenige<br />

der Eingaben aus den neuen Bundesländern<br />

schon 1990 abschließend behandelt werden. Deshalb<br />

schlagen sich solche Fälle noch nicht in den Beispielen<br />

nieder, die der Ausschuß in seinem Jahresbericht<br />

bringt, um den Bürgern anschaulich zu machen, welche<br />

Chancen sich bieten, wenn sich jemand mit einem<br />

wohlbegründeten Anliegen an uns wendet.<br />

Jeder von uns, der im Petitionsausschuß arbeitet,<br />

bekommt von Zeit zu Zeit böse B riefe von Petenten,<br />

deren Anliegen wir ablehnen mußten. wird<br />

dann bezweifelt, daß wir überhaupt die Möglichkeit<br />

haben, etwas zu bewegen.<br />

Natürlich können wir nicht jedem Petenten weiterhelfen,<br />

das, was er persönlich für Recht hält, zu bekommen.<br />

Aber wer unseren Jahresbericht liest, wird<br />

keine Zweifel haben, daß es auch 1990 wieder eine<br />

Fülle von Fällen gab, in denen wir konkret Einfluß<br />

genommen und auch geholfen haben.<br />

Lassen Sie mich einige wenige Beispiele hier aufzeigen.<br />

So hatte die britische Rheinarmee jahrelang<br />

geplant, auf ihrem Truppenübungsplatz in der Senne<br />

eine Stadtkampfübungsanlage zu bauen. Dies ist in<br />

der Bevölkerung unter dem Stichwort Kampfdorf Augustdorf<br />

bekanntgeworden. Die Petenten, eine regionale<br />

Bürgerinitiative, befürchteten zu Recht, daß von<br />

dieser Anlage eine erhebliche vermehrte Lärmbelastung<br />

ausgehen und der Verkehrswert der Häuser<br />

und Grundstücke weiter abnehmen würde. Drei Jahre<br />

lang zog sich dieses Petitionsverfahren hin, in denen<br />

immer wieder versucht wurde, über das BMF und auf<br />

anderen Wegen auf die Briten einzuwirken. Schließlich<br />

waren diese Bemühungen erfolgreich, und im Juli<br />

1990 verzichtete die britische Rheinarmee auf ihr Projekt.<br />

Eine andere Eingabe forderte die unbefristete Umschreibung<br />

von Führerscheinen von Bürgern aus anderen<br />

EG-Ländern. Bisher mußte dies innerhalb eines<br />

Jahres geschehen. Nach drei Jahren war es sogar erforderlich,<br />

in Deutschland eine neue Führerscheinprüfung<br />

abzulegen. Nachdem der Petitionsausschuß<br />

diese Eingabe der Bundesregierung zur Erwägung<br />

überwiesen hatte, bekam er eine positive Antwort. Es<br />

ist nunmehr möglich, ohne jegliche Fristen den Führerschein<br />

gegen den jeweiligen nationalen einzutauschen.<br />

Auf der anderen Seite dokumentiert der Jahresbericht<br />

aber auch zahlreiche Fälle, in denen der Ausschuß<br />

aus politischen Gründen gewisse Anliegen<br />

nicht unterstützen wollte und nicht unterstützen<br />

konnte. So konnten wir uns beispielsweise die Forderung<br />

nach einem Friedensvertrag gerade angesichts<br />

der politischen Vorgänge im Zusammenhang mit der<br />

Herstellung der deutschen Einheit nicht zu eigen machen.<br />

Meine Damen und Herren, unter den Eingaben sind<br />

in diesem Jahr nur knapp 6 000 Massenpetitionen,<br />

also etwa Postkartenaktionen mit vorgedruckten Texten.<br />

Die Zahl der Massenpetitionen ist damit die niedrigste<br />

seit Jahren, was mir beweist, daß die Bürger und<br />

vor allem die Organisationen erkannt haben, daß sich<br />

der Ausschuß von einer besonders großen Zahl von<br />

Zuschriften nicht beeindrucken läßt, sondern genauso<br />

schnell und gründlich recherchiert wie in jedem anderen<br />

Fall auch. Das heißt, auch jede Einzelpetition wird<br />

sorgfältig bearbeitet.<br />

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei<br />

Abgeordneten der CDU/CSU)<br />

Mit den meisten Unterschriften, nämlich mit ca.<br />

317 000, wurde ein sofortiges FCKW-Verbot gefordert.<br />

Der Kollege Vorsitzende Dr. Pfennig hat darauf<br />

hingewiesen. Diese Wünsche gingen in die richtige<br />

Richtung, da die Fluorchlorkohlenwasserstoffe als<br />

Zerstörer der Ozonschicht der Erde lebensgefährliche<br />

Folgen für den Menschen und seine Umwelt haben.<br />

Die Bundesregierung hat inzwischen ein FCKW-Verbot<br />

bis 1995 beschlossen, was von uns nachhaltig begrüßt<br />

wird. Bis dahin stehen dann auch die Ersatzstoffe<br />

in gewünschtem Ausmaß zur Verfügung.<br />

Mit gut 17 000 Unterschriften wandten sich Bürger<br />

gegen angeblich mangelnde Sicherheitsvorkehrungen<br />

während des amerikanischen C-Waffenabzugs<br />

aus der Pfalz im letzten Sommer. Da diese Eingaben<br />

sehr kurzfristig eingingen, konnte der Ausschuß keine<br />

Entscheidung in der Sache mehr fällen. Als Verteidigungspolitiker<br />

kann ich hier aber feststellen, daß selten<br />

ein so umfassender und perfekter Sicherheitsaufwand<br />

getrieben wurde und daß zu keinem Zeitpunkt<br />

für die Bürger an der Transportstrecke eine Gefahr<br />

bestanden hat. Hier ist es leider zu Überreaktionen<br />

gekommen. Es besteht bei mir der Verdacht, daß bestimmte<br />

Gruppierungen bewußt oder unbewußt die<br />

Angst der Menschen für ihre politischen Ziele einsetzen<br />

wollten.<br />

Meine Damen und Herren, im Rahmen der deutschdeutschen<br />

Rechtsangleichung gab es bereits 1990 und<br />

vor allem auch in den letzten Monaten zahlreiche Eingaben<br />

zur Neugestaltung des § 218 des Strafgesetzbuches<br />

und damit zur Frage des Schutzes des ungeborenen<br />

Lebens. Die Petenten decken dabei das gesamte<br />

Spektrum des Themas ab: von der Forderung<br />

nach einer drastischen Einschränkung der Möglichkeiten<br />

des Schwangerschaftsabbruchs und entsprechenden<br />

Strafverschärfungen bis hin zur völligen Liberalisierung<br />

der Abtreibung. Der Ausschuß kann in<br />

diesem Fall auf den Einigungsvertrag verweisen, in<br />

dem eine Neuregelung bis 1992 festgelegt worden<br />

ist.<br />

Die FDP-<strong>Bundestag</strong>sfraktion hat im Mai als erste<br />

Fraktion einen Gesetzentwurf eingebracht, der — lassen<br />

Sie mich das dazu sagen — gleichzeitig die beste<br />

der derzeit diskutierten Lösungsmöglichkeiten enthält.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)


2642 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Günther Friedrich Nolting<br />

Wir wollen die Fristenlösung mit obligatorischer Beratung,<br />

aber natürlich auch mit umfassender sozialer<br />

Flankierung. Diese Lösung wird am ehesten dazu führen,<br />

daß sowohl die Abtreibungszahlen sinken als<br />

auch die Betroffenen entkriminalisiert werden.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Meine Damen und Herren, eine entsprechende<br />

Rechtsangleichung soll es auch beim § 175 des Strafgesetzbuches<br />

geben. Für die Abschaffung dieses Paragraphen<br />

gab es ca. 4 000 Unterschriften. Da es sich<br />

hier um eine langjährige Forderung der FDP handelt,<br />

findet diese Petition unsere Unterstützung. Eine entsprechende<br />

Gesetzesinitiative der Bundesregierung<br />

ist in Kürze zu erwarten.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Meine Damen und Herren, der Petitionsausschuß<br />

genießt hohes Ansehen bei unseren Bürgern im<br />

Lande, die in uns ihre Anwälte sehen. Ich will es einmal<br />

so sagen: Der Petitionsausschuß wird als Kum<br />

merkasten der Nation angesehen. Dies ehrt und ist<br />

gleichzeitig Verpflichtung und Ansporn für die Zukunft.<br />

Auch die in diesem Jahr noch einmal enorm<br />

gestiegene Zahl von Eingaben darf uns nicht nachlässig<br />

werden lassen, jeder Petition mit der erforderlichen<br />

Gründlichkeit nachzugehen.<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich mich beim<br />

Ausschußdienst bedanken, der seine Aufgabe, den<br />

der Petition zugrunde liegenden Sachverhalt zu ermitteln<br />

und uns Politikern einen Entscheidungsvorschlag<br />

zu machen, nach wie vor zu unserer vollsten Zufriedenheit<br />

bewältigt.<br />

(Zustimmung bei der FDP, der CDU/CSU<br />

und der SPD)<br />

Dies ist bei einzelnen Petenten, die beinahe wöchentlich<br />

anrufen, wahrhaftig nicht einfach; davon wissen<br />

wir alle, glaube ich, ein Lied zu singen.<br />

Ich möchte mich aber natürlich auch bei den Kolleginnen<br />

und Kollegen aus der eigenen Fraktion, vor<br />

allem aber auch bei den Kolleginnen und Kollegen<br />

aus den anderen Fraktionen für die allseits kollegiale<br />

Zusammenarbeit bedanken. Ich denke, diese Zusammenarbeit<br />

sollte beispielhaft auf andere Ausschüsse<br />

übertragen werden.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />

SPD sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann<br />

[PDS/Linke Liste] — Zuruf von der - SPD)<br />

— Wir dürfen uns ja vielleicht auch einmal selbst<br />

loben.<br />

Meine Damen und Herren, selbst wenn Sie und wir<br />

gelegentlich über die ständig steigende Zahl von Eingaben<br />

stöhnen: Nehmen wir diese steigende Zahl als<br />

gutes Signal, als Zeichen für die Mündigkeit unserer<br />

Bürger, die sich Verwaltungshandeln nicht widerspruchslos<br />

gefallen lassen und die bei politischen Entscheidungsprozessen<br />

mitdenken und Einfluß nehmen<br />

wollen. Ich denke, dies ist ein Zeichen lebendiger<br />

Demokratie.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD<br />

und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Redner<br />

hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.<br />

Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Sehr<br />

geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!<br />

Ich möchte den Bericht und die Tätigkeit des Petitionsausschusses<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es im<br />

Jahre 1990 nicht bewerten. Das Bündnis 90/DIE GRÜ-<br />

NEN war zu diesem Zeitpunkt noch nicht im <strong>Bundestag</strong><br />

vertreten und kann somit die Ausschußarbeit der<br />

11. Legislaturperiode auch nicht beurteilen. Gestatten<br />

Sie mir aber einige Anmerkungen zu Dingen, die ich<br />

als Mitglied des Petitionsausschusses inzwischen aus<br />

eigener Anschauung kenne, hier zu benennen: Dies<br />

ist zum einen die Tätigkeit des Petitionsausschusses in<br />

der ersten Hälfte dieses Jahres, und dies ist zum Zweiten<br />

— hier bin ich als ostdeutscher Abgeordneter sowohl<br />

Betroffener als auch Verantwortlicher — die Lebenssituation<br />

der Menschen in den östlichen Bundesländern.<br />

Die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen<br />

DDR sind mit großen Hoffnungen und großem Vertrauen<br />

den Weg in die Vereinigung der beiden deutschen<br />

Staaten gegangen. Auch das in Art. 17 des<br />

Grundgesetzes verbriefte Grundrecht, sich mit Bitten<br />

und Beschwerden an seine Volksvertretung wenden<br />

zu können, gehörte und gehört zu unseren Vorstellungen<br />

von Demokratie. Gerade nach unseren Erfahrungen<br />

mit einer Scheindemokratie, in der Bürgerinnen<br />

und Bürger, die sich mit Eingaben an staatliche Stellen<br />

wandten, zu Bittstellern degradiert oder sogar als<br />

Staatsfeinde behandelt wurden, wissen wir den hohen<br />

Wert eines solchen Rechtes zu schätzen.<br />

Wie groß die Hoffnungen der Bürgerinnen und Bürger<br />

aus den ostdeutschen Bundesländern auch in bezug<br />

auf das Petitionsrecht sind, zeigt nicht zuletzt die<br />

stetig ansteigende Flut ihrer Eingaben an den Petitionsausschuß.<br />

Dreimal so häufig wie die Bürger im<br />

Westen wenden sich die Menschen aus der ehemaligen<br />

DDR an ihre frei gewählten Volksvertreter mit der<br />

Bitte um Hilfe.<br />

Es ist für den Petitionsausschuß und damit für den<br />

Deutschen <strong>Bundestag</strong> insgesamt eine große Verpflichtung,<br />

dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich<br />

fürchte — das muß ich nach meinen ersten Erfahrungen<br />

mit der Arbeit des Petitionsausschusses leider sagen<br />

— , daß es uns mit den zur Zeit zur Verfügung<br />

stehenden Kapazitäten und Instrumentarien nicht gelingen<br />

kann. Seit Januar beträgt der Posteingang im<br />

Ausschußsekretariat im Tagesdurchschnitt 180 Eingaben.<br />

Das ist eine Zahl, mit der das fleißige und sehr<br />

kompetente Ausschußsekretariat mehr als überfordert<br />

ist.<br />

(V o r sitz : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth)<br />

Eine erhebliche Erhöhung der Anzahl der Arbeitskräfte<br />

in diesem Bereich ist also das mindeste, was wir<br />

zu fordern haben.<br />

Aber auch die Abgeordneten sind mit der Menge<br />

der Eingaben heillos überlastet. Die Zeit, in der wir<br />

uns im Ausschuß jeder einzelnen Petition widmen


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2643<br />

Konrad Weiß (Berlin)<br />

können, wird immer geringer. So habe ich eine <strong>Sitzung</strong><br />

des Petitionsausschusses erlebt, in welcher in<br />

neunzig Minuten einschließlich zweier Anhörungen<br />

und der Beratung über 83 Eingaben, bei denen die<br />

Anträge der Berichterstatter hinsichtlich der Art der<br />

Erledigung übereinstimmten, insgesamt 123 Petitionen<br />

dank der akrobatischen Fähigkeiten unseres Vorsitzenden<br />

behandelt wurden.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und<br />

der SPD)<br />

Von einer intensiven und sachgerechten Prüfung der<br />

Anliegen kann man trotz allen gerechten Bemühens,<br />

das ich allen Beteiligten bescheinige, unter diesen<br />

Umständen nicht mit reinem Gewissen sprechen.<br />

Zweifellos sollten sich mehr Abgeordnete des Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>es, nicht nur jene, die im Petitionsausschuß<br />

ihren Sitz haben, mit den Eingaben der Bürgerinnen<br />

und Bürger befassen und sich verantwortlich<br />

wissen. Vielleicht wäre es sinnvoll, ein Arbeitssekretariat<br />

schon heute in Berlin einzurichten, um so<br />

unmittelbarer auf Petitionen der ostdeutschen Bürgerinnen<br />

und Bürger reagieren zu können und sie unverzüglich<br />

zu beraten.<br />

Jeder von Ihnen, der mit den Eingaben aus Ostdeutschland<br />

befaßt ist, wird mir bestätigen können,<br />

daß in diesen Petitionen zumeist dramatisch verschlechterte<br />

Lebenssituationen und Lebensperspektiven,<br />

häufig individuell nicht lösbare Notsituationen<br />

oder unhaltbare Rechtszustände geschildert werden.<br />

Häufig sind es Menschen, die sich erneut gedemütigt,<br />

deklassiert und unverstanden fühlen. Die Petitionen<br />

belegen an einer Vielzahl von Einzelfällen anschaulich<br />

die ungeheuren Lücken und Mängel des Einigungsvertrages.<br />

Die Berichte über Arbeitslosigkeit,<br />

Lehrstellenmangel, niedrige Löhne und Gehälter,<br />

mangelhafte gesundheitliche Versorgung, den für<br />

viele, insbesondere Alte und Kranke, nicht zu verkraftenden<br />

Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie Probleme<br />

bei der Privatisierung und Fragen des Eigentums<br />

zeigen, wie weit wir tatsächlich von einer sozialen<br />

Einheit in Deutschland entfernt sind.<br />

Angesichts der Zurückhaltung der Bundesregierung,<br />

die Probleme der in ihrer Lebenssituation oftmals<br />

tiefgreifend verunsicherten Bürgerinnen und<br />

Bürger wirklich zur Kenntnis zu nehmen, wäre es eigentlich<br />

angebracht, alle Petitionen aus den ostdeutschen<br />

Ländern mit dem hohen Votum, über das der<br />

Deutsche <strong>Bundestag</strong> verfügt, der Bundesregierung<br />

zur Berücksichtigung zu überweisen, weil Abhilfe<br />

notwendig erscheint.<br />

-<br />

Klar ist: Der Petitionsausschuß allein kann nicht die<br />

Wunden heilen, die die weitgehende Übertragung<br />

des bundesdeutschen Rechtssystems auf die ehemalige<br />

DDR in vielen Bereichen schlägt. Genau dort<br />

aber, wo schnelle, unbürokratische und unkonventionelle<br />

Hilfe gefragt wäre, stößt der Petitionsausschuß<br />

an eine weitere Grenze. Nach Recht und Gesetz<br />

kann in akuten Notlagen oftmals nicht geholfen werden.<br />

Die Rechtslage ist infolge der unreflektierten<br />

Übernahme des westdeutschen Rechtssystems auf<br />

ostdeutsche Verhältnisse nun einmal so. Aber darf das<br />

das letzte Wort des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es sein? Es<br />

ist doch eindeutig, daß es in diesen Fällen nicht mit<br />

einer Darstellung der Rechtslage oder der Vertröstung<br />

auf langwierige Gesetzesinitiativen der Fraktionen<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es getan ist.<br />

Ich möchte Sie deshalb, sehr geehrte Kolleginnen<br />

und Kollegen, darum bitten, mehr Mut zu unkonventionellen<br />

Entscheidungen im Einzelfall zu haben und<br />

häufiger auch dort zugunsten der Petenten zu entscheiden,<br />

wo das Anliegen mit der Rechtslage nicht in<br />

Übereinstimmung zu stehen scheint. Der gesunde<br />

Menschenverstand und Ihr Gerechtigkeitssinn sind<br />

oft eine bessere Richtschnur als gedrucktes Gesetzeswerk.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der<br />

SPD)<br />

Gesetze kann man ändern. Wenn ein Gesetz absolut<br />

keine Ausnahme im Einzelfall zuläßt, müssen die Gesetze<br />

vom Deutschen <strong>Bundestag</strong> in Zukunft vermehrt<br />

mit Härtefallregelungen ausgestattet werden,<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

die es dem Petitionsausschuß ermöglichen, angemessen<br />

zu reagieren.<br />

Zu erwägen ist im Sinne einer demokratischen, unmittelbaren<br />

Einmischung der Bürgerinnen und Bürger<br />

in ihre Angelegenheiten, für die wir in der friedlichen<br />

Revolution eingetreten sind, eine Stärkung der<br />

sogenannten Massenpetitionen. Ich habe viel Sympathie<br />

für den Vorschlag, daß Petitionen, die von mehr<br />

als hunderttausend Menschen unterstützt werden, im<br />

Plenum des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es behandelt werden<br />

müssen und daß Vertreterinnen und Vertreter der<br />

Petitionsgemeinschaft vom Ausschuß angehört werden<br />

sollen. In diesem Sinne liegt dem Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />

übrigens eine Petition zur Stärkung des Petitionsrechts<br />

vor, mit der wir uns im Ausschuß zu bef assen<br />

haben.<br />

Weiterhin möchte ich die Bundesregierung auffordern,<br />

die Petitionen, die ihr vom <strong>Bundestag</strong> zugeleitet<br />

werden, ernster als bisher zu nehmen. Dem Bericht<br />

des Petitionsausschusses entnehme ich, daß dies offenbar<br />

nicht selbstverständlich ist. Ich unterstütze<br />

nachdrücklich den Hinweis des Petitionsausschusses,<br />

daß die Bundesregierung politisch verpflichtet ist, alles<br />

ihr Mögliche zu tun, um den Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es<br />

gerecht zu werden.<br />

Zum Schluß möchte ich die Gelegenheit nutzen, um<br />

die Innenminister der Länder und den Herrn Bundesinnenminister<br />

nachdrücklich darum zu bitten, jene<br />

Bestimmung des Ausländergesetzes rückgängig zu<br />

machen, nach der es möglich ist, trotz laufender Petitionsverfahren<br />

die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber<br />

durchzuführen.<br />

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag<br />

mar Enkelmann [PDS/Linke Liste])<br />

Ohne die Entscheidung eines Landesparlaments oder<br />

des <strong>Bundestag</strong>es abzuwarten, werden hier von der<br />

Exekutive Tatsachen geschaffen, die für die Betroffenen<br />

eine unmittelbare Härte oder einen unakzeptablen<br />

sozialen Abstieg bedeuten können. Ich sehe<br />

hierin eine Verletzung des Art. 17 des Grundgesetzes<br />

und eine Mißachtung der frei gewählten Abgeordneten<br />

durch die Exekutive, die wir nicht hinnehmen<br />

können.


2644 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Konrad Weiß (Berlin)<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der<br />

SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU<br />

und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/<br />

Linke Liste])<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />

Abgeordnete Martin Göttsching das Wort.<br />

Martin Göttsching (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />

Meine Damen und Herren! Genau heute vor einem<br />

Jahr, zeitlich etwas günstiger, wandte ich mich an die<br />

Bürgerinnen und Bürger der Noch-DDR, um ihnen als<br />

Vorsitzender des Petitionsausschusses der Volkskammer<br />

über die Tätigkeit dieses Ausschusses seit den<br />

ersten demokratischen Wahlen zu berichten. Heute<br />

nun, wie gesagt, nach einem Jahr, wende ich mich für<br />

meine Fraktion nicht nur an die ehemaligen Bürger<br />

der DDR, sondern an alle Bürgerinnen und Bürger im<br />

vereinten Deutschland. Ich möchte etwas zu ebenjenem<br />

zur Zeit diskutierten Bericht des Petitionsausschusses<br />

sagen.<br />

Dieser Bericht verdeutlicht nicht nur ein weiteres<br />

Mal die umfangreiche Arbeit des Petitionsbüros und<br />

der Ausschußmitglieder — meine Vorredner haben<br />

darauf intensiv hingewiesen — , sondern in Schwerpunkten<br />

wird auch auf die vielen Sorgen und Nöte der<br />

Bundesbürger eingegangen, die sich eben an diesen<br />

Petitionsausschuß im <strong>Bundestag</strong> richten.<br />

Wenn man den Bericht des Ausschusses liest, so hat<br />

man den Eindruck — ich habe diesen Eindruck —, daß<br />

er ein Spiegelbild all derjenigen ungelösten politischen<br />

und sozialen Probleme ist, die uns gerade aktuell<br />

betreffen und die im vergangenen Jahr, als es zu<br />

jener politischen Veränderung in Deutschland kam,<br />

mit Nachdruck im Petitionswesen zu Buche schlugen<br />

— haben sich doch die Eingaben im vergangenen<br />

Jahr um eine stattliche Zahl erhöht. Wenn von rund<br />

16 500 Eingaben im vergangenen Jahr die Rede ist, so<br />

möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß während meiner<br />

Volkskammerzeit 12 980 Posteingänge beim Petitionsausschuß<br />

zu verzeichnen gewesen sind — für die<br />

kurze Zeit der frei gewählten Volkskammer.<br />

Gerade im Hinblick auf die Bürgerinnen und Bürger<br />

in den neuen Bundesländern sollte die heutige Debatte<br />

gleichzeitig auch dazu dienen, den Inhalt des<br />

Petitionsrechtes und die Zuständigkeiten des Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>es darzustellen. Es ist nämlich für die<br />

Bürger der neuen Länder nicht unbedingt einsichtig,<br />

daß es ein Grundrecht, nach Art. 17 des Grundgesetzes<br />

ein verbrieftes Recht ist, daß sich jedermann einzeln<br />

oder in Gemeinschaft mit anderen -mit Bitten und<br />

Beschwerden auch an den Petitionsausschuß wenden<br />

kann, aber natürlich auch an die anderen Institutionen.<br />

Es sind Forderungen nach einem bestimmten<br />

Verwaltungshandeln oder Vorschläge zur Gesetzgebung,<br />

es sind Beanstandungen von Entscheidungen<br />

staatlicher Stellen, die ein Recht benennen, das es,<br />

jedenfalls in dieser Form, in der ehemaligen DDR<br />

nicht gab. Es gab zwar das Eingabengesetz seit 1975;<br />

dieses Eingabenrecht war jedoch nicht im entferntesten<br />

mit dem Recht nach Art. 17 des Grundgesetzes<br />

vergleichbar. Jeder weiß: Erwünscht waren gesellschaftlich<br />

nützliche und politisch genehme Eingaben.<br />

Ein positives Ergebnis für den Bürger war nur zu er<br />

warten, wenn die Aufdeckung von Mißständen im<br />

ideologischen Interesse der Staatsgewalt der SED lag.<br />

—So habe ich es vor einem Jahr in der Volkskammer<br />

gesagt.<br />

(Zuruf von der SPD: Herr Göttsching, es gab<br />

auch noch andere als die SED! — Horst Peter<br />

[Kassel] [SPD]: Streichen wir das!)<br />

— Streichen wir es.<br />

Zahlreiche Bürger der ehemaligen DDR hatten sich<br />

bereits vor dem Beitritt unmittelbar an den Petitionsausschuß<br />

des <strong>Bundestag</strong>es gewandt. Nach dem Beitritt<br />

gab es natürlich selbstverständlich einen weiteren<br />

Anstieg dieser Zahlen. Dies war ein Zeichen für die<br />

besondere Betroffenheit meiner Mitmenschen in den<br />

neuen Bundesländern durch die staatlichen Maßnahmen<br />

aus alten SED-Zeiten, aber auch durch Rechtsunsicherheiten,<br />

die aus den beiden großen Verträgen<br />

zwischen den Ländern des vergangenen Jahres in<br />

Deutschland herrührten. Sie waren aber auch ein Zeichen<br />

für die großen Erwartungen, die Möglichkeiten<br />

wahrzunehmen, ihrem Parlament ihre Sorgen und<br />

Nöte darzulegen.<br />

Einige Stichworte möchte ich nennen, um das gesamte<br />

Spektrum der Petitionen aus den neuen Bundesländern<br />

zu verdeutlichen. Ich wiederhole mich<br />

nicht und beziehe mich auf das, was zumindest der<br />

Vorsitzende Pfennig hier gesagt hat. Ich möchte auf<br />

eines hinweisen und es ergänzen, wenn es zum<br />

Thema „Vergangenheitsbewältigung" auch unter<br />

dem Stichwort „Lastenausgleich" etwas zu sagen gilt.<br />

Dieser Lastenausgleich betrifft etwa 1,5 Millionen<br />

Menschen in den neuen Bundesländern. Über<br />

600 Einzelpetitionen liegen vor. Der Ausschuß ist der<br />

Auffassung, daß die Petitionen für eine parlamentarische<br />

Initiative geeignet sind. Er hat daher die Eingaben<br />

den Fraktionen zur Kenntnis zugeleitet und erwartet<br />

hierzu entsprechende Initiativen.<br />

Es gibt andere persönliche Probleme, mit denen<br />

man sich an den Petitionsausschuß gewandt hat, die<br />

aber schon von meinen Vorrednern erwähnt worden<br />

sind. Wenn ich noch einmal darauf Bezug nehme,<br />

dann nicht, um den Be richt quasi zu ergänzen, sondern<br />

weil ich sehe, daß aus all dem ein Problem für die<br />

Arbeit des Petitionsausschusses entstehen könnte,<br />

denn dieser Ausschuß ist kein unpolitischer Ausschuß.<br />

Seine Mitglieder sind natürlich in die Willensbildung<br />

der Fraktionen eingebunden. Gerade im Petitionsausschuß<br />

weiß ich es zu schätzen, daß wir immer wieder<br />

bestrebt sind, einen Konsens zwischen den Fraktionen<br />

zu finden, wobei manchmal auch die Mehrheit<br />

der Regierungskoalition entscheidet.<br />

Sehe ich mir die Statistik an, so stelle ich fest, daß<br />

eine ganze Reihe von Petitionen zur Berücksichtigung<br />

überwiesen worden sind. Meine Damen und<br />

Herren, Sie wissen, der Berücksichtigungsbeschluß ist<br />

das stärkste Votum des Parlaments. Dies muß die Bundesregierung<br />

konsequenter umsetzen. Der Petitionsausschuß<br />

hat das Verhalten der Bundesregierung<br />

manchmal kritisiert, und zwar auch in den früheren<br />

Jahren. Jetzt hätte ich erwartet, daß der Kollege Peter<br />

intensiver zuhört. Im 9. Bericht wurde es kritisiert:


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2645<br />

Martin Göttsching<br />

zuwenig zur Berücksichtigung, zuwenig an Konsequenzen<br />

seitens der Bundesregierung.<br />

(Bernd Reuter [SPD]: Sie spuren einfach<br />

nicht!)<br />

— Herr Reuter, erst warten, was ich sage!<br />

Der Ausschuß verkennt nicht, daß die Bundesregierung<br />

Berücksichtigungsbeschlüssen überwiegend gefolgt<br />

ist. Dieser Be richt ist es bei allem Für und Wider<br />

und auch bei den „Verbalitern" aus der SPD wert, die<br />

besondere Achtung auch all der Kollegen, die nicht<br />

hier sind, auf jeden Fall aber die Wertschätzung der<br />

Öffentlichkeit zu finden.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die<br />

Abgeordnete Lisa Seuster das Wort.<br />

Lisa Seuster (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,<br />

liebe Kollegen! Als ich den Petitionsbericht<br />

bearbeitet habe, ist mir aufgefallen, daß wir sehr fleißig<br />

waren. Wenn ich daran denke, daß unabhängig<br />

von dem Berichtszeitraum ja auch noch der Zeitraum,<br />

in dem der <strong>Bundestag</strong> nicht getagt hat, weil eine<br />

Pause für den Wahlkampf angesetzt war, zu berücksichtigen<br />

ist, dann ist schon eine Menge passiert. Die<br />

Zahl der Eingaben hat sich in dem Berichtszeitraum,<br />

nicht zuletzt bedingt durch den Beitritt der neuen Länder,<br />

erheblich gesteigert. Die Mitglieder des Ausschußbüros<br />

hatten wesentlich mehr zu tun, um erst<br />

einmal die Spreu vom Weizen zu trennen.<br />

Etwa die Hälfte der eingegangenen Petitionen<br />

konnten im Vorfeld durch Auskünfte, durch Überweisung<br />

an die zuständigen Stellen, durch Übersendung<br />

von Informationsmaterial usw. erledigt werden, ohne<br />

daß überhaupt Berichterstatter eingesetzt werden<br />

mußten. Ich denke, daß diese Vorarbeit, die dort geleistet<br />

wird, Vor- und Nachteile hat. Manche Petitionen<br />

hätten wir sicher gern im Ausschuß behandelt. Nur ist<br />

das bei der Fülle von Petitionen nicht möglich. Deshalb<br />

sind wir dankbar, wenn im Vorfeld zumindest<br />

einige Petenten insofern zufriedengestellt werden<br />

konnten, als diese Tätigkeit durch das Ausschußbüro<br />

erfolgt.<br />

Aber auch die Mitglieder des Petitionsausschusses<br />

mußten Mehrarbeit hinnehmen und mehr Zeit aufwenden.<br />

Zur Mehrarbeit führten jedoch nicht nur die<br />

Petitionen aus den neuen Ländern; insgesamt sind es<br />

einfach mehr Petitionen geworden. Wer seine Arbeit<br />

ernst nimmt und eventuell auch mehrere Stunden in<br />

der Woche mit der Bearbeitung von Petitionen zubringt,<br />

der wird sich darüber nicht beklagen. Nur: Wir<br />

erwarten, daß die Ergebnisse dieser Beratungen<br />

-<br />

von<br />

der Bundesregierung dann auch ernstgenommen<br />

werden. Auch in diesem Be richt wird wie in dem vorigen<br />

Bericht — meine Vorredner sind schon darauf<br />

eingegangen — deutlich, daß es bei Berücksichtigungsüberweisungen<br />

oder bei Erwägungsüberweisungen<br />

oft dazu gekommen ist, daß die Bundesregierung<br />

den Vorschlägen nicht gefolgt ist. Mein Kollege<br />

Reuter wird das noch näher erläutern.<br />

(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Dann muß<br />

der viel sagen!)<br />

Nur soviel: Es reicht uns nicht, wenn wir hier, wie<br />

auch heute, gemeinsam unsere Arbeit loben. Wir wol<br />

len im Interesse der Petenten ernstgenommen werden.<br />

Der Petitionsausschuß hat es nicht verdient, als<br />

Spielwiese für einige gutmütige Trottel abgewertet zu<br />

werden, deren Arbeit nur eine Alibifunktion in der<br />

Öffentlichkeit hat.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Das Gegenteil sollte der Fall sein. Die Bundesregierung<br />

täte gut daran, die Petitionen der Bürgerinnen<br />

und Bürger sorgfältig zu beobachten; denn sie sind<br />

ein Seismograph für die Stimmung im Land. Petitionen<br />

zeigen genau, wo die Schwachstellen in Gesetzeswerken<br />

stecken. Außerdem kann man an ihnen<br />

ablesen, wie die Stimmung im Lande ist. Der Ton der<br />

Petitionen der letzten Jahre ist durchweg ungeduldiger<br />

und auch fordernder als in früheren Zeiten. Das<br />

empfinde jedenfalls ich so. Das sind Zeichen, die die<br />

Bundesregierung nicht leichtfertig übersehen sollte.<br />

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Jawohl!)<br />

Dies zeigt sich z. B. bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten.<br />

Viele Petenten wandten sich<br />

dagegen, daß sich die Kindererziehungszeiten deswegen<br />

nicht in der erhofften Höhe rentensteigernd auswirkten,<br />

weil sie mit anderen rentenrechtlich anerkannten<br />

Arbeitszeiten zusammentrafen und deshalb<br />

nicht oder nur in einem geringfügigen Umfang berücksichtigt<br />

wurden.<br />

Wir erinnern uns an die laute Ankündigung des<br />

Bundesarbeitsministers: Jede Mutter hat Anspruch<br />

auf die Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der<br />

Rente. Dies hat die Bevölkerung vernommen, und entsprechend<br />

war auch die Erwartungshaltung. Deshalb<br />

ist es nicht verwunderlich, wenn sich insbesondere<br />

viele Petentinnen an den Petitionsausschuß wenden,<br />

um Abhilfe zu suchen, weil sie der Meinung sind, daß<br />

sie ungerecht behandelt werden.<br />

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Man kann der<br />

Bundesregierung nicht alles glauben!)<br />

Bei dem anstehenden Renten-Überleitungsgesetz<br />

für die neuen Bundesländer müssen deshalb die erworbenen<br />

Kindererziehungszeiten von vornherein<br />

berücksichtigt werden. Sonst wird es auch dort eine<br />

Flut von Petitionen geben, da sich die Frauen ungerecht<br />

behandelt fühlen, und zwar, wie ich meine, zu<br />

Recht. Hier können wir vorbeugen, um uns nachher<br />

viel Arbeit zu ersparen.<br />

Viele Eingaben betrafen den Familienlastenausgleich.<br />

Dazu gab es auf Grund des Beschlusses des<br />

Bundesverfassungsgerichts auch eine Massenpetition<br />

mit 324 Unterschriften. Der Petitionsausschuß hat der<br />

Bundesregierung zu verstehen gegeben, daß eine Erhöhung<br />

des seit 1975 in unverminderter Höhe geltenden<br />

Erstkindergelds familien- und sozialpolitisch<br />

wünschenswert wäre. Der Petitionsausschuß unterstützt<br />

auch grundsätzliche Überlegungen, den Familienlastenausgleich<br />

einfacher und übersichtlicher zu<br />

gestalten.<br />

Das ist sicher nur ein Minimalkonsens, liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen. Ich habe gehört, daß sich in dieser<br />

Richtung etwas bewegt. Uns als Fraktion ist das<br />

selbstverständlich zuwenig. Wir sind der Meinung:


2646 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Lisa Seuster<br />

Man sollte hier dem Bundesverfassungsgericht folgen.<br />

(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />

Neu waren im Berichtszeitraum die Petitionen, die<br />

im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden<br />

deutschen Staaten standen. Die meisten Petitionen<br />

— jedenfalls bei denen, die ich bearbeitet habe —<br />

drehten sich um Immobilienbesitz, um Grundstücke<br />

u. ä. Welche Emotionen sich in solchen Fällen entwikkeln,<br />

möchte ich an Hand einer Petition deutlich machen.<br />

Der Petent spricht sich gegen die Anerkennung<br />

der Oder-Neisse-Grenze aus. Falls diese Grenze jedoch<br />

rechtsverbindlich anerkannt werden sollte, fordert<br />

er, in Zahlen ausgedrückt, 1 000 000 DM und fügt<br />

in Klammern hinzu „in Buchstaben: eine Million".<br />

Das fordert er als Entschädigung für seinen Bauernhof.<br />

Es fehlt eigentlich nur noch, daß er bittet, diesen<br />

Betrag innerhalb von vier Wochen auf sein Konto zu<br />

überweisen.<br />

Wir haben diese Petition — wie viele andere<br />

auch — an den Finanzminister überwiesen und den<br />

Fraktionen zur Kenntnis gegeben. Hier gerechte Lösungen<br />

zu finden wird für den Gesetzgeber nicht einfach<br />

sein und wird uns, den Mitgliedern des Petitionsausschusses,<br />

bei der Beurteilung der Einzelfälle noch<br />

viel Kopfzerbrechen bereiten.<br />

Das gleiche gilt für die Rentenanpassung in den<br />

neuen Ländern. Auch hier wird es mit Sicherheit im<br />

Einzelfall noch viele Beschwerden und Bitten geben,<br />

die uns erreichen werden. Herr Kollege Weiß vom<br />

Bündnis 90 sagte dazu vorhin: Wir sollten es gleich<br />

ändern. So einfach stelle ich mir das nicht vor. Aber<br />

ich wäre froh, wenn wir ab und zu wenigstens die<br />

Klausel „im Härtefall" hätten. Dann wäre uns in vielen<br />

Fällen schon geholfen.<br />

(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />

Auch Umweltfragen nahmen einen breiten Raum in<br />

unseren Beratungen ein. Die Schwerpunkte der Eingaben<br />

lagen in den Bereichen Luftverunreinigung,<br />

Abfallbeseitigung, Kernenergie und Artenschutz. In<br />

mehreren Eingaben — u. a. einer Sammelpetition —<br />

wurde ein sofortiges Verbot der Herstellung und des<br />

Verbrauchs von FCKW gefordert. Hier gab es unterschiedliche<br />

Voten von Koalition und Opposition. Die<br />

Petition wurde daraufhin zur weiteren Bearbeitung<br />

— das war ein einstimmiges Votum — an die Enquete-Kommission<br />

„Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre"<br />

überwiesen.<br />

Beanstandet wurde auch der Einsatz von Herbiziden<br />

auf Gleisanlagen der Deutschen Bundesbahn.<br />

Nach zähen Verhandlungen, Anhörungen, nochmaligen<br />

Stellungnahmen usw. konnte sich der Petitionsausschuß<br />

gegenüber der Bahn durchsetzen. Die Petition<br />

wurde der Bundesregierung zur Berücksichtigung<br />

überwiesen. Die tatsächliche Umsetzung werden<br />

wir jedoch aufmerksam verfolgen müssen. Diesen<br />

Fall hat insbesondere unser ausgeschiedener Kollege<br />

Dr. Emmerlich bearbeitet.<br />

Auch im letzten Jahr konnte der Ausschuß erfreulicherweise<br />

zahlreichen Petenten im Einzelfall helfen.<br />

Zum Beispiel erhofften sich zahlreiche Versicherungsnehmer<br />

und Bankkunden durch eine Petition die Klärung<br />

ihrer Auseinandersetzungen mit Versicherungsunternehmen<br />

und Kreditinstituten. Ich habe viele<br />

Fälle bearbeitet, bei denen die Unerfahrenheit oder<br />

auch die Gutgläubigkeit von Bankkunden böswillig<br />

ausgenutzt wurden. Leider hat der <strong>Bundestag</strong> in diesen<br />

Fällen keine Möglichkeit der direkten Einwirkung.<br />

Auf dem Kulanzweg ist es uns aber in manchen<br />

Fällen gelungen, zu einem Vergleich zu gelangen.<br />

All diese Fälle zeigen jedoch deutlich: Hier besteht<br />

eine Gesetzeslücke. Auch Privatleuten müßte die<br />

Möglichkeit eines persönlichen Konkurses eröffnet<br />

werden. Ich glaube, dann wäre die Überschuldung<br />

gar nicht so groß geworden.<br />

Erreichen konnte der Petitionsausschuß auch, daß<br />

die Krankenkasse die Kosten eines Kuraufenthaltes<br />

am Toten Meer übernommen hat. Das war nach dem<br />

Gesundheits-Reformgesetz an und für sich ausgeschlossen.<br />

Auch im Rentenbereich gelang es dem Petitionsausschuß<br />

in Einzelfällen, die Bearbeitungszeiten zu verkürzen<br />

und eine Nachzahlung zu erreichen. In einem<br />

anderen Fall konnte die Nachentrichtung von Beiträgen<br />

ein Anrecht auf eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente<br />

bewirken.<br />

Auch bei der Bewilligung von Umschulungsmaßnahmen<br />

und bei Höhergruppierungen in der Bundesverwaltung<br />

war der Petitionsausschuß erfolgreich.<br />

Erfreulicherweise ließe sich diese Liste noch erheblich<br />

verlängern. Das war nur dank der guten Zusammenarbeit<br />

innerhalb des Ausschusses möglich. Wenn<br />

wir diese gute Zusammenarbeit und den festen Willen<br />

behalten, für den Petenten im Einzelfall etwas zu erreichen,<br />

dann hat sich unsere Arbeit gelohnt.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die<br />

Abgeordnete Frau Birgit Homburger das Wort.<br />

Birgit Homburger (FDP) : Frau Präsidentin! Liebe<br />

Kolleginnen und Kollegen! Der Be richt des Petitionsausschusses<br />

aus dem Jahre 1990 beweist einmal<br />

mehr, wie wichtig und wie richtig es von den Müttern<br />

und Vätern des Grundgesetzes gewesen ist, das Petitionsrecht<br />

der Bürgerinnen und Bürger in Art. 17 des<br />

Grundgesetzes zu verankern. Damit ist der Petitionsausschuß<br />

neben dem Auswärtigen Ausschuß und dem<br />

Verteidigungsausschuß einer von drei Ausschüssen,<br />

die im Grundgesetz Erwähnung finden. Im Gegensatz<br />

zu den anderen Ausschüssen müssen diese drei Ausschüsse<br />

vom Deutschen <strong>Bundestag</strong> also immer eingesetzt<br />

werden.<br />

Dies hebt noch einmal die Bedeutung hervor, die<br />

die Verfasser des Grundgesetzes dem Petitionsrecht<br />

beimaßen. Ich denke, wir tun gut daran, dem Petitionsausschuß<br />

diese hohe Wertschätzung auch heute<br />

noch — oder aber gerade heute — entgegenzubringen.<br />

Denn nach Vollendung der deutschen Einheit<br />

finden wir uns in einer Situation wieder, in der vieles<br />

noch im Umbruch ist, in der vieles, gerade in den<br />

neuen Bundesländern, verwaltungsmäßig noch im<br />

Aufbau ist. Das heißt: Wir finden uns in einer Situation


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2647<br />

Birgit Homburger<br />

wieder, in der vieles unvollkommener ist als sonst und<br />

damit Anlaß zu Eingaben an den Petitionsausschuß<br />

gibt.<br />

Der Petitionsausschuß ist nicht etwa ein Überausschuß,<br />

wie das hier heute schon gesagt wurde, aber er<br />

ist — im Gegensatz zu den anderen Ausschüssen des<br />

Deutschen <strong>Bundestag</strong>es — fachübergreifend tätig.<br />

Schließlich kommen Petitionen aus der Bevölkerung<br />

aus allen Sachbereichen, und damit hat sich der <strong>Bundestag</strong><br />

zu befassen.<br />

Die große Anzahl von Auskunftsersuchen, bloßen<br />

Mitteilungen und Meinungsäußerungen ohne materielles<br />

Verlangen, die an den Petitionsausschuß gerichtet<br />

sind, gibt Veranlassung, aus unserer Sicht auch<br />

an dieser Stelle erneut zu verdeutlichen, mit welchen<br />

Anliegen man sich an den Petitionsausschuß wenden<br />

kann:<br />

Art. 17 des Grundgesetzes legt fest, daß jeder das<br />

Recht hat, „sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen<br />

schriftlich mit Bitten oder Beschwerden" an den<br />

<strong>Bundestag</strong> zu wenden. Bitten sind dabei Forderungen<br />

und Vorschläge für ein Handeln oder Unterlassen der<br />

Verwaltung, insbesondere aber auch Vorschläge zur<br />

Gesetzgebung. Beschwerden dagegen sind Beanstandungen,<br />

die sich auf ein Handeln oder Unterlassen<br />

von staatlichen Organen, Behörden oder sonstigen<br />

Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen,<br />

richten. Der Petitionsausschuß kann also nur<br />

im Falle von Bitten und Beschwerden tätig werden.<br />

Ein Problem des Petitionsausschusses besteht nach<br />

wie vor darin, daß Ersuche des <strong>Bundestag</strong>es in Form<br />

von Berücksichtungsbeschlüssen die Bundesregie<br />

rung rechtlich nicht verpflichten können, dem Ersuchen<br />

zu entsprechen. So ist auch dem Be richt 1990 zu<br />

entnehmen, daß einigen Berücksichtigungs- und Erwägungsüberweisungen<br />

an die Bundesregierung im<br />

Berichtsjahr 1990 wieder nicht entsprochen wurde.<br />

Insgesamt gesehen kann aber festgehalten werden,<br />

daß die Bundesregierung den Beschlüssen und Bitten<br />

des <strong>Bundestag</strong>es in der überwiegenden Zahl der Fälle<br />

nachgekommen ist. So wurden im Berichtsjahr 1990<br />

vom <strong>Bundestag</strong> 90 Petitionen zur Berücksichtigung<br />

und 85 zur Erwägung überwiesen. Hiervon wurden<br />

während des Berichtszeitraums 28 Berücksichtigungs-<br />

und 5 Erwägungsfälle positiv erledigt. In 5 Berücksichtigungs-<br />

und 17 Erwägungsfällen wurde dem<br />

Anliegen nicht entsprochen. In den weiteren Fällen ist<br />

noch nicht abschließend entschieden.<br />

Dies zeigt nach Meinung der FDP, daß die - Bundesregierung<br />

durchaus Respekt vor der Arbeit des Petitionsausschusses<br />

hat. Es zeigt aber auch, daß es nach<br />

wie vor verbesserungswürdig ist, in welcher Weise die<br />

Bundesregierung den Bitten und Ersuchen des Petitionsausschusses<br />

bzw. den daraus folgenden Beschlüssen<br />

des <strong>Bundestag</strong>es nachkommt.<br />

Dies ist von besonderer Bedeutung, da es sicherlich<br />

Eingaben an den Petitionsausschuß gibt, die nicht von<br />

großem öffentlichen Interesse sind. Gleichwohl sind<br />

sie für den Petenten von herausragender Bedeutung,<br />

und jede Bürgerin und jeder Bürger haben den Anspruch<br />

und das Recht, mit ihren persönlichen Nöten<br />

und Sorgen vom Petitionsausschuß ernst genommen<br />

zu werden.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD<br />

und der PDS/Linke Liste)<br />

Wir sollten auch weiter, wie es bisher der Fall ist,<br />

deutlich machen, daß die Anliegen der Petenten unsere<br />

Anliegen sind. Indem wir das tun, ermuntern wir<br />

die Menschen, mit ihren Sorgen und Nöten zum Petitionsausschuß<br />

zu kommen. Dies ist nicht nur für den<br />

einzelnen in unserer Gesellschaft, sondern auch für<br />

unser Parlament von besonderer Bedeutung; denn die<br />

Eingaben der Bürgerinnen und Bürger sind ein Spiegel<br />

der Meinungen und Sorgen der Bevölkerung und<br />

können daher dem Parlament als Stimmungsbarometer<br />

dienen.<br />

Einige Beispiele aus der Arbeit des Petitionsausschusses<br />

aus dem Jahr 1990 möchte ich erwähnen,<br />

zunächst einen Fall, bei dem es um die Förderung von<br />

Ersatzmethoden für Tierversuche ging.<br />

Nach Auffassung der FDP gilt: Tiere sind Mitgeschöpfe<br />

des Menschen und schmerzempfindliche Lebewesen.<br />

(Bernd Reuter [SPD]: Sehr wahr!)<br />

Um dieser Tatsache gerecht zu werden, ist in den vergangenen<br />

Jahren schon eine Menge passiert: So<br />

wurde im Bürgerlichen Gesetzbuch die formale<br />

Gleichstellung von Tieren mit Sachen beseitigt und<br />

die Verantwortung des Eigentümers für sein Tier hervorgehoben.<br />

Darüber hinaus wurde das Tierschutzgesetz<br />

im Jahr 1986 novelliert. Dennoch ist damit die<br />

Problematik von Tierversuchen nicht erledigt. Vielmehr<br />

bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, um Tierversuche<br />

weiter einzuschränken.<br />

Die FDP will, daß nur medizinisch unvermeidbare<br />

Tierversuche durchgeführt werden. Daher begrüßen<br />

wir die Arbeit der Zentralstelle zur Erfassung und<br />

Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu<br />

Tierversuchen. Für diese Institution waren, damit sie<br />

ihre Aufgabe wahrnehmen kann, 14 Planstellen vorgesehen.<br />

Inzwischen sollten diese Planstellen aber<br />

nicht mehr gewährt werden. Daher erfolgte eine Petition<br />

dahingehend, daß der Petitionsausschuß sich dafür<br />

einsetzen solle, diese 14 Planstellen zu schaffen,<br />

damit bei dieser Koordinationsstelle des Bundesgesundheitsamts<br />

noch einmal Erkenntnisse und Alternativen<br />

zu Tierversuchen nutzbar gemacht werden<br />

können.<br />

Die vom Petitionsausschuß eingeholte Stellungnahme<br />

des Haushaltsausschusses ergab, daß bisher<br />

zehn Planstellen vorgesehen waren und der Haushaltsausschuß<br />

die vier weiteren Planstellen nicht für<br />

notwendig erachte. Der Petitionsausschuß schloß sich<br />

dieser Meinung nicht an und unterstützte die Forderung<br />

des Bundesgesundheitsamts auf Bewilligung der<br />

in der ursprünglichen Planung vorgesehenen 14 Stellen.<br />

Nach einer Befragung der Bundesregierung bewilligte<br />

diese für das Haushaltsjahr 1991 vier weitere<br />

Planstellen. Das ist ein weiterer Erfolg im Engagement<br />

gegen unnötige Tierversuche, der durch den Peti-


2648 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Birgit Homburger<br />

tionsausschuß erreicht wurde und der von der FDP<br />

sehr begrüßt wird.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU und der SPD)<br />

Anlaß für eine weitere Petition war das nach wie vor<br />

durchgeführte sogenannte „Schärfen" von Jagdhunden<br />

an lebendem Wild. Hier wurde eine Änderung<br />

des Tierschutzgesetzes dahingehend gefordert, daß<br />

dies zu untersagen ist. Im Grundsatz darf zwar kein<br />

Tier auf ein anderes gehetzt werden; jedoch gilt dies<br />

nicht für die Grundsätze waidgerechter Jagdausübung.<br />

Diese Einschränkung sollte nach dem Wunsch<br />

der Petenten gestrichen werden.<br />

Eine Anhörung der Verbände und des BML ergab,<br />

daß die Ausbildung von Jagdhunden an lebendem<br />

Wild gesetzlich nicht vorgeschrieben, sondern verbandsintern<br />

geregelt ist und sowohl in mehreren Bundesländern<br />

als auch in etlichen europäischen Ländern<br />

verboten ist.<br />

Der Petitionsausschuß schloß sich dem Anliegen der<br />

Tierschützer an und überwies die Eingabe an die Bundesregierung.<br />

Eine Antwort von dort steht noch aus.<br />

Die FDP hofft, daß sie für die Petenten ausfällt.<br />

Eine weitere Eingabe betraf Straftaten gegen die<br />

sexuelle Selbstbestimmung. Auch über dieses Thema<br />

wurde mehrmals diskutiert. Hier unterbreitete ein Petent<br />

Vorschläge zum Entwurf eines Gesetzes über die<br />

Strafbarkeit der Vergewaltigung und der sexuellen<br />

Nötigung in der Ehe. Die SPD hatte bereits in einem<br />

Gesetzentwurf vorgeschlagen, das Wort „außerehelich"<br />

zu streichen, damit das Gesetz auch in der Ehe<br />

zur Anwendung käme. Der <strong>Bundestag</strong> lehnte diesen<br />

Entwurf jedoch deshalb ab, weil er der Meinung war,<br />

es müsse eine konsequente Neuregelung dieser Vorschriften<br />

erfolgen, und es genüge nicht, das Wort<br />

„außerehelich" zu streichen.<br />

(Widerspruch bei der SPD — Horst Peter<br />

[Kassel] [SPD]: Das haben Sie jetzt aber<br />

schöngeredet!)<br />

— Wir können gern hinterher noch darüber diskutieren,<br />

welche Gründe zur Ablehnung geführt haben.<br />

Aber unserer Ansicht nach waren das die Gründe, mit<br />

denen es abgelehnt wurde.<br />

Der Petitionsausschuß jedenfalls ersuchte die Bundesregierung<br />

daher, einen Gesetzentwurf vorzulegen.<br />

Der Fachminister teilte dem Ausschuß mit, daß<br />

ein entsprechender Regierungsentwurf bisher nicht in<br />

die parlamentarischen Beratungen einbezogen werden<br />

konnte, da es hierbei Bedenken wegen - der Auswirkungen<br />

des Vorhabens auf § 218a Abs. 2 Nr. 2 des<br />

Strafgesetzbuches gäbe.<br />

(Zuruf von der SPD: Richtig, das war der<br />

Grund!)<br />

Die FDP allerdings erwartet, daß ein Gesetz, das Vergewaltigung<br />

in der Ehe unter Strafe stellt, nun<br />

schnellstmöglich dem <strong>Bundestag</strong> vorgelegt wird, und<br />

ich begrüße es, aus dem Justizministerium zu hören,<br />

ein solcher Entwurf sei in Vorbereitung.<br />

(Beifall bei der FDP, der SPD, dem Bündnis<br />

90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste)<br />

Eine weitere Eingabe befaßte sich mit einem Rentenanerkennungsverfahren.<br />

Hier geriet ein Petent<br />

durch die überlange Bearbeitungszeit seines Antrags<br />

auf Berufsunfähigkeitsrente in eine finanzielle Notlage.<br />

Dem Petitionsausschuß gelang es, durch Einschaltung<br />

des Bundesversicherungsamtes und anderer<br />

Stellen, das Verfahren zu beschleunigen, so daß<br />

dem Petenten eine Rente sowie eine größere Nachzahlung<br />

zuerkannt werden konnten. Dies ist ein Beispiel,<br />

wie ein Bürger ohne Verschulden in erhebliche<br />

Not geraten ist. Hier konnte der Petitionsausschuß<br />

erfolgreich helfen. Dieses Beispiel sollte meiner Meinung<br />

nach Aufmunterung für all jene sein, die mit<br />

ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.<br />

(Beifall bei der FDP, der SPD und beim Bünd<br />

nis 90/GRÜNE)<br />

Der Petitionsausschuß befaßte sich aber auch mit<br />

Petitionen aus dem Bereich des Bundesministeriums<br />

für Post und Telekommunikation. So betraf eine Eingabe<br />

die neue Dienstbekleidung der Postbeamten.<br />

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Jetzt kommt die<br />

Satire!)<br />

In dieser Petition ging es um die Verpflichtung zum<br />

ausschließlichen Tragen von neu eingeführter Postkleidung<br />

ab dem 1. Januar 1991. Der Petent fühlte<br />

sich in seiner freien Entfaltung gehindert, da er die<br />

von ihm zu einem Drittel mitfinanzierte alte Dienstkleidung<br />

nicht mehr nutzen könne und nun, nur um<br />

ein einheitliches Bild der Post herzustellen, mit neuen<br />

Anschaffungskosten belastet werde.<br />

(Zuruf von der SPD: Lederhosen in Bay<br />

ern!)<br />

— Die können wir gern in Bayern einführen; vielleicht<br />

gibt es dazu eine Eingabe an den Petitionsausschuß.<br />

Nach Auffassung des Petitionsausschusses sollte<br />

die Effizienz der Leistung der Post an erster Stelle stehen<br />

und geringfügig unterschiedliche Bekleidung<br />

nicht so sehr ins Gewicht fallen. Außerdem appellierte<br />

der Ausschuß an die Grundsätze der Sparsamkeit. Das<br />

Bundesministerium für Post und Telekommunikation<br />

hat daraufhin immerhin die Frist zum Auftragen der<br />

bisherigen Dienstkleidung bis zum 31. Dezember<br />

1991 verlängert.<br />

(Zuruf von der FDP: Wahnsinniger Fort<br />

schritt!)<br />

— Ein Riesenfortschritt!<br />

Die Kombination alter und neuer Dienstbekleidungsstücke<br />

wurde jedoch auf bestimmte Teile beschränkt.<br />

Aus unserer Sicht ist das nur ein Teilerfolg<br />

(Manfred Richter [Bremerhaven] [FDP]: Nur<br />

der rechte Ärmel!)<br />

—das kann ich nicht beurteilen; ich müßte es nachlesen,<br />

Herr Richter — , denn nach Auffassung der FDP ist<br />

die Post ein modernes Dienstleistungsunternehmen<br />

oder sollte es jedenfalls sein.<br />

(Zuruf von der FDP: Sollte es sein! — Bernd<br />

Reuter [SPD]: Das letztere war richtig!)<br />

— Einigen wir uns darauf: Sie sollte es sein.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2649<br />

Birgit Homburger<br />

Dies wird allerdings nicht dadurch erreicht, daß einheitliche<br />

Uniformen getragen werden. Es scheint uns<br />

fraglich, ob dies überhaupt notwendig ist.<br />

Ein weiterer Punkt, der die Post betraf, betraf Nebentätigkeiten<br />

von Postbediensteten im Versicherungswesen.<br />

In dieser Petition wird die Nebentätigkeit<br />

von Bediensteten der Bundespost als Vertrauensleuten<br />

für eine Postversicherung gerügt. Daneben<br />

werde auch das Datenschutzgesetz verletzt, da Daten<br />

von Auszubildenden an die Versicherung weitergegeben<br />

wurden.<br />

Der Petitionsausschuß vertrat nach Prüfung der Angelegenheit<br />

die Ansicht, daß, selbst wenn die Versicherung<br />

als Selbsthilfeeinrichtung der Post anerkannt<br />

sei, die Post den Anschein vermeiden müsse, als<br />

würde sie die geschäftlichen Interessen dieser Einrichtung<br />

vertreten. Zur Adressenweitergabe vertrat<br />

der Ausschuß die Meinung, daß Berufsanfänger zumindest<br />

unterschwellig eine Verbindung zwischen<br />

Einstellung und Beitritt in die Versicherung herstellen<br />

könnten und es daher unerheblich sei, daß die Adressenweitergabe<br />

zulässig sei.<br />

Im übrigen befand der Ausschuß, daß das Verständnis<br />

in der Bevölkerung für Beamte, die in ihrer Dienstzeit<br />

einer Nebentätigkeit nachgehen, nicht vorhanden<br />

sei.<br />

Nach der Berücksichtigungsüberweisung teilte der<br />

Bundesminister für Post und Telekommunikation mit,<br />

daß die Vertrauensleute strengstens angewiesen worden<br />

sind, auf die Einhaltung der vorgegebenen Grenzen<br />

zu achten, um die Nebentätigkeit nur außerhalb<br />

der Dienstzeit und außerhalb von Diensträumen auszuüben.<br />

Ich denke, es ist nur recht und billig, daß der<br />

Bundesminister für Post und Telekommunikation dieser<br />

Forderung nachkam.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn die<br />

Mitglieder des Petitionsausschusses gelegentlich über<br />

den hohen Arbeitsaufwand stöhnen — wir haben das<br />

heute abend schon mehrfach gehört — und durch die<br />

Beschäftigung mit Einzelfällen teilweise sehr in Anspruch<br />

genommen werden, so bleibt, denke ich, zum<br />

Schluß zu sagen, daß der Petitionsausschuß ein gutes<br />

Beispiel aktiver Demokratie ist, der den Respekt aller<br />

im Parlament verdient.<br />

Ich möchte abschließend noch einmal alle Bürgerinnen<br />

und Bürger, die in irgendeiner Weise Anliegen,<br />

die als Bitten oder Beschwerden zu bezeichnen sind,<br />

haben, ermuntern, sich an den Petitionsausschuß zu<br />

wenden. Denn so haben wir Gelegenheit, dem „Teufel<br />

im Detail" abzuhelfen.<br />

Danke.<br />

-<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat die<br />

Abgeordnete Frau Dr. Dagmar Enkelmann.<br />

Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Frau<br />

Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rednerliste<br />

zu dieser Debatte spricht nicht gerade für ein Bemühen<br />

um Gleichstellung von weiblichen und männlichen<br />

Abgeordneten.<br />

(Bernd Reuter [SPD]: Das ist richtig! Zu viele<br />

Frauen! — Günther Friedrich Nolting [FDP]:<br />

Das können Sie uns nicht vorwerfen! — Stef<br />

fen Kampeter [CDU/CSU]: Die Frau Kollegin<br />

Dempwolf wird noch sprechen!)<br />

Aber das nur als Einstieg.<br />

Ich möchte zu Beginn meiner Rede ebenfalls die<br />

Gelegenheit nutzen, aus Anlaß der Debatte um den<br />

Jahresbericht des Petitionsausschusses den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern des Ausschußdienstes für<br />

ihre oftmals sehr mühevolle, aufwendige Arbeit Dank<br />

zu sagen. Ich möchte gleichfalls ein Wort über die<br />

sachliche, zumeist konstruktive Zusammenarbeit im<br />

Ausschuß selbst verlieren. Das hebt sich wohltuend<br />

von manchen Plenardebatten, die im <strong>Bundestag</strong> geführt<br />

werden, ab.<br />

(Bernd Reuter [SPD]: Das ist wahr!).<br />

Ich wünschte mir — ebenso wie mein Kollege Nolting<br />

— eine solche Sachlichkeit und einen solchen<br />

kulturvollen Umgang von Abgeordneten bei der gesamten<br />

Tätigkeit des <strong>Bundestag</strong>es.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der CDU/<br />

CSU, der FDP und der SPD — Bernd Reuter<br />

[SPD]: Dann würde es sich doch nicht mehr<br />

abheben!)<br />

— Ich fasse das als Zustimmung auf.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Tolle<br />

Kombination: PDS und FDP)<br />

Der Petitionsausschuß ist auf besondere Weise mit<br />

den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes verbunden.<br />

Das im Grundgesetz verankerte Petitionsrecht<br />

eröffnet ihnen die Möglichkeit, ihre Bitten, Beschwerden,<br />

ihre Sorgen und Probleme sozusagen auf höchster<br />

Ebene loszuwerden. Demzufolge werden große<br />

Erwartungen an die Arbeit des Ausschusses geknüpft.<br />

Meine Erfahrung der letzten Monate ist, daß das vor<br />

allem auch auf Petenten aus den neuen Bundesländern<br />

zutrifft. In der ehemaligen DDR war, so vermerkt<br />

es der vorliegende Bericht, die „Eingabefreudigkeit<br />

... bereits sehr hoch". Dabei haben die Bürgerinnen<br />

und Bürger zwei für sie bedeutsame Erfahrungen gemacht,<br />

die darin bestanden, daß die Wirksamkeit ihrer<br />

Eingaben entweder davon abhängig war, an welche<br />

Ebene der staatlichen Verwaltung diese gerichtet<br />

wurden, oder aber davon, wann die nächsten Wahlen<br />

stattfinden sollten.<br />

(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Was man so<br />

Wahlen nannte!)<br />

Je näher dieser Termin lag, um so erfolgversprechender<br />

konnte eine Eingabe sein.<br />

Nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik<br />

(Martin Göttsching [CDU/CSU]: Das war<br />

kein Anschluß! — Steffen Kampeter [CDU/<br />

CSU]: Das war eine f riedliche Revolution!)<br />

ist die Anzahl der Petitionen aus den neuen Bundesländern<br />

drastisch angestiegen. Ihr Anteil, gemessen<br />

an den Einwohnerzahlen, liegt heute deutlich über<br />

dem der alten Bundesländer. Diese Zunahme hat meines<br />

Erachtens mehrere Ursachen. Sie liegen sowohl in<br />

einer großen Unsicherheit vieler Bürgerinnen und


2650 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Dagmar Enkelmann<br />

Bürger im Umgang mit den neuen Gesetzlichkeiten,<br />

den Behörden, den Zuständigkeiten usw. als auch in<br />

den zahlreichen im Einigungsvertrag unzureichend<br />

gelösten Problemen begründet.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />

Oftmals haben sich die Bürgerinnen und Bürger vor<br />

dem Einschalten des Petitionsausschusses des <strong>Bundestag</strong>es<br />

bereits an andere staatliche Stellen oder parlamentarische<br />

Organe gewandt und dort entweder<br />

kein Gehör oder keine Abhilfe gefunden. Nach meinem<br />

Verständnis zeugen viele Petitionen von zwei<br />

sich nur scheinbar widersprechenden Erscheinungen:<br />

Sie zeugen von gewachsener Mündigkeit der Bürger<br />

gegenüber dem Staat und von wachsender Müdigkeit<br />

oder auch Verdrossenheit dem Staat gegenüber.<br />

Der Inhalt der Petitionen und die Stellungnahmen<br />

von betroffenen Behörden und Ämtern zeugen sehr<br />

oft von bürokratischem, engherzigem Handeln. Sie<br />

zeugen auch von dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber<br />

einer allmächtigen Bürokratie und Staatsmaschinerie.<br />

Oftmals scheint der Petitionsausschuß die<br />

letzte Rettung zu sein,<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Na, na! —<br />

Zuruf von der CDU/CSU: Die letzte In<br />

stanz!)<br />

eine Hoffnung, die aber eben leider nur selten erfüllt<br />

werden kann.<br />

In diesem Zusammenhang ist es untragbar, wenn in<br />

einigen Stellungnahmen derer, über die Beschwerde<br />

geführt wird, Beklagte zu Klägern werden; Kollege<br />

Peter hat bereits auf Beispiele dafür hingewiesen.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Beispiel!)<br />

Wünschenswert wäre auch eine generelle unabhängige<br />

Begutachtung, die nicht nur rechtliche, sondern<br />

auch soziale, ethisch-moralische, einfach menschliche<br />

Aspekte des konkreten Einzelfalls berücksichtigen<br />

würde, also die Frage des Härtefalls.<br />

Meiner Auffassung nach sind aber gerade die Petitionen<br />

aus den neuen Bundesländern nicht selten ein<br />

Anzeiger dafür, daß manches, was in der Regierung<br />

bzw. im <strong>Bundestag</strong> quasi am grünen Tisch entschieden<br />

wurde, praktisch nicht funktionieren kann. Sie<br />

belegen in bezug auf eine Reihe von Kernproblemen<br />

die Inkompetenz und die fehlende Sachkenntnis dieser<br />

Bundesregierung.<br />

(Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Ge<br />

nau!)<br />

Oder sollte ich besser sagen: Sie sprechen - für die fehlende<br />

Bereitschaft der Bundesregierung, die tatsächlichen<br />

Probleme in den neuen Bundesländern zur<br />

Kenntnis zu nehmen?<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)<br />

Das betrifft meines Erachtens insbesondere Petitionen,<br />

deren Inhalt sich auf die Regelung offener Vermögensfragen,<br />

die Sicherung der medizinischen Versorgung,<br />

die Rehabilitierung und das Rentenrecht beziehen.<br />

Hier ist die Bundesregierung gefordert, konsequent<br />

und schnell zu reagieren. Das wird aber wohl<br />

auch in Zukunft eine Illusion bleiben, stellt doch selbst<br />

der vorliegende Bericht fest — ich zitiere —:<br />

... daß die Bundesregierung im Berichtsjahr<br />

1990 wiederum in einer Reihe von Fällen Berücksichtigungsbeschlüssen<br />

des <strong>Bundestag</strong>es nicht<br />

oder nicht im vollen Umfang gefolgt ist, obwohl<br />

diese Beschlüsse das Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es<br />

beinhalten, für Abhilfe zu sorgen.<br />

Was in diesem Be richt da so harmlos klingt, heißt im<br />

Klartext, daß 1990 z. B. von 90 Petitionen, die der Regierung<br />

zur Berücksichtigung überwiesen wurden, lediglich<br />

28 positiv erledigt wurden. Hier muß sich die<br />

Bundesregierung fragen lassen: Wie ernst nimmt sie<br />

eigentlich die Beschlüsse des <strong>Bundestag</strong>es, wie ernst<br />

nimmt sie die Abgeordneten dieses Hohen Hauses,<br />

wie ernst nimmt sie vor allem die Bitten und Beschwerden<br />

der Bürgerinnen und Bürger?<br />

Der Bericht macht deutlich, daß verstärkt darüber<br />

nachgedacht werden sollte, wie eine höhere Verbindlichkeit<br />

erreicht werden kann, daß also Berücksichtigungsbeschlüsse<br />

des <strong>Bundestag</strong>es eben auch Berücksichtigung<br />

durch die Regierung erfahren müssen. Petitionsausschuß<br />

und <strong>Bundestag</strong> sollten ihr Kontrollrecht<br />

gegenüber der Regierung mit mehr Nachdruck<br />

und Konsequenz wahrnehmen.<br />

Abschließend noch einige Bemerkungen aus aktuellem<br />

Anlaß. Am Freitag wird der <strong>Bundestag</strong> in zweiter<br />

und dritter Lesung das Rentenüberleitungsgesetz<br />

beraten. Gegen diesen Entwurf sind bereits eine<br />

Reihe von Petitionen und Unterschriftensammlungen,<br />

u. a. der Brandenburgischen Rentnerinitiative, eingegangen.<br />

Ihre Anliegen sollten vor der Entscheidung<br />

— —<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Abgeordnete<br />

Enkelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />

Nolting?<br />

Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Ich habe<br />

noch einen letzten Satz, und den würde ich gern zu<br />

Ende führen.<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Aber dann.<br />

(Günther Fried rich Nolting [FDP]: Aber dann<br />

darf ich die Frage stellen!)<br />

Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Die Anliegen<br />

dieser Petitionen, dieser Unterschriftensammlungen<br />

sollten vor der Entscheidung sorgfältig geprüft<br />

und in die nötige Sachkompetenz einbezogen werden.<br />

Das jedenfalls würde dem Petitionsausschuß viel<br />

Arbeit im nachhinein ersparen.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei<br />

Abgeordneten der SPD)<br />

Jetzt dürfen Sie.<br />

Günther Friedrich Nolting (FDP): Frau Kollegin, Sie<br />

haben gerade in Zweifel gezogen, daß die Bundesregierung<br />

die Voten des Petitionsausschusses berücksichtigt.<br />

Darf ich Sie fragen: Wie hat denn die SED-<br />

Regierung die Beschlüsse der Volkskammer berücksichtigt?<br />

Dies auch vor dem Hintergrund, daß Sie seit<br />

1977 Mitglied der SED sind.<br />

Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Das<br />

Thema dieser Debatte ist der Bericht des Petitionsausschusses<br />

für das Jahr 1990, und zu dem habe ich hier


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2651<br />

Dr. Dagmar Enkelmann<br />

gesprochen. Ich habe mich ansonsten zu dem „Eingabenunwesen"<br />

in der DDR geäußert, und das sollte<br />

genügen.<br />

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wenn Sie<br />

hier moralisieren, sollten Sie auch darauf zu<br />

rückkommen!)<br />

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat das<br />

Wort die Abgeordnete Gertrud Dempwolf.<br />

Gertrud Dempwolf (CDU/CSU): Frau Präsidentin!<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie sehr<br />

die Bundesregierung den Petitionsausschuß ernst<br />

nimmt, ersehen wir heute an der gut gefüllten Regierungsbank.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Und wenn ich sehe, daß bis vor einer Minute — Kollege<br />

Grünewald geht gerade — zwei Mitglieder des<br />

Petitionsausschusses hier zwei Stunden auf der Regierungsbank<br />

gesessen haben, dann kann ich nur sagen:<br />

Das ist für uns sehr erfreulich, und: Meine Damen und<br />

Herren der Koalition, lassen Sie uns im Petitionsausschuß<br />

weiterarbeiten; der Weg ist nicht so sehr<br />

weit.<br />

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der<br />

FDP und der SPD — Günther Friedrich Nol<br />

ting [FDP]: Da braucht die SPD gar nicht zu<br />

klatschen! Da kommt ihr nie hin! — Gegen<br />

ruf des Abg. Bernd Reuter [SPD]: Ihr wollt<br />

immer dabei sein!)<br />

Über die große Anzahl von Eingaben an den Petitionsausschuß<br />

möchte ich jetzt nicht mehr im einzelnen<br />

sprechen, aber vielleicht nur noch ein Bild: Wenn<br />

wir heute täglich 160 Eingaben an den Petitionsausschuß<br />

bekommen, dann sehen wir, wie weise die Verfasser<br />

unseres Grundgesetzes gehandelt haben, als<br />

sie das Petitionsrecht der Bürger in Art. 17 verankerten.<br />

Wie sehr politisches Handeln in das Leben hineinreicht,<br />

sehen wir auch an den Eingaben an den<br />

Petitionsausschuß.<br />

Wir beklagen darum auch nicht, daß die Anzahl der<br />

Petitionen weiterhin zugenommen hat. Es ist gut zu<br />

sehen, daß unsere Bürger um ihr Recht wissen und<br />

davon selbstverständlich Gebrauch machen. Sie wissen<br />

auch, daß sie nicht Bittsteller sind, sondern daß sie<br />

ein selbstverständliches Recht in Anspruch nehmen.<br />

So erfahren wir Abgeordnete des Petitonsausschusses<br />

täglich auf beeindruckende Weise, wo den -Bürger der<br />

Schuh drückt. Die Petitionen zeigen uns die Lücken,<br />

die wir im Gesetz noch zu schließen haben.<br />

Ohne die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

des Ausschußdienstes aber könnten wir diese<br />

schwierige Arbeit nicht leisten. Darum möchte ich von<br />

dieser Stelle aus dem Ausschußdienst und dem Büro<br />

ganz herzlich danken.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Wieder einmal betrafen 26 % der Eingaben den Geschäftsbereich<br />

des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung.<br />

Helfen konnte der Petitionsausschuß<br />

zum Beispiel einem Petenten, dessen Antrag auf Er<br />

werbsunfähigkeitsrente von der Bundesversicherungsanstalt<br />

für Angestellte mit der Begründung abgelehnt<br />

worden war, daß die erforderlichen Beitragszeiten<br />

nicht erfüllt seien. Der Ausschuß hat sich ausführlich<br />

mit dieser Petition befaßt. Wir konnten nachweisen,<br />

daß eine Ausfallzeit wegen Arbeitslosigkeit<br />

nicht angerechnet wurde. Dennoch verweigerte die<br />

BfA zunächst die Rentenzahlung, weil dem Petenten<br />

Rehabilitationsmaßnahmen bewilligt worden waren,<br />

er aber die Durchführung ablehnte. Der Ausschuß ließ<br />

nicht locker und veranlaßte eine nochmalige Überprüfung,<br />

bis schließlich die BfA auf die Durchführung der<br />

Rehabilitationsmaßnahmen verzichtete und dem Petenten<br />

die Erwerbsunfähigkeitsrente zubilligte. Der<br />

Nachzahlungsbetrag war_ eine fünfstellige Zahl. Ich<br />

meine, auch das ist eine Hilfe im Einzelfall.<br />

Ich möchte hervorheben, daß der Petitionsausschuß<br />

nicht nur der vielzitierte Kummerkasten der Nation<br />

ist, sondern daß wir uns alle gemeinsam in erster Linie<br />

als Anwalt der Bürger verstehen.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Wenn es auch im Ausschuß unterschiedliche Meinungen<br />

gibt und das im Einzelfall zu heftigen Sachauseinandersetzungen<br />

führt, so suchen wir doch immer einen<br />

vernünftigen gemeinsamen Weg, um dem Petenten<br />

bei seinem Anliegen zu helfen. Ich erinnere hier<br />

noch einmal an den Fall der Schädigung durch Dioxin,<br />

den wir so gut zum Abschluß gebracht haben. Da muß<br />

ich sagen: Herr Peter, Sie hatten da sehr lange die<br />

richtige Nase.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />

SPD)<br />

Er ließ nicht locker, und er hat mich dann auch immer<br />

wieder überzeugt.<br />

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das war die so<br />

genannte Dioxinnase!)<br />

Es gibt sehr viele Petitionen, die wir zu einem guten<br />

Abschluß gebracht haben. Über Erfolge spricht man<br />

zwar gerne, aber es liegt mir sehr am Herzen, eine<br />

Petition zu erwähnen, die uns im letzten Jahr erreichte<br />

und die wir noch nicht abgeschlossen haben. Sie betrifft<br />

den Geschäftsbereich des Bundesministers der<br />

Justiz und bezieht sich auf die Geltendmachung eines<br />

Schadensersatzanspruches. Es geht um einen Petenten,<br />

der im Jahre 1949 am Kopf operiert wurde. Nach<br />

dieser Operation stellte sich ein Anfallsleiden mit<br />

Schwerstbehinderung ein. Erst 1986 konnte auf<br />

Grund von medizinischen Untersuchungen ein ärztlicher<br />

Fehler, eine bei der Operation vergessene Tamponade<br />

— versteinert — , aufgedeckt werden. Es ist zu<br />

spät, um Schadensersatzansprüche zu stellen; denn<br />

die Verjährung trat 30 Jahre nach der Operation, also<br />

bereits 1979, ein.<br />

( V o r s i t z : Vizepräsident Hans Klein)<br />

Es fällt mir sehr schwer, diesen Fall zu akzeptieren.<br />

Daß die Verjährungsfrist auch dann gilt, wenn der<br />

Verletzte keine Kenntnis von der schädigenden<br />

Handlung hatte und deswegen keinen Schadensersatzanspruch<br />

stellen konnte, läßt mich nicht ruhen.<br />

Wegen der Tragik dieses Falles bemüht sich der Petitionsausschuß<br />

auf allen nur möglichen Wegen, wenigstens<br />

eine finanzielle Unterstützung für den Petenten


2652 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Gertrud Dempwolf<br />

zu bekommen. Der Petent lebt bei seinem Bruder und<br />

von der Sozialhilfe mit dem niedrigsten Satz.<br />

Unsere Bemühungen sind noch nicht abgeschlossen.<br />

Aber wir suchen noch nach weiteren Lösungen,<br />

damit dieser Mann einen Ausgleich für verlorene Gesundheit<br />

und für verlorenes Lebensglück bekommt.<br />

Ich weiß, daß das sehr schwer ist, aber ich wünschte<br />

mir, es käme ein guter Rat aus unserem Kreis.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abgeordnete<br />

Bernd Reuter.<br />

Bernd Reuter (SPD): Herr Präsident! Meine sehr<br />

verehrten Damen und Herren! Wie wir in dieser Aussprache<br />

schon einige Male zur Kenntnis genommen<br />

haben, hat sich die Tätigkeit des Petitionsausschusses<br />

im Jahre 1990 erheblich ausgeweitet, vor allem auch<br />

durch eine Vielzahl von Petitionen aus den östlichen<br />

Bundesländern. Dies reflektiert vor allem die großen<br />

sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Menschen<br />

in der ehemaligen DDR. Wir stellen allerdings auch<br />

hier vielfach überhöhte Erwartungen an die Regelungskompetenz<br />

des Petitionsausschusses fest.<br />

Bei der Diskussion des Jahresberichts des Petitionsausschusses<br />

kann natürlich nicht nur Positives zur<br />

Sprache kommen. In einigen Fällen ist auch Kritik an<br />

der Bundesregierung angebracht, die unser Vorsitzender<br />

schon in so hervorragender Weise formuliert<br />

hat. Es gibt Entscheidungen des Petitionsausschusses,<br />

die die Bundesregierung nicht beachtet hat.<br />

Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, dazu ein<br />

Beispiel vortragen. Da schreibt ein Minister am Schluß<br />

seiner Aussage zu einer Petition, die wir zur Berücksichtigung<br />

überwiesen hatten:<br />

Nach allem komme ich zu dem Ergebnis, die der<br />

Bundesregierung vom Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />

überwiesene Petition auf Grund der dargestellten<br />

Rechtslage nicht berücksichtigen zu können. Ich<br />

bedaure, dem Wunsch des <strong>Bundestag</strong>s nach einem<br />

anderen Ergebnis nicht entsprechen zu können,<br />

sehe mich aber durch das Gesetz zu dieser<br />

Entscheidung gezwungen.<br />

Meine Damen und Herren von der Regierung, das<br />

wußte der Petent auch, sonst hätte er keine Petition<br />

eingereicht. Sein Begehren war doch, sich hilfesuchend<br />

an den <strong>Bundestag</strong> zu wenden und zu sagen:<br />

Hier ist Handlungsbedarf.<br />

-<br />

Der Petitionsausschuß sagt in seinen Beratungen:<br />

Jawohl, wir sehen das auch so; die Bundesregierung<br />

möge das berücksichtigen. Die Bundesregierung stellt<br />

dann fest: Die Rechtslage steht dem entgegen. Das<br />

wußten alle. Ich hätte gerne von der Bundesregierung,<br />

daß sie die Entscheidungen des Petitionsausschusses<br />

in Zukunft etwas ernster nimmt, als das in<br />

der Vergangenheit geschehen ist.<br />

Ich will auch hinzufügen, daß Entscheidungen des<br />

Petitionsausschusses auch solche des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />

sind. Sie sollten für die Regierung eigentlich<br />

schon aus diesem Grunde beachtenswert sein.<br />

Auch in diesem Berichtszeitraum gab es eine große<br />

Anzahl von Fällen, in denen die Petitionen der Bundesregierung<br />

zur Berücksichtigung oder zur Erwägung<br />

überwiesen worden waren, aber nicht im Sinne<br />

des Petitionsausschusses erledigt wurden.<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten<br />

Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Göhner?<br />

Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Verehrter und<br />

hochgeschätzter Kollege Reuter, würden Sie mir darin<br />

zustimmen, daß auch bei einem Beschluß des Petitionsausschusses<br />

und des <strong>Bundestag</strong>es die Bundesregierung<br />

als Exekutive gleichwohl an die Gesetze gebunden<br />

bleibt, so daß dann, wenn der <strong>Bundestag</strong> die<br />

Regierung zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert<br />

hat, dieses Verhalten aber ohne eine Gesetzesänderung<br />

nicht möglich ist, nur der <strong>Bundestag</strong> selbst<br />

dem Petitum der Petition durch eine Gesetzesänderung<br />

entsprechen kann?<br />

Bernd Reuter (SPD): So wie ich die Praxis unserer<br />

Arbeit kenne, Herr Kollege Dr. Göhner, ist es richtig,<br />

daß die Regierung an das Gesetz gebunden ist. Es<br />

wäre noch schöner als schön, wenn die Regierung<br />

machen könnte, was sie wollte!<br />

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Na<br />

eben!)<br />

Das ist vollkommen klar.<br />

Wenn aber Handlungsbedarf aus einer Petition erwächst,<br />

weil ein Mensch erklärt und uns darlegt, daß<br />

das Gesetz eine Lücke, keine Härteregelung oder etwas<br />

ähnliches hat, dann kann ich doch von einem ausgewachsenen<br />

Minister, der noch dazu Professor ist,<br />

erwarten, daß er uns sagt: Wir sehen das ein; wir werden<br />

bei der nächsten Novelle des Gesetzes darangehen,<br />

diesen Mangel zu beheben. — Darum geht es im<br />

wesentlichen.<br />

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste,<br />

beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge<br />

ordneten der CDU/CSU)<br />

Herr Dr. Göhner, Sie kennen mich schon lange, und<br />

ich kenne Sie auch. Natürlich will ich der Regierung<br />

nicht einfach Schuld zuweisen; denn es gibt vielfach<br />

Petitionen, wo der <strong>Bundestag</strong> selber, die Fraktionen<br />

Handlungsbedarf erkennen müßten und selber handeln<br />

müßten. Das will ich Ihnen gerne zugestehen.<br />

Meine Damen und Herren, es ist aus meiner Sicht<br />

nicht hinnehmbar, daß manche Petitionen nur deshalb<br />

über mehrere Jahre laufen, weil die Stellungnahmen<br />

nicht fristgerecht abgegeben wurden. Ich will deshalb<br />

einmal ganz nachhaltig Kritik an den Ministerien und<br />

Bundesbehörden üben, die sich über Gebühr lange<br />

Zeit lassen, wenn sie um Stellungnahmen zu Petitionen<br />

gebeten werden.<br />

Erfreulich — auch das ist heute abend schon einige<br />

Male angeklungen — ist die Tatsache, daß im Petitionsausschuß<br />

im Interesse der hilfesuchenden Menschen<br />

sehr oft parteiübergreifende Entscheidungen<br />

fallen. Es soll allerdings auch nicht verschwiegen werden,<br />

daß es durchaus strittige Themen gibt, die kontrovers<br />

diskutiert werden und diskutiert werden müssen.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2653<br />

Bernd Reuter<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich einmal auch<br />

das Problem der Massenpetitionen ansprechen. Ein<br />

Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen um<br />

die Reaktivierung des US-Flughafens Wiesbaden-Erbenheim<br />

für Kampfhubschrauber oder auch die Stationierung<br />

von Hubschraubern in Büdingen in Hessen<br />

gewesen. Hier haben von Lärmbelästigungen betroffene<br />

Menschen ein Problem an den Petitionsausschuß<br />

herangetragen, das auch unter den Parteien und Fraktionen<br />

kontrovers diskutiert wurde.<br />

Vor allem aus dem Naturschutz- und Umweltbereich<br />

werden gelegentlich Petitionen eingereicht, die<br />

einige tausend Unterschriften tragen. Ich meine,<br />

meine Damen und Herren, auch wenn solche Zahlen<br />

beeindruckend sind, darf eine Petition mit nur einer<br />

Unterschrift aus meiner Sicht nicht weniger ernst genommen<br />

werden.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Auch im zurückliegenden Jahr wurde bei strittigen<br />

Entscheidungen im Ausschuß § 112 der Geschäftsordnung<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es von der Opposition<br />

in Anspruch genommen. Er bietet nämlich die Möglichkeit,<br />

strittige Entscheidungen des Ausschusses im<br />

Plenum des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es zu diskutieren<br />

und unterschiedliche Auffassungen vor einer breiteren<br />

Öffentlichkeit darzustellen.<br />

Ich will hier nicht nur kritisieren, sondern auch den<br />

Behörden ein hohes Lob aussprechen, die kooperativ<br />

und hilfsbereit nach menschlichen Lösungen suchen<br />

und sich nicht allein an den Wortlaut des Gesetzes<br />

klammern. Hier denke ich z. B. an Leiter von Kreiswehrersatzämtern,<br />

deren menschliche und hilfsbereite<br />

Zusammenarbeit oft in krassem Gegensatz zum<br />

Verhalten des Bundesverteidigungsministeriums<br />

steht.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Jawohl!<br />

Das ist wirklich wahr!)<br />

Ich will hier gerne einmal ein Beispiel vortragen, bei<br />

dem ein Arzt der Allgemeinmedizin, der einen Antrag<br />

auf Kriegsdienstverweigerung eingereicht hatte,<br />

kurz darauf die Einberufung zu einer einwöchigen<br />

Wehrübung erhielt. Dieser Arzt mit einer großen Praxis,<br />

der noch dazu seinen Vater postoperativ versorgen<br />

mußte, wurde gezwungen, die Wehrübung abzuleisten,<br />

da nach der Ablehnung seines Zurückstellungsantrages<br />

auch seine Petition an den Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong> erfolglos blieb.<br />

Meine Damen und Herren, mir will einfach nicht<br />

einleuchten, daß in der jetzigen Entspannungssituation,<br />

in der die Bundeswehr erheblich reduziert werden<br />

soll, ein Arzt seine Patienten für eine Woche - im<br />

Stich lassen muß, um an einer Wehrübung teilzunehmen.<br />

Dieses stupide Festhalten an einmal getroffenen<br />

Beschlüssen demonstriert die sture Betonkopfmentalität<br />

der Hardthöhe auf eindrucksvolle Art und<br />

Weise.<br />

Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung wie<br />

an die Ministerien, daß bei Vorlagen des Petitionsausschusses<br />

nicht im praktischen Verwaltungshandeln<br />

irreversible Fakten geschaffen werden, die das Petitionsrecht<br />

ad absurdum führen.<br />

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li<br />

ste)<br />

Besonders prägnante Fälle gibt es z. B. beim Straßenbau<br />

und beim Ausländerrecht. Gerade das neue<br />

Ausländerrecht — der Kollege Konrad Weiß hat darauf<br />

hingewiesen — birgt große Gefahren durch seine<br />

Möglichkeiten zur sofortigen Abschiebung, wenn<br />

eine Anerkennung als Asylant verweigert wird. Wenn<br />

uns hierzu dann eine Petition vorgelegt wird, kann sie<br />

nicht mehr greifen, weil sich der Betroffene möglicherweise<br />

bereits außer Landes befindet und bei einem<br />

eventuellen positiven Ausgang der Petition auch<br />

nicht mehr in das Land einreisen kann, weil er keinen<br />

Sichtvermerk erhält.<br />

Der Bundesminister des Innern sollte seine diesbezügliche<br />

Anweisung an die Innenminister und Senatoren<br />

der Länder zur Auslegung des § 55 Abs. 4 des<br />

Ausländergesetzes vom Februar dieses Jahres noch<br />

einmal überdenken. Durch Anweisungen dieser Art<br />

besteht nämlich die große Gefahr, daß unser Petitionsrecht<br />

ausgehöhlt wird. Es kann nicht angehen, daß<br />

laufende Petitionen durch Maßnahmen von Ministerien<br />

abgewürgt werden. Beim Gesetzesvollzug im<br />

Ausländerrecht ist zudem in besonderem Maße auf<br />

ein enges Zusammenwirken zwischen <strong>Bundestag</strong>sund<br />

Landtagspetitionsausschüssen zu achten.<br />

Als Fazit stelle ich fest, daß sich am Petitionswesen<br />

am eindeutigsten die Fehlentwicklungen der Politik<br />

widerspiegeln. Zwar ist der Petitionsausschuß kein<br />

Überausschuß, der andere bevormunden könnte. Er<br />

ist vielmehr auf die Kompetenz der anderen Fachausschüsse<br />

angewiesen. Nicht selten ist er jedoch die<br />

letzte Anlaufstelle für Menschen, die in Not geraten<br />

sind.<br />

Ich will am Schluß meiner Ausführungen gerne<br />

noch hervorheben, daß wir in diesem Ausschuß relativ<br />

kollegial zusammenarbeiten.<br />

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Was heißt<br />

denn „relativ"?)<br />

Ich will natürlich nicht so weit gehen, das auch für<br />

andere Ausschüsse zu empfehlen, weil wir uns sonst<br />

nicht mehr von anderen Ausschüssen abheben können.<br />

(Heiterkeit)<br />

Frau Dempwolf hat dankenswerterweise den Sprecher<br />

unserer Fraktion, Horst Peter, hier genannt, der<br />

bei dem Dioxinfall wirklich bohrend war, um Erfolge<br />

zu erzielen. Er war aber noch woanders bohrend,<br />

nämlich bei dem behindertengerechten Ausbau des<br />

Bahnhofs Wilhelmshöhe in Kassel. Es wurden auch<br />

für die Behinderten Aufzüge eingebaut, die heute in<br />

Kassel unter dem Namen „Peternoster" ihren Eingang<br />

gefunden haben.<br />

(Heiterkeit)<br />

Meine Damen und Herren, unserem Vorsitzenden,<br />

Herrn Gero Pfennig, danke ich nicht für seine akrobatische<br />

Art, wie er die Dinge hier regelt, sondern für<br />

seine sachliche und effiziente Arbeit. Er ist stets ein<br />

kollegialer und pünktlicher Vorsitzender, der die Arbeit<br />

des Ausschusses auf vorbildliche Art und Weise<br />

organisiert und sich — wie hier schon mehrfach erwähnt<br />

— um Konsens bemüht. Minderheitenmeinungen<br />

fallen im Petitionsausschuß nicht zwangsläufig<br />

unter den Tisch.


2654 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Bernd Reuter<br />

Wir müssen — das will ich am Schluß noch sagen —<br />

mittelfristig mit einem weiteren erhöhten Eingang von<br />

Petitionen rechnen. Daher richte ich abschließend<br />

meine Bitte an die Präsidentin und die zuständigen<br />

Stellen, hierfür die personellen Voraussetzungen zu<br />

schaffen.<br />

Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die im<br />

Ausschuß in so hervorragender Art und Weise mitgewirkt<br />

haben, und bin überzeugt davon, daß wir auch<br />

in der vor uns liegenden Zeit im Interesse unserer Bürgerinnen<br />

und Bürger dort etwas Vernünftiges leisten<br />

können.<br />

Schönen Dank.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Steffen<br />

Kampeter, bevor ich Ihnen das Wort gebe, kann ich<br />

folgende Bemerkung einfach nicht unterdrücken: Ich<br />

wünsche mir, daß diese interfraktionelle Tonlage der<br />

Debatte über die Petitionen gewisse Beispielkraft auf<br />

unsere morgige Diskussion hat.<br />

(Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU)<br />

Herr Kollege Kampeter, bitte.<br />

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herzlichen Dank. —<br />

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und<br />

Herren! Erst einmal will ich — es ist eine schwierige<br />

Aufgabe, am Ende einer zweistündigen Debatte noch<br />

etwas wesentlich Neues beizutragen — denjenigen<br />

Kolleginnen und Kollegen danken, die, statt den zahlreichen<br />

Einladungen zu Sommerfesten gefolgt zu<br />

sein, dieser Debatte folgen.<br />

Zweitens. Wir haben gerade im letzten Beitrag viel<br />

Kritik an der Bundesregierung und an ihrem Verhalten<br />

gehört. Wenn ich mir die Präsenzquote auf der<br />

Regierungsbank angucke und mit der Präsenzquote<br />

der Parlamentarier vergleiche, muß ich in diesem<br />

Falle feststellen: i : 0 für die Bundesregierung.<br />

(Beifall im ganzen Hause)<br />

Rund 16 000 Eingaben im vergangenen Jahr an den<br />

Petitionsausschuß haben gezeigt, wie wichtig die Bürgerinnen<br />

und Bürger dieses grundgesetzlich garantierte<br />

Recht schätzen. Es ist davon auszugehen, daß<br />

wir in diesem Jahr die Schallmauer von 20 000 Eingaben<br />

an den Petitionsausschuß deutlich übersteigen<br />

werden.<br />

An dieser Stelle ist daher nicht nur den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern des Petitionsausschusses zu<br />

danken; vielmehr müssen wir vor allen Dingen auch<br />

den Petenten dafür danken, daß sie von ihrem Recht<br />

Gebrauch gemacht haben, oftmals Finger in Wunden<br />

gelegt haben, die wir noch nicht erkannt hatten, und<br />

so uns Parlamentariern neue Wirklichkeiten eröffnet<br />

haben, die dazu beitragen sollten und dazu beigetragen<br />

haben, daß wir in Zukunft staatliches Handeln<br />

etwas bürgernäher gestalten werden. Die erfreuliche<br />

Vielzahl der Petitionen ist ein Beleg für die Lebendigkeit<br />

dieses Verfassungsrechts.<br />

In welchem Maße die Bürger der Institution Petitionsausschuß<br />

Vertrauen schenken, wird wesentlich<br />

dadurch bestimmt, wie entschlossen wir als Petitionsausschuß<br />

bei einem erkannten Mißstand Abhilfe<br />

schaffen. Der Bericht führt aus, daß im Jahre 1990<br />

90 Petitionen zur Berücksichtigung und 85 Petitionen<br />

zur Erwägung überwiesen wurden. 33mal wurde dem<br />

Anliegen entsprochen. In 22 Fällen geschah dies<br />

nicht.<br />

Es ist aus meiner Sicht festzustellen, daß zum einen<br />

die Geschwindigkeit, mit der die Regierung unsere<br />

Voten bearbeitet, verbessert werden könnte. Hier ist<br />

verschiedentlich schon auf diesen Aspekt verwiesen<br />

worden.<br />

Zum anderen ist in einer nicht geringen Anzahl dem<br />

Votum des Ausschusses nicht gefolgt worden. Klar ist:<br />

Wir können die Bundesregierung nicht zu einer bestimmten<br />

Handlung verpflichten; aber — so führt der<br />

Bericht aus, die Verfassungsorgane sollten auf Grund<br />

des gegenseitigen Respekts dem Art. 17 eine entsprechende<br />

Wertschätzung entgegenbringen. Also sollte<br />

die Bundesregierung die Voten des Ausschusses entsprechend<br />

würdigen.<br />

Herr Kollege Weiß hat hier darauf hingewiesen, daß<br />

wir die Voten manchmal im Schnellverfahren in den<br />

Ausschüssen beraten. Herr Weiß, ich weise darauf<br />

hin, daß sich die Intensität, mit der ein Anliegen behandelt<br />

wird, nicht unbedingt in der Länge der Ausschußberatung<br />

niederschlägt; die Arbeit muß vielmehr<br />

im vorhinein gemacht worden sein. Von daher<br />

halte ich das, was die Intensität der Behandlung der<br />

Bürgeranliegen angeht, für einen schlechten Indikator.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Lassen Sie mich auf eine in diesem Be richt ausgewiesene<br />

Neuerung hinweisen. Wir haben im Berichtszeitraum<br />

erstmals mit dem Bundesrechnungshof direkt<br />

zusammengearbeitet. Von zwei Petenten wurde<br />

die nicht sachgerechte Verwendung öffentlicher Mittel<br />

beklagt. Das betroffene Ministerium hat zwar in<br />

dem einen Fall wiederholt die Zweck- und Rechtmäßigkeit<br />

der Ausgabe betont. Die Überprüfung durch<br />

den Rechnungshof hat aber in die Bemerkungen dieser<br />

Behörde Eingang gefunden.<br />

Für mich ist es höchst erfreulich, wenn Bürger —<br />

neben der Klage über eine finanzielle Benachteiligung<br />

— uns als Staat auf die Finger klopfen, gefälligst<br />

sachgerecht mit ihrem Geld umzugehen. Es ist sicherlich<br />

richtig, daß der Rechnungshof und der Petitionsausschuß<br />

unterschiedliche Aufgaben haben. Aber die<br />

Kooperation zwischen diesen beiden Institutionen<br />

sollte zukünftig sicher fortgesetzt werden. Ich empfinde<br />

es nämlich als einen interessanten Aspekt, wenn<br />

wir im Bereich der öffentlichen Verwaltung dazu beitragen<br />

könnten, das Gebot der Sparsamkeit stärker<br />

zu beachten. Die öffentliche Berichterstattung über<br />

einen solchen Vorfall hat schon viel Heilsames bewirkt.<br />

Meine Vorredner haben hier von zahlreichen Einzelpetitionen<br />

berichtet. Ich möchte daher nochmals<br />

auf den Bereich Massenpetitionen eingehen. Die Petition<br />

mit der größten Anzahl von Unterschriften beschäftigte<br />

sich mit der Situation bei den Fluorchlorkohlenwasserstoffen,<br />

einem der gefährlichsten Klimakiller<br />

mit verdeckter Langzeitwirkung. Sie wurde<br />

von knapp 320 000 Bürgern unterzeichnet und auf<br />

Initiative des Petitionsausschusses den Fraktionen zur


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2655<br />

Steffen Kampeter<br />

Kenntnis gegeben. Neben anderen parlamentarischen<br />

Anstößen, z. B. aus der Enquete-Kommission<br />

„Schutz der Erdatmosphäre", hat diese Petition wesentlich<br />

dazu beigetragen, daß die Bundesrepublik<br />

Mitte der 90er Jahre als erstes Land in Europa fluorchlorkohlenwasserstofffrei<br />

ist.<br />

Unsere Verordnung hat hohe Aufmerksamkeit erregt.<br />

So hat die bundesdeutsche Vorreiterrolle anläßlich<br />

der letzten Konferenz zum Montrealer Protokoll<br />

eine hohe Anerkennung der Position der Bundesregierung<br />

auch bei den Umweltschutzverbänden erfahren.<br />

Länder wie die Schweiz und Österreich werden in<br />

dieser Frage der bundesdeutschen Position folgen.<br />

Die 320 000 Bürger — sicherlich ist eine Petition so<br />

wichtig wie die andere; aber 320 000 ist eine beachtenswerte<br />

Zahl — haben mit dazu beigetragen, daß<br />

die Klimaproblematik in der 12. Legislaturperiode<br />

wieder Gegenstand der parlamentarischen Beratung<br />

geworden ist.<br />

Wir haben einen Arbeitsauftrag zur erneuten Einsetzung<br />

einer Klima-Enquete erteilt. Sie wird ihre Arbeit<br />

nach der Sommerpause aufnehmen. Sie hat den<br />

Auftrag, die Zusammenhänge zwischen Treibhauseffekt<br />

und Klimaänderung und mögliche Auswirkungen<br />

der weltweiten Klimaänderungen zu untersuchen.<br />

An diesem Beispiel läßt sich zeigen, daß mit<br />

Petitionen auch aktuelle Diskussionspunkte aus der<br />

Bevölkerung in die parlamentarische Beratung hineingetragen<br />

werden. Die Anliegen der Petenten lassen<br />

sich zwar, wie ich ausdrücklich betone, nicht immer<br />

vollständig umsetzen, aber sie werden von uns als<br />

wichtige Diskussionsbeiträge aus der Bevölkerung interpretiert.<br />

Dies trifft beispielsweise auch auf die Petitionen zur<br />

Kfz-Steuer zu. Wir haben die Umgestaltung hin zu<br />

einer ökologieorientierten Kfz-Steuer vorbereitet.<br />

Lassen Sie mich abschließend auf eine Dreistigkeit,<br />

verkleidet in Form einer Petition, hinweisen. Deutsche<br />

Bewohner einer Einrichtung in Chile — Ihnen wohl<br />

am besten unter dem Namen „Colonia Dignidad"<br />

bekannt — haben sich über das Auswärtige Amt und<br />

die Botschaft in Chile beschwert. Dieser Institution<br />

wurde vorgeworfen, ihre Bewohner zu verleumden<br />

und zu diskriminieren. Obwohl zahlreiche Indizien<br />

diese Anschuldigungen als absurd erscheinen lassen<br />

mußten, beabsichtigte der Petitionsausschuß, dem Begehren<br />

nachzugehen und vor Ort zu ermitteln. Die<br />

Colonia Dignidad lehnte dies ab. Der Vorwurf konnte<br />

nicht geklärt werden, da unser Verfassungsorgan in<br />

Chile nicht ermitteln konnte.<br />

Heute gehört die chilenische Diktatur der - Vergangenheit<br />

an. Die Gegenwart wird von dem seit langem<br />

erstmals wieder demokratisch gewählten Präsidenten<br />

Aylwin gestaltet.<br />

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sie kön<br />

nen ja jetzt den Ortstermin machen!)<br />

— Herr Kollege Göhner, Sie müßten gelegentlich<br />

auch einmal zuhören. Das Verfahren ist ja im Gange;<br />

wir sind ja dabei, die Geschichte einmal zu machen.<br />

—<br />

(Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sehr<br />

gut!)<br />

Der gewachsene internationale Druck auf die jetzt<br />

demokratisch legitimierte chilenische Regierung<br />

führte dazu, daß der christdemokratische Präsident<br />

dem Treiben der Kolonie nach seiner Amtsübernahme<br />

ein Ende bereitete, indem er ihr die Rechtspersönlichkeit<br />

entzog.<br />

Was dann an die Öffenlichkeit kam, zeigte, daß die<br />

Petition eine an Dreistigkeit kaum zu überbietende<br />

Verdrehung der Tatsachen darstellte. Die Kolonie<br />

hatte nach den jetzt vorliegenden Berichten beispielsweise<br />

das Zollprivileg dazu mißbraucht, Güter für den<br />

Verkauf in Chile einzuführen, darunter Presseberichten<br />

zufolge auch ein Fahrzeug für den Diktator Pinochet.<br />

Dies mag Anlaß gewesen sein, daß Pinochet<br />

nahe Kräfte die Verfassungskonformität dieses Dekrets<br />

vor dem Verfassungsgericht bestritten haben.<br />

Kurz vor dieser Debatte habe ich die Information aus<br />

Chile bekommen, daß die Klage abgewiesen wurde<br />

und das Dekret verfassungskonform ist. Ich glaube,<br />

daß damit ein weiterer Schritt zur Beendigung eines<br />

ungünstigen Kapitels gemacht worden ist. Der Petitionsausschuß<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es hat dabei<br />

in gutem Geiste mitgewirkt.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)<br />

Lassen Sie mich diese Debatte damit schließen, daß<br />

mir als relativ jungem und neuem Mitglied des Petitionsausschusses<br />

— auch wenn man mir das vielleicht<br />

nicht so ansieht, Kollege Nolting,<br />

(Heiterkeit)<br />

aber ich bin eines der jüngsten Mitglieder des Petitionsausschusses<br />

— die Arbeit viel Freude macht und<br />

daß wir sicherlich auch bei der Diskussion des Jahresberichts<br />

1991 feststellen können, daß wir viel Gutes im<br />

Sinne der Bürger erwirkt haben.<br />

Herzlichen Dank.<br />

(Beifall bei allen Fraktionen)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aussprache.<br />

Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:<br />

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/<br />

CSU, SPD und FDP<br />

Umsetzung der EG-Richtlinien auf dem Gebiet<br />

des öffentlichen Auftragswesens<br />

— Drucksache 12/770 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Ausschuß für Wirtschaft (federführend)<br />

Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau<br />

EG-Ausschuß<br />

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für<br />

die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen<br />

erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete<br />

Dr. Hermann Schwörer.<br />

Dr. Hermann Schwörer (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der<br />

Antrag auf Drucksache 12/770 befaßt sich mit der Verzögerung<br />

bei der Umsetzung der Vergaberichtlinien


2656 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Hermann Schwörer<br />

der EG im Bundesrecht. Zur Vermeidung von Diskriminierungen<br />

von Bietern bei der Vergabe öffentlicher<br />

Aufträge hatte die Kommission 1988 die obengenannten<br />

Richtlinien vorgelegt mit dem Ziel, ein eigenes<br />

Vergabegesetz für diesen Zweck zu erreichen.<br />

In den Verhandlungen setzte sich die deutsche Delegation<br />

dafür ein, erstens die angestrebten Ziele der<br />

Richtlinien durch die Angleichung von VOB und VOL<br />

an den Inhalt der Richtlinie zu verwirklichen und damit<br />

unser bewährtes deutsches Vergabesystem zu behandeln<br />

und zweitens die Nachprüfung einer Entscheidung<br />

der ersten Instanz nicht durch ein Gericht,<br />

schon gar nicht durch ein Verwaltungsgericht, sondern<br />

durch eine gerichtsähnliche Instanz im Verwaltungswege<br />

zu erreichen.<br />

Dieser deutsche Sonderweg wurde in Brüssel akzeptiert,<br />

vor allem nachdem sich der Deutsche <strong>Bundestag</strong><br />

einstimmig für die Erhaltung des deutschen<br />

Vergabeverfahrens ausgesprochen und sich das Europäische<br />

Parlament der deutschen Position angeschlossen<br />

hatte.<br />

Nun hat sich die Bundesregierung darangemacht,<br />

diese Richtlinie durch eine Novelle zum Haushaltsgrundsätzegesetz<br />

in deutsches Recht umzusetzen. Sie<br />

liegt nun im Rohentwurf vor und ist zwischen den<br />

Behörden des Bundes und der Länder fachlich abgestimmt.<br />

Plötzlich gibt es Schwierigkeiten. Durch ein Schreiben<br />

der Europäischen Kommission wurde das früher<br />

Abgesprochene und im Gesetzgebungsverfahren Abgeschlossene<br />

aus rechtlichen Gründen in Frage gestellt.<br />

Die Arbeiten kamen ins Stocken. Die heutige<br />

Debatte soll dafür sorgen, daß die Umsetzung weitergeht,<br />

daß also das von der Bundesregierung ausgearbeitete<br />

Gesetz dem <strong>Bundestag</strong> auch vorgelegt wird.<br />

Ich möchte mich nun mit den rechtlichen Bedenken<br />

befassen, die hiergegen vorgebracht werden und die<br />

nach meiner Meinung unbegründet sind.<br />

Das erste Argument: Die Kommission verlange ein<br />

Vergabegesetz, um damit einen subjektiven Anspruch<br />

im Sinne eines Klagerechts zu verwirklichen.<br />

Diese Forderung der Kommission gab es. Das ist richtig.<br />

Aber bereits in einer früheren Phase, nämlich bei<br />

der Beratung in den europäischen Gremien, ist diese<br />

Richtung der Kommission für die Bundesrepublik fallen<br />

gelassen worden, wie ich schon dargestellt habe.<br />

Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie diese Richtung<br />

nun plötzlich wieder einbringen will. Ich bin der Meinung,<br />

sie muß bei der früher erklärten Haltung bleiben.<br />

Damit kann sie diese Forderung jetzt nicht mehr<br />

stellen.<br />

-<br />

Das zweite, die Berufung auf den EuGH, den Europäischen<br />

Gerichtshof: Dieser wolle ein Klagerecht vor<br />

ordentlichen Gerichten. Auch dieses Argument zieht<br />

nicht. Ein subjektiver Anspruch nach EG-Recht verlangt<br />

nicht unbedingt ein Gerichtsverfahren in der<br />

zweiten Instanz. Es muß nur sichergestellt werden,<br />

daß ein Verstoß gegen Vergaberichtlinien rasch und<br />

wirksam abgestellt wird. Das ist auch im Rahmen des<br />

Haushaltsrechts möglich, so wie es jetzt vorgesehen<br />

ist. Der Europäische Gerichtshof überläßt es nach seiner<br />

bisherigen Rechtsprechung jedem Mitgliedstaat,<br />

wie er die Überprüfung von Rechten, die aus umge<br />

setzten Richtlinien erwachsen, ausgestalten wird. Das<br />

ergibt sich aus seiner bisherigen Rechtsprechung zu<br />

§ 77 des EWG-Vertrages. Auch die Kommission hat<br />

bei der Verabschiedung der Richtlinie durch den Ministerrat<br />

am 21. Dezember 1989 nicht Bedenken aus<br />

der Rechtsprechung des EuGH geltend gemacht.<br />

Das dritte Argument. Es wird behauptet, ohne ein<br />

Vergabegesetz komme es zu einem Durcheinander<br />

von Rechtsbehelfen. Auch das ist nicht richtig. Zwar<br />

ist der Rechtsweg durch die haushaltsrechtliche Lösung<br />

nicht ausgeschlossen. Es ist aber wenig wahrscheinlich,<br />

daß dieser zusätzlich eingeschlagen wird.<br />

Es ist auch heute schon möglich, neben dem VOB-<br />

Verfahren ein Gerichtsverfahren zu erzwingen. Trotzdem<br />

ist es nicht zu einem Durcheinander gekommen.<br />

Warum sollte es in Zukunft so sein, wenn eine funktionierende<br />

Überwachungs- und darüber hinaus eine<br />

unabhängige Instanz existiert?<br />

Viertens. Es wird behauptet, der Bieter könne auf<br />

Grund Art. 19 des Grundgesetzes das Eingreifen eines<br />

Verwaltungsgerichts fordern. Auch das ist nicht richtig.<br />

Die Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 des<br />

Grundgesetzes gilt nur für Rechtsverletzungen durch<br />

die öffentliche Gewalt. Die Vergabe öffentlicher Aufträge<br />

ist jedoch keine hoheitliche, sondern eine fiskalische<br />

Tätigkeit.<br />

Zusammengefaßt: Die vorgesehene haushaltsrechtliche<br />

Lösung ist rechtlich nicht zu beanstanden und<br />

für jeden seriösen Bieter sogar ein Vorteil. Sie schafft<br />

eine Beschwerdeinstanz, die mit Fachleuten des Vergaberechts<br />

besetzt ist. Diese werden für eine schnelle<br />

Abwicklung der Streitigkeiten sorgen — und gerade<br />

diese zügige Erledigung von Differenzen ist ein Erfordernis<br />

unserer Zeit. Alle Bauverwaltungen können ein<br />

Lied davon singen, wieviel Mehrkosten aus Steuermitteln<br />

- aufgebracht werden müssen infolge monate<br />

oder gar jahrelanger Verzögerungen durch zeitraubende<br />

Verwaltungsgerichtsverfahren bei Planfeststellungen.<br />

Wenn diese Verzögerungen auch bei der<br />

Vergabe noch möglich werden, dann wäre eine zügige<br />

Baudurchführung wichtiger öffentlicher Bauvorhaben<br />

überhaupt nicht mehr möglich. Deshalb unterstützt<br />

der Wirtschaftsausschuß, der für diese Mate rie<br />

federführend ist, das Petitum des Bauausschusses, die<br />

begonnene Umsetzung fortzuführen.<br />

Diesem Vorstoß parallel läuft ein Antrag des für<br />

diese Materie im Bundesrat federführenden Landes<br />

Baden-Württemberg. Dort wird verlangt, VOB und<br />

VOL weiterhin beizubehalten und Verwaltungsverfahren<br />

für die Überwachung einzurichten. Dort wird<br />

auch verlangt, die abgesprochenen Arbeiten für die<br />

haushaltsrechtliche Umsetzung umgehend fortzusetzen<br />

und das Gesetzgebungsverfahren einzuleiten.<br />

Dieser Forderung schließe ich mich vollinhaltlich an.<br />

Die Bundesregierung sollte den ausgearbeiteten Entwurf<br />

fertigstellen und umgehend dem Parlament zur<br />

Beschlußfassung vorlegen.<br />

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete<br />

Gabriele Iwersen, Sie haben das Wort.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2657<br />

Gabriele Iwersen (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!<br />

Was erwarten wir von Europa im letzten Jahrzehnt<br />

dieses Jahrtausends? In erster Linie positive Veränderungen<br />

auf dem Weg in eine Gemeinschaft der Regionen<br />

mit annähernd gleichen wirtschaftlichen und sozialen<br />

Bedingungen. Die EG-Kommission arbeitet für<br />

dieses Ziel seit Jahren mit viel Energie und überschwemmt<br />

uns dabei mit einem gewaltigen Meer an<br />

bürokratischen Verfahrensregelungen, in dem die<br />

schöne Idee der Gemeinschaft unterzugehen droht.<br />

Wieder einmal stehen die Baukoordinierungsrichtlinien<br />

und die Überwachungsrichtlinie auf der Tagesordnung.<br />

Es geht um ihre Umsetzung in nationales<br />

Recht. Nach Art. 189 des EWG-Vertrages sind Richtlinien<br />

für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet werden,<br />

hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich,<br />

überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen<br />

die Wahl der Form und der Mittel.<br />

Um diese geeignete Form ist schon in der 11. Wahlperiode<br />

gerungen worden. Das Ergebnis war eindeutig.<br />

Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und<br />

Städtebau empfiehlt die Beibehaltung des in der Bundesrepublik<br />

üblichen Vergabesystems durch eine verbindliche<br />

Anwendung der VOB und VOL und erwartet<br />

dazu die notwendige Ergänzung des Haushaltsgrundsätzegesetzes,<br />

in das alle Eckwerte der EG-<br />

Kommissionsrichtlinie eingearbeitet werden müssen.<br />

An dieser Auffassung hat auch die Wahl zur<br />

12. Wahlperiode des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es nichts<br />

ändern können.<br />

Es sei mir aber gestattet, an dieser Stelle mein Erstaunen<br />

zum Ausdruck zu bringen über die Hartnäkkigkeit,<br />

mit der die Willensbildung des Parlaments<br />

und auch die des Bundesrates ignoriert werden; denn<br />

anders kann ich die Tatsache nicht bezeichnen, daß<br />

wir erneut mit dieser Frage konfrontiert werden.<br />

Der gemeinsame Antrag der CDU/CSU, FDP und<br />

SPD soll sowohl der Bundesregierung als auch der<br />

EG-Kommission zeigen, daß der Bauausschuß nicht<br />

bereit ist, ein umfassendes Vergabegesetz mit dem<br />

Rechtsanspruch auf gerichtliche Nachprüfung des<br />

Verfahrens zu akzeptieren. Wir lehnen es ab, die fachkundige<br />

Beurteilung einer Vergabeentscheidung<br />

durch eine rein juristische Beurteilung zu ersetzen.<br />

Schon am 8. März 1989 hat der Bauausschuß eine<br />

diesbezügliche Stellungnahme abgegeben, die bereits<br />

am 9. und 10. März 1989 zu einem entsprechenden<br />

Einlenken der EG-Kommission führte; das heißt,<br />

die Richtlinie enthielt nicht mehr die Notwendigkeit,<br />

den am Vergabeverfahren Beteiligten einen Rechtsanspruch<br />

und, damit verbunden, einen Anspruch auf<br />

gerichtliche Nachprüfung des Verfahrens einzuräumen.<br />

Nach dem dort ausgehandelten Wortlaut würde,<br />

wie vom Ausschuß gefordert, eine Nachprüfung durch<br />

eine Verwaltungsinstanz genügen.<br />

Die EG-Kommission hat außerdem auf ihre Interventions-<br />

und Aussetzungsrechte verzichtet und<br />

wollte nunmehr nur noch gegebenenfalls als Gutachter<br />

die Mitgliedstaaten auf ihre, der EG-Kommission<br />

also bekanntgewordenen Verfahrensverstöße hinweisen<br />

und diese sozusagen aus erzieherischen Gründen<br />

veröffentlichen. Voraussetzung für diese Art der Beschwerdeinstanz<br />

ist allerdings, daß diese wieder von<br />

einer unabhängigen Instanz überprüft werden kann.<br />

Ist auch diese Instanz kein Gericht, so soll sie notfalls<br />

noch einmal einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen.<br />

Soweit der Sachstand vom April 1989, der im großen<br />

und ganzen auch den Einwendungen des Bundesrates<br />

im September 1987 Rechnung trägt.<br />

Am 15. Oktober 1990 erscheint ein Entwurf zur Umsetzung<br />

der EG-Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen<br />

Auftragwesens und der Überwachungsrichtlinie<br />

in das Haushaltsgrundsätzegesetz. Auch die<br />

hierin enthaltene Überwachung durch je einen Beauftragten<br />

für das Vergabewesen bei Bund und Ländern<br />

erscheint allseits akzeptabel. Aber schon wieder treten<br />

Irritationen auf. Ein Schreiben der EG-Kommission<br />

vom September 1990 beanstandet abermals das<br />

Fehlen eines gerichtlichen Verfahrens zur Überprüfung<br />

von Verstößen, diesmal bei der schon längst in<br />

Kraft befindlichen Liefer- und Koordinierungsrichtlinie.<br />

Wieder kommt ein Vergabegesetz ins Gespräch.<br />

Es interessiert mich wirklich, an welcher Stelle dieser<br />

hartnäckige Verfechter juristischer Instanzen sitzt.<br />

Ich sage dies, in der Hoffnung, daß diese Stellungnahme<br />

hier im <strong>Bundestag</strong> mehr Wirkung erzielen<br />

wird als die bisherigen Bemühungen durch <strong>Bundestag</strong>sausschüsse,<br />

Bundesrat, Vertreter des Städtetages,<br />

des Städte- und Gemeindebundes, der Wirtschaftsminister<br />

der Länder, des Bund-Länder-Ausschusses<br />

Haushaltsrecht und Haushaltsdynamik und auch der<br />

Bauindustrie, in deren Interesse angeblich diese Liberalisierung<br />

des europäischen Baumarktes durchgeführt<br />

werden soll.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr<br />

wahr!)<br />

Ich frage denjenigen, der das Verfahren immer wieder<br />

von Anfang an neu aufrollen möchte, in wessen Interesse<br />

er das eigentlich beabsichtigt. Ich würde ja in<br />

diese Richtung gucken, aber ich nehme an, daß er da<br />

nicht sitzt, und deshalb gucke ich weiterhin ins Plenum.<br />

Die Notwendigkeit für eine weitere Liberalisierung<br />

des öffentlichen Auftragswesens im gemeinsamen<br />

Markt und die zu dessen Durchsetzung angeblich notwendige<br />

Überwachung bzw. gerichtliche Überprüfung<br />

sollte doch im Interesse der potentiellen Güter<br />

bei den zukünftigen öffentlichen Ausschreibungen<br />

liegen.<br />

Diese aber lehnen ein Vergabegesetz aus vielerlei<br />

Gründen ab. Wichtige Einwände sind die überlangen<br />

gerichtlichen Verfahren mit der Möglichkeit der Aussetzung<br />

des Vergabeverfahrens. Die Blockadewirkung<br />

dieser Prüfinstrumente muß sich einfach investitionshemmend<br />

auswirken. Daß heißt, es muß befürchtet<br />

werden, daß die vorgeschlagenen endlosen bürokratischen<br />

Verfahren mit anschließenden zeitaufwendigen<br />

gerichtlichen Überprüfungen nicht zu einer<br />

Liberalisierung des Binnenmarktes, sondern zu einem<br />

Zusammenbruch der öffentlichen Investitionstätigkeit<br />

führen.


2658 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Gabriele Iwersen<br />

Eine andere Gefahr liegt auf der Hand: Die VOB<br />

— Verdingungsordnung für das Baugewerbe —, die<br />

nach unserem Wunsch weiterhin Grundlage der öffentlichen<br />

Vergabe bleiben soll, sieht die getrennte<br />

Ausschreibung und Vergabe nach Gewerken vor, so<br />

daß jedes Fachlos an einen anderen mittelständischen<br />

Handwerksbetrieb mit all seiner fachlichen Spezialerfahrung<br />

vergeben werden kann. Hier liegt die Marktchance<br />

für die Handwerksbetriebe. Muß aber eine<br />

ausschreibende Stelle, sagen wir das Bauamt einer<br />

mittleren Kommune am Rande unserer Republik, bei<br />

jedem Fachlos Klagen von nicht berücksichtigten Bietern<br />

aus halb Europa erwarten, wird sie zur eigenen<br />

Absicherung auf die Einzelausschreibungen der Gewerke<br />

verzichten und sich lieber einen Generalübernehmer<br />

suchen, damit der Verwaltungsaufwand und<br />

das Prozeßrisiko kleiner werden. Schon werden die<br />

kleineren Betriebe höchstens noch als Subunternehmer<br />

an öffentlichen Aufträgen beteiligt werden, und<br />

das soll verhindert werden.<br />

Im Gegenteil, wir müssen den einzelnen Regionen<br />

die besondere Fachkunde und Erfahrung der Handwerksbetriebe<br />

gerade in regionaltypischen Bauweisen<br />

erhalten.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Ich komme aus einer Region, in der der Regen zuweilen<br />

waagerecht fällt oder besser weht und durch alle<br />

nur denkbaren feinsten Ritzen und Haarrisse in das<br />

Mauerwerk eindringt. Darüber hinaus drückt der<br />

Wind das Wasser auch aufwärts oder um die Ecken<br />

herum. Die Details, mit denen der ständige Kampf<br />

gegen dieses Element ausgefochten wird, sind auf<br />

dem Papier wunderbar darstellbar. Aber nur ein Maurer,<br />

Klempner oder Tischler, der diese Gemeinheiten<br />

des Wetters kennt, weiß, weshalb hier so unwahrscheinlich<br />

pingelig gearbeitet werden muß.<br />

Das ist hier kein Versuch, wieder über die Fachkunde<br />

Grenzen zu ziehen, sondern ein Hinweis darauf,<br />

daß wir eine Ausschreibungsart erhalten müssen,<br />

die es uns ermöglicht, auch kleinere Betriebe mit besonderen<br />

Erfahrungen — z. B. mit Erfahrungen im<br />

Bauen direkt an der Küste — zu beauftragen.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Dies kann bestimmt ein Holländer genausogut wie<br />

ein <strong>Deutscher</strong> oder ein Däne; aber ein Bonner hat da<br />

vielleicht nicht die notwendige Phantasie, um sich<br />

auch nur annähernd vorzustellen, wie die Probleme<br />

anderswo vor Ort aussehen. Auch in Brüssel glaubt<br />

man offensichtlich, alle Probleme allein durch Juristen<br />

lösen zu können. Da irrt die Kommission jedoch. Zumindest<br />

irrt der eine, der als treibende Kraft - dahintersteht.<br />

Wir wollen kein Europa der Juristen, sondern ein<br />

Europa der Regionen, die zwar nicht durch nationale<br />

Grenzen zusätzlich zerschnitten sind, die sich aber<br />

sehr wohl voneinander unterscheiden. Wenn mein<br />

europäisches Haus an der Küste nun einmal ein zweischaliges<br />

Mauerwerk braucht, möchte ich nicht den<br />

Bau dadurch um ein Jahr verzögert haben, daß ein<br />

Konzern mit eigener Rechtsabteilung und einschlägiger<br />

Erfahrung im erdbebensicheren Bauen von Tiefgaragen<br />

und Parkhochhäusern vor einem Gericht im<br />

„finstersten Binnenland" einen Prozeß gegen das aus<br />

schreibende Bauamt führt, weil er die Vergabe als<br />

Diskriminierung der Alpenvorlandbewohner entlarvt<br />

hat.<br />

In Deutschland haben wir sehr gute Erfahrungen<br />

mit der VOB gemacht und wollen diese auch weiterhin<br />

nutzen, damit die öffentlichen Aufträge auch weiterhin<br />

von den mittelständischen Handwerksbetrieben<br />

ausgeführt werden können, falls diese neben ihrer<br />

besonderen Fachkunde auch konkurrenzfähige<br />

Preise angeboten haben.<br />

Wir sind nicht daran interessiert, Vergaben durch<br />

Juristen abwickeln zu lassen, sondern betrachten das<br />

Vergabewesen immer noch als einen Teilbereich des<br />

Bauwesens und wehren uns deshalb mit allen Mitteln<br />

gegen ein Vergabegesetz, in dem die Verantwortung<br />

auf Juristen verlagert wird.<br />

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)<br />

Diese Ansicht vertreten Fachleute des Baugewerbes,<br />

der öffentlichen Verwaltung von Bund, Ländern<br />

und Kommunen sowie das Parlament und der Bundesrat.<br />

Mehr an demokratischer Legitimation ist nicht<br />

möglich. Das sollten auch die Beamten in Brüssel und<br />

in Bonn zur Kenntnis nehmen; denn sie haben kein<br />

politisches Mandat, sondern sollen politischen Willen<br />

in problemlos anwendbare Richtlinien oder Gesetze<br />

umsetzen. Oder sollte die treibende Kraft vielleicht<br />

doch ein politischer Beamter sein? Dann sollte er sich<br />

doch der Ansicht seiner Parteifreunde anschließen;<br />

denn dieser Antrag hier ist, wie Sie der Drucksache<br />

entnehmen können, von allen größeren Parteien getragen.<br />

Zu irgendeiner dieser Parteien müßte sich ja<br />

auch dieser politische Beamte zugehörig fühlen. —<br />

Diese Bemerkung bezieht sich selbstverständlich<br />

nicht auf rein zufällig anwesende Personen.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />

PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abgeordnete<br />

Dr. Heinrich Leonhard Kolb.<br />

Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Meine<br />

Damen und Herren! Wie bereits bei den Kollegen<br />

Frau Iwersen und Herrn Dr. Schwörer angeklungen,<br />

bietet uns der heute hier zu behandelnde interfraktionelle<br />

Antrag die, wie ich finde, insgesamt nicht allzu<br />

häufig gegebene Möglichkeit, quer durch die Fraktionen<br />

und, wie ich vermute, auch durch die Gruppen,<br />

Einigkeit in einer wichtigen Sachfrage zu demonstrieren.<br />

Bei dem Thema, um das es hier geht, halte ich das<br />

allerdings auch für durchaus angemessen.<br />

Es ist nicht das erste Mal, daß wir uns mit diesem<br />

Problembereich des öffentlichen Auftragswesens beschäftigen<br />

müssen.<br />

Der <strong>Bundestag</strong> hatte vielmehr in der Vergangenheit<br />

bereits mehrfach Gelegenheit, sich mit der Thematik<br />

der Gestaltung und Umsetzung von EG -Richtlinien<br />

und deren Auswirkungen auf das deutsche Vergabewesen<br />

zu befassen.<br />

Auch damals schon herrschte Einigkeit zwischen<br />

den Fraktionen. Damals wie heute ging es um die


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2659<br />

Dr. Heinrich L. Kolb<br />

Erhaltung des bewährten deutschen Vergabesystems.<br />

Die Voraussetzungen dafür wurden in mühsamen<br />

Verhandlungen auf EG-Ebene geschaffen. Mit erheblichen<br />

Anstrengungen war es möglich, daß die Bundesrepublik<br />

durchsetzte, die EG- Überwachungsrichtlinie<br />

auch auf den Einsatz außergerichtlicher Rechtsbehelfe<br />

auszudehnen, so daß man mit einer Beschwerde<br />

nicht mehr zwingend vor Gericht gehen<br />

muß, sondern sie an dafür eingerichtete Überprüfungsstellen,<br />

vergleichbar mit unseren früheren<br />

Schiedsstellen, richten kann.<br />

Nun sehen wir heute erneut Anlaß, unseren politischen<br />

Willen deutlich zu machen und diese mühsam<br />

bewahrte Möglichkeit zur Beibehaltung des deutschen<br />

Vergabewesens auf nationaler Ebene zu nutzen.<br />

Das heißt, die Umsetzung der EG-Überwachungsrichtlinie<br />

muß im Wege des Haushaltsrechts<br />

erfolgen. Ein eigenes Vergabegesetz lehnen wir ab.<br />

Damit sprechen wir uns nicht gegen einen wirksamen<br />

Wettbewerb aus. Im Gegenteil, wir wollen Wettbewerb<br />

auch auf den Beschaffungsmärkten öffentlicher<br />

Auftraggeber. Wir sind aber überzeugt, daß die<br />

juristischen Bedenken, die gegen die haushaltsrechtliche<br />

Lösung gelegentlich erhoben werden, auch bei<br />

sorgfältiger Prüfung und Abwägung nicht schwer genug<br />

wiegen, um von diesem erfolgreichen Weg abzugehen.<br />

Betroffene, Wirtschaftsfachleute und Gutachter<br />

sind mit uns dieser Meinung.<br />

Es ist bei den früheren Debatten zu diesem Thema<br />

schon zutreffend ausgeführt worden, daß zunehmend<br />

die Gefahr besteht, daß EG-Regelungen zu einer<br />

Überbürokratisierung führen. Das kann und darf nicht<br />

im Sinne eines lebendigen, vielfältig strukturierten<br />

und wirtschaftlich aktiven Europa sein. Natürlich ist<br />

es auch unser Ziel, im Sinne des europäischen Binnenmarktes<br />

den Marktzugang über die Grenzen hinweg<br />

zu gewährleisten. Dazu gehören selbstverständlich<br />

auch Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten. Es besteht<br />

aber kein Grund, sich von einem seit 60 Jahren<br />

funktionierenden System, wie es in der Bundesrepublik<br />

Deutschland besteht, ohne zwingende Notwendigkeit<br />

zu trennen, wenn — und davon sind wir überzeugt<br />

— der Zweck der EG-Regelungen auch mit unserem<br />

bestehenden Regelwerk vollkommen erreicht<br />

wird.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />

SPD)<br />

Ein Gesetzentwurf zur Umsetzung der EG-Richtlinie<br />

über das Haushaltsrecht ist in den Ministerien<br />

bereits erarbeitet worden. Unser gemeinsamer Antrag<br />

nimmt darauf Bezug. Mit einer solchen Regelung soll<br />

Bietern, die sich durch einen Verstoß gegen die Vergaberegelungen<br />

benachteiligt fühlen, wirksamer<br />

Rechtsschutz gewährt werden. Die Einschaltung von<br />

Gerichten zur regelmäßigen Überprüfung von Vergabeverfahren<br />

wird aber vermieden.<br />

Mit einem Vergabegesetz wären dagegen zwangsläufig<br />

Gerichtsverfahren verbunden, und diese würden<br />

sich im Falle großer Aufträge besonders problematisch<br />

auswirken. Für diese soll die zu suchende<br />

Regelung gerade gelten. Solche großen Aufträge sind<br />

gekennzeichnet durch eine Aufgliederung des Gesamtprojekts<br />

in zahlreiche Teillose. Die Klage gegen<br />

ein im Sinne des Baufortschritts grundlegendes Los<br />

müßte zwangsläufig dazu führen, daß das gesamte<br />

Projekt gestoppt würde. Terminverzug oder auch<br />

Schadenersatzforderungen derjenigen Auftragnehmer,<br />

deren Lose ohne eigenes Verschulden gestoppt<br />

würden, stellten ein besonderes Risiko für die öffentlichen<br />

Auftraggeber dar.<br />

Der von mir beschriebene Fall brächte überdies die<br />

Gefahr mit sich, daß Auftraggeber, die die EG-Richtlinie<br />

beachten müssen, aus Sorge vor Verfahrensverzögerungen<br />

künftig überwiegend Generalunternehmer<br />

beauftragen würden. Das hätte gravierende Auswirkungen<br />

vor allen Dingen für den Mittelstand; denn<br />

im Baugewerbe sind zu 90 % mittelständische Betriebe<br />

tätig. Hier bin ich der Meinung, daß wir als<br />

gewählte Parlamentarier eines Landes, das zu Recht<br />

und mit Stolz die wirtschaftliche Bedeutung seines<br />

Mittelstandes betont, gut beraten sind, diese Bedrohung<br />

ernst zu nehmen.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />

SPD)<br />

Meine Damen und Herren, der interfraktionelle Antrag<br />

dient dazu, unseren gemeinsamen politischen<br />

Willen noch einmal deutlich zu machen. Wir wollen<br />

miteinander am Europa der Zukunft bauen, nicht aber<br />

miteinander prozessieren.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der<br />

SPD)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parlamentarische<br />

Staatssekretär beim Bundesminister für<br />

Wirtschaft, unser Kollege Klaus Beckmann.<br />

Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr<br />

verehrten Damen! Meine Herren! Einmal mehr verursacht<br />

uns die Umsetzung von EG-Richtlinien in nationales<br />

Recht erhebliche Schwierigkeiten. Die sogenannte<br />

Überwachungsrichtlinie legt fest, welche<br />

Rechte die Mitgliedstaaten Bietern einräumen müssen,<br />

die sich gegen Form- und Rechtsverstoß bei der<br />

Vergabe öffentlicher Aufträge zur Wehr setzen wollen.<br />

Dieses Thema ist für uns Deutsche deshalb so<br />

schwierig, weil wir unsere Vergabegrundsätze aus<br />

alter Tradition im internationalen Vergleich zwar vorbildlich<br />

entwickelt, zugleich aber auch Wert darauf<br />

gelegt haben, die Rechtsform von innerdienstlichen<br />

Weisungen beizubehalten. Freilich sind das keine<br />

Weisungen üblicher Art. Sie werden vielmehr in Verdingungsausschüssen<br />

mit der Wirtschaft bis in alle<br />

Details diskutiert, und zwar in der Regel so lange, bis<br />

ein Konsens gefunden ist. Durch ihre amtliche Veröffentlichung<br />

zeigt dann die Exekutive, daß sie diese<br />

Regeln als für ihr Verwaltungshandeln verbindlich<br />

anerkennt.<br />

Um dieses System auch nach der EG-Harmonisierung<br />

in etwa beibehalten zu können, ist es dem Bundeswirtschaftsminister<br />

in enger Zusammenarbeit mit<br />

dem Bundesbauminister in langwierigen Brüsseler<br />

Verhandlungen gelungen, zu erreichen, daß eigentlich<br />

speziell für den deutschen Gebrauch eine Son-


2660 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann<br />

derregelung geschaffen wurde. Hiernach gibt es neben<br />

dem üblichen gerichtlichen Verfahren eine als<br />

gleichwertig anerkannte Überprüfung: zunächst<br />

durch eine Beschwerdeinstanz und sodann — in rein<br />

rechtlicher Hinsicht — durch eine unabhängige, gerichtsähnliche<br />

Instanz.<br />

Auf dieser Basis haben die beteiligten Ressorts im<br />

Herbst 1990 einen Gesetzentwurf erarbeitet, der im<br />

Kern darauf beruht, die erforderliche Neuregelung in<br />

das Haushaltsgrundsätzegesetz aufzunehmen und<br />

die Bundesregierung zu ermächtigen, auf der Basis<br />

der dort vorgesehenen drei neuen Paragraphen mit<br />

Zustimmung des Bundesrates die entsprechenden<br />

Verordnungen zu erlassen. Dadurch werden die Verdingungsordnungen<br />

in toto den Rechtscharakter von<br />

Verordnungen erhalten. Dies ist nötig, um auch solche<br />

Auftraggeber den Vergaberegelungen zu unterwerfen,<br />

die privatrechtlich als GmbH oder als Aktiengesellschaft<br />

organisiert sind, aber nach EG-Recht<br />

dennoch zu deren Anwendung zu verpflichten sind.<br />

Andererseits zeigt die Verankerung im Haushaltsrecht,<br />

daß der für die Umsetzung verantwortliche Gesetzgeber<br />

die klare Absicht hat, einen Zugang zu den<br />

normalen Ge richten nicht zu gewähren.<br />

Leider — das will ich hier auch sagen — sind bei der<br />

weiteren Vorbereitung dieses Gesetzentwurfs, der<br />

Anfang dieses Jahres auch mit den Ländern abgestimmt<br />

wurde, aus zweierlei Richtung Bedenken aufgetaucht,<br />

die ich hier nicht verhehlen möchte.<br />

Zum einen droht die EG-Kommission mit Klage. Sie<br />

meint, es genüge nicht, wenn ein abgewiesener Bieter<br />

die Überprüfung bei den außergerichtlichen Instanzen<br />

lediglich beantragen könne; er müsse vielmehr<br />

einen subjektiven Anspruch hierauf bekommen. Würden<br />

wir uns aber darauf einlassen, so würde dies nach<br />

Art. 19 Abs. 4 unserer Verfassung zwangsweise den<br />

Weg zu den Gerichten eröffnen.<br />

Das andere Bedenken kommt aus unserer nationalen<br />

Rechtsordnung. Der Bundesjustizminister — das<br />

will ich hier auch noch erwähnen — weist darauf hin,<br />

daß ganz unabhängig von der erwähnten Gefahr eines<br />

Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof allein<br />

die Tatsache, daß unsere Verdingungsordnungen<br />

künftig zu Rechtsverordnungen würden, genüge, um<br />

zusätzlich den Weg zu den Gerichten zu eröffnen, und<br />

zwar nebeneinander gleichermaßen zu den Verwaltungs-<br />

wie auch zu den Zivilgerichten.<br />

Andererseits, verehrte Kolleginnen und Kollegen,<br />

stehen diesen noch in Diskussion befindlichen Bedenken<br />

der dezidierte Wunsch der Koalitionsfraktionen<br />

bzw. wie ich heute abend gesehen habe, -der drei größeren<br />

Fraktionen dieses Hauses nach Verwirklichung<br />

der angedachten haushaltsrechtlichen Lösung und<br />

der Zeitdruck zur Umsetzung der Richtlinie bis Ende<br />

dieses Jahres gegenüber.<br />

Der Bundeswirtschaftsminister hat deshalb in Verfolgung<br />

der haushaltsrechtlichen Lösung am 12. Juni<br />

dieses Jahres die Verbände angehört. Diese haben<br />

sich für die haushaltsrechtliche Lösung ausgesprochen,<br />

zur Überprüfung der Einzelheiten aber um einige<br />

Wochen Zeit bis zu ihrer definitiven Äußerung<br />

gebeten. Auch die Länder möchten zu den Einzelheiten<br />

des Entwurfs noch einmal Stellung nehmen und<br />

waren im übrigen der Meinung, daß das EG-Recht der<br />

haushaltsrechtlichen Lösung nicht entgegenstehe.<br />

Leider — das will ich hier auch sagen — hat EG-Vizepräsident<br />

Bangemann in seiner soeben, also nach der<br />

Anhörung eingegangenen Antwort auf eine Anfrage<br />

des früheren Staatssekretärs Schlecht ausgeführt, er,<br />

- die Kommission habe keine Zweifel, daß die Liefer<br />

und die Baukoordinierungsrichtlinie nach der Rechtsprechung<br />

des EuGH subjektive Rechte des einzelnen<br />

herbeiführten.<br />

Bei der Beratung des heutigen Entschließungsantrags<br />

in den Ausschüssen wird deshalb Gelegenheit<br />

sein, über den Fortgang der Arbeiten zu berichten und<br />

dabei auch die Antwort von Vizepräsident Bangemann<br />

zu werten. Außerdem kann dann auch schon<br />

das Konzept für die Umsetzung der sogenannten Sektorenüberwachungsrichtlinie,<br />

die der Binnenmarktrat<br />

gestern im ersten Durchgang beschlossen hat, in die<br />

Beratungen einbezogen werden. Ich glaube, wir werden<br />

uns hier noch viele Gedanken machen müssen.<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der FDP und der SPD)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ich erteilte dem Abgeordneten<br />

Georg Brunnhuber das Wort.<br />

(Dr. Hermann Schwörer [CDU/CSU]: Jung<br />

fernrede!)<br />

Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die deutsche<br />

Wiedervereinigung und die Probleme in den neuen<br />

Bundesländern haben die Bedeutung eines nach wie<br />

vor wichtigen Zieles deutscher Politik ein wenig in<br />

den Hintergrund treten lassen: die Schaffung des Europäischen<br />

Binnenmarktes.<br />

Wenn Europa zu einem Binnenmarkt zusammenwachsen<br />

soll, ist es unerläßlich, daß die Unternehmen<br />

der verschiedenen EG-Staaten über die nationalen<br />

Grenzen hinweg gleiche Chancen erhalten. Die Baukoordinierungsrichtlinie<br />

will dies durch eine Reihe<br />

von Maßnahmen sicherstellen. Die Überwachungsrichtlinie<br />

hat das Ziel, durch Kontrollen und Sanktionen<br />

die Einhaltung der Vergabevorschriften der Gemeinschaft<br />

zu gewährleisten.<br />

<strong>Bundestag</strong> und Bundesrat haben sich in den vergangenen<br />

Jahren ausführlich mit beiden Richtlinienentwürfen<br />

befaßt und sind jeweils einmütig für eine<br />

Richtlinienfassung angetreten, die die Umsetzung<br />

dieser Richtlinie durch Anpassung der Verdingungsordnung<br />

für Bauleistungen sowie haushaltsrechtlicher<br />

Vorschriften gewährleistet. Dies entsprach im<br />

übrigen dem bei der Umsetzung der Baukoordinierungsrichtlinie<br />

seit 1973 gewählten Vorgehen, das<br />

von der EG-Kommission bis dato nicht beanstandet<br />

wurde. Trotzdem wird nun von der EG-Kommission<br />

erneut die Auffassung vertreten, daß zur Umsetzung<br />

der EG-Richtlinie ein Vergabegesetz erforderlich<br />

sei.<br />

Dabei gibt es zwei Aspekte zu berücksichtigen, und<br />

zwar einerseits den rechtlichen, auf den vor allem der<br />

Kollege Schwörer schon detailliert eingegangen ist,<br />

(Manfred Carstens [Emstek] [CDU/CSU]:<br />

Das hat er gut gemacht!)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2661<br />

Georg Brunnhuber<br />

und andererseits die praktischen Auswirkungen, die<br />

ein Vergabegesetz hätte.<br />

Bei einem Vergabegesetz hat, wie schon erwähnt,<br />

jeder abgewiesene Bieter die Möglichkeit, durch<br />

Wahrnehmung seines subjektiven Rechtes den Verwaltungsrechtsweg<br />

zu beschreiten und damit überlange<br />

gerichtliche Verfahren einzuleiten, die so weit<br />

gehen könnten, daß die Aussetzung des Vergabeverfahrens<br />

bis zur endgültigen Entscheidung notwendig<br />

wäre. Dies hätte, worauf Frau Iwersen zu Recht hingewiesen<br />

hat, unübersehbare Blockadewirkungen<br />

zur Folge und würde sich darüber hinaus äußerst investitionshemmend<br />

auswirken.<br />

(Manfred Carstens [Emstek] [CDU/CSU]:<br />

Sehr wahr! — Zurufe von der CDU/CSU:<br />

Sehr gut!)<br />

Für den Aufbau in den neuen Bundesländern wäre<br />

dies verheerend und verhängnisvoll.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />

SPD)<br />

Man muß sich hier auch fragen: Was macht es für<br />

einen Sinn, daß die Regierung derzeit Überlegungen<br />

anstellt, wie man das Planungsverfahren beschleunigt,<br />

wenn nachher bei der Ausschreibung eine Baustelle<br />

nicht begonnen werden kann, weil durch die<br />

Wahrnehmung subjektiven Rechtes eines Bieters bei<br />

gerichtlichen Verfahren die Baumaßnahme Monate<br />

verzögert würde und das, was durch eine schnellere<br />

Planung an Zeit eingespart wurde, durch das EG-Vergabegesetz<br />

verlorenginge?<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Die CDU/CSU-Fraktion ist deshalb der Meinung,<br />

daß schon aus diesem Grund die Regierung in Brüssel<br />

mit Vehemenz gegen dieses Vergabegesetz vorgehen<br />

muß.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!)<br />

Der für die mittelständische Indust rie verhängnisvollste<br />

Aspekt bei der Einführung dieses Vergabegesetzes<br />

wäre die zukünftige Ausschreibungspraxis.<br />

Nach der VOB ist vorgesehen, daß getrennte Ausschreibungen<br />

und die Vergabe von Bauaufträgen<br />

nach Fachlosen und Gewerken zu erfolgen haben,<br />

dies ganz besonders, um mittelständischen Baubetrieben<br />

Marktchancen zu eröffnen. Eine Mehrzahl von<br />

Ausschreibungen für eine Baumaßnahme würde das<br />

Prozeßrisiko durch Klagen nicht berücksichtigter Bieter<br />

deutlich erhöhen. Um das Prozeßrisiko zu minimieren,<br />

würden die vergebenden und ausschreibenden<br />

Stellen dazu übergehen, ganze Bauwerke nur<br />

-<br />

noch an<br />

Generalunternehmer auszuschreiben, was den Kreis<br />

der konkurrierenden Firmen deutlich verringern<br />

würde. Viele kleine und mittlere Bet riebe könnten<br />

dann allenfalls nur noch als Unterauftragnehmer beschäftigt<br />

werden. Dadurch würde ein Konzentrationsprozeß<br />

in Gang kommen, der gerade die mittelständische<br />

Wirtschaftsstruktur in der Baubranche stark beeinträchtigen<br />

würde. Dies kann auch nicht im Interesse<br />

der Europäischen Gemeinschaft sein.<br />

Auch das Wirtschaftsministerium der Bundesrepublik<br />

Deutschland ist aus den oben genannten Gründen<br />

dazu herausgefordert, mit Engagement, Sachkunde<br />

und den vorhandenen guten rechtlichen Argu<br />

menten, wie wir gehört haben, in Brüssel ein Vergabegesetz<br />

zu verhindern.<br />

Alle diese Gesichtspunkte haben den Ausschuß für<br />

Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bewogen,<br />

dem <strong>Bundestag</strong> zu empfehlen, für eine Lösung im<br />

Rahmen unseres bewährten Systems der VOB und der<br />

VOL einzutreten.<br />

Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> sollte diese Empfehlung<br />

nicht nur deshalb annehmen, um zu verhindern, daß<br />

eine übermächtige europäische Bürokratie alles erdrückt<br />

und daß die mittelständische Bauwirtschaft<br />

das Nachsehen hätte, sondern es geht hier auch um<br />

das Selbstverständnis dieses Parlaments, das bei der<br />

Schaffung des EG-Gemeinschaftsrechts und der Umsetzung<br />

europäischer Vorstellungen ohnehin schon<br />

fast auf eine Zuschauerrolle reduziert ist.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)<br />

Europa braucht das wache Auge des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es.<br />

Wir fordern die Bundesregierung auf, alles<br />

zu tun, um in Brüssel eine ordnungsgemäße, in unserem<br />

Sinn ausgestaltete Lösung zu erzielen.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP und der SPD)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aussprache.<br />

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf<br />

Drucksache 12/770 an die in der Tagesordnung genannten<br />

Ausschüsse zu überweisen. Der EG-Ausschuß<br />

erhält die Vorlage zur Mitberatung nach seiner<br />

Konstituierung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge?<br />

— Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung<br />

so beschlossen.<br />

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:<br />

Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia<br />

Nolte, Dr. Maria Böhmer, Monika Brudlewsky,<br />

weiterer Abgeordneter und der Fraktion<br />

der CDU/CSU sowie der Abgeordneten<br />

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,<br />

Dr. Eva Pohl, weiterer<br />

Abgeordneter und der Fraktion der FDP<br />

Fristverlängerung zur Antragstellung auf Aufhebung<br />

von Zwangsadoptionen<br />

— Drucksache 12/763 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Rechtsausschuß (federführend)<br />

Ausschuß für Familie und Senioren<br />

Ausschuß für Frauen und Jugend<br />

Interfraktionell gibt es eine Einigung, daß die Beiträge<br />

zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben<br />

werden. — Dazu sehe ich auch keinen Widerspruch.<br />

Dann ist das so beschlossen *)<br />

Interfraktionell wird ebenfalls vorgeschlagen, die<br />

Vorlage auf Drucksache 12/763 an die in der Tagesordnung<br />

genannten Ausschüsse zu überweisen. Besteht<br />

damit Einverständnis, oder gibt es andere Vorschläge?<br />

— Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung<br />

so beschlossen.<br />

*) Anlage 6


2662 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsident Hans Klein<br />

Meine Damen und Herren, jetzt sind die Redner für<br />

den Tagesordnungspunkt 10 noch nicht da.<br />

(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Also kön<br />

nen wir das auch absetzen!)<br />

Dann überblättere ich zunächst einmal diesen Tagesordnungspunkt,<br />

bis die Kolleginnen und Kollegen im<br />

Saal sind.<br />

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:<br />

Beratung des Antrags des Abgeordneten<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis<br />

90/DIE GRÜNEN<br />

Nationale und internationale Konsequenzen<br />

der ökologischen Auswirkungen des Golf<br />

Krieges<br />

— Drucksache 12/779 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />

(federführend)<br />

Auswärtiger Ausschuß<br />

Rechtsausschuß<br />

Finanzausschuß<br />

Ausschuß für Wirtschaft<br />

Verteidigungsausschuß<br />

Ausschuß für Verkehr<br />

Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

Haushaltsausschuß<br />

Interfraktionell ist für die Aussprache eine Runde<br />

mit Zehn-Minuten-Beiträgen vereinbart worden. —<br />

Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.<br />

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete<br />

Dr. Feige.<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />

Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!<br />

Der frühe Debattenzeitpunkt wird jetzt, glaube ich,<br />

einige Kollegen in Verlegenheit bringen, die diesen<br />

Beitrag ebenfalls kommentieren wollten. Aber ich<br />

denke, sie werden im Laufe der Zeit noch eintrudeln.<br />

Gestern früh, auf dem Weg zur Pressekonferenz,<br />

fragte mich ein Kollege, zu welchem Thema ich mich<br />

denn dort äußern wolle. Die Antwort war, daß es um<br />

die ökologischen Auswirkungen des Golfkrieges<br />

gehe. Dies veranlaßte ihn — sinngemäß — zu der Aussage:<br />

Wen interessiert denn jetzt so etwas? Da kommt<br />

ja nicht einmal Berlin und Bonn drin vor. — Somit,<br />

meinte er, sei es schon fast aussichtslos, daß das Aufmerksamkeit<br />

bekomme.<br />

(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)<br />

Es stimmt: Der Krieg am Golf ist zu Ende. Die Kon-<br />

-<br />

fetti-Siegesparaden wollen uns gar suggerieren, alles<br />

sei wieder in bester Ordnung. Aber noch brennen die<br />

Schlachtfelder, noch sterben die Menschen an den<br />

Folgen dieses Krieges, der, genau gesehen, ein Krieg<br />

um Erdöl war. Es werden noch lange Menschen und<br />

vor allem Kinder an den Spätfolgen dieses datengeschützten<br />

Umweltkrieges umkommen. Die Zensur<br />

über die genauen Kriegsfolgen besteht immer noch.<br />

Damit kein Mißverständnis aufkommt: Saddam<br />

Hussein ist ein Verbrecher. Aber Verbrecher sind<br />

auch all diejenigen, die ihn aktiv gefördert haben, ihm<br />

die Waffen lieferten oder ihn technisch beraten haben.<br />

Nicht erst seit Hiroshima sind die Auswirkungen<br />

eines Krieges auf die natürlichen Lebensgrundlagen<br />

bekannt. Die Giftgaseinsätze im Ersten Weltkrieg töteten<br />

nicht nur zigtausend Soldaten, sie rotteten auch<br />

alles höhere tierische Leben im Frontgebiet aus. Ich<br />

möchte hier nur an die Schlachten von Verdun erinnern.<br />

Selbst auf dem Gebiet sogenannter konventioneller<br />

Kriegswaffen gibt es kein Tötungsinstrument<br />

mehr, das nicht nachhaltig auf die Umwelt wirken<br />

kann. So beinhaltet jeder Krieg, der heute geführt<br />

wird, die Gefahr der unwiederb ringlichen Vernichtung<br />

wertvoller Ökosysteme oder der Erde selbst. Da<br />

wir nun einmal nur diese eine Erde haben, ist es die<br />

Pflicht der friedensbewahrenden Menschen, endlich<br />

Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln und die<br />

Menschenrechte und die Freiheit ohne den Einsatz<br />

des Waffenarsenals sogenannter moderner Kriege zu<br />

sichern.<br />

Es kann eben nicht nur darum gehen, mit Nachsorgemaßnahmen<br />

und einer internationalen Neubewertung<br />

der Umweltauswirkungen von Kriegen den Eindruck<br />

zu erwecken, als wäre die ökologische Bedrohung<br />

der Menschheit durch technischen Umweltschutz<br />

oder völkerrechtliche Vereinbarungen zu bewältigen.<br />

Es muß um die Beseitigung der Kriegsursachen<br />

selbst gehen.<br />

In Kuwait brennen die Ölfelder. Mediziner raten<br />

jedem, der es sich leisten kann, das Land zu verlassen.<br />

Die regionalen oder globalen Folgen der Ölbrände,<br />

die möglicherweise erst in Jahren gelöscht sein werden,<br />

sind völlig unabsehbar. Aber nicht nur das: Unmengen<br />

Rohöl sind in den Persischen Golf geflossen.<br />

Dort, wo das Öl unmittelbar auf Meeresfauna und<br />

-flora trifft, vergiftet und vernichtet es sofort alles Leben.<br />

Treibende Fischeier und Larven erleiden irreparable<br />

Schäden; Vögel, deren Gefieder verklebt, erfrieren<br />

oder müssen jämmerlich ertrinken. Es erscheint<br />

schon makaber, wenn sogenannte Experten angesichts<br />

der dicken ausgehärteten Ölfladen an den<br />

Stränden von einer „angenehmen Küstensicherung"<br />

oder „Verfestigung" sprechen.<br />

Aber schon die sogenannten normalen Folgen des<br />

Krieges können sich zu einer langen Liste von Zeitbomben<br />

summieren. Hunderttausende Minen und<br />

Bomben, eine Unmenge von Kampfstoffen verseuchen<br />

Böden und Luft, erzeugen gefährliche Altlasten,<br />

deren Sanierung nur mit Milliardenaufwand möglich<br />

sein wird. Die Zerstörung von Ent- und Versorgungssystemen<br />

führte in größeren Städten bereits nach wenigen<br />

Tagen zum Zusammenbruch der Strom- und<br />

der Wasserversorgung. Gesundheitsgefahren durch<br />

schlechte Wasserqualiltät und unzureichende medizinische<br />

Versorgungsmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung<br />

sind die Folge.<br />

Lange genug hat sich Deutschland intensiv an der<br />

Verbrennung jahrmillionenlang aufgespeicherter<br />

Sonnenenergie beteiligt und auch gut vom Golföl gelebt.<br />

Ohne diese Voraussetzung wäre die Regierung<br />

auch nicht in der Lage gewesen, so problemlos die fast<br />

20 Milliarden DM für die Unterstützung des militärischen<br />

Einsatzes der USA bzw. der Alliierten aufzubringen.<br />

Aus einem Gefühl der Mitverantwortung für<br />

die Zukunft und nicht zur Restaurierung eines vergangenen<br />

Status quo muß die Bundesrepublik


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2663<br />

Dr. Klaus-Dieter Feige<br />

Deutschland der Bevölkerung der betroffenen Region<br />

in besonderer Weise verpflichtet sein.<br />

Diese Mitverantwortung ist dann auch eine Mitverantwortung<br />

für den Schutz des Ökosystems Erde. Die<br />

drohende Erwärmung der Erdatmosphäre und die<br />

fortschreitende Zerstörung der Ozonschicht haben<br />

bereits in den letzten Jahren deutlich gemacht, daß<br />

nur eine strukturelle Veränderung der wirtschaftlichen<br />

Abhängigkeit von fossilen Energieträgern die<br />

Gefahren des Treibhauseffektes und anderer umweltund<br />

gesundheitsschädigender Auswirkungen der<br />

Verbrennung fossiler Energieträger mildern kann.<br />

Drei Erdölkrisen in 17 Jahren und schließlich der<br />

Golfkrieg sind eine kleine Warnung, daß die Welt auf<br />

dem Weg der Unabhängigkeit vom Öl nicht weitergehen<br />

kann.<br />

Ich weiß, die Damen und Herren der Koalition werden<br />

wie bei der Diskussion des Antrags der SPD-Fraktion<br />

zur Hilfe beim Löschen der kuwaitischen Ölbrände<br />

in der letzten Woche wieder beteuern, daß sie<br />

ja schon alles Mögliche versucht haben. Doch die versprengte<br />

unkonzeptionelle Hilfe an einzelnen Punkten<br />

genügt der erforderlichen deutschen Mitverantwortung<br />

keineswegs. Erst ein Gefüge aus Soforthilfen,<br />

vorbeugenden technischen und langfristig wirkenden<br />

politischen Maßnahmen auch hier bei uns zu<br />

Hause in Deutschland gibt uns die Chance zu einer<br />

Lösung für diese Herausforderung.<br />

In unserem Antrag haben wir ein Bündel notwendiger<br />

Maßnahmen zusammengefaßt. Erstens: umfassende<br />

Hilfeleistung bei der Erkundung, Erforschung,<br />

Beseitigung von unmittelbaren Kriegsauswirkungen<br />

durch die Ölpest im Persischen Golf; das, was dort<br />

angedacht ist, reicht nicht.<br />

Zweitens. Die bereits bestehenden Bemühungen<br />

bei der Löschung der Ölbrände sind zu intensivieren<br />

und auch durch internationale Aktivitäten zu unterstützen.<br />

Hierbei geht es auch um die Bereitstellung<br />

finanzieller Mittel.<br />

Drittens. Beim Umweltbundesamt ist eine Expertengruppe<br />

zusammenzustellen, die unmittelbar mit<br />

der regionalen Umweltorganisation ROPME zusammenarbeiten<br />

kann.<br />

Viertens. Kurzfristig ist ein humanitäres Hilfsprogramm<br />

zur Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung,<br />

Trinkwasserbereitstellung und medizinische<br />

Betreuung der Zivilbevölkerung in den betroffenen<br />

Gebieten aufzubauen. Die Arbeiten von Organisationen<br />

wie Rotem Kreuz beziehungsweise Rotem Halbmond<br />

in den von Flüchtlingsströmen betroffenen Gebieten<br />

sind mit 1 Milliarde DM zu unterstützen.<br />

Fünftens. Die Bundesregierung sollte eine Konferenz<br />

der Vertragsstaaten des Umweltkriegsübereinkommens<br />

mit dem Ziel der Überprüfung und Verschärfung<br />

des Abkommens beantragen, um eine internationale<br />

Ächtung und Verfolgung von Methoden<br />

der Kriegführung gegen die Umwelt zu erreichen, und<br />

sie sollte auf alle Partner in der NATO einwirken, endlich<br />

das Umweltkriegsübereinkommen und das<br />

46. Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention der Vereinten<br />

Nationen von 1977 verbindlich anzuerkennen.<br />

Sechstens. Die Folgen aus Kriegen und fossile Energieträger<br />

machen zwingend einen konsequenten Umbau<br />

auch der nationalen Wirtschaftsweise notwendig.<br />

Das betrifft sowohl die Energieproduktion überhaupt,<br />

insbesondere Markteinführungshilfen für erneuerbare<br />

Energieträger bei gleichzeitiger Einschränkung<br />

beziehungsweise dem mittelfristigen<br />

Ausstieg aus der Öl- und Atomwirtschaft. Das bedeutet<br />

aber auch, unverzüglich den Stromvertrag in den<br />

neuen Bundesländern zu annullieren und den ostdeutschen<br />

Kommunen beim Aufbau eigenständiger<br />

Energiedienstleistungsunternehmen zu helfen.<br />

Siebtens. Wir schlagen Maßnahmen für eine umfassende<br />

Neugestaltung der Verkehrspolitik der Bundesrepublik<br />

vor. Ein wesentliches Element ist dabei<br />

der Auftrag an die Regierung, dem <strong>Bundestag</strong> noch<br />

1991 einen Entwurf eines Mineralölabgabegesetzes<br />

vorzulegen, durch den über eine spürbare Verteuerung<br />

von Vergaser- und Dieselkraftstoff eine nennenswerte<br />

Verlagerung von motorisiertem zu nichtmotorisiertem<br />

Individualverkehr und öffentlichem<br />

Personennahverkehr gewährleistet wird.<br />

Achtens und letztens. Die Bundesregierung wird<br />

aufgefordert, sich für einen globalen und umfassenden<br />

Schuldenerlaß für die Länder der sogenannten<br />

Dritten Welt einzusetzen, um für diese die Chancen<br />

ökologischer und sozialer Reformen wesentlich zu<br />

verbessern und eine ressourcenschonende Wirtschaft<br />

aufzubauen. Dies setzt allein schon aus Gründen der<br />

Glaubwürdigkeit natürlich die Durchführung der vorgeschlagenen<br />

umfassenden Aktivitäten auf nationaler<br />

Ebene voraus.<br />

Es darf keinen Krieg mehr geben.<br />

Ich danke für die Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der<br />

PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der<br />

SPD)<br />

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Feige, es<br />

war ein Mißverständnis. Es war eine Zehn-Minuten-<br />

Rede vereinbart, Sie haben sich durch die Lampe, die<br />

da dauernd leuchtet, aber nicht ganz aus der Fassung<br />

bringen lassen.<br />

Es geht mit Zehn-Minuten-Beiträgen weiter. Der<br />

nächste Redner ist unser Kollege Dr. Norbert Rieder.<br />

Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel hat uns die<br />

Situation am Golf gezeigt, daß wir Deutsche uns nicht<br />

isoliert sehen dürfen, vor allen Dingen nicht isoliert<br />

von den militärischen und ökologischen Folgen eines<br />

Konflikts, der sich scheinbar weit weg von uns abspielt.<br />

Es kann uns eben nicht mehr egal sein, wenn<br />

sich weit hinten in der Türkei die Völker schlagen;<br />

doch die Politik der Bundesregierung zeigte eindeutig,<br />

daß eine isolierte Haltung, ein Zurücklehnen in<br />

den bequemen Ohrensessel eben nicht ihre Art ist, hat<br />

doch Minister Töpfer sehr schnelle Hilfe gebracht.<br />

Unsere deutschen Ölsperren haben in vielen Fällen<br />

das Schlimmste verhindert, wenn auch diese Hilfe bei<br />

der Größe der Aufgabe mitten im verminten Gebiet<br />

nur ein Tropfen auf den heißen Stein war. Deutsche<br />

Meßtechnik ist zur Erfassung der ökologischen Ge-


2664 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Norbert Rieder<br />

samtsituation ebenfalls vor Ort. Das BMFT organisiert<br />

den Einsatz deutscher Löschtechnik. Die Kuwaitis, die<br />

sich ja lange Zeit etwas gesperrt haben, sind inzwischen<br />

an dieser deutschen Hilfe interessiert. Der Einsatz<br />

der Bundeswehr bei den Minenräumaktionen ist<br />

ebenfalls allgemein bekannt. Deutsche Wissenschaftler<br />

waren oder sind vor Ort, um Daten zur ökologischen<br />

Gesamtsituation zu erheben. Somit sind Deutsche<br />

ohne Zweifel in angemessener Weise an dieser<br />

internationalen Aufgabe voll beteiligt.<br />

Weitere Konsequenzen werden mit Sicherheit gezogen<br />

werden, sobald neue, weiterführende Daten vorliegen.<br />

Wir sind deshalb der Ansicht, daß der erste Teil<br />

des Antrags der GRÜNEN unbegründet ist, da die vorgeschlagenen<br />

Maßnahmen entweder bereits vollzogen<br />

sind oder auf Grund der noch mangelnden Daten<br />

nicht sinnvoll durchgeführt werden können. Zum Teil<br />

können sie aber auch nicht unsere deutsche Aufgabe<br />

sein; denn wir sind sicherlich nicht dazu da, überall<br />

auf der Welt alles, was irgendwo schiefgegangen ist,<br />

hinterher wieder in Ordnung zu bringen. Ein paar<br />

eigene Probleme im eigenen Land haben wir schließlich<br />

auch.<br />

Dem zweiten Teil Ihres Antrags können wir voraussichtlich<br />

ebenfalls nicht zustimmen, denn leider haben<br />

Sie der Versuchung nicht widerstehen können<br />

und haben die große Gebetsmühle — ich muß das einmal<br />

so ausdrücken — wieder einmal anlaufen lassen.<br />

Ich zitiere aus Ihrem Antrag:<br />

Viele der im vorliegenden Antrag skizzierten<br />

Überlegungen und Forderungen für eine neue<br />

Energie-, Verkehrs- und Weltwirtschaftspolitik<br />

sind bereits ... in der 11. Wahlperiode in zahlreichen<br />

parlamentarischen Initiativen ausgeführt<br />

worden.<br />

Nun, das können wir nur bestätigen. Es ist immer das<br />

gleiche; nur der Vorspann ändert sich. Dieses Mal ist<br />

es der Golfkrieg, morgen sind es vielleicht die Vulkanausbrüche<br />

in Japan oder auf den Philippinen, und<br />

wenn übermorgen in der Antarktis ein großer Gletscher<br />

kalbt, kommt wieder derselbe Antrag mit einem<br />

anderen Vorspann.<br />

Deshalb kann ich nur sagen: Sicherlich müssen wir<br />

Deutsche unserer Verantwortung der Welt und der<br />

Natur gegenüber gerecht werden, das aber Schritt für<br />

Schritt, und nicht alles auf einmal. Am deutschen Wesen<br />

kann und wird die Welt sicherlich nicht allein<br />

genesen.<br />

Vielen Dank.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />

Damen und Herren, der nächste Redner ist der<br />

Abgeordnete Dr. Klaus Kübler.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Ich will nicht so anfangen wie der<br />

von mir wirklich geschätzte Kollege Rieder, der eine<br />

ganz interessante schwarz-grüne Mischung in der Argumentation<br />

hat. Das ist nicht negativ gemeint, das ist<br />

wirklich im wahrsten Sinn des Wortes eine interessante<br />

Mischung.<br />

Ich möchte auch nicht meine Kritik an der Bundesregierung<br />

von der letzten Woche in denselben Punkten<br />

im wesentlichen wiederholen, sondern nur das<br />

ansprechen, was in der Zwischenzeit, in dieser einen<br />

Woche, im Zusammenhang mit dem Antrag der<br />

Gruppe Bündnis 90/GRÜNE erfolgt ist.<br />

Ich begrüße es, daß Sie, Herr Feige, und auch Ihre<br />

Gruppe dieses Thema in der Öffentlichkeit wachhalten<br />

wollen. Ich bin dafür außerordentlich dankbar.<br />

Ich füge hinzu: Dazu wäre es sicherlich besser gewesen,<br />

einen Antrag mit kurzfristig notwendigen<br />

Maßnahmen zur Bekämpfung der Ölbrandkatastrophe<br />

nicht mit Anträgen für längerfristig wirkende<br />

Strategien zu verbinden. Ich glaube, daß dies ein strategisches<br />

oder auch taktisches Handicap Ihres Antrages<br />

ist. Eine Trennung hätte den Antrag möglicherweise<br />

politisch erfolgreicher gemacht. Trotzdem: Der<br />

Antrag hat in nicht unwichtigen Teilen seinen politischen<br />

Stellenwert.<br />

Die Expertengruppe, die im Auftrag des BMFT<br />

letzte Woche nach Kuwait gereist ist, hat gestern eine<br />

Presseerklärung abgegeben, die heute in den Zeitungen<br />

erschienen ist und die die Katastrophe und ihre<br />

Folgen — ich betone: in erfreulicher Offenheit und in<br />

dramatischer Weise — geschildert hat. Ich begrüße<br />

ausdrücklich — ich wiederhole dies heute genauso,<br />

wie ich es in der letzten Woche gesagt habe — diese<br />

offene Informationspolitik der Bundesregierung in<br />

diesem Punkt und hoffe — ich spreche dies deutlich<br />

aus —, daß dies in Zukunft anhält.<br />

Viel zu lange hat es gedauert — das hat der Besuch<br />

und das Ergebnis des Besuchs der Expertenkommission<br />

bestätigt — , bis diese Expertenkommission vier<br />

Monate nach Kriegsende nach Kuwait gereist ist. Ich<br />

stelle die nicht nur rheto rische Frage — dies muß man<br />

zugestehen — : Wie wäre die Situation heute, wenn<br />

die Amerikaner dazu auch vier Monate gebraucht<br />

hätten?<br />

Ich muß deshalb, bestätigt durch das Ergebnis dieses<br />

Besuchs, das zögerliche Verhalten der Bundesregierung<br />

erneut scharf verurteilen. Ungeschicktes Management,<br />

Unentschlossenheit, aber vor allem auch<br />

mangelndes Vertrauen der Bundesregierung in die<br />

Fähigkeit und in das Know-how deutscher Firmen<br />

und deutscher Experten beim Löschen von Ölbränden<br />

haben die unnötigen Verzögerungen verursacht.<br />

Leider war die deutsche Expertenkommission<br />

— entgegen nachhaltig erhobenen Forderungen der<br />

SPD — ohne einen einheitlichen umfassenden Vorschlag<br />

für das Löschen der Ölquellen dorthin gereist.<br />

Jetzt kommen die Experten zurück, und was sagen<br />

sie? — Der Bundesforschungsminister Riesenhuber<br />

teilt mit, mehr oder weniger wörtlich wiedergegeben,<br />

die kuwaitische Seite habe die Deutschen aufgefordert,<br />

einen solchen einheitlichen umfassenden deutschen<br />

Vorschlag nun endlich — „endlich" füge ich<br />

hinzu — vorzulegen.<br />

Das hatte ich Herrn Riesenhuber nach unserer<br />

Rückkehr von Kuwait schon vor Fünf Wochen genau<br />

in diesem Punkte mitgeteilt. Auch im persönlichen<br />

Gespräch hatte er eigentlich nichts gegen diese Verfahrensweise<br />

eingewendet. Übrigens hatte sich auch


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2665<br />

Dr. Klaus Kübler<br />

der deutsche Botschafter unmittelbar nach unserem<br />

Besuch entsprechend geäußert.<br />

Wir alle wissen ja, daß die Katastrophe in Kuwait<br />

nicht kleiner, sondern immer größer wird. Ich will<br />

auch nicht zwischen den Zeilen der Erklärung von<br />

Herrn Riesenhuber lesen, daß die Deutschen dorthin<br />

müssen, um, was nachher ganz schwierig ist, abräumen<br />

zu helfen. Aber auch damit würde ich mich einverstanden<br />

erklären.<br />

Die SPD sieht jetzt gleichwohl einen Fortschritt bei<br />

der Realisierung einer wirksamen deutschen Beteiligung<br />

beim Löschen der Ölbrände. Wer will, daß das<br />

bisherige Tempo der Löscharbeiten beschleunigt wird<br />

— dies ist nicht nur eine Frage Kuwaits — , der muß im<br />

Grunde die Beteiligung aller weltweit vorhandenen<br />

Löschkapazitäten fordern.<br />

Sie wissen, daß der amerikanische Löschexperte<br />

Ted Adair davon gesprochen hat: Wenn es so weitergeht<br />

wie bislang — er hat seine amerikanischen<br />

Freunde und Arbeitskollegen genannt — , dann würden<br />

die Löscharbeiten noch fünf Jahre andauern.<br />

Die sozialdemokratische Fraktion fordert deshalb<br />

die Bundesregierung erneut auf, auf politischer Ebene<br />

eine Beteiligung bei der Ölbrandbekämpfung durchzusetzen,<br />

gegebenenfalls auch dadurch, daß zu diesem<br />

Zweck auch Kontakte zur US-Regierung aufgenommen<br />

werden.<br />

Ich frage deshalb insbesondere den Bundesforschungsminister<br />

— ich gehe davon aus, daß er dies<br />

hinterher zur Kenntnis nimmt —: Bis wann wird denn<br />

nun der konkrete Vorschlag für eine deutsche Löschexpertengruppe<br />

erarbeitet sein, und wann wird der<br />

Bundesforschungsminister nach Kuwait reisen? Da es<br />

bisher sehr schwerfällig gelaufen ist, muß sich wohl<br />

der Minister persönlich durch eine Reise bis hin vor<br />

Ort einschalten. Ich darf dies nicht nur ironisch sagen:<br />

Ich bitte den Bundesforschungsminister, sich rechtzeitig<br />

um ein Visum zu bekümmern, damit er nicht vier<br />

oder sechs Wochen braucht, um ein Visum zu erhalten.<br />

Lassen Sie mich zum Schluß als Perspektiven folgendes<br />

sagen: Aus dem Völkerrecht kann durchaus<br />

eine Informations- und Kooperationspflicht Kuwaits<br />

abgeleitet werden. Ich komme deshalb kurz auch auf<br />

Kuwait zu sprechen. Wir müssen — nicht nur im Interesse<br />

Kuwaits, aber auch im Interesse Kuwaits — die<br />

Regierung von Kuwait auffordern, mögliche Vorbehalte<br />

gegen eine deutsche Beteiligung aufzugeben.<br />

Mögliche Vorbehalte: ausdrückliche habe ich nie gehört.<br />

Ich betone noch einmal: Selbst wenn mögliche<br />

Vorbehalte da sind, muß ich eben politisch - handeln<br />

und muß wissen, wie ich diese möglichen Vorbehalte<br />

abbaue. Aber ich fordere die Regierung von Kuwait<br />

auf, mögliche Vorbehalte gegen eine deutsche Beteiligung<br />

aufzugeben. Ich bitte die kuwaitische Regierung<br />

auch, richtig zu verstehen, wenn ich unterstreiche<br />

und in Erinnerung rufe, daß sich Deutschland mit<br />

über 17 Milliarden DM an der Befreiung Kuwaits beteiligt<br />

hat.<br />

Die Bundesregierung ist aufgefordert, auch die anderen<br />

Lehren zu ziehen und internationale Initiativen<br />

zu ergreifen. Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit<br />

zwei oder drei Punkte ansprechen.<br />

Es kann wohl nicht sein, daß auch relativ unzulängliche<br />

Umweltschutzabkommen völkerrechtlicher Art<br />

von der Bundesrepublik und auch von anderen Ländern<br />

unterzeichnet worden sind, aber von wesentlichen<br />

Ländern der EG und unseres Bündnisses NATO,<br />

wie immer man dazu auch steht, nicht ratifiziert worden<br />

sind. Was dem Umweltstandard in dieser völkerrechtichen<br />

Weise angeht, müssen die Partner der<br />

NATO, wenn wir uns als richtige Partner verstehen,<br />

und die Mitglieder der EG an einem Strang ziehen. Ich<br />

fordere die Bundesregierung auf, mit darauf hinzuwirken,<br />

daß die Länder, die nicht ratifiziert haben, in<br />

Richtung Ratifizierung arbeiten.<br />

Ich bitte die Bundesregierung weiterhin und fordere<br />

sie auf, zu überlegen, wieweit das internationale Umweltschutzvölkerrecht<br />

fortzuschreiben ist. Ich spreche<br />

hier den Gedanken an, daß es wohl nicht sein kann,<br />

daß das internationale Umweltschutzrecht immer sofort<br />

zurückstecken muß, wenn militärische Notwendigkeiten<br />

unterstellt werden. Mit einer militärischen<br />

Notwendigkeit kann man in der Tat jede Umweltschutzmaßnahme<br />

aushebeln.<br />

Ich fordere die Bundesregierung auch auf, ihre<br />

Überlegungen zu einem internationalen Strafgerichtshof<br />

— Überlegungen, die von ihr durch den Außenminister<br />

angesprochen wurden — weiter zu prüfen.<br />

Ich fordere die Bundesregierung auf, Haftungsfragen<br />

in diesem Zusammenhang zu klären, wer für<br />

solche Umweltschäden international zur Haftung zu<br />

ziehen ist.<br />

Ich glaube, die Bundesrepublik Deutschland wäre<br />

gut beraten, wenn sie im internationalen Spektrum in<br />

schwierigen Situationen ihre Umweltaktivitäten und<br />

ihr Umweltprofil schärfen würde. Dies ist mit diesen<br />

Möglichkeiten als e i n Schritt gegeben.<br />

Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste,<br />

beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge<br />

ordneten der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, ich erteile der Abgeordneten Birgit Homburger<br />

das Wort.<br />

Birgit Homburger (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen! Herr Kübler, Sie haben gerade<br />

gesagt, Sie wollten eigentlich nicht das wiederholen,<br />

was wir hier schon in der letzten Woche an<br />

gleicher Stelle gesagt haben. Aber ich denke, das wird<br />

sich nicht vermeiden lassen; denn sehr viel Neues in<br />

der Sache gibt es eigentlich seit letzter Woche nicht.<br />

Nach wie vor gibt es die gleiche schlimme ökologische<br />

Situation am Golf. Es brennen nach wie vor ungefähr<br />

gleich viele Ölquellen in Kuwait.<br />

Im Umweltausschuß haben wir heute morgen in<br />

Fortsetzung der Expertenanhörung, die wir am<br />

29. April durchgeführt haben, einen weiteren Zwischenbericht<br />

des Bundesministers für Umwelt erhalten.<br />

Dieser Bericht unterstreicht im Prinzip zweierlei:<br />

erstens, daß man nach wie vor nur unzureichend<br />

schnell oder, besser gesagt, viel zu langsam mit dem<br />

Löschen der Brände vorankommt, und zweitens, daß<br />

offensichtlich nach wie vor insbesondere von Kuwait


2666 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Birgit Homburger<br />

und dem Iran die Brisanz der Lage nicht wirklich verstanden<br />

wird. Nur so ist aus Sicht der FDP jedenfalls<br />

zu erklären, daß weiterhin gezögert wird, die Hilfe,<br />

die z. B. in Form von zwei mobilen Meßstationen von<br />

der Bundesregierung angeboten wurde, anzunehmen.<br />

Es sind Hilfen von seiten der Bundesregierung<br />

angeboten worden — auch wenn das bestritten<br />

wird — , und sie sind nach wie vor nicht angenommen<br />

worden.<br />

Anläßlich der Rückkehr einer deutschen Expertengruppe<br />

zur Bekämpfung der Ölbrände aus Kuwait<br />

— Sie haben sie gerade schon zitiert, Herr Kübler —<br />

erklärte der Bundesforschungsminister gestern, daß<br />

Kuwait nun offensichtlich bereit ist, einen Einsatz<br />

deutscher Unternehmen beim Löschen der Ölbrände<br />

zuzulassen, und dafür auch einen Vorschlag einer Arbeitsgemeinschaft<br />

der beteiligten Firmen erbeten<br />

hat.<br />

Nachdem Kuwait eine solche Hilfe in den vergangenen<br />

Monaten abgelehnt hat, ist es für mich eine<br />

erfreuliche Nachricht — —<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das trifft nicht zu!<br />

Ich sage das noch einmal ausdrücklich und<br />

habe das auch Herrn Riesenhuber vor fünf<br />

Wochen mitgeteilt!)<br />

—Herr Kübler, Sie behaupten immer und immer wieder<br />

— das haben wir auch letzte Woche hier schon<br />

gehört — , daß Kuwait diese Hilfe nicht ablehnt. Es ist<br />

doch die Frage, wie diese Hilfe aussieht. Es ist eine<br />

ganze Menge Hilfe von seiten der Bundesregierung<br />

geleistet worden. Ich denke nur daran, daß eine<br />

Menge Material zur Ölbekämpfung in die Golfregion<br />

geliefert wurde, daß z. B. Ölbarrieren und Skimmer,<br />

also Ölabsaugpumpen, sowie aufblasbare Tanks hingeliefert<br />

wurden. Es sind z. B. allein 2 700 m Ölsperren<br />

und fünf große Skimmer an Saudi-Arabien im<br />

Wert von 4 Millionen DM gegeben worden.<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das ist doch ganz<br />

unbestritten! Das ist doch nicht das Pro<br />

blem!)<br />

— Diese Hilfe ist auf jeden Fall gegeben worden. Es ist<br />

auch Kuwait Hilfe z. B. in Form zweier Meßwagen<br />

angeboten worden. Die Hilfe wird nach wie vor nicht<br />

angenommen. Es wird von Kuwait verhindert, daß die<br />

Meßstationen ins Land gelassen werden und daß sie<br />

die Arbeit aufnehmen können. Kuwait lehnt sie nach<br />

wie vor überwiegend deswegen ab<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das ist doch nicht<br />

das Problem!)<br />

— doch! —, weil es darum geht, wer diese Hilfe bezahlt.<br />

-<br />

Ich muß Ihnen ganz deutlich sagen, was ich schon<br />

einmal gesagt habe: Ich sehe nicht ein, daß wir die<br />

Hilfen, die wir anbieten, kostenlos leisten, wenn andere<br />

Hilfen, z. B. aus den USA, die privatwirtschaftlich<br />

geboten werden, bezahlt werden. Das ist doch der<br />

springende Punkt. Ein Punkt war offensichtlich auch,<br />

daß Kuwait nicht akzeptiert hat, daß diese Hilfen von<br />

der deutschen Seite angeboten wurden.<br />

m Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Ho<br />

burger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen<br />

Kübler?<br />

Birgit Homburger (FDP): Sicherlich.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD) : Ich stelle die Zwischenfrage<br />

deshalb, weil ich glaube, daß man in diesem Punkt<br />

wirklich Einigkeit erzielen kann. Ich wiederhole noch<br />

einmal, was ich schriftlich und mündlich mehrfach<br />

gesagt habe, und frage Sie, ob Sie nicht mitbekommen<br />

haben, daß ich natürlich erklärt habe, daß die Löscharbeiten<br />

auf kommerzieller Basis abgewickelt werden<br />

müssen, genauso wie die Amerikaner die Löscharbeiten<br />

auf kommerzieller Basis abwickeln. Darf ich Sie<br />

bitten, dies zur Kenntnis zu nehmen? Wenn Sie mit Ja<br />

antworten, bin ich voll zufrieden.<br />

Birgit Homburger (FDP): Sie dürfen mich bitten,<br />

Herr Kübler; ich nehme es zur Kenntnis.<br />

Es gibt einen Dissens also nur noch in der Frage, ob<br />

Kuwait die Hilfe abgelehnt hat oder nicht. Ich glaube<br />

nicht, daß wir diesen Dissens ausräumen werden.<br />

Die Bundesregierung hat verschiedene Gespräche,<br />

z. B. auch mit dem Botschafter Kuwaits, geführt und<br />

sich ernsthaft bemüht, Expertenkommissionen hinunterzuschicken.<br />

Diese Hilfen wurden aber nicht angenommen.<br />

Ich meine, daß dieses Bemühen der Bundesregierung<br />

durchaus einmal anerkannt werden muß.<br />

Ich möchte dazu noch folgende Bemerkung machen:<br />

Kuwait ist nach wie vor ein selbständiger Staat.<br />

Wenn die Kuwaitis nicht bereit sind, Hilfen, die angeboten<br />

werden, anzunehmen, dann können wir sie ihnen<br />

nicht aufzwingen.<br />

Die FDP erwartet nun vor allen Dingen, daß<br />

schnellstmöglich ein Vorschlag dieser Arbeitsgemeinschaft<br />

erarbeitet und den Kuwaitis ein Angebot unterbreitet<br />

wird.<br />

Gleichzeitig erwartet die FDP von der Bundesregierung,<br />

daß in weiteren Gesprächen mit der kuwaitischen<br />

Regierung und mit den Vertretern Kuwaits hier<br />

in der Bundesrepublik klargemacht wird, daß auch<br />

Kuwait eine Verantwortung für die entstehenden<br />

ökologischen Schäden trägt, insbesondere dann,<br />

wenn es durch eine Ablehnung von Hilfen dazu beiträgt,<br />

die Beiseitigung der Ursachen der ökologischen<br />

Schäden weiter hinauszuzögern.<br />

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten<br />

der CDU/CSU)<br />

Es ist hier also nochmals zu verdeutlichen, daß es<br />

a) eine regionale Verantwortung, aber b) auch eine<br />

internationale Verpflichtung für Kuwait gibt.<br />

Im Hinblick auf die Ursache der verheerenden ökologischen<br />

Auswirkungen des Golfkrieges möchte ich<br />

aber auch noch eines aufgreifen und klarstellen, und<br />

zwar im Hinblick auf den Antrag des Bündnisses 90/<br />

GRÜNE, nämlich daß aus unserer Sicht der irakische<br />

Diktator Saddam Hussein derjenige ist, der diese Umweltkatastrophe<br />

zu verantworten hat und niemand<br />

anders. Dies gilt insbesondere für die Ölpest und für<br />

die Luftverschmutzung, die durch die Ölbrände in<br />

Kuwait entstanden ist. Das rührt aus unserer Sicht aus<br />

einer verbrecherischen, gegen die Umwelt gerichteten<br />

und nichthinnehmbaren Kriegführung her. Das,<br />

glaube ich, sollte man nicht vergessen, wenn man<br />

einen solchen Antrag stellt.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2667<br />

Birgit Homburger<br />

Daher ist es aus Sicht der FDP unumgänglich, alle<br />

erforderlichen Schritte zu unternehmen, um dem bereits<br />

geltenden Völkerrecht mehr Wirksamkeit und<br />

Beachtung zu verschaffen und um es auch der UNO zu<br />

ermöglichen, eine Kriegführung gegen die Umwelt<br />

sowie Verstöße gegen internationale Konventionen<br />

zum Schutz der Umwelt zu verhindern und auch zu<br />

ahnden.<br />

Gleichzeitig gilt es auch erneut festzuhalten — das<br />

geht jetzt in Richtung Bundesregierung — , daß die<br />

Koordinationsprobleme — da stimmen wir ja überein,<br />

und zwar eigentlich durchgängig, auch im Umweltausschuß<br />

— , national und international noch nicht<br />

endgültig angegangen worden sind. Wenn, wie es in<br />

diesem Fall in der Bundesrepublik Deutschland ist,<br />

mehrere Minister zuständig sind, dann kommt es vor<br />

allen Dingen an den Nahtstellen zwischen den einzelnen<br />

Ministerien immer wieder zu erheblichen Problemen.<br />

Daher wiederhole ich hier für meine Fraktion die<br />

Forderung, daß diese Kompetenzschwierigkeiten unverzüglich<br />

auszuräumen sind.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

Gleichzeitig wiederholt die FDP aber auch ihre Forderung,<br />

daß das Wissen, das auf verschiedenen Ebenen<br />

vorhanden ist, so z. B. in der Industrie, bei der<br />

Wissenschaft, aber auch in verschiedenen Fachministerien<br />

auf Verwaltungsebene, koordiniert werden<br />

muß und daß eine ökotechnologische Arbeitsgruppe<br />

installiert werden muß. Das Bündnis 90/GRÜNE hat<br />

das dankenswerterweise aufgenommen. Dies ist ein<br />

Punkt, bei dem wir übereinstimmen, auch wenn ich<br />

glaube, daß wir nicht ganz die gleiche Zielrichtung<br />

dieser Arbeitsgruppe sehen. Aber immerhin gibt es<br />

schon den gleichen Ansatz.<br />

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Die halten nichts<br />

vom Öl!)<br />

Wir wollen also eine ökotechnologische Arbeitsgruppe<br />

auf nationaler Ebene einsetzen, die die Personen,<br />

die Fachwissen haben, umfassen muß.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie<br />

bei Abgeordneten der SPD)<br />

Diese Gruppe muß dann Schwerpunktaufgaben erhalten.<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Diese richten sich<br />

nach den Katastrophen!)<br />

— Das richtet sich natürlich nach den Katastrophen.<br />

Es ist ja Wissen in verschiedensten Bereichen vorhanden,<br />

Herr Kübler. Dies bezieht sich nicht nur auf Ölunfälle,<br />

sondern auch auf Chemieunfälle und andere<br />

Umweltkatastrophen. Dieses Wissen sollte man endlich<br />

bündeln und in einer Arbeitsgruppe zusammenführen,<br />

um zu verhindern, daß beim Eintreten eines<br />

Ernstfalles Reibungsverluste entstehen.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der<br />

CDU/CSU)<br />

Insofern sind wir ja, wie ich sehe, alle so ziemlich<br />

einig. Das ist genau der Wunsch. Das sollte sich die<br />

Bundesregierung zu Herzen nehmen, und sie sollte<br />

diese Arbeitsgruppe einrichten.<br />

Ich möchte noch kurz ein paar Worte zu den Aufgaben<br />

dieser Arbeitsgruppe sagen, also zu dem, was sie<br />

aus unserer Sicht tun soll. Sie soll eine ökotoxikologische<br />

Schadens- und Risikodefinition vornehmen; sie<br />

soll humantoxikologische Problembeschreibungen<br />

erarbeiten und sie soll auch für die technische Eindämmung<br />

und Beseitigung von Schäden sorgen.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Homburger,<br />

lassen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen<br />

Kübler zu?<br />

Birgit Homburger (FDP): Wenn ich meinen Satz zu<br />

Ende geführt habe, darf er eine Zwischenfrage stellen.<br />

Die Arbeitsgruppe — diesen Gedanken wollte ich<br />

nur zu Ende führen — muß wiederum Teil einer internationalen<br />

„task force" sein, die in UNEP, IMO und<br />

USAID eingebunden wird.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege Kübler.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD): Frau Homburger, wird die<br />

FDP ihren Kollegen, den Außenminister Genscher,<br />

veranlassen, darauf zu drängen, daß die jetzigen internationalen<br />

Umweltvorschriften z. B. auch von den<br />

Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich<br />

ratifiziert werden?<br />

Birgit Homburger (FDP): Ich glaube, wir brauchen<br />

unseren Bundesaußenminister, Herrn Genscher, nicht<br />

dazu zu drängen, sich für die Ratifizierung solcher<br />

Konventionen einzusetzen. Er hat sich in den vergangenen<br />

Jahren immer sehr für diese Sache engagiert.<br />

Ich denke, es ist überflüssig, da erneut auf ihn Druck<br />

ausüben zu wollen.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bei diesen<br />

Bemerkungen zum Antrag des Bündnisses 90/<br />

GRÜNE möchte ich es eigentlich belassen. Ich denke,<br />

das sind die wichtigsten Punkte, die aus unserer Sicht<br />

anzumerken sind.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem<br />

Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, wir haben die Tagesordnung umgestellt. Das<br />

bringt für mache Kolleginnen und Kollegen natürlich<br />

auch Probleme mit sich. Ich bitte deswegen um Ihr<br />

Einverständnis, daß die Rede unserer Kollegin Frau<br />

Jutta Braband zu Protokoll genommen wird. - Ich<br />

höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so<br />

beschlossen. )<br />

Jetzt hat Herr Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />

das Wort.<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen<br />

und Kollegen! Als Konsequenzen der ökologischen<br />

Auswirkungen des Golfkriegs macht der Ruf<br />

') Anlage 7


2668 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />

nach Ächtung der Umweltkriegführung die Runde.<br />

Dem kann man im Ergebnis nur zustimmen. Allerdings<br />

muß man wissen, daß entsprechend dem Umweltkriegsübereinkommen<br />

von 1977 und den Zusatzprotokollen<br />

zu den Genfer Konventionen Umweltkriegshandlungen,<br />

wie Saddam Hussein sie began-<br />

hat, bereits eindeutig dem Völkerrecht wider-<br />

mgen<br />

sprechen. Beide Völkerrechtsinstrumente gehen davon<br />

aus, daß Kriegshandlungen untersagt sind, welche<br />

entweder umweltverändernde Technik einsetzen<br />

oder die zu einer weiträumigen, langandauernden<br />

und schwerwiegenden Auswirkung in der Umwelt<br />

führen.<br />

Man hat uns berichtet, Herr Kollege Kübler, daß<br />

namhafte Experten, die anläßlich der öffentlichen Anhörung<br />

Ihrer Partei zu den völkerrechtlichen Fragen<br />

der Umweltkriegführung am 10. Juni angehört worden<br />

sind, die Meinung vertreten, daß die vorhandenen<br />

Völkerrechtstexte im wesentlichen ausreichend<br />

seien, aber es fehle die weltweite Geltung, die Ratifikation<br />

durch wichtige Staaten. Hier scheint mir einer<br />

der wichtigen Ansätze zu sein.<br />

Es besteht, glaube ich, über alle Parteigrenzen in<br />

diesem Hause hinweg Einvernehmen darüber, daß<br />

dem Grundgedanken zur Vermeidung der Umweltkriegführung<br />

weltweite Geltung zu verschaffen ist.<br />

Die Bundesregierung wird die anstehende Umweltkonferenz<br />

1992 in Brasilien zum Anlaß nehmen — der<br />

Umweltminister hat ja, wenn ich mich recht erinnere,<br />

auch im Ausschuß darauf hingewiesen —, daß wir mit<br />

dieser Zielrichtung andere Staaten auffordern, die genannten<br />

Völkerrechtsverträge zu ratifizieren. In einem<br />

weiteren Schritt muß geprüft werden, ob und wie<br />

die Rolle der Vereinten Nationen mit dieser Zielrichtung<br />

verstärkt werden kann. Dies scheint mir wichtig<br />

zu sein. Dies muß eine der wichtigen Konsequenzen<br />

aus dieser Situation, aus dieser Umweltzerstörung<br />

sein. Sie kennen auch unser Bemühen, in diesem Zusammenhang<br />

auf der Ebene der Vereinten Nationen<br />

ein Stück weit voranzukommen.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatssekretär,<br />

lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kübler<br />

zu?<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Selbstverständlich, Herr Präsident.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege<br />

Kübler.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD): Ich bin für diese Äußerung<br />

sehr dankbar, und ich darf Sie deshalb fragen, - ob ein<br />

Unterschied zwischen Ihrer Auffassung und der Auffassung<br />

der Kollegin Homburger von der FDP dahin<br />

gehend besteht, ob es nicht angezeigt ist, den Bundesaußenminister<br />

nicht doch weiterhin zu bitten, nachdrücklich<br />

darauf hinzuwirken — das ist ja nicht nur<br />

ein Vorwurf in bezug auf die Vergangenheit, sondern<br />

das ist ja auch ein Zukunftsaspekt — , daß diese Verträge<br />

nun wirklich ratifiziert werden?<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Es besteht zwischen mir und der Frau Kollegin<br />

Homburger hier überhaupt kein Dissens. Ich gehe<br />

wie sie davon aus, daß unser Außenminister dies<br />

ebenfalls zum Anlaß nimmt, entsprechend tätig zu<br />

werden. Äußerungen von ihm in den letzten Wochen<br />

belegen dies eindeutig. Ich glaube nicht, daß er hier<br />

Nachhilfe braucht oder daß er hier von uns noch besonders<br />

darauf hingewiesen werden muß. Frau Ho<br />

burger sagte dies ja auch. Ich glaube auch, daß es<br />

Ihrem Anliegen entspricht, wenn so verfahren wird,<br />

wie ich es soeben zitiert habe. Wir brauchen dabei<br />

Unterstützung auf einer breiten Ebene, und zwar<br />

nicht nur im nationalen, sondern auch im europäischen<br />

Rahmen und auch im internationalen Bereich.<br />

Ich denke, daß wir in den Zielen, die wir hier verfolgen<br />

müssen, weitgehend übereinstimmen. Ich habe es soeben<br />

zum Ausdruck gebracht.<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Frau Homburger hat<br />

es gehört! — Birgit Homburger [FDP]: Ich<br />

habe es gehört!)<br />

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen<br />

und Kollegen! Zum Antrag der Gruppe Bündnis 90/<br />

GRÜNE will ich nur sagen, Herr Kollege Feige,<br />

daß der Antrag aus unserer Sicht natürlich teilweise<br />

verfehlt ist, teilweise auch überholt ist und in dem<br />

Zusammenhang teilweise natürlich auch sehr wichtige<br />

Probleme aufwirft, die wir allgemein diskutieren<br />

müssen. Das will ich hier klar und deutlich sagen.<br />

Wenn Ihr Antrag aber das Ziel verfolgt, „jetzt den<br />

Ausstieg aus der Abhängigkeit unserer Wirtschaft<br />

vom Erdöl einzuleiten" , dann sage ich Ihnen: Wer<br />

diese Folgerungen aus dem schrecklichen Mißbrauch<br />

des Öls als Waffe durch Saddam Hussein zieht, verkennt<br />

die eigentliche umweltpolitische Problemlage<br />

des Kuwait-Krieges. Er verkennt auch die für wesentliche<br />

Wirtschaftszweige auf längere Sicht absolute<br />

Unentbehrlichkeit des Erdöls. Wir verkennen aber<br />

nicht, daß wir eine bestimmte Unabhängigkeit erreichen<br />

und daß wir diesen Weg weite rverfolgen müssen.<br />

Aber dem Ausstieg, so wie er hier gefordert wird,<br />

kann ich nicht folgen. Wer heute den Menschen einredet,<br />

wir könnten uns bereits jetzt mit dem Ausstieg<br />

aus der Abhängigkeit unserer Wirtschaft vom Erdöl<br />

befassen, der verharmlost das Problem, teilweie auch<br />

sehr irreführend.<br />

Die Bundesregierung — das ist von ihr wiederholt<br />

betont worden — verurteilt den Umweltkrieg Saddam<br />

Husseins. Der völkerrechtswidrige, vorher für undenkbar<br />

gehaltene umweltverachtende Einsatz des<br />

Erdöls als Waffe wurde von der Bundesregierung von<br />

Anfang an schärfstens verurteilt.<br />

(Beifall der Abg. Birgit Homburger [FDP])<br />

Wer allerdings der Öffentlichkeit glauben machen<br />

will, wir hätten dies von vornherein verhindern können,<br />

oder gar, daß wir das in Zukunft tun könnten,<br />

verbreitet Legenden. Das war wohl auch nicht Ihre<br />

Absicht. Ich unterstelle Ihnen das gar nicht. Da jedenfalls<br />

geht dieser Antrag an der Wirklichkeit vorbei.<br />

Wir verwahren uns ausdrücklich gegen jeden Versuch,<br />

der Bundesregierung eine Art tatsächlicher oder<br />

moralischer Mitverantwortung an den Umweltauswirkungen<br />

des Golfkriegs zu unterschieben.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2669<br />

Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />

Von den Umweltverbrechen Saddam Husseins darf<br />

nicht abgelenkt werden. Ich habe das auch zum Anlaß<br />

genommen, vor dem Verwaltungsrat der Vereinten<br />

Nationen noch einmal auf diesen Punkt hinzuweisen.<br />

Das militärisch sinnlose Sprengen und Anzünden von<br />

ungefährt 600 unter hohem Gasdruck stehenden Ölquellen<br />

ist und bleibt ein Umweltverbrechen.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)<br />

Herr Kollege Kübler, ich sage es noch einmal. Ihre<br />

Aussage wird nicht richtiger, wenn Sie sie ständig<br />

wiederholen. Dem Ziel nach sind wir uns in vielem<br />

einig. Ich konzediere Ihnen auch Ihr Engagement in<br />

diesen Punkten. Aber eines will ich hier noch einmal<br />

feststellen: daß die Bundesregierung sehr rasch reagiert<br />

hat. Die Bundesregierung hat von Anfang an<br />

schnelle und großzügige Hilfe bei der Bekämpfung<br />

der Ölpest geleistet. Wir haben Experten und Ölwehr<br />

gerät zur vorsorglichen Entlastung der lebenswichtigen<br />

Meerwasserentsalzungsanlagen und ein leistungsfähiges<br />

Ölauffangschiff in den Golf geschickt.<br />

Das Gerät wurde bereits im Februar aus Gründen der<br />

Vorsorge dort stationiert, von wo die ersten klaren Hilfeersuchen<br />

vorlagen, nämlich in Katar und Bahrain.<br />

Bereits eine Woche nach dem Waffenstillstand, Anfang<br />

März 1991, ist Bundesumweltminister Töpfer mit<br />

einer fachlich breit zusammengesetzten Expertengruppe<br />

in die Golfregion geflogen, um eine erste Bestandsaufnahme<br />

der Umweltschäden zu versuchen.<br />

Er hat bei dieser Gelegenheit die technische und wissenschaftliche<br />

Hilfe der Bundesrepublik Deutschland<br />

angeboten. Ich sage noch einmal sehr deutlich:<br />

Diese Hilfe ist von uns zu diesem Zeitpunkt, kurz nach<br />

Beendigung des Krieges, angeboten worden. Aus Sicherheitsgründen<br />

wurde kurzfristig die Landung in<br />

Kuwait verweigert, nicht weil Töpfer nicht nach Kuwait<br />

wollte, sondern weil es nicht möglich war, zu diesem<br />

Zeitpunkt dort zu landen.<br />

In dem von der Ölpest stark betroffenen Saudi-Arabien<br />

konnte nach einer beispiellosen Aktion bester<br />

Zusammenarbeit zwischen den Bundesressorts in kürzester<br />

Frist ebenfalls wichtiges Ölwehrgerät zur Verfügung<br />

gestellt werden: sieben Großraumflugzeugladungen<br />

im Wert von annähernd 4 Millionen DM. Umweltminister<br />

Töpfer konnte anläßlich seiner Gespräche<br />

in Saudi-Arabien das dort dringend benötigte Ölwehrgerät<br />

bereits am 10. März — das war die erste<br />

Landung — übergeben. Ich bitte Sie, dann nicht ständig<br />

die Vorwürfe zu bringen: Fehlanzeige, Nullanzeige,<br />

zu spät und überhaupt nicht. Wir haben sehr rasch<br />

und sehr schnell, auch beispielhaft für andere Länder,<br />

gehandelt. Das wird auch von den Staaten der - Golfregion<br />

anerkannt.<br />

Inzwischen haben auf unsere Initiative hin — das<br />

darf ich noch sagen — eigene Luftmeßflüge stattgefunden,<br />

weil wir wegen der bedeutenden Umweltauswirkungen<br />

der Rauchwolken aus den Ölbränden auf<br />

verläßliche eigene Daten nicht verzichten wollten. Die<br />

Einzelauswertung wird in den nächsten Wochen erfolgen.<br />

Es kann aber schon jetzt bestätigt werden, daß<br />

die Rauchentwicklung das Regionalklima im Umkreis<br />

von einigen hundert bis höchstens ein- bis zweitausend<br />

Kilometern beeinträchtigen kann, keinesfalls<br />

aber das Weltklima. Auch das ist inzwischen unstrittig.<br />

Ebenfalls unstrittig ist die Ausbreitung der Rußpartikel.<br />

Die beiden für Kuwait und Iran aus humanitären<br />

Gründen kostenlos bereitgestellten Meßfahrzeuge<br />

zur Messung der Luftverschmutzung in Kuwait City<br />

und im Iran stehen bereit. Sie können sofort per Luftfracht<br />

und in Begleitung der Experten in Marsch gesetzt<br />

werden, wenn die Gaststaaten die zur persönlichen<br />

Sicherheit der Begleitmannschaft unerläßlichen<br />

Vereinbarungen ausdrücklich anerkannt haben.<br />

Diese ausdrückliche Zustimmung der Gaststaaten zu<br />

den Vereinbarungen wird von uns nahezu täglich angemahnt.<br />

Wir halten es für unverantwortlich, die Luftmeßfahrzeuge<br />

nach der Hauruck-Methode und ohne<br />

schriftliche Zustimmung der Gastländer zu den Vereinbarungen<br />

in Kuwait City und im Iran zu stationieren,<br />

so wie manche uns das nahelegen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatssekretär,<br />

gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen<br />

Kübler?<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Wenn ich den nächsten Satz noch sagen<br />

darf.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Unsere Regierung kann in Kuwait nur tätig<br />

werden, wenn wir dazu vom Gastland ausdrücklich<br />

aufgefordert sind. Kuwait ist ein souveräner Staat.<br />

Ausdrückliche Vereinbarungen zwischen Regierungen<br />

entsprechen dem zivilisierten Miteinander einer<br />

auf Völkerverständigung und Völkerrecht angewiesenen<br />

Staatengemeinschaft. Jede Eigenmächtigkeit<br />

wird von uns strikt abgelehnt.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kübler,<br />

bitte.<br />

Dr. Klaus Kübler (SPD): Herr Parlamentarischer<br />

Staatssekretär, finden Sie es nicht auffallend, daß<br />

praktisch alle Länder, von den USA bis zu den Niederlanden<br />

— ich beziehe mich da auf Ausführungen<br />

von Herrn Bundesminister Töpfer in der vorletzten<br />

Umweltausschußsitzung —, die unterschiedlichsten<br />

Hilfsmaßnahmen in Kuwait durchsetzen konnten —<br />

ich spreche immer über Kuwait — und daß das dieser<br />

Bundesregierung nicht gelungen ist? Ich frage: Hat sie<br />

da nicht genügend getan, ist sie so untalentiert, oder<br />

sind die Beziehungen so schlecht,<br />

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Das wird doch<br />

langsam penetrant, Herr Kübler!)<br />

daß keine unserer Maßnahmen dort bis jetzt zum Einsatz<br />

gekommen ist? Dies ist doch eine grundsätzlich<br />

politische Frage. Ich frage Sie: Woran liegt dies?<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Herr Kollege Kübler, ich habe Ihnen das in


2670 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> - 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />

dieser besagten Umweltausschußsitzung ja in großer<br />

Offenheit vorgetragen.<br />

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr rich<br />

tig!)<br />

Ich kann nur noch einmal betonen, daß sich die<br />

Bundesregierung seit März 1991 auf den unterschiedlichsten<br />

Kanälen bei den kuwaitischen Dienststellen<br />

um eine entsprechende Aufforderung, um entsprechende<br />

Hilfe — wenn Sie so wollen — bemüht hat. Es<br />

entspricht aber der Praxis Kuwaits — ich will das auch<br />

einmal offen ansprechen — , an der Löschung der Ölbrände<br />

und dem Wiederaufbau des Landes auf kommerzieller<br />

Basis zunächst nur diejenigen Länder zu<br />

beteiligen, die sich an der Seite Kuwaits am Golf<br />

Krieg beteiligt hatten. Dies ist eben so. Von der kuwaitischen<br />

Regierung liegt bis heute keine eindeutige<br />

Aufforderung vor, daß sich die deutsche Indust rie auf<br />

kommerzieller Basis an der Löschung der Ölbrände<br />

beteiligen möge.<br />

Ich will Ihnen weiter sagen: Wir haben jetzt die<br />

Chance, mit diesen Experten auf einer anderen Basis<br />

zu beginnen — wenn Kuwait dies wünscht; dies<br />

scheint nun so zu sein —, d. h. uns aktiv an der Löschung<br />

dieser Ölbrände zu beteiligen.<br />

Wir haben versucht, nachdem wir gesehen hatten,<br />

daß es Vorbehalte gegen bestimmte Staaten gab —<br />

Sie wissen, daß es Japan nicht anders ergangen ist als<br />

der Bundesrepublik Deutschland — , aus diesem Dilemma<br />

herauszukommen, indem Bundesumweltminister<br />

Töpfer auf der Tagung des EG-Umweltrates am<br />

18. März 1991 intensiv für eine Aktion der Europäischen<br />

Gemeinschaft geworben hat. Wir wollten gemeinsam<br />

mit der Europäischen Gemeinschaft die Umweltkrise<br />

am Golf bewältigen.<br />

Nach langem Zögern hat die kuwaitische Regierung<br />

den offiziellen Besuch einer deutschen Expertengruppe<br />

zu diesem Termin gebilligt. Auch dies ist<br />

Ihnen klar, und auch dies haben wir sehr offen betont.<br />

Ich will Ihnen auch sagen — damit das noch einmal<br />

deutlich wird — : Gespräche von Vertretern des BMFT<br />

mit der kuwaitischen Ölindustrie in London waren<br />

bereits Anfang Mai 1991 vorausgegangen. Seit dieser<br />

Zeit finden im BMFT intensive Koordinierungsgespräche<br />

über die technischen Möglichkeiten der Ölbrandbekämpfung<br />

statt.<br />

Wir gehen aber davon aus — dies besagt auch die<br />

Presseerklärung und dies hat auch Bundesumweltminister<br />

Töpfer dem Ausschuß mitgeteilt — , daß wir<br />

-<br />

nach dieser Expertenreise noch einmal mit einem entsprechenden<br />

umfassenden Angebot an Kuwait herantreten.<br />

Wir gehen weiter davon aus, daß wir uns dann<br />

auf Bitten Kuwaits hin in diesem, wie ich finde — und<br />

das sagen auch Sie —, sehr wichtigen Bereich engagieren<br />

können. Dies muß — auch das will ich noch<br />

einmal betonen — auf kommerzieller Basis abgewikkelt<br />

werden. Wir meinen, daß auch der kuwaitischen<br />

Regierung inzwischen klar ist, daß zusätzliche technische<br />

Hilfe aus Europa zwecks schnellerer Beendigung<br />

der Ölbrände im Interesse Kuwaits und im Interesse<br />

des Gesundheits- und Umweltschutzes auch in den<br />

Nachbarstaaten notwendig ist.<br />

Lassen Sie uns insofern an einem Strang ziehen.<br />

Lassen Sie uns bitte nicht ständig wiederholen, daß<br />

die Bundesregierung in diesem Zusammenhang zu<br />

langsam oder überhaupt nicht gehandelt habe. Auch<br />

längeres Herbeten dieser Vorwürfe macht diese Vorwürfe<br />

nicht richtig.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, sicher,<br />

viel zu spät!)<br />

Wir haben Ihnen detailliert ausgeführt, welche Bemühungen<br />

notwendig waren. Lassen Sie uns hoffen, daß<br />

das Angebot jetzt angenommen wird und daß wir mithelfen<br />

können, daß die Ölbrände wesentlich rascher<br />

gelöscht werden, als es in den vergangenen Wochen<br />

ausgesehen hat.<br />

In meinem Gespräch mit dem Umweltminister<br />

Saudi-Arabiens hat sich eindeutig ergeben, daß wir<br />

gemeinsam an einem Strang ziehen müssen<br />

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, aber<br />

schneller!)<br />

und daß die Bundesrepublik Deutschland ein wichtiger<br />

Partner bei der Lösung dieser Umweltproblematik<br />

am Golf ist.<br />

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das war zuviel<br />

Rechtfertigung! Das macht nachdenklich!)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt<br />

11.<br />

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf<br />

Drucksache 12/779 an die in der Tagesordnung aufgeführten<br />

Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit<br />

einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch.<br />

Dann ist die Überweisung so beschlossen.<br />

Ich rufe nunmehr den vorhin zurückgestellten Tagesordnungspunkt<br />

10 auf:<br />

Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />

Dr. Liesel Hartenstein, Dietmar Schütz, Harald<br />

B. Schäfer (Offenburg), weiterer Abgeordneter<br />

und der Fraktion der SPD<br />

Minderung der Ozon-Belastung — Maßnahmen<br />

zur Bekämpfung des Sommer-Smogs<br />

— Drucksache 12/772 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit<br />

(federführend)<br />

Ausschuß für Wirtschaft<br />

Ausschuß für Verkehr<br />

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für<br />

die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich<br />

höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so<br />

beschlossen.<br />

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete<br />

Dr. Liesel Hartenstein.<br />

Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Präsident! Liebe<br />

Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren ist der Sommersmog<br />

zur Geißel nicht nur unserer Innenstädte<br />

geworden, sondern auch zur Geißel vieler sogenann-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2671<br />

Dr. Liesel Hartenstein<br />

ter Reinluftgebiete. Seit Jahren ist die Bundesregierung<br />

leider untätig geblieben. Sie hat nichts Entscheidendes<br />

unternommen, um dem Übelstand abzuhelfen.<br />

Dies muß sich endlich ändern.<br />

Nun werden wir gleich von Regierungs- oder Koalitionsseite<br />

sicherlich auf die segensreichen Taten der<br />

Vergangenheit hingewiesen werden, z. B. auf die legendäre<br />

Großfeuerungsanlagen-Verordnung von<br />

1983, die unbestritten die NO X-Emissionen reduziert<br />

hat. Aber dieser Rückgriff, so denke ich, ist insofern<br />

antiquiert, als er die Untätigkeit auf anderen Gebieten<br />

nicht wettmachen kann.<br />

Der Sommer 1991 läßt sich viel Zeit; das ist wahr.<br />

Aber dennoch kann man unschwer die Prophezeiung<br />

wagen: Der nächste Ozonsmog kommt bestimmt.<br />

Hauptverursacher ist der motorisierte Straßenverkehr.<br />

Auf unseren Straßen tummeln sich mittlerweile<br />

rund 32 Millionen Kraftfahrzeuge, und ihre Zahl steigt<br />

ständig an. Sobald eine längere Schönwetterperiode<br />

eintritt, entsteht aus den Stickoxid- und Kohlenwasserstoffemissionen<br />

jene gefährliche Ozonmixtur, die<br />

Gesundheitsschäden hervorruft. Hustenreiz, Augenbrennen,<br />

Atembeschwerden, Kopfschmerzen — das<br />

sind nur einige der krankmachenden Phänomene. Risikogruppen,<br />

wie alte Menschen, Kinder und<br />

Schwangere sind besonders hart davon betroffen.<br />

Seit langem sind diese Zusammenhänge bekannt.<br />

Seit langem werden wirksame Gegenmaßnahmen gefordert,<br />

aber die Schadstoffquellen sprudeln ungehemmt<br />

weiter. Bis heute gibt es eben leider keine verbindlichen<br />

Grenzwerte für Ozonsmog. Es gibt kein<br />

bundeseinheitliches Warnsystem. Es gibt vor allen<br />

Dingen keine Rechtsgrundlage für die Kommunen,<br />

um weiträumige Verkehrsbeschränkungen verhängen<br />

zu können.<br />

Die Bundesregierung hat sich lediglich damit<br />

begnügt, Verhaltensempfehlungen auszusprechen:<br />

Man solle bitte schön ab einer Konzentration von 180<br />

Mikrogramm/m 3 keine körperlichen Anstrengungen<br />

unternehmen, z. B. kein Jogging machen, man solle<br />

Aufenthalte im Freien vermeiden, die Kinder ins Haus<br />

zurückholen. Im letzten Jahr wurde sogar der Rat<br />

gegeben, intensives Atmen zu unterlassen. Liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen, soll das etwa heißen, das Atmen<br />

von Zeit zu Zeit einzustellen? Zynischer geht es<br />

nun wirklich nicht mehr. Hier wird das Verursacherprinzip<br />

auf den Kopf gestellt. Statt die Ursachen zu<br />

bekämpfen, werden den potentiell Geschädigten perfide<br />

Ratschläge erteilt. Es ist an der Zeit, endlich zu<br />

handeln und das jährliche Ritual bloßer Ankündigungen<br />

einzustellen.<br />

Unser Antrag enthält ein Bündel konkreter Maßnahmen,<br />

die alle notwendig und auch alle realisierbar<br />

sind. Ich nenne nur die wichtigsten Forderungen. Erstens<br />

soll ein Ozongrenzwert von 120 Mikrogramm/<br />

m3 als Luftqualitätsziel festgelegt werden, entsprechend<br />

der VDI-Richtlinie und den Empfehlungen der<br />

Weltgesundheitsorganisation. Dieser Wert gilt in der<br />

Schweiz ab 1994 als verbindlicher Grenzwert; er darf<br />

höchstenfalls einmal pro Jahr überschritten werden.<br />

Zweitens wird die Bundesregierung aufgefordert,<br />

bis Juli 1992 Maßnahmepläne aufzustellen, aus denen<br />

hervorgeht, wie dieses Luftqualitätsziel bis 1996 erreicht<br />

werden kann. Dazu gehören Konzepte zur<br />

Drosselung des Verkehrsvolumens. Dazu gehören<br />

auch der beschleunigte Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel,<br />

die Einführung einer Entfernungspauschale<br />

anstelle der bisherigen Kilometerpauschale<br />

und nicht zuletzt die Einführung eines Tempolimits<br />

von 120 km/h auf Autobahnen und 90 km/h auf den<br />

übrigen Außerortsstraßen. Allein damit könnten mindestens<br />

130 000 t Stickoxide eingespart werden. Das<br />

sind immerhin 8 % der jährlichen Gesamtverkehrsemissionen.<br />

Es ist höchst bemerkenswert, daß inzwischen sogar<br />

der Arbeitskreis Umwelt der CSU diesem Vorschlag<br />

beigetreten ist<br />

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sehr guter<br />

Kommentar!)<br />

und im Juli auf dem kleinen Parteitag der CSU in<br />

München einen entsprechenden Antrag einbringen<br />

will. Man darf gespannt sein. Offensichtlich sollte man<br />

die Hoffnung nie aufgeben, daß sich ökologische Einsicht<br />

letztendlich doch durchsetzt, auch in Bayern.<br />

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wieso,<br />

Bayern ist doch Vorreiter!)<br />

Meine Damen und Herren, der Verkehrsbereich<br />

nimmt eine Schlüsselstellung bei der Bekämpfung des<br />

Sommersmogs ein. Jährlich werden 2,8 Millionen t<br />

Stickoxidemissionen in die Luft gejagt. Davon gehen<br />

immerhin fast 69 % auf das Konto des Autoverkehrs.<br />

Einer der Hauptgründe dafür ist neben der wachsenden<br />

Zahl der Kraftfahrzeuge die Tatsache, daß<br />

Jahr für Jahr schneller gefahren wird; oder um es<br />

deutlicher zu sagen: daß wieder gerast wird. Knapp<br />

die Hälfte aller Pkw fährt heute schneller als<br />

130 km/h. Jeder siebte Pkw fährt sogar schneller als<br />

150 km/h. Die mittlere Lkw-Geschwindigkeit liegt<br />

heute bereits bei 87,3 km/h, obwohl für Lastwagen<br />

bekanntlich ein Tempolimit von 80 km/h gilt. Ich<br />

denke, in diesem Zusammenhang sollte man doch<br />

daran denken, einen Geschwindigkeitsregler für Lkw<br />

einzuführen. Das wäre eine nützliche Angelegenheit.<br />

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und beim<br />

Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Auch die Unfallsituation hat sich auf den Autobahnen<br />

leider verschärft. Die Zahl der Verkehrstoten auf<br />

den Autobahnen ist im letzten Jahr um sage und<br />

schreibe 20,3 % angestiegen. Das ist eine traurige Bilanz;<br />

um so mehr, als die Zahl der Verkehrstoten auf<br />

den übrigen Straßen unseres Landes glücklicherweise<br />

zurückgegangen ist.<br />

Als weitere Maßnahmen sind die Einführung von<br />

Höchstverbrauchswerten für alle Kraftfahrzeugtypen<br />

und eine Zielvorgabe, wonach bis zum Jahre 2000 der<br />

Durchschnittsverbrauch der gesamten neu verkauften<br />

Flotte höchstens fünf Liter pro 100 Kilometer betragen<br />

soll, noch zu nennen. Dies ist realistisch und wird auch<br />

von der Automobilindustrie als machbar bestätigt.<br />

Schließlich sollte die lange angekündigte, aber nie<br />

erlassene Verordnung zur Einführung des Gaspendelverfahrens<br />

endlich kommen. Die Schweiz hat dieses<br />

Systems bereits obligatorisch eingeführt, und auch in


2672 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Liesel Hartenstein<br />

den USA ist es in einer Reihe von Bundesstaaten bereits<br />

verwirklicht.<br />

Last but not least wird der Umweltminister aufgefordert,<br />

ein Defizit aufzufüllen, das er schon längst<br />

hätte beheben können — die Rede ist von der Rechtsverordnung<br />

nach § 40 Bundes-Immissionsschutzgesetz<br />

— , damit die Länder und die Kommunen endlich<br />

in die Lage versetzt werden, verkehrsbeschränkende<br />

Maßnahmen anordnen zu können. Nach Pressemeldungen<br />

fordert Umweltminister Töpfer selbst autofreie<br />

Innenstädte für die Sommermonate. Er verweigert<br />

aber bis jetzt den Ländern und den Gemeinden<br />

die rechtliche Handhabe dafür. Wie reimt sich das<br />

zusammen?<br />

(Beifall bei der SPD — Dr. Peter Paziorek<br />

[CDU/CSU]: Ach, der verweigert das doch<br />

nicht! — Klaus Harries [CDU/CSU]: Das ist<br />

doch heute schon möglich!)<br />

— Nein, sie können es nicht. Sie können keine weiträumigen<br />

verkehrsbeschränkten Maßnahmen verfügen.<br />

Herr Harries, das stimmt nicht.<br />

(Klaus Harries [CDU/CSU]: Aber es geht um<br />

die Innenstädte!)<br />

— Nein, es geht um weiträumige Maßnahmen.<br />

(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist ein<br />

Unterschied!)<br />

Wir schlagen vor, daß Fahrbeschränkungen nur für<br />

diejenigen Pkw gelten sollen, die nicht mit einem geregelten<br />

Dreiwegekatalysator ausgestattet sind. Umweltfreundliche<br />

Fahrzeuge brauchen nicht am Straßenrand<br />

stehenzubleiben. Sie sollten Benutzervorteile<br />

genießen. Nur so, lieber Herr Kollege Klinkert, kann<br />

das Anreizsystem unserer Meinung nach funktionieren.<br />

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Die Situation ist b risant. Im letzten Jahr wurde der<br />

Richtwert 120 Mikrogramm/m 3 in vielen Städten um<br />

das Doppelte und um das Dreifache überschritten. Die<br />

Situation ist nicht zum Spaßen. Das gilt für Berlin, für<br />

Hamburg, für Stuttgart, für Hannover und für München.<br />

In manchen Regionen wurden sogar Spitzenwerte<br />

über 300 Mikrogramm/m 3 gemessen. Das sind<br />

absolut unverantwortliche Zustände.<br />

Warum — so muß man doch fragen — erfolgen nicht<br />

wenigstens rechtzeitige und offene Informationen<br />

über die tatsächlichen Verhältnisse? Es kann doch<br />

nicht angehen, daß regelmäßig Wasserstandsmeldungen<br />

über die Rundfunksender gehen und - Pollenflug<br />

vorhersagen gemacht werden, und zwar mit akribischer<br />

Genauigkeit, und daß die Menschen nicht rechtzeitig,<br />

nicht regelmäßig und nicht offen über die tatsächlich<br />

vorhandene Ozonbelastung unterrichtet werden.<br />

Hier geht es doch um ihre Gesundheit. Man sollte<br />

nicht warten, bis die Krankenwagen laufend durch die<br />

Straßen tuten. Auch das Warten auf europaweit einheitliche<br />

Grenzwerte ist keine Lösung.<br />

Der Ozonstau in Bodennähe ist nicht nur ein alltägliches<br />

Gift für die Gesundheit, er gehört auch zu den<br />

Hauptsündern beim Waldsterben. Er trägt mindestens<br />

10 % zum Treibhauseffekt bei.<br />

Alles in allem Gründe genug, um endlich etwas zu<br />

unternehmen. Die Ozonsaison 1991 steht mit Sicherheit<br />

vor der Tür. Deshalb ist jetzt Vorsorge geboten.<br />

Mit Abwarten, Augenverschließen und Atemanhalten<br />

kann man keine verantwortliche Umweltpolitik machen.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/<br />

GRÜNE)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten<br />

Damen und Herren, als nächster Redner hat jetzt<br />

das Wort der Abgeordnete Dr. Peter Paziorek.<br />

Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Hartenstein,<br />

ich habe ja Verständnis dafür, daß die Opposition<br />

immer wieder versucht, der Regierung Versäumnisse<br />

in ihrer Arbeit vorzuhalten. Das ist vielleicht<br />

auch die Aufgabe der Opposition. Ich glaube aber,<br />

daß die Opposition in ihrer politischen Arbeit überzeugender<br />

wäre, wenn sie erkennen würde, daß Untätigkeit<br />

nicht der Stil dieser Regierungskoalition ist, vor<br />

allen Dingen nicht im Bereich des Umweltschutzes.<br />

Das können wir für diese Koalition ganz selbstbewußt<br />

herausstellen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

In der letzten Woche habe ich für meine Fraktion bei<br />

der Aussprache über die für 1992 geplante Umweltkonferenz<br />

eine grundlegende Umstrukturierung im<br />

Verkehrsbereich gefordert.<br />

(Monika Ganseforth [SPD]: Dann mal zu!)<br />

Durch diese Umstrukturierung soll ein wesentlicher<br />

Beitrag zur Verminderung der CO2-Emissionen in<br />

Deutschland geleistet werden. Diese Forderung hat<br />

ihre Berechtigung nicht nur in einer Vorsorgepolitik<br />

zum Schutz der Erdatmosphäre. Vielmehr macht sie<br />

einen Sinn, wenn die in den Sommermonaten auftretenden<br />

Ozon-Spitzenwerte umweltpolitisch und medizinisch<br />

bewertet werden.<br />

Langjährige Messungen zeigen neben abnehmenden<br />

Immissionsbelastungen eine ansteigende Tendenz<br />

bei den Stickoxiden und vor allem für das<br />

Ozon.<br />

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: So ist es!)<br />

Dabei spielt das Ozon eine Sonderrolle, da es nicht als<br />

primärer Schadstoff emittiert wird, sondern sich in<br />

komplexen Reaktionsabläufen bildet.<br />

Man kann es wie folgt auf den Punkt bringen: Ab<br />

etwa 20 °C und bei starker Sonneneinstrahlung entsteht<br />

u. a. aus den Autoabgasen Stickoxid und Kohlenwasserstoff<br />

der Sommersmog mit dem aggressiven<br />

Gas Ozon. Dieses Ozon beschleunigt das Sterben unserer<br />

Wälder und kann bei Menschen zu gefährlichen<br />

gesundheitlichen Folgen durch eine Abnahme der<br />

Lungenfunktion führen.<br />

Drastischer und damit einprägsamer ist dies so zu<br />

beschreiben, daß die Ozonmoleküle mühelos in die<br />

menschliche Lunge eindringen und dabei das Lungengewebe<br />

zerstören können. Die Warnungen vor<br />

erhöhten O3-Konzentrationen beim Sommersmog ha-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2673<br />

Dr. Peter Paziorek<br />

ben in den letzten Jahren somit zu Recht bei der interessierten<br />

Bevölkerung viele Fragen aufgeworfen.<br />

Die Regierungskoalition kann dabei auf ein Bündel<br />

von Maßnahmen gegen Ozon und Sommersmog verweisen.<br />

So hat diese Bundesregierung durch eine<br />

konsequente Luftreinhaltepolitik in den letzten Jahren<br />

bereits entscheidende Fortschritte zur Reduzierung<br />

des NOx und der Kohlenwasserstoffe erreicht.<br />

Mit der — ich muß es erwähnen, Frau Hartenstein; Sie<br />

haben es sich fast schon gedacht — Großfeuerungsanlagen-Verordnung,<br />

der TA Luft sowie der Einführung<br />

des geregelten Dreiwegekat sind wirkungsvolle Regelungen<br />

durchgesetzt worden. Diese Maßnahmen<br />

haben schon zu geringeren Emissionen geführt und<br />

werden insgesamt — es war schade, daß Sie das nicht<br />

erwähnt haben — zu einer Verminderung der Emissionen<br />

an NO um mehr als 30 % bis Mitte der 90er<br />

Jahre führen. Bei den Kohlenwasserstoffen werden<br />

die angeführten Maßnahmen im Bereich der stationären<br />

Anlagen des Verkehrs und der Produkte bis zu<br />

diesem Zeitpunkt eine Reduzierung um rund 40 %<br />

erbringen.<br />

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: 30 % bis<br />

40 % von wieviel?)<br />

Da jedoch der Verkehr auf Grund der gesamteuropäischen<br />

Entwicklung weiter zunehmen wird, Herr<br />

Kollege Böhme, reichen diese Maßnahmen nicht aus.<br />

Meine Fraktion setzt sich daher nachdrücklich für<br />

weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Vorläufersubstanzen<br />

für Ozon und Sommersmog aus dem Verkehrsbereich<br />

ein. Wir setzen dabei auf folgende<br />

Schritte: auf eine weitere drastische Verschärfung der<br />

Abgasnormen für Benzinfahrzeuge und für Lastkraftwagen<br />

auch gegenüber den gerade vom EG-Umwelt<br />

rat beschlossenen Grenzwerten, auf eine Verordnung<br />

zur Rückführung von Kohlenwasserstoffdämpfen<br />

beim Betanken, auf eine kontinuierliche Verlagerung<br />

des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene<br />

und auf die Erarbeitung umweltschonender Stadtverkehrskonzepte<br />

unter stärkerer Förderung des öffentlichen<br />

Personennahverkehrs.<br />

(Monika Ganseforth [SPD]: Und wo merkt<br />

man was davon?)<br />

In diesem Zusammenhang begrüßt meine Fraktion<br />

die Absicht des Bundesumweltministers, den Entwurf<br />

einer Verordnung nach § 40 Abs. 2 BImSchG vorzulegen,<br />

die den zuständigen Länderbehörden kleinräumige<br />

Verkehrsbeschränkungen, z. B. im Innenstadtbereich,<br />

für den Fall ermöglichen soll, daß die in der<br />

Bundesverordnung zu regelnden Schadstoffkonzentrationen<br />

überschritten sind. Wir begrüßen es, -<br />

daß der<br />

Umweltminister z. B. den Kommunen vor Ort mit einer<br />

solchen Verordnung Mut machen will. Denn die<br />

rechtlichen Möglichkeiten zu Verkehrsbeschränkungen<br />

gibt es z. B. in der Straßenverkehrsordnung schon<br />

seit 1980 und im Bundes-Immissionsschutzgesetz seit<br />

dem letzten Jahr; das nur noch einmal der Vollständigkeit<br />

halber, Frau Hartenstein.<br />

Nur, eines sollten wir uns ganz deutlich vor Augen<br />

führen: Dem Ozonproblem kann durch diese kleinräumigen<br />

Maßnahmen allein nicht wirksam begegnet<br />

werden. Wir brauchen neben den von uns geforderten<br />

Maßnahmen — das ist auch ein Appell an die sozial<br />

demokratischen Fraktionen in Bund und Ländern —<br />

auch ein Straßennetz, das trotz des Umsteuerns den<br />

drohenden Stop-and-go-Verkehr verhindert. Ebenso<br />

brauchen wir in den übrigen Wirtschaftsbereichen mit<br />

bedeutenden Emissionen von Stickoxiden und Kohlenwasserstoffen<br />

außerhalb des Verkehrsbereiches<br />

weitere Schritte zur Reduzierung der erhöhten Ozonkonzentration.<br />

Nun ein Wort zum Tempolimit: Vor einigen Wochen<br />

forderte die SPD ein Tempolimit von 100 km/h<br />

auf Autobahnen. Nun fordert sie in ihrem Antrag<br />

120 km/h. Mit dieser neuen Forderung zur Höchstgeschwindigkeit<br />

gibt die SPD selbst zu erkennen, daß<br />

einiges in diesem Bereich noch nicht geklärt ist. Die<br />

bisherigen Versuche haben gezeigt, daß ein Tempolimit<br />

vom Volumen her nur verhältnismäßig wenig zur<br />

Verringerung der Schadstoffemissionen beiträgt. Aus<br />

diesem Grunde habe ich auch überhaupt kein Verständnis<br />

dafür, daß die SPD in dieser Frage eine dogmatische<br />

Haltung einnimmt.<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das macht sie nicht!<br />

Es ist eine rein rationale Haltung!)<br />

Aber ich sage auch ganz deutlich: Es kann auch<br />

nicht richtig sein, dogmatisch im umgekehrten Sinne<br />

gegen Tempolimit um jeden Preis aufzutreten. Hier<br />

gilt es, vorurteilsfrei abzuwägen, was ein Tempolimit<br />

an Umweltverbesserungen im Verhältnis zu nachteiligen<br />

Auswirkungen wie der eventuell stärkeren Benutzung<br />

von Bundesstraßen überhaupt erbringen<br />

kann. Dies sollte in Ruhe geprüft werden.<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Ja, schlimm diese<br />

Amerikaner und Franzosen! Alles Ideolo<br />

gen!)<br />

Zum jetzigen Zeitpunkt ist es für uns sehr wichtig,<br />

die Bundesregierung in ihrem eingeschlagenen Kurs<br />

entschieden zu unterstützen, wirkungsvolle Regelungen<br />

gegen Ozon und Sommersmog durchzusetzen.<br />

Die Regierungskoalition ist hierbei auf dem richtigen<br />

Weg. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen.<br />

Deshalb, Frau Hartenstein, kann ich seitens der<br />

Regierungskoalition — ich will das vorsichtig formulieren<br />

— keine Unterstützung all Ihrer Punkte, die Sie<br />

angesprochen haben, in Aussicht stellen.<br />

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist<br />

der Abgeordnete Dr. Jürgen Starnick.<br />

Dr. Jürgen Starnick (FDP) : Herr Präsident! Meine<br />

Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige Anmerkungen<br />

zu dem Antrag und zu dem, was vorher gesagt<br />

worden ist. Ich will versuchen, es knapp zu machen,<br />

weil ich gerade belehrt worden bin, daß das hier keine<br />

Parlamentsveranstaltung, sondern eine Angelegenheit<br />

psychotherapeutischer Selbsterfahrung sei. Aber<br />

einige Anmerkungen kann ich mir nicht verkneifen.<br />

Zum ersten: Eigentlich hat es sich die SPD mit diesem<br />

Antrag mitten im Juni gar nicht so schlecht ausgedacht.<br />

Letzte <strong>Sitzung</strong>swoche des Parlaments vor<br />

der Sommerpause, strahlender Sonnenschein, Verbreitung<br />

von Horrormeldungen über Ozonwerte im<br />

Radio, was dann der richtige Anlaß wäre, eine darauf


2674 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Jürgen Starnick<br />

aufbauende verkehrspolitische Debatte zu führen.<br />

Denn wenn man den Antrag liest, kommt man natürlich<br />

schnell zu dem Ergebnis, daß nichts anderes damit<br />

gewollt ist.<br />

Aber welch ein Pech. Das Wetter spielt nicht mit, der<br />

liebe Gott ist ungerecht. Aber vielleicht ist er, wie ich<br />

meine, nicht ungerecht, sondern weise, hebt er doch<br />

den Finger und macht uns darauf aufmerksam, liebe<br />

Frau Hartenstein: Nicht der Verkehr ist die Ursache<br />

für das Entstehen von Ozon, sondern der Sonnenschein.<br />

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Meinen Sie<br />

das, was Sie sagen, ernst? Unglaublich!)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Starnick,<br />

gestatten Sie eine Zwischenfrage unserer Kollegin<br />

Liesel Hartenstein?<br />

Dr. Jürgen Starnick (FDP): Einen kleinen Moment<br />

noch.<br />

Gleichwohl möchte ich natürlich nicht bestreiten,<br />

daß Luftschadstoffe, insbesondere Abgase aus dem<br />

Kraftfahrzeugverkehr, zur Entstehung erdnahen<br />

Ozons beitragen. Denn sie beschleunigen die Bildung<br />

von Ozon, sobald die Sonne scheint. Aber sie beschleunigen<br />

auch den Abbau des Ozons.<br />

So mag es zwar verwunderlich sein — aber es ist<br />

letztlich erklärbar — , daß bei einer Sommersmogwetterlage<br />

in Ballungsräumen die niedrigsten Ozonwerte<br />

oft dort gemessen werden, wo in den Großstädten der<br />

stärkste Verkehr tobt.<br />

Bitte, Frau Hartenstein.<br />

Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Kollege Starnick,<br />

darf ich Sie fragen, ob Sie eine Schadstoffkonzentration,<br />

die so gravierende Gesundheitsschäden verursacht,<br />

nicht doch für ernsthaft genug halten, um sie<br />

auch ernsthaft zu behandeln? Und darf ich Sie an<br />

etwas erinnern — was Sie vielleicht gar nicht wissen<br />

können —, daß die SPD-Fraktion bereits 1989 eine<br />

ähnliche Initiative eingebracht hat, aber leider erfolglos<br />

geblieben ist? Sie hat sie eingebracht, weil wir die<br />

üble Situation verbessern wollen. Nur, die Frage ist,<br />

ob Sie wenigstens anerkennen, daß es uns um die<br />

Sache und die Verbesserung eines Übelstandes<br />

geht.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

Dr. Jürgen Starnick (FDP): Sehr verehrte Frau Hartenstein,<br />

ich erkenne das durchaus an. Wenn -<br />

ich das<br />

jetzt etwas ironisch oder vielleicht auch launisch vortrage,<br />

dann tue ich das wegen eines Punktes, der meines<br />

Erachtens die große Schwäche dieses Antrags ist.<br />

Ich will etwas später darauf zu sprechen kommen.<br />

Tatsache ist jedenfalls — das belegen Messungen<br />

im Berliner Luftgütemeßnetz, das nach meinem<br />

Kenntnisstand das dichteste Meßnetz überhaupt in<br />

dieser Republik ist — , daß dort, wo wir starke Emissionen<br />

aus dem Verkehr haben, während einer Smogwetterlage<br />

die Ozonwerte teilweise niedriger als in<br />

einem Reinluftgebiet sind. Es ist nun einmal gemessene<br />

Tatsache, daß wir dort in Deutschland, wo wir die<br />

reinste Luft haben, nämlich auf der Zugspitze, die<br />

höchsten Ozonwerte messen.<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Woher kommt<br />

das?)<br />

Ich nenne das immer — ich erlaube mir, das auch<br />

hier so zu nennen — das Ozon-Paradoxon, weil es<br />

nicht jedem im ersten Moment einsichtig ist. Man muß<br />

natürlich etwas genauer auf die Entstehungsgeschichte<br />

des erdnahen Ozons schauen.<br />

(Monika Ganseforth [SPD]: In der Strato<br />

sphäre hätten wir sogar gern mehr!)<br />

— Ja, natürlich hätten wir das dort ganz gern.<br />

(Dr. Klaus Kübler [SPD]: Das entschärft doch<br />

nicht die Ursache!)<br />

— Richtig; das entschärft nicht die Ursache.<br />

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Das läuft auf Philo<br />

sophie hinaus!)<br />

Ich sage das, meine sehr verehrten Kollegen von der<br />

SPD, weil das, was Sie jetzt beabsichtigen, etwas ist,<br />

womit Sie das umweltpolitische Pferd vom Schwanz<br />

aufzäumen. Denn wenn Sie einen Sekundärschadstoff,<br />

der sich — wenn man es so sagen will — letzten<br />

Endes wie ein Beelzebub verhält und bei dem es vom<br />

Wetter und von der Intensität des Sonnenscheins abhängt,<br />

ob er in einer hohen Konzentration auftritt, zu<br />

einer Leitgröße für die Beurteilung der Luftqualität<br />

machen wollen, dann setzen Sie schlicht auf den verkehrten<br />

Schadstoff.<br />

(Monika Ganseforth [SPD]: Wir wollen das<br />

Problem lösen!)<br />

— Sie setzen dabei aber auf den verkehrten Schadstoff.<br />

Wenn Sie das machen wollen — was ich durchaus<br />

anerkenne — , dann müssen Sie konsequenterweise<br />

auf einen Primärschadstoff wie beispielsweise Stickoxid<br />

setzen. Dies ist ein Qualitätsmaßstab zur Beurteilung<br />

unserer Umweltsituation, nicht aber ein Schadstoff,<br />

der mit so vielen Zufälligkeiten behaftet ist, in<br />

welcher Konzentration er auftritt und wann er auftritt.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Ich möchte ganz kurz auch noch auf den Wert eingehen,<br />

der angegeben worden ist, nämlich den Ozonemissionsgrenzwert<br />

von 120 Mikrogramm/m 3. Wenn<br />

er für das, wofür er hier herangezogen werden soll,<br />

nicht geeignet ist, sollte man eigentlich gar nicht weiter<br />

darüber reden. Aber die Erfahrung ist ja, daß bei<br />

der Nennung solcher Werte schnell der Eindruck vermittelt<br />

wird, hiermit werde ein Grenzwert angegeben,<br />

dessen Überschreitung auf jeden Fall gesundheitliche<br />

Gefahren nach sich ziehe.<br />

Leider fehlen noch immer Wirkungsforschungsstudien,<br />

aus denen für Ozon ein Grenzwert mit der gleichen<br />

Zuverlässigkeit wie etwa für Schwefeldioxid und<br />

Schwebstäube beim Wintersmog abgeleitet werden<br />

kann. Leider ist das so.<br />

Das mag auch daran liegen, daß die Empfindlichkeit<br />

gegenüber Ozon individuell sehr unterschiedlich


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2675<br />

Dr. Jürgen Starnick<br />

ist. Eigenverantwortliches Handeln zur Abwehr gesundheitlicher<br />

Beeinträchtigungen<br />

(Zuruf von der SPD: Luft anhalten!)<br />

bei Sommer-Smog-Lagen ist deshalb geboten. So hat<br />

sich die Umweltministerkonferenz mit Recht im vorigen<br />

Jahr auf ein gemeinsames Vorgehen bei der Information<br />

der Bevölkerung geeinigt und 180 Mikrogramm<br />

Ozon pro Kubikmeter Luft als einen Wert festgelegt,<br />

bei dessen Überschreitung eine Ozonwarnung<br />

herausgegeben wird. Sie hat sich aber wohlweislich<br />

hierauf beschränkt.<br />

Noch ein Satz: Ich will damit nun Ihre Intention<br />

nicht in Frage stellen. Ich stimme mit vielem, was Sie<br />

in diesem Antrag grundsätzlich gesagt haben, vollkommen<br />

überein. Aber ich meine, daß wir diese Ziele,<br />

die hier verfolgt werden, gemeinsam mit einer anderen<br />

Begründung darlegen sollten. Ich bin gemeinsam<br />

mit Ihnen der Auffassung, daß wir eine Verlagerung<br />

des Verkehrs von der Straße auf die Schiene erwirken<br />

müssen,<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

weil ich will, daß unsere Städte lebenswert bleiben<br />

und nicht total mit Blech verstellt werden, und weil ich<br />

will, daß unsere Einträge aus der Luft in den Boden<br />

und die Seen — insbesondere auch die Stickstoffeinträge<br />

— deutlich reduziert werden. Aber das sind natürlich<br />

dann andere Gründe. Ich meine, das sind auch<br />

die langfristigen, wichtigen umweltpolitischen Ziele,<br />

(Zuruf von der SPD: Sie sind an der Regie<br />

rung. Machen Sie es!)<br />

die sich so begründen lassen, so daß wir letzten Endes<br />

sicherlich wieder zu gemeinsamen Anliegen kommen,<br />

die wir auch gemeinsam vertreten können.<br />

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, die nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete<br />

Jutta Braband.<br />

Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Ich darf Ihnen einen angenehmen<br />

Abend wünschen!<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Danke sehr!)<br />

Ich finde, daß die Atmosphäre hier sehr viel angenehmer<br />

ist als am Nachmittag — zumindest bis jetzt.<br />

(Zuruf von der SPD: Jeder muß dazu beitra<br />

-<br />

gen!)<br />

— Ja, das finde ich auch.<br />

Sommerzeit also Ozonzeit? Und obwohl es nicht so<br />

heiß ist, geht das Problem mit dem Ozonloch nicht aus<br />

der Welt.<br />

Pünktlich zur Urlaubszeit, der Zeit der langen Autoschlangen<br />

und der Staus auf den Autobahnen<br />

kommt auch wieder das altbewährte Sommerthema<br />

Ozon auf die Tagesordnung — nicht nur hier im Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>. Wir können uns also wieder auf die<br />

Veröffentlichung von Meßwerten, die Warnungen an<br />

ältere Menschen, sich nicht zu sehr, und an alle Jog<br />

ger und Joggerinnen, sich nicht zu überanstrengen,<br />

einstellen.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war in der<br />

DDR verboten!)<br />

— Ach, bitte, hören Sie doch auf, mich immer mit der<br />

DDR zu strafen. Ich gehöre durchaus zu den Leuten,<br />

die in den letzten zwölf Jahren in der DDR bewiesen<br />

haben, daß sie sehr wohl handlungsfähig gegen Regierungen<br />

sind. Ich gedenke, damit hier nicht aufzuhören.<br />

Doch nun zum vorliegenden Antrag: So sinnvoll ich<br />

es finde, auch in Detailfragen die ökologische Diskussion<br />

vorantreiben zu wollen, so erweist er sich doch als<br />

einigermaßen halbherzig. Grundsätzlich ist zu sagen,<br />

daß die Forderung nach Festsetzung von Grenzwerten<br />

— das hat die Diskussion nach dem AKW-Unfall<br />

von Tschernobyl gezeigt — politisch immer hilflos ist.<br />

Grenzwerte sind politische Festsetzungen; sie sagen<br />

in der Regel nichts über die tatsächliche Gesundheitsgefährdung<br />

oder Umweltschädigung aus.<br />

Wenn mit der Forderung nach Festsetzung eines<br />

Grenzwertes ein ordnungspolitisches Signal gesetzt<br />

werden soll, so ist allerdings für mich die Frage, ob 120<br />

Mikrogramm pro Kubikmeter ausreichend sind — der<br />

gültige Grenzwert liegt, wie Sie sicher wissen, bei<br />

180 — oder ob darüber zu diskutieren sei, daß dieser<br />

Grenzwert noch weiter herabgesetzt werden soll.<br />

Dies gilt auch für die Festsetzung der Abgaswerte,<br />

zumindest nach dem US-Standard, und die weiteren<br />

Forderungen, die sich auf technische Lösungen beschränken.<br />

Ich will noch zum Abschluß sagen, daß ich grundsätzlich<br />

dem Antrag zustimme, ganz einfach deshalb,<br />

weil ich in der Tatsache, daß man sofort politische<br />

Maßnahmen ergreift, auch auf verkehrspolitischem<br />

Gebiet, eine Möglichkeit sehe, ein bestimmtes Bewußtsein<br />

für diese Sachen herzustellen. Grundsätzlich<br />

bin ich jedoch der Meinung, daß erst eine politische<br />

Neuorientierung auch auf dem Verkehrssektor<br />

nötig ist, und dann können wir uns über ordnungspolitische<br />

Maßnahmen unterhalten. Ich stimme aber<br />

dennoch diesem Antrag zu, weil ich denke, daß er<br />

einen gewissen Lerneffekt hervorruft.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, zum Schluß hat Herr Staatssekretär Bernd<br />

Schmidbauer das Wort.<br />

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister<br />

für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:<br />

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen<br />

und Kollegen! Ich denke, daß bei allen Beteiligten<br />

hier Einvernehmen darüber besteht, daß weitere<br />

Schritte gegen die erhöhte Ozonkonzentration<br />

und den Sommer-Smog getan werden müssen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der<br />

SPD)<br />

Ich will, weil ich die Kollegen Dr. Starnick und Pazio<br />

rek nur unterstützen kann, einmal einige Zitate brin<br />

gen. Das erste Zitat ist dem ersten Zwischenbericht


2676 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />

der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der<br />

Erdatmosphäre" entnommen:<br />

Die Zunahme des Ozons in der Nordhemisphäre<br />

beträgt seit 1970 im Jahresmittel etwa 0,5 bis<br />

1 Prozent pro Jahr und etwa 2 Prozent in stark<br />

schadstoffbelasteten Gebieten.<br />

(Zuruf der Abg. Dr. Liesel Hartenstein<br />

[SPD])<br />

— Frau Kollegin Hartenstein, das ist eben nur Ihr Problem:<br />

Sie denken, daß dem Problem der Bildung troposphärischen<br />

Ozons mit nationalen Maßnahmen<br />

Rechnung getragen werden könnte. Das ist etwas<br />

ganz anderes.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —<br />

Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Irgendwann<br />

muß man doch einmal anfangen!)<br />

Nachdem wir alle wissen, Frau Kollegin Hartenstein,<br />

daß dies ein Problem der Nordhemisphäre ist,<br />

will ich Ihnen noch etwas dazusagen. Klar ist, daß<br />

Ozon in erheblichem Umfang in der Troposphäre bei<br />

der durch die Stickoxide NO und NO2 — was wir hier<br />

als NO, bezeichnen — katalysierten photochemischen<br />

Oxidation von Kohlenmonoxid, Methan und<br />

höheren Kohlenwasserstoffen gebildet wird. Ich will<br />

noch ein Zitat bringen, und zwar aus dem dritten Bericht<br />

der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz<br />

der Erdatmosphäre" :<br />

Dabei ist die Ozon-Produktionsrate in nichtlinearer<br />

Weise von den Konzentrationen der genannten<br />

Spurengase, aber auch von den Verhältnissen<br />

der Konzentrationen der einzelnen Gase untereinander<br />

abhängig.<br />

Das ist ein höchst komplexer Zusammenhang. Wer<br />

hier Maßnahmen durchsetzen will, die sich auf lineare<br />

politische Argumente gründen, der wird am Ende<br />

überhaupt keine Veränderung der Konzentration des<br />

Ozons erreichen. Das ist die Problematik, die eben<br />

auch Dr. Starnick hier dargelegt hat.<br />

Es ist überraschend, daß die hohe Konzentration<br />

genau dort, wo sie vermutet wird, nicht auftritt, daß<br />

überall dort, wo viel Verkehr herrscht — z. B. an den<br />

Autobahnen — der umgekehrte Prozeß, nämlich die<br />

Reduktion des 03 stattfindet, während dies, wie schon<br />

vorhin erwähnt, in Gebieten mit reiner Luft zu erwarten<br />

gewesen wäre.<br />

(Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Aber Sie ken<br />

nen doch die Gründe sehr genau, Herr<br />

Schmidbauer!)<br />

-<br />

Wenn wir uns im Ziel einig sind, müssen wir in der Tat<br />

dort ansetzen, wo dies möglich ist. Reden von 1989,<br />

die gegen die Politik der Bundesregierung gerichtet<br />

sind, Frau Kollegin Hartenstein, wirken — auch wenn<br />

Sie sie zweimal oder dreimal halten — im Hinblick auf<br />

die Ozonkonzentration kein Stück vermindernd.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Im übrigen sind die Länderminister da ein wesentliches<br />

Stück weiter; denn sie haben genau ausgeführt<br />

— entgegen Begründungen in Ihrem Antrag —, daß<br />

es mit diesen Konzentrationswerten überhaupt nichts<br />

auf sich hat, weil sie überhaupt keinen Parameter für<br />

die Qualität unserer Luft darstellen. Hier wird ein anderer<br />

Ansatz nötig.<br />

Im vergangenen Jahr hat sich die Umweltministerkonferenz<br />

mehrheitlich auf diesen Grenzwert von<br />

180 Mikrogramm Ozon pro Kubikmeter Luft als Zweistundenmittelwert<br />

festgelegt. Aber dies ist natürlich<br />

ein Informationswert, der in den nächsten Jahren beliebig<br />

lange aufrecht erhalten werden kann, wenn es<br />

uns nicht gelingt, die Konzentration der Vorläufersubstanzen<br />

im richtigen Verhältnis zu reduzieren.<br />

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Da setzen wir<br />

an!)<br />

Das scheint mir hier auch einvernehmlich gesehen zu<br />

werden, mit den entsprechenden Konsequenzen.<br />

Dazu gehört, Frau Kollegin Hartenstein, daß wir in<br />

den letzten Jahren durch eine sehr konsequente Luftreinhaltepolitik,<br />

um die uns viele — auch unsere<br />

Nachbarn — sehr beneiden, und ihren entsprechenden<br />

Ergebnissen mit dazu beigetragen haben, daß es<br />

hier zu einer starken Reduzierung der Stickoxide und<br />

der Kohlenwasserstoffe gekommen ist.<br />

Ich will nicht verhehlen, daß wir seit dem 3. Oktober<br />

eine etwas andere Situation haben. Statistisch gesehen<br />

haben wir gegenüber der Situation vor dem<br />

3. Oktober eine Verdoppelung der Konzentration. Das<br />

mag mancher beklagen; ich sehe es als Aufgabe. Ich<br />

sehe, daß wir im Hinblick auf die Sanierung im Osten<br />

auf die Notwendigkeit der Fortentwicklung der Lebensqualität<br />

in den fünf neuen Ländern eben noch<br />

viel stärker Anstrengungen unternehmen müssen, um<br />

unsere Ziele zu erreichen. Immerhin hat das dazu<br />

geführt, daß wir bis heute 600 000 Tonnen Stickstoffoxide<br />

und 200 000 Tonnen Kohlenwasserstoffe weniger<br />

emittieren als ohne solche Luftreinhaltemaßnahmen:<br />

97 % der neu zugelassenen Fahrzeuge haben<br />

Drei-Wege-Katalysatoren; 25 % des Bestandes sind<br />

mit Drei-Wege-Katalysatoren ausgerüstet. Die Nachrüstung<br />

geht weiter. Wir haben es durch unseren<br />

Druck immerhin geschafft, auch im Hinblick auf die<br />

Europäische Gemeinschaft die anderen davon zu<br />

überzeugen, daß die Werte für Gesamteuropa diesen<br />

Stand der Technik bei unseren Fahrzeugen notwendig<br />

machen.<br />

Wir sagen aber genauso deutlich, daß diese Maßnahmen<br />

nicht ausreichen. Insbesondere das Anwachsen<br />

des Verkehrs macht uns Probleme. Der Ost-West<br />

Verkehr, der Binnenmarkt, all das wird im Energiebereich<br />

einen starken Zuwachs bewirken. Dies bedeutet<br />

eben, daß wir uns nachdrücklich dafür einsetzen, daß<br />

im Bereich der EG weitere Reduzierungen stattfinden.<br />

Ich will Ihnen unsere Zielvorstellung nennen. Wir<br />

gehen davon aus, daß es zu einer weiteren drastischen<br />

Verschärfung der Abgasnormen für Pkw durch eine<br />

weitere Halbierung der vom EG-Umweltrat am<br />

13. Juni 1991 beschlossenen Grenzwerte für Kohlenwasserstoff-<br />

und Stickstoffoxidemissionen für Benzinfahrzeuge<br />

sowie zu einer deutlichen Herabsetzung<br />

des Stickstoffoxidwertes für Lkw kommt. Auch beim<br />

Lkw hat der EG-Umweltrat bereits am 18. März 1991<br />

zu einem gemeinsamen Standpunkt gefunden, der<br />

eine Herabsetzung der Schadstoffgrenzwerte in zwei<br />

Schritten auf etwa die Hälfte des heutigen Niveaus


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2677<br />

Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer<br />

vorsieht. Wir gehen aber auch davon aus, daß jetzt<br />

noch Forschungs- und Entwicklungsprogramme für<br />

neue Treibstoffe notwendig werden. Dazu gehören<br />

weiter der Erlaß von Verordnungen zur Rückführung<br />

von Kohlenwasserstoffdämpfen, die Reduzierung des<br />

Benzolgehalts im Treibstoff, eine Begrenzung der<br />

CO2-Emissionen für Pkw, die etwa einer Verbrauchsminderung<br />

bis zum Jahr 2005 auf 51 pro 100 km<br />

gleichkommt. Dies sind ehrgeizige Ziele. Wir werden<br />

noch genügend Gelegenheit haben, hier an einem<br />

Strang zu ziehen.<br />

Beim Schlagwort „Verlagerung von der Straße auf<br />

die Schiene" ist manches einzuklagen, wenn es um<br />

Maßnahmen geht, Schienenstrecken bei uns zu<br />

bauen.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Wer weiß, in welch geringen Prozentsätzen wir für<br />

diese Verlagerung noch Spielraum haben, der weiß,<br />

daß es darauf ankommt, neue Trassen zu realisieren.<br />

Oftmals sind es dieselben, die uns die Verlagerung<br />

ankündigen, mitgehen und dann bei der Neubautrasse<br />

an vorderster Stelle gegen diese Neubautrasse<br />

protestieren.<br />

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Dop<br />

pelstrategie der SPD!)<br />

Wenn es um den Entwurf einer Verordnung nach<br />

§ 40 Abs. 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes<br />

geht, so will ich einmal richtigstellen: Es geht darum,<br />

daß die Landesbehörden kleinräumige Verkehrsbeschränkungen<br />

ergreifen können. Es wird nicht darum<br />

gehen — ich sagte dies bereits —, als Parameter<br />

Ozongrenzwerte herzunehmen, sondern hier zählen<br />

allein Stickoxide und andere Parameter, die uns über<br />

die Qualität, über die Verschmutzung in solchen<br />

Hochbelastungsgebieten Auskunft geben.<br />

Es gäbe eine Fülle von Maßnahmen, die wir dazu<br />

auf den Weg gebracht haben. Aber ich will hier schließen,<br />

indem ich auf einen Punkt hinweise. Wir müssen<br />

im internationalen Bereich vorankommen. Wir drängen<br />

darauf, noch in diesem Jahr im Bereich der Europäischen<br />

Wirtschaftskommission ein neues Protokoll<br />

abzuschließen, nämlich flüchtige Kohlenwasserstoffe<br />

um 30 % zu reduzieren. Dies führt natürlich zu der<br />

Entlastung, von der ich gesprochen habe. Die Schadstoffkonzentrationen<br />

müssen europaweit reduziert<br />

werden. Auch das ehrgeizige Ziel, die CO2-Emissionen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland um 25 bis<br />

30 % zu reduzieren, trägt dazu in nicht unerheblicher<br />

-<br />

Weise bei. In der Abschätzung bedeutet dies, daß wir<br />

die Stickoxidemissionen noch einmal um 30 % reduzieren<br />

und, was wichtig ist, die Kohlenwasserstoffemissionen<br />

um 60 % zurückgehen werden.<br />

In einem können wir sicher sein: Wir werden in<br />

unseren Immissionsschutzberichten an den Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>, in den Daten zur Umwelt den Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong> auch über die Entwicklung des<br />

troposphärischen Ozons ausreichend informieren.<br />

Herzlichen Dank.<br />

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt<br />

10.<br />

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf<br />

der Drucksache 12/772 an die in der Tagesordnung<br />

genannten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu<br />

andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist<br />

die Überweisung so beschlossen.<br />

Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:<br />

Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />

Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow und der<br />

Gruppe der PDS/Linke Liste Erlassung der<br />

Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR<br />

— Drucksache 12/427 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Finanzausschuß (federführend)<br />

Auswärtiger Ausschuß<br />

Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

Haushaltsausschuß<br />

Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünf-<br />

Minuten-Runde vereinbart worden. — Ich sehe keinen<br />

Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unsere<br />

Kollegin Frau Dr. Ursula Fischer.<br />

Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!<br />

Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste<br />

im Deutschen <strong>Bundestag</strong> stellt den Antrag, Nicaragua<br />

die gegenüber der ehemaligen DDR bestehenden<br />

Schulden zu erlassen.<br />

Eine generelle Feststellung vorab, um nicht eines<br />

ungerechtfertigten Subjektivismus bezichtigt zu werden:<br />

Die PDS/Linke Liste vertritt die Ansicht, daß zur<br />

wirklichen Lösung der internationalen Verschuldungskrise<br />

erstens ein genereller Schuldenerlaß und<br />

zweitens eine umfassende Demokratisierung der internationalen<br />

Verhältnisse unumgänglich sind. Das<br />

betrifft vor allem die internationalen Verteilungs- und<br />

Austauschverhältnisse, die in ihrer jetztigen Konstellation<br />

Unterentwicklung unüberwindbar machen.<br />

Daß ein genereller Schuldenerlaß ein moralisches<br />

Muß darstellt, ist ein weiterer Aspekt in unserer Argumentation.<br />

Sollten eines Tages alle Völker der sogenannten<br />

Dritten Welt mit der berechtigten Forderung<br />

nach Reparationsleistungen für fünfhundert Jahre erlittene<br />

Ausbeutung und Zerstörung materiellen und<br />

ideellen Reichtums an den entwickelten Norden herantreten,<br />

müßte Europa ohnehin seine Zahlungsunfähigkeit<br />

anmelden. Derweilen hält der Netto-Ressourcen-Rückfluß<br />

von Süd nach Nord an, wird noch am<br />

Elend der Zweidrittelwelt verdient, und Entwicklungshilfe<br />

ist so lohnend, daß sogar die Privatwirtschaft<br />

einsteigt, was ich nicht immer für negativ halte.<br />

Aus - dieser Perspektive ist die notorische Zahlungs<br />

bzw. Schuldenerlaßunwilligkeit des Nordens doppelt<br />

verwerflich.<br />

Aber zurück zu Nicaragua! Warum gerade Nicaragua?<br />

In den entwicklungspolitischen Konzeptionen<br />

der Bundesrepublik spielt die Erfüllung von Rahmenbedingungen<br />

eine wichtige Rolle. Ich will an dieser<br />

Stelle nicht über Sinn und Objektivität derartiger Bedingungen<br />

und ihre Auslegung polemisieren, sondern<br />

auf die konkrete Situation hinweisen, die sich in Nica-


2678 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Ursula Fischer<br />

ragua wie folgt darstellt: Seit den Wahlen im März<br />

1990 bemüht sich die Regierung Chamorro darum, die<br />

wirtschaftliche und politische Krise des Landes zu bewältigen.<br />

Ohne Hilfe von außen wird dieses Land, das<br />

durch Krieg, Wirtschaftsblockade, ökonomische Fehlentscheidungen<br />

und Naturkatastrophen total am Boden<br />

ist, den eingeschlagenen Weg der Demokratisierung<br />

und friedlichen Veränderung nicht weitergehen<br />

können.<br />

Um aber diese internationale Hilfe zu erlangen, akzeptiert<br />

die Regierung die Auflagen internationaler<br />

Geldgeber, ohne deren verheerende Wirkung für die<br />

breite Masse der Bevölkerung auffangen zu können.<br />

Alle sich jetzt abzeichnenden Tendenzen deuten auf<br />

eine absolute Verschlechterung der Lage hin.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Fischer,<br />

gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten<br />

Irmer?<br />

Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Bitte.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege<br />

Irmer.<br />

Ulrich Irmer (FDP): Frau Kollegin, vielen Dank dafür,<br />

daß Sie die Zwischenfrage zulassen. Würden Sie<br />

einräumen, daß Ihre geistigen Vorväter, nämlich die<br />

Regierung der DDR, ihrerseits in gewaltigem Maße<br />

dazu beigetragen haben, diese von Ihnen zutreffend<br />

beschriebene Misere Nicaraguas herbeizuführen?<br />

(Zuruf von der PDS/Linke Liste)<br />

Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich möchte<br />

darauf etwas ausführlicher antworten. Ich bin durchaus<br />

der Meinung, daß die ganze Anlage der Entwicklungspolitik,<br />

sowohl in Ost als auch in West, unter der<br />

damaligen Konstellation zu dieser Lage beigetragen<br />

hat. Auch das ist für mich ein Grund, in der Aufarbeitung<br />

der Geschichte diesen Antrag zu stellen, weil ich<br />

die Lage in Nicaragua erstens am besten kenne und<br />

zweitens für sehr gravierend halte. Deshalb tue ich<br />

das auch. Die Entwicklungspolitik sowohl in Ost als<br />

auch in West war ideologisiert; sie ist es nach wie vor.<br />

Ich weiß nicht, ob Sie anderer Meinung sind. Darüber<br />

könnten wir uns bei Gelegenheit ja einmal unterhalten.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />

Ist denn jemand in der Lage, sich vorzustellen, was<br />

zum Beispiel eine Arbeitslosenrate von 46 % bedeutet,<br />

von der die Regierung immerhin 30 % zugibt, wenn<br />

dazu noch unter den neuen Bedingungen Gesundheitsbetreuung<br />

und Bildung jetzt wieder -<br />

bezahlt werden<br />

müssen, wenn auch mit geringen Beträgen, aber<br />

doch für die arme Bevölkerung unerschwinglich?<br />

Der Vizepräsident der nicaraguanischen Nationalversammlung<br />

traf während seines Aufenthalts in der<br />

Bundesrepublik eine treffende, wenn auch niederschmetternde<br />

Feststellung. Er sagte sinngemäß:<br />

„Wenn all diese Reformen irgendwann greifen, wohlgemerkt,<br />

wenn sie greifen, werden fünf bis zehn Jahre<br />

vergangen sein. Diese fünf bis zehn Jahre werden<br />

Tausende Menschen, vor allem Kinder, das Leben<br />

kosten, weil Mittel für Gesundheit und Bildung nicht<br />

da sind und nicht da sein werden. Investitionen in Bil<br />

dung und Gesundheit sind nun mal weder für nationales<br />

noch für internationales Kapital lohnend. "<br />

Weil Mittel für diese Bereiche nicht zur Verfügung<br />

stehen, wächst in Nicaragua bereits heute wieder eine<br />

Generation von Kindern heran, die weder lesen noch<br />

schreiben können. Eltern müssen ihre Kinder zu<br />

Hause sterben lassen, weil sie das Geld für Medikamente<br />

nicht aufbringen und die staatlichen Einrichtungen<br />

die medizinische Versorgung nicht mehr sichern<br />

können.<br />

Statt dessen werden von der Regierung bekannter<br />

weise selbstzerstörerische Auflagen des IWF und der<br />

Weltbank erfüllt, und der Schuldendienst macht nach<br />

wie vor den angeblich helfenden Norden noch reicher.<br />

Im Land wachsen die sozialen Spannungen. Der<br />

mühsam errungene Frieden ist zunehmend gefährdet,<br />

und dieser Krieg ging nicht nur von Nicaragua aus.<br />

Das Projekt Demokratisierung droht an diesen Auseinandersetzungen<br />

zu scheitern.<br />

Einer zu erwartenden Ausweitung der Choleraepidemie<br />

auf Mittelamerika hat die gesamte Region<br />

wenig entgegenzusetzen. In den Armenvierteln Managuas<br />

ist bei dem derzeitig desolaten Zustand von<br />

medizinischer Versorgung und Infrastruktur und der<br />

sich zunehmend verschlechternden Ernährungslage<br />

der Bevölkerung die Katastrophe vorprogrammiert.<br />

Angesichts dieser Konstellation ist die Vorstellung<br />

unerträglich, daß auch die 570 Millionen US-Dollar,<br />

die Nicaragua aus der Zusammenarbeit mit der ehemaligen<br />

DDR belasten, von einer Regierung eingefordert<br />

werden sollen, die erstens in den vergangenen<br />

Jahren verschwindend wenig für die nicaraguanischen<br />

Menschen getan hat und die zweitens mit ihrer<br />

Entwicklungspolitik einen wesentlichen Beitrag zur<br />

Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten<br />

beabsichtigt.<br />

Ein umfassender Schuldenerlaß gegenüber Nicaragua<br />

wäre hingegen zumindest ein Hinweis darauf,<br />

daß die Bundesregierung bereit ist, die aufgestellten<br />

Richtlinien ihrer Entwicklungspolitik mit Leben zu erfüllen.<br />

Das wäre für mich ein Schritt in die richtige<br />

Richtung.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, nunmehr hat unser Kollege Dr. Uwe Holtz das<br />

Wort.<br />

Dr. Uwe Holtz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr<br />

geehrten Damen und Herren! Die Behandlung des<br />

Nicaragua-Antrags im Plenum, wenn auch nicht vor<br />

vollem Hause, macht deutlich: Wir vergessen Nicaragua<br />

nicht. Das zentralamerikanische Land befindet<br />

sich in einer katastrophalen wirtschaftlichen Situation.<br />

Sie ist auf die negativen internationalen wirtschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen, auf den jahrelang<br />

von außen mit angeheizten Bürgerkrieg, aber auch<br />

auf eine in vielen Bereichen falsche Wirtschaftspolitik<br />

des Landes und auch auf die von der Bundesrepublik<br />

mit betriebene Sanktionspolitik zurückzuführen. In<br />

jüngster Zeit wurde diese katastrophale Situation


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2679<br />

Dr. Uwe Holtz<br />

noch durch ausbleibende Hilfen aus den mittel- und<br />

osteuropäischen Ländern verschärft.<br />

Bei ihren Besuchen in der Bundesrepublik haben<br />

sowohl der ehemalige Präsident Daniel Ortega als<br />

auch die neue Präsidentin Chamorro die Bundesrepublik<br />

um finanzielle und technische Zusammenarbeit<br />

sowie um Schuldenerleichterungen gebeten.<br />

Wir müssen in der Entschuldungsfrage in der Tat<br />

weiterkommen. Dabei sind wir Sozialdemokraten jedoch<br />

nicht für eine pauschale Streichung der Schulden<br />

gegenüber allen Ländern, weil wir nicht wollen,<br />

daß etwa Diktatoren davon dann noch profitieren können.<br />

(Beifall bei der SPD und der FDP)<br />

Im Februar dieses Jahres hatte Hans-Jochen Vogel<br />

der Präsidentin zugesagt, daß die SPD deutsche Hilfsleistungen<br />

an Nicaragua unterstützen werde. Er verwies<br />

auch darauf, daß wir wiederholt die Wiederaufnahme<br />

der vollen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit<br />

gefordert haben; außerdem müsse es in<br />

einer Zeit, in der für den Golfkrieg Milliarden innerhalb<br />

kürzester Zeit bereitgestellt würden, auch möglich<br />

sein, für die Festigung der Demokratie und die<br />

Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Nicaragua<br />

einen maßgeblichen Beitrag zu leisten.<br />

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />

dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Die Verschuldung Nicaraguas hat, wie in ähnlich<br />

gelagerten Fällen in anderen Entwicklungsländern,<br />

nicht nur wirtschaftliche und finanzielle Bedeutung,<br />

sondern auch eine politische Dimension: Sie gefährdet<br />

die politische Stabilität und die demokratische<br />

Entwicklung und blockiert den sozialen Fortschritt.<br />

Deshalb kommt der Entschuldung eine hohe Bedeutung<br />

zu. Wir vertreten zu dem vor uns liegenden Antrag<br />

folgende Auffassung:<br />

Erstens. Die Regierung des vereinten Deutschlands<br />

kann sich ihrer Verantwortung gegenüber Nicaragua<br />

nicht entziehen. Dies gilt auch für den Bereich der<br />

Entschuldung.<br />

Zweitens. Wir halten es für falsch, bei der Frage der<br />

Verschuldung und dementsprechenden Lösungen<br />

nur von den Schulden auszugehen, die Nicaragua<br />

gegenüber der ehemaligen DDR hat. Hier muß es zu<br />

einer Regelung für die Gesamtschulden kommen.<br />

(Beifall bei der SPD, der FDP, der PDS/Linke<br />

Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Drittens. Wir erwarten, daß die Bundesregierung<br />

einen mutigen Schritt nach vorne wagt. Dabei<br />

-<br />

muß sie<br />

wissen: Schulden teilweise oder gar vollständig zu<br />

erlassen ist nicht nur ein Gebot der Solidarität, sondern<br />

oft auch ein Akt der Vernunft.<br />

Eine neue Qualität der Entschuldungsregelungen<br />

ist kürzlich im Falle Polens und Ägyptens gefunden<br />

worden, bei zwei Ländern, die, wie Nicaragua, der<br />

mittleren Einkommensgruppe zuzurechnen sind.<br />

Ausdrücklich haben die Industrieländer — auch die<br />

Bundesrepublik — bei dieser Regelung von politischen<br />

Gründen gesprochen. Leider besteht bei der<br />

Bundesregierung nicht — noch nicht? — die Absicht,<br />

diese Regelung auf andere Länder auszudehnen. Wir<br />

meinen jedoch: Die Beispiele Polens und Ägyptens<br />

sollten in vergleichbaren Fällen Schule machen. Es<br />

gibt gute politische Gründe, die für eine dementsprechende<br />

Entschuldung auch Nicaraguas sprechen.<br />

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />

dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Viertens. Die notwendige Entschuldung Nicaraguas<br />

sollte mit der Erwartung verbunden werden, daß<br />

Nicaragua zukünftig eine Entwicklungsstrategie verfolgt,<br />

bei der das Kapital produktiver verwandt wird,<br />

die Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt<br />

werden und ein sich selbst tragender, menschenwürdiger,<br />

sozialer und ökologisch verträglicher Entwicklungsprozeß<br />

in Gang gesetzt wird.<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

In jedem Fall muß die Bevölkerung Nicaraguas vor<br />

einem Rückfall in die Zeiten des Somoza-Regimes<br />

geschützt werden. Die Landreform sollte nicht rückgängig<br />

gemacht werden, und die Alphabetisierung ist<br />

voranzutreiben.<br />

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />

dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Dementsprechende Strukturanpassungsprogramme<br />

von Internationalem Währungsfonds und Weltbank<br />

dürfen nicht eine wirtschaftliche und monetaristische<br />

Schlagseite haben. Sie müssen die soziale, die<br />

menschliche und die ökologische Dimension mit<br />

sehen.<br />

Ich komme zum Schluß.<br />

Fünftens. Wir warnen davor, Herr Präsident, isoliert<br />

nur Nicaragua als Entschuldungsfall zu sehen, und<br />

fordern die Bundesregierung auf, endlich allgemeine<br />

Regeln für ein innovatives Konzept von Schuldenlösungen<br />

für hochverschuldete Entwicklungsländer<br />

vorzulegen, das dann von Fall zu Fall angewendet<br />

wird.<br />

Besten Dank für die Aufmerksamkeit.<br />

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />

dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Werner Zywietz.<br />

Werner Zywietz (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen<br />

und Herren! Mir scheint außer Zweifel zu sein,<br />

daß Nicaragua nach den demokratischen Wahlen des<br />

letzten Jahres die Unterstützung der Bundesrepublik<br />

Deutschland und anderer Staaten braucht, damit keimende<br />

Demokratie und keimende ökonomische Entwicklung<br />

in diesen zwischen Nord- und Südamerika<br />

gelegenen sieben Brückenstaaten für die f riedliche<br />

Entwicklung positive Auswirkungen haben. Ich<br />

glaube, insoweit — das könnte ich mir jedenfalls denken<br />

— kann hier im Hause zwischen den wesentlichen<br />

Fraktionen Übereinstimmung bestehen.<br />

(Beifall bei der FDP — Zuruf der Abg.<br />

Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste])<br />

— Zu Ihnen komme ich noch; denn ich muß sagen: Ich<br />

habe mir ein paar Mal Ihren Antrag nachdenklich<br />

angeschaut. Einer doch sehr heuchlerischen und dop-


2680 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Werner Zywietz<br />

pelgesichtigen Aufmachung kann man sich nicht entziehen.<br />

Natürlich verdient Nicaragua Hilfe, wie ich sagte.<br />

Sie, Kollegin Fischer, sprechen hier aus persönlicher<br />

Betroffenheit. Ich habe nachgelesen, daß Sie in<br />

diesem Land einige Zeit gearbeitet haben. Aber der<br />

Ex-Ministerpräsident der früheren DDR, Dr. Hans<br />

Modrow, der diesen Antrag mitunterzeichnet hat, ist<br />

nicht hier, obwohl er während seiner verantwortlichen<br />

Regierungszeit genau das hätte tun können, was Sie<br />

hier einfordern. Sie tun dies in einer seltsamen Penetranz,<br />

als hätte eine Wiedervereinigung gar nicht<br />

stattgefunden. Sie sprechen hier nur von den „Schulden<br />

Nicaraguas gegenüber der DDR", das in einem<br />

Antrag vom 25. Ap ril 1991. Das macht mir deutlich,<br />

daß bei Ihnen im Kopf eine Wiedervereinigung eigentlich<br />

noch gar nicht stattgefunden hat und daß Sie<br />

— das ist eigentlich das Peinliche an diesem Antrag —<br />

als die Brandstifter der Vergangenheit hier auftreten<br />

und in die Rolle der Biedermänner schlüpfen, als hätte<br />

Ihnen das Schicksal Nicaraguas schon immer besonders<br />

am Herzen gelegen.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege<br />

Zywietz, es gibt zwei Bitten um Zwischenfragen. Gestatten<br />

Sie diese?<br />

Werner Zywietz (FDP): Ja, gerne. Sehr gerne sogar.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Weiß,<br />

Sie hatten sich zuerst gemeldet. Bitte sehr.<br />

Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />

Kollege, ich habe eine Nachfrage, die sich auf etwas<br />

bezieht, was schon etwas zurückliegt.<br />

Sie befleißigten sich, das Hohe Haus in wesentliche<br />

und unwesentliche Fraktionen zu unterteilen. Könnten<br />

Sie mir vielleicht einmal deutlich machen, nach<br />

welchen Gesichtspunkten Sie diese Unterscheidung<br />

vorgenommen haben<br />

(Ulrich Irmer [FDP]: Das ist selbsterklärend!<br />

Das bedarf keiner Erläuterung!)<br />

und aus welchem Wählerverhalten Sie das schließen<br />

würden?<br />

Werner Zywietz (FDP): Das will ich gerne tun, Herr<br />

Kollege.<br />

Wenn in diesem Hause ein Antrag mit dem Datum<br />

25. April 1991 eingebracht wird, dann kann es sich<br />

nur um Schulden der Bundesrepublik -<br />

Deutschland<br />

handeln und nicht um Schulden der DDR; denn in der<br />

Rechtsfolge gemäß Einigungsvertrag und dem, was<br />

zwischenzeitlich stattgefunden hat, sind das übernommene<br />

Schulden. Das ist die Rechtslage. Wer hier<br />

auftritt und so tut, als gehe es hier um spezielle Schulden<br />

der DDR, der hat ergo die letzten Monate geschichtlich<br />

verpaßt.<br />

Ich vermisse die Gesamtverantwortung. Hier wird<br />

nur eine Teilbetrachtung des Problems vorgenommen.<br />

Da, meine ich schon, ist zwischen wesentlichen<br />

und unwesentlichen Fraktionen zu unterscheiden,<br />

und zwar zwischen denen, die Gesamtverantwortung<br />

wahrnehmen oder sie wahrzunehmen sich bemühen,<br />

und denen, die das nicht tun.<br />

Da schaue ich zu der linken Seite des Hauses und<br />

erwarte gern die folgende Frage.<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Fischer,<br />

bitte.<br />

Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Es ist an dieser<br />

Stelle von einem Redner einmal über die Wirkung<br />

von Worten gesprochen worden. Ich möchte Sie bitten,<br />

darüber einmal nachzudenken.<br />

Meine Frage: Ist Ihnen bekannt, daß von dem Ausschuß<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Volkskammer,<br />

von Minister Ebeling damals ein genereller<br />

Schuldenerlaß gegenüber der DDR gefordert worden<br />

ist und daß das von Theodor Waigel nicht anerkannt<br />

worden ist?<br />

Werner Zywietz (FDP): Das machen Sie jetzt auch.<br />

Sie wollen sich jetzt sozusagen in die Biedermann<br />

Rolle begeben und andere die Verantwortung übernehmen<br />

lassen. Sie hätten das alles früher tun können.<br />

Sie haben in der früheren DDR aber nur Umschuldung<br />

vorgenommen; so habe ich es gelesen. Die Zahlungen<br />

sollten eigentlich erst 1994 beginnen — ich habe mich<br />

in die Sache schon eingearbeitet —; nur, davon ist hier<br />

nicht die Rede.<br />

Sie haben an Nicaragua Waffen geliefert; Sie haben<br />

mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet.<br />

(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste<br />

— Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/<br />

GRÜNE]: Das ist doch unfair gegenüber der<br />

Kollegin Fischer!)<br />

— Das alles ist doch authentisch.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Das kann ich zu Protokoll geben; ich kann es auch<br />

zitieren, wenn Sie es wollen.<br />

(Konrad Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]:<br />

Die Kollegin Fischer hat in Nicaragua huma<br />

nitäre Hilfe geleistet!)<br />

Das ist authentisch: ,,... beklagt sich öffentlich über<br />

Vertragsbrüche der DDR wegen der Einstellung der<br />

Zusammenarbeit zwischen beider Staatssicherheitsdiensten.<br />

" — Diese Passage habe ich aus den Unterlagen<br />

entnommen.<br />

Also leugnen Sie nicht die vielleicht nicht in allen,<br />

aber in wesentlichen Teilen schlimme Verantwortlichkeit,<br />

die Sie dort für zehn Jahre zu übernehmen<br />

haben. Sie sprechen lieber von den letzten 500 Jahren<br />

und der großen Geschichte im allgemeinen, um Ihre<br />

Verantwortung für die letzten fünf oder zehn Jahre<br />

vergessen zu machen. So kommen Sie hier nicht durch<br />

die Maschen der geschichtlichen Betrachtung.<br />

(Beifall bei der FDP — Dr. Ursula Fischer<br />

[PDS/Linke Liste]: Sie auch nicht!)<br />

Hier wird das Gesamte verantwortet.<br />

(Zuruf von der SPD: Wie war das denn mit<br />

der LDP; hat die da nicht zugestimmt?)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2681<br />

Werner Zywietz<br />

— Langsam, immer eins nach dem anderen, so wie im<br />

Emsland die Klöße gegessen werden; nicht alles miteinander<br />

vermischen!<br />

(Abg. Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]<br />

meldet sich zu einer weiteren Zwischen<br />

frage)<br />

Vizepräsident Helmut Becker: Herr Kollege Zywietz,<br />

gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?<br />

Werner Zywietz (FDP): In den zwei Minuten, die ich<br />

noch habe, stelle ich nur fest, daß Ihre Vergangenheit<br />

(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Meine<br />

ist sauber! Prüfen Sie einmal die von Ihren<br />

Abgeordneten!)<br />

mit der Verantwortung, die Sie da tragen, nicht die<br />

rühmlichste ist. Das ist in zwei Minuten hier leider<br />

nicht auszuführen. Aber ich stehe zu der Behauptung,<br />

die ich an anderer Stelle gerne belege.<br />

(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Das<br />

wird Ihnen aber schwerfallen!)<br />

Aber das wird für Sie nicht sehr gemütlich sein.<br />

Ich sage hier: Wir wissen, daß Nicaragua für ein<br />

wirtschaftlich und demokratisch prosperierendes<br />

Mittelamerika eine große Bedeutung hat. Wir werden<br />

unsere Kräfte und Bemühungen zusammennehmen,<br />

um bilateral und aktiv dieses Land zu unterstützen.<br />

Davon ist in Ihrem Antrag überhaupt keine Rede. Sie<br />

konzentrieren sich nur auf Ihre eigenen Altschulden.<br />

Alles andere scheint Ihnen egal zu sein. Wir setzen<br />

finanzielle Hilfe ein, wir setzen bilaterale technische<br />

Hilfe ein, und wir werden auch über Schuldenerleichterungen<br />

und Schuldenerlasse im Zusammenhang mit<br />

den Gläubigerstaaten zu reden haben.<br />

Die Welt ist gerade im Bereich der Entwicklungshilfe<br />

nun einmal sehr multinational. Sie können nicht<br />

gegenüber Gläubigern so auftreten, als gebe es allein<br />

gegenüber der Ex-DDR oder gegenüber der Bundesrepublik<br />

Schulden. Auch gegenüber England, Frankreich<br />

und Oststaaten bestehen Schulden. Das muß im<br />

Paket behandelt werden und darf nicht in einer so<br />

isolierten und einseitigen Weise gesehen werden, die<br />

Ihre vergangene Verantwortung total außer acht läßt,<br />

wie es aus diesem Antrag hervorgeht.<br />

Deswegen, sage ich Ihnen, bekennen wir uns zu<br />

unserer stützenden und aufbauenden Rolle, die das<br />

neue Nicaragua verdient. Wir sagen auch ganz -<br />

deutlich,<br />

daß Sie etwas mehr in sich kehren sollten und<br />

sich Ihre Vergangenheit einmal etwas distanzierter<br />

und, wie ich meine, etwas ehrlicher gegenüber diesem<br />

Land und vor allem seiner Bevölkerung vor Augen<br />

führen sollten. Die Beziehung zwischen der DDR<br />

und Nicaragua war kein Ruhmesblatt. Sie haben einen<br />

sozialistischen Staat sozusagen in den Bankrott<br />

getrieben und haben einen zweiten fast noch mit hereingezogen.<br />

Daß Sie sich dann hier in dieser belehrenden pädagogischen<br />

Art hinstellen und solche Anträge stellen,<br />

ist von einer besonderen Frivolität.<br />

Ich sage: Wir werden helfen; aber Sie als Ratgeber<br />

in dieser Form brauchen wir nicht.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Vizepräsident Helmut Becker: Meine Damen und<br />

Herren, als nächster Redner hat jetzt unser Kollege<br />

Konrad Weiß das Wort.<br />

Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr<br />

Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege<br />

Zywietz, ich bedauere, daß die Diskussion über das<br />

wichtige Anliegen, das hier verhandelt werden sollte,<br />

so in persönliche Ang riffe gegen die Kollegin Fischer,<br />

die in Nicaragua ehrlich als Ärztin gearbeitet hat, ausgeartet<br />

ist.<br />

(Ulrich Irmer [FDP]: Das ist doch ein Mißver<br />

ständnis; das war doch kein Anwurf! — Wer<br />

ner Zywietz [FDP]: Das war es auch nicht! —<br />

Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]:<br />

Das war sehr eindeutig! Ich habe es so ver<br />

standen!)<br />

Ich bin der Auffassung, daß dieser Antrag der PDS<br />

— Sie werden mich sicher nicht der Freundschaft mit<br />

der PDS bezichtigen — eine Forderung beinhaltet, die<br />

zu begrüßen ist. Es geht wirklich darum, nicht global<br />

Schulden zu erlassen, sondern für ein konkretes Land<br />

Schulden zu erlassen, die auf Leistungen der DDR<br />

beruhen.<br />

Wir wissen, Nicaragua steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise,<br />

die von Koordinationsminister Antonio<br />

Lacayo mittels einschneidender Spar- und Sanierungsmaßnahmen<br />

bekämpft wird. Derartige wirtschaftliche<br />

Roßkuren sind erfahrungsgemäß mit hohen<br />

sozialen Kosten und Risiken verbunden und leisten<br />

der politischen Polarisierung im Lande weiteren<br />

Vorschub. Auch für 1991 kann die Regierung in Managua<br />

nicht mit einem Wirtschaftswachstum rechnen,<br />

sondern allenfalls mit einem Ende des langjährigen<br />

und gefährlichen wirtschaftlichen Schrumpfungsprozesses.<br />

Kurzfristige Überbrückungsdarlehen, wie sie dem<br />

Land zugesagt sind, gewähren Nicaragua wieder Zugang<br />

zu den Entwicklungskrediten im Sinne von<br />

Bretton Woods und von anderen internationalen Institutionen.<br />

Doch Maßnahmen der Umschuldung und<br />

Neuverschuldung verzögern das Problem nur, lösen<br />

es aber nicht. Neue Kapitalströme, die aus multilateralen<br />

Quellen nach Nicaragua fließen könnten, müßten<br />

zum Teil wieder zur Rückzahlung der soeben vereinbarten<br />

dreimonatigen Überbrückungskredite verwendet<br />

werden.<br />

Die Verschuldung Nicaraguas aus von der DDR<br />

gewährten Krediten beträgt gegenwärtig rund<br />

570 Millionen US-Dollar. Nach mehrfacher Umschuldung<br />

sind 450 Millionen US-Dollar am 1. Januar 1994<br />

fällig. Im Zeitraum von 1990 bis zum Jahr 2000 sind<br />

rund 120 Millionen US-Dollar zu begleichen. Davon<br />

sind allein aus dem Jahre 1990 rund 27,2 Millionen<br />

US-Dollar überfällig. 1991 hätte Nicaragua 13 Millionen<br />

US-Dollar zu zahlen. All das sind Belastungen für<br />

dieses Land, die unerträglich sind.<br />

Nach der Beurteilung der Bundesregierung, die bei<br />

ihrer Bewertung die Richtlinien des DAC zugrunde<br />

legt, sind alle Leistungen der ehemaligen DDR im


2682 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Konrad Weiß<br />

Rahmen der gewährten Kredite nicht als Entwicklungshilfe<br />

einstufbar. Ich teile diese Einschätzung<br />

ausdrücklich nicht.<br />

Dennoch wird der Aufbau Nicaraguas durch Kredite<br />

belastet, die nicht alle der Entwicklung des Landes<br />

dienten und die nicht von der demokratischen<br />

Regierung unter Präsidentin Chamorro zu verantworten<br />

sind. In meinen Augen ist es daher nicht nur politisch<br />

fragwürdig, sondern auch aus ethischen und humanistischen<br />

Erwägungen heraus unerträglich, wenn<br />

Deutschland heute von Aktivitäten der ehemaligen<br />

DDR profitiert, die mit der Wert- und Rechtsordnung<br />

des Grundgesetzes vielfach nicht im Einklang standen.<br />

Auch aus diesem Grunde habe ich der Präsidentin<br />

Nicaraguas unlängst bei ihrem Besuch in Deutschland<br />

versprochen, mich für eine Streichung dieser<br />

Schulden einzusetzen.<br />

Ich bitte das Hohe Haus, der Bundesregierung die<br />

Streichung dieser Schulden aufzutragen. Dies wäre<br />

ein wirksamer Beitrag Deutschlands zur Unterstützung<br />

einer jungen demokratischen Regierung und ein<br />

wirklicher Erweis der Solidarität mit dem Volk von<br />

Nicaragua.<br />

Ich danke Ihnen für Ihre Geduld zu später<br />

Stunde.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD<br />

und der PDS/Linke Liste)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und<br />

Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.<br />

Unser Kollege Klaus-Jürgen Hedrich möchte seine<br />

Rede zu Protokoll geben. Ich denke an das, was wir im<br />

Laufe des Abends vereinbart haben, und bitte um Ihre<br />

Zustimmung. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch.<br />

Dann ist das so beschlossen.*) Damit ist die<br />

Aussprache beendet.<br />

Nunmehr hat gemäß § 30 der Geschäftsordnung<br />

unsere Kollegin Frau Ursula Fischer das Wort.<br />

Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich möchte an<br />

dieser Stelle eine persönliche Erklärung abgeben,<br />

weil ich es auch zur Verbesserung der Kultur dieses<br />

Hauses und der Art und Weise, wie hier miteinander<br />

umgegangen wird, für nötig halte. Diese bestürzen<br />

mich doch immer wieder sehr.<br />

Ich bin ganz persönlich von Ihnen angesprochen<br />

worden. Sie haben „Sie" gesagt; Sie haben das nicht<br />

im übertragenen Sinne gemeint. Sie sollten sich vielleicht<br />

Leute einmal besser ansehen. Ich finde es um so<br />

bedauerlicher, daß gerade in diesem Bereich - derart<br />

polemisiert wird.<br />

Ich weiß nicht, ob Ihnen die ganzen Dinge, die ich<br />

vorgetragen habe, bekannt sind, unter anderem, daß<br />

der entsprechende Ausschuß in der damaligen DDR<br />

beschlossen hatte, die Schulden zu streichen. Das ist<br />

nicht genehmigt worden. Das scheint Ihnen offensichtlich<br />

nicht bekannt gewesen zu sein.<br />

Ich habe aber noch etwas anderes dazu zu sagen. Es<br />

ging mir — das habe ich am Anfang gesagt — nicht<br />

allein um Nicaragua. Es ging vielmehr um einen An-<br />

*) Anlage 8<br />

fang, und einen solchen wollte ich an dieser Stelle<br />

machen.<br />

Ich möchte Sie jedoch auch fragen, ob Ihnen bekannt<br />

ist, wer die Häfen in Nicaragua damals vermint<br />

hat und was die Contras gemacht haben. Ich hatte<br />

z. B. Kinder in der Sprechstunde, die nicht mehr gesprochen<br />

haben, weil die Mutter in Anwesenheit der<br />

fünf Kinder von den Contras auf eine Mine gesetzt<br />

worden ist. Solche Sachen habe ich erlebt. Ich möchte<br />

wissen, wie Sie das bewerten. Es liegt nicht immer nur<br />

an einer Seite.<br />

Ich möchte noch eines sagen: Wenn sich jeder Bürger<br />

der BRD dafür verantworten müßte, was meinetwegen<br />

jetzt im Golfkrieg mit Giftgasfabriken usw.<br />

passiert ist, dann ist hier, wenn das eines Tages aufgerollt<br />

wird, auch jeder dafür verantwortlich. Auch ich<br />

bin jetzt dafür verantwortlich, weil ich jetzt im vereinigten<br />

Deutschland lebe.<br />

Sie haben gesagt, ich hätte die Vereinigung noch<br />

nicht im Kopf. Ich frage mich angesichts der Situation<br />

im Osten, wie ich das vollkommen verarbeiten kann.<br />

Ich habe überhaupt keine Idee, wie Sie mit der Mentalität,<br />

mit der anderen Entwicklung, die wir nun einmal<br />

40 Jahre lang durchgemacht haben, umgehen.<br />

Auch Sie hätten 1952 auf dem Gebiet der DDR geboren<br />

worden sein können. Ich weiß nicht, wie Sie sich<br />

entwickelt hätten. Von dem Standpunkt aus sollten<br />

Sie das auch einmal betrachten, und zwar in aller<br />

Ruhe.<br />

Ich halte es für unerträglich, wie hier mit Worten<br />

umgegangen wird. Ich bitte Sie, in Zukunft solche<br />

Anwürfe zu unterlassen.<br />

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem<br />

Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordne<br />

ten der SPD — Ulrich Irmer [FDP]: Das ist ja<br />

ein Skandal! — Abg. Werner Zywietz [FDP]<br />

meldet sich zu Wort)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Zywietz,<br />

was möchten Sie?<br />

(Werner Zywietz [FDP]: Ich möchte ebenfalls<br />

eine persönliche Erklärung abgeben!)<br />

— Bitte sehr.<br />

Werner Zywietz (FDP): Herr Präsident! Ich möchte<br />

nur feststellen, daß ich in meinem Redebeitrag bis auf<br />

die Erwähnung der Berufstätigkeit der Kollegin in<br />

Nicaragua keine persönlichen Anwürfe gemacht<br />

habe, sondern mich ausschließlich mit der politischen,<br />

parteilichen Wertung dieser Thematik beschäftigt<br />

habe. Ich habe mich in keinster Weise persönlich eingelassen.<br />

(Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Lesen<br />

Sie es im Protokoll noch einmal nach!)<br />

Vizepräsident Helmuth Becker: Ich nehme an, Herr<br />

Kollege Zywietz, daß das, was Sie jetzt erklärt haben,<br />

auch so zu verstehen ist, wie Sie es jetzt gesagt haben,<br />

daß, selbst wenn etwas vorgekommen ist, dies keine<br />

Absicht war.<br />

Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der<br />

Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> - 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2683<br />

Vizepräsident Helmuth Becker<br />

Interfraktionell ist vereinbart worden, die Vorlage<br />

in Abweichung von dem in der Tagesordnung auf geführten<br />

Überweisungsvorschlag wie folgt zu überweisen:<br />

zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß,<br />

zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß, an<br />

den Auswärtigen Ausschuß sowie an den Ausschuß<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kann ich Ihr Einverständnis<br />

dazu feststellen? — Das ist der Fall.<br />

Ich rufe nun Punkt 13 der Tagesordnung auf:<br />

Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/<br />

Linke Liste<br />

Aufnahme des grünen Pfeils in die Straßenverkehrsordnung<br />

— Drucksache 12/728 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Ausschuß für Verkehr<br />

Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit Fünfminutenbeiträgen<br />

für jede Fraktion vereinbart worden. In<br />

der Zwischenzeit haben aber alle Redner ihre Reden<br />

zu Protokoll gegeben. Da wir von der Geschäftsordnung<br />

abweichen, bitte ich auch hier um Ihre Zustimmung.<br />

— Ich sehe und höre keinen Widerspruch.<br />

Dann ist das so beschlossen. *)<br />

Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage<br />

auf Drucksache 12/728 an den in der Tagesordnung<br />

aufgeführten Ausschuß vor. Sind Sie damit einverstanden?<br />

— Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist<br />

die Überweisung so beschlossen.<br />

Ich rufe nunmehr Punkt 14 des Tagesordnung<br />

auf:<br />

Erste Beratung des von der Bundesregierung<br />

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über<br />

die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen<br />

in Bund und Ländern 1991<br />

(Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz<br />

1991 — BBVAnpG 91)<br />

— Drucksache 12/732 —<br />

Überweisungsvorschlag:<br />

Innenausschuß (federführend)<br />

Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO<br />

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die<br />

Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich<br />

sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.<br />

Ich stelle fest, daß interfraktionell vorgeschlagen<br />

-<br />

worden ist, auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt<br />

zu Protokoll zu geben. Ich muß aber Ihre<br />

Zustimmung dazu erbitten, weil wir wiederum von<br />

der Geschäftsordnung abweichen. — Ich sehe und<br />

höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.<br />

**)<br />

Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage<br />

auf Drucksache 12/732 an die in der Tagesordnung<br />

aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit<br />

*) Anlage 9<br />

**) Anlage 10<br />

einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch.<br />

Dann ist das so beschlossen.<br />

Ich rufe nun Zusatzpunkt 10 der Tagesordnung<br />

auf :<br />

Beratung des Antrags der Abgeordneten<br />

Dr. Walter Franz Altherr, Hans-Dirk Bierling,<br />

Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter<br />

und der Fraktion der CDU/CSU sowie<br />

der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Norbert<br />

Gansel, Rudolf Binding, weiterer Abgeordneter<br />

und der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP<br />

und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN<br />

Westsahara-Friedensplan der Vereinten Nationen<br />

— Drucksache 12/798 —<br />

Auch hier ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung<br />

für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.<br />

— Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch<br />

das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Wer<br />

wünscht das Wort? — Das Wort wünscht der Abgeordnete<br />

Dr. Uwe Holtz, und ich erteile es ihm. Bitte<br />

sehr.<br />

Dr. Uwe Holtz (SPD): Herr Präsident! Meine lieben<br />

Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß es interfraktionell<br />

gelungen ist, das Thema Westsahara<br />

noch in dieser letzten, für uns alle so bedeutsamen<br />

<strong>Sitzung</strong>swoche vor der Sommerpause auf die Tagesordnung<br />

zu setzen und zu wichtigen Punkten eine<br />

gemeinsame Position zu entwickeln.<br />

Daß es jetzt mit Zustimmung der beiden Konfliktparteien,<br />

dem Königreich Marokko und der Frente<br />

Polisario, zu einem Selbstbestimmungsreferendum in<br />

der Westsahara kommen wird, ist vor allem der UNO<br />

und ihrem Generalsekretär Perez de Cuellar zu verdanken.<br />

Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> würdigt ausdrücklich<br />

diese positive Arbeit und stellt sich hinter den<br />

Westsahara-Friedensplan. Mit seiner Verwirklichung<br />

kann endlich der seit 1975 andauernde und von der<br />

Weltöffentlichkeit weitgehend vergessene Krieg in<br />

dieser Region beendet und ein weiteres Kapitel der<br />

Dekolonisierung Afrikas abgeschlossen werden.<br />

Deshalb wird mit diesem Antrag die Bundesregierung<br />

aufgefordert, sowohl von sich aus als auch auf<br />

EG-Ebene auf eine rasche und vollständige Verwirklichung<br />

des Friedensplans für die Westsahara zu drängen<br />

und sich sowohl finanziell an der vorgesehenen<br />

UNO-Mission zu beteiligen als auch qualifiziertes<br />

Personal für deren zivile Aktivitäten zur Organisation<br />

und Durchführung des Referendums zur Verfügung<br />

zu stellen.<br />

Wir fordern die Bundesregierung auf, alles in ihrer<br />

Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, daß das<br />

Referendum wirklich frei und fair stattfindet. Die Sahraouis<br />

haben über die Frage zu entscheiden, ob sie die<br />

Unabhängigkeit oder die Eingliederung in das Königreich<br />

Marokko wünschen.<br />

(V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)<br />

Die Bundesregierung sollte sich z. B. eindeutig dage<br />

gen wenden, daß von marokkanischer Seite bereits<br />

jetzt entgegen den Bestimmungen des UNO-Frie-


2684 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Uwe Holtz<br />

densplanes mit Wahlkampfaktivitäten begonnen worden<br />

ist. Außerdem sollte sie den deutschen Botschafter<br />

in Marokko zur Ordnung rufen, der kürzlich vor<br />

der Presse in Marokko zugunsten eines positiven Ausgangs<br />

des Referendums für Marokko Stellung bezog<br />

und damit, wie ich meine, die diplomatisch gebotene<br />

Zurückhaltung vermissen ließ.<br />

Außerdem fordern wir in dem interfraktionellen Antrag<br />

die Bundesregierung auf, ihre Beziehungen zur<br />

marokkanischen Regierung dahin gehend zu nutzen,<br />

daß diese mit der UNO-Mission in der Westsahara<br />

kooperiert und wie die Frente Polisa rio förmlich erklärt,<br />

jedes mögliche Resultat des Referendums akzeptieren<br />

zu wollen. Wir begrüßen die Erklärungen<br />

hochrangiger Vertreter der Frente Polisa rio, daß diese<br />

für ein offenes, demokratisches und politisch rechenschaftspflichtiges<br />

System steht und sich den universell<br />

akzeptierten Prinzipien der Menschenrechte verpflichtet<br />

weiß.<br />

Wir Sozialdemokraten bedauern, daß es nicht möglich<br />

war, in diesem gemeinsamen interfraktionellen<br />

Antrag folgende zwei klare Aussagen aufzunehmen,<br />

nämlich die, daß jede Ausstattungs- bzw. Ausrüstungshilfe<br />

an Marokko zumindest so lange einzustellen<br />

ist, bis der UNO-Friedensprozeß in der Westsahara<br />

zum Abschluß gekommen ist, und daß sich die<br />

Bundesregierung nicht länger offiziellen Kontakten<br />

mit der Frente Polisario verschließt. Es ist mit der von<br />

der Bundesregierung immer wieder dargestellten<br />

Neutralität in diesem Konflikt unvereinbar, wenn sie<br />

die marokkanische Seite mit Ausrüstungs- oder gar<br />

Militärhilfe unterstützen würde.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des<br />

Bündnisses 90/GRÜNE)<br />

Wir können nur hoffen, daß sie hier internationales<br />

Verantwortungsgefühl an den Tag legt und die Finger<br />

davon läßt.<br />

Nach den 15 Jahren Krieg braucht das geschundene<br />

Land nicht nur Frieden, sondern auch eine Zukunftsperspektive.<br />

Dazu gehört, daß sich die internationale<br />

Gemeinschaft wie auch die Bundesrepublik<br />

Deutschland an dem Wiederaufbau beteiligt.<br />

Wir Abgeordneten sollten selbst versuchen, einen<br />

Beitrag zu leisten, um sicherzustellen, daß durch offizielle<br />

Beobachterdelegationen sowohl auf <strong>Bundestag</strong>s-<br />

als auch der Ebene der Parteien, die in die Westsahara<br />

entstandt werden, dazu beigetragen wird, daß<br />

das freie und faire Referendum dann wirklich auch so<br />

ablaufen kann.<br />

Ich bitte alle hier im Saal um Zustimmung zu dem<br />

Antrag.<br />

-<br />

Besten Dank.<br />

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und<br />

dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat<br />

das Wort Herr Dr. Köhler.<br />

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Frau<br />

Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine<br />

Herren! Wir sprechen über ein Gebiet, dessen Besiedlung<br />

noch etwas dünner ist als die Anwesenheit im<br />

Deutschen <strong>Bundestag</strong> an diesem Abend bei der Behandlung<br />

dieses Gegenstandes.<br />

(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [FDP])<br />

Wir sprechen über einen Antrag, dem auch meine<br />

Fraktion zustimmt, obwohl, verehrter Kollege Holtz<br />

— das wird Sie nach den vielen Jahren, in denen wir<br />

dieses Thema miteinander traktiert haben, nicht verwundern<br />

—, ich mindestens in einigen Nuancen nicht<br />

dem folgen kann, was Sie hier im einzelnen gesagt<br />

haben. Trotzdem glaube ich, daß die Intention überwiegend<br />

so ist, daß wir die Sache gemeinsam tragen<br />

können.<br />

Der Friedensplan der Vereinten Nationen vom<br />

29. April 1991 hat in der Tat allseitige Zustimmung<br />

gefunden. Er soll und muß durchgeführt werden.<br />

Dazu gehört auch ein freies und faires Referendum.<br />

Ich möchte das Augenmerk noch darauf lenken, daß<br />

eine der entscheidenden Fragen dabei ist, von welcher<br />

Bevölkerungszählung, also von welcher Zahl der<br />

Stimmberechtigten, man ausgeht. Dafür sollte sich<br />

auch die Bundesregierung noch speziell interessieren.<br />

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Vom spanischen Zen<br />

sus 1974! Das hat die UNO so vorgeschlagen!<br />

Ist akzeptiert!)<br />

— Ja.<br />

Dieser Krieg verzehrt seit 16 Jahren eine Fülle von<br />

Kräften — seit dem grünen Marsch 1975 ist das so —,<br />

die dringend für wirklich andere Aufgaben genutzt<br />

werden müßten — im gesamte Raum des Maghreb.<br />

Auch wenn die Bundesregierung — das gilt für alle<br />

Bundesregierungen — stets eine formale Neutralität<br />

in dieser Angelegenheit betont hat, meine ich doch,<br />

daß jetzt alles durch uns und die Europäische Gemeinschaft<br />

getan werden sollte, um diese unerträgliche<br />

Belastung der Situation des Maghreb endlich zu beseitigen.<br />

Deswegen teile ich auch ausdrücklich die<br />

Forderung nach einer aktiven Unterstützung des Referendums<br />

und der Mission der Vereinten Nationen,<br />

die ich wie Sie begrüße; denn es wird dringend Zeit,<br />

daß ein größerer Maghreb aufgebaut wird und die<br />

Störfaktoren fallen. Der Ballast dieses Sahara-Krieges<br />

ist in höchstem Maße überflüssig und anachronistisch<br />

und muß fallen.<br />

(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [FDP])<br />

Wir haben es in Wahrheit mit Ländern und Völkern<br />

zu tun, in denen über 50 % der Menschen jünger sind<br />

als 20 Jahre. Für sie ist entscheidend, wie sie Behausung<br />

bekommen, Ausbildung bekommen, wie sie Arbeit<br />

bekommen. Darauf haben sich alle Anstrengungen<br />

zu konzentrieren. Das hat auch uns zu interessieren;<br />

denn die Wanderungsbewegung von dort führt<br />

nicht nur an unsere Pforten in Europa, sondern sie ist<br />

schon in Spanien, Frankreich, Italien spürbar. Deswegen<br />

geht uns das eine ganze Menge an. Es geht nicht<br />

nur um das soziale Problem dieser jungen Generation,<br />

sondern auch um die Frage unseres Zusammenlebens<br />

an beiden Küsten des Mittelmeeres. Wir werden reagieren<br />

müssen und dürfen uns dem nicht länger entziehen.<br />

Marokko, so fordert dieser Antrag, soll voll und<br />

ganz kooperieren. Die Polisa rio habe dies zugesagt.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2685<br />

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)<br />

Ja. Trotzdem ist das für mich ein Anlaß, noch einmal<br />

ganz kurz die Interessenlage aller Beteiligten zu beleuchten:<br />

Marokko — Sie werfen vor, daß man dort<br />

schon Wahlkampf mache; anzunehmen, daß das nicht<br />

geschehe, wäre vielleicht doch ein bißchen weltfremd<br />

—<br />

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Widerspricht den<br />

UNO-Vereinbarungen!)<br />

ist immerhin dabei, seine Truppen nach dem UNO-<br />

Plan zu kantonieren, erfüllt also in dieser Hinsicht den<br />

UNO-Plan bereits jetzt. Ich halte es für begrüßenswert,<br />

daß am Ende des Ramadan König Hassan II.<br />

eine Amnestie ausgerufen hat. Ich meine, es sind noch<br />

mehr Wunden zu heilen. Ich würde hier gern in aller<br />

Form darum bitten — wenn es denn den König Marokkos<br />

erreichen mag — , den Festtag des 9. Juli zu einer<br />

weiteren und weiterreichenden Amnestie zu nutzen,<br />

um die Wunden weiter heilen zu helfen. Ich verkenne<br />

nicht, daß die innenpolitischen Spielräume für die<br />

marokkanische Regierung und für den König durchaus<br />

limitiert sind. Es sind in Marokko verschiedene<br />

Kräfte, auch bis zu ganz linken Parteigruppierungen<br />

hin,<br />

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Bis zu den Kommuni<br />

sten! )<br />

die in der Sahara-Frage nach wie vor eine unversöhnliche<br />

Haltung einnehmen. Der König ist hier nicht völlig<br />

unabhängig, und die sozialen Unruhen im Lande<br />

verschärfen dieses Klima für ihn noch. Wenn wir hier<br />

Politik mit der Hoffnung auf Zielerreichung treiben<br />

wollen, müssen wir auch diese realen Fakten sehen.<br />

Auch die Handlungsmöglichkeiten Algeriens als<br />

eines zweiten entscheidenden Faktors in diesem Spiel<br />

sind durch die inneren Wirren des Landes begrenzt.<br />

Algerien hat die Bewegungsfreiheit der Polisa rio<br />

durch verschiedene Maßnahmen ein Stück vermindert.<br />

Die Benzinlieferungen Algeriens an die Polisa rio<br />

reichen nicht mehr aus, um das schwere Gerät zu<br />

bewegen; aber andererseits ist die Polisa rio auch kein<br />

passives Objekt in diesem Spiel algerischer Politik. Es<br />

gibt inzwischen Pressemeldungen, von denen ich<br />

hoffe, daß sie nicht zutreffen, daß die Polisa rio angefangen<br />

hat, islamistische Kampfgruppen in Algerien<br />

auszubilden. Dies wäre, wenn es stimmte, schlimm.<br />

Es gibt vor diesem Hintergrund neben dem Prozeß,<br />

den die Vereinten Nationen eingeleitet haben, Bemühungen<br />

um Vorabsprachen, wobei wir nicht genau<br />

wissen, was alles vor drei Wochen in Oran zwischen<br />

Marokko und Algerien verhandelt worden ist. Ich<br />

neige zu der Vermutung, daß die begrenzte Handlungsfähigkeit<br />

Algeriens im Moment solche - Absprachen<br />

durchaus begrenzt hat. Aber man kann zuweilen<br />

den Eindruck haben, daß Algerien und Marokko, weil<br />

sie ein intensives Auftreten der Vereinten Nationen in<br />

ihrem Gebiet als ihrem Prestige abträglich und vor<br />

ihren Völkern als Fremdbestimmung betrachten müßten,<br />

beide bemüht sind, das Problem schon so weit<br />

vorab zu regeln, daß das Referendum eigentlich nur<br />

noch eine Formaletüde und eine Art formaler Schlußpunkt<br />

sein könnte.<br />

Ich möchte hier in aller Freundschaft sagen, daß ich<br />

glaube, daß es für ein solches Spiel zu spät ist. Die<br />

Angelegenheit hängt vor der Öffentlichkeit der Welt<br />

organisation der Vereinten Nationen an, und so, wie<br />

wir an anderer Stelle nicht dulden können und dulden<br />

werden, daß die Vereinten Nationen geschwächt werden,<br />

so können wir es auch hier nicht. Wir müssen<br />

auch unseren Freunden raten: Für eine dauerhafte<br />

Lösung des Problems vor der Weltöffentlichkeit ist ein<br />

Unterlaufen der Vereinten Nationen und ihres Friedensplanes<br />

unerträglich.<br />

Wenn ich auf den gesamten Maghreb schaue, so<br />

stelle ich doch einige positive und mich ermutigende<br />

Anzeichen fest. Niemand ist zu sehen, der nun nicht<br />

endlich zu einem Ausgleich strebt. Allerdings muß ich<br />

auch sagen, daß ich kaum einen Staat erkenne, der die<br />

Gründung eines neuen Teilstaates in dieser Ära ernstlich<br />

will. Wir wollen, daß am Ende ein dauerhafter<br />

Frieden steht, und dazu, verehrter Kollege Holtz, geht<br />

mir der Text hinter dem letzten Spiegelstrich des Antrags,<br />

wie wir ihn jetzt vorliegen haben, der den Wiederaufbau<br />

der Westsahara fordert — sprachlich ein<br />

etwas zu hinterfragender Satz — , nicht weit genug.<br />

Ich meine, der Gedanke muß weiterreichen. Was<br />

wird aus denen, die bei dem Referendum unterliegen<br />

werden? Nehmen wir einmal an, was ja nicht sicher<br />

ist, daß nicht die Polisa rio, sondern die Marokko-Befürworter<br />

die Mehrheit bekommen. Wie werden dann<br />

die, die nicht für Marokko votiert haben, sich gegenüber<br />

Algerien einstellen, das sie nach ihrer Meinung<br />

im Stich gelassen hat? Anders werden Sie es kaum<br />

werten können.<br />

Wird es für solche Gruppen zu einem Exodus nach<br />

Mauretanien kommen? Kann dieses Land, das gerade<br />

nur mühsam ein bißchen aufkeimende Stabilität gewinnt,<br />

so etwas tragen, ohne destabilisiert zu werden?<br />

Wir müssen weitere Dinge ins Auge fassen, und<br />

dazu gehört, daß wir es nicht geringachten und einfach<br />

verwerfen können, daß die überragende Mehrheit<br />

der Stammesführer in der Westsahara erst jüngst<br />

wieder König Hassan II. gehuldigt hat. Darunter waren<br />

zwar auch die Führer vieler kleiner Stämme, aber<br />

man muß auch erkennen, daß diese kleinen Stämme<br />

mit Sorge und einer gewissen Angst auf das Geschehen<br />

bei der Polisario schauen, die zu einem wesentlichen<br />

Teil einen Großstamm repräsentiert, mit dem<br />

die anderen Schwierigkeiten des Zusammenlebens<br />

haben.<br />

Das zeigt gerade das Problem. Es gibt auch eine<br />

Furcht der kleinen Stämme vor dem, was da kommt.<br />

Einfach nur vom Volk der Westsahara zu sprechen<br />

wird den Tatsachen und Spannungsverhältnissen<br />

nicht voll gerecht.<br />

(Zustimmung des Abg. Ulrich Irmer [FDP])<br />

Um wirklich Frieden zu stifen, wird man über Modelle<br />

der Regionalisierung sprechen müssen, vielleicht sogar<br />

über föderative Konstruktionen. Hier sind neue<br />

Formen der Ansässigkeit und des Zusammenlebens<br />

zu schaffen. Ich finde es bemerkenswert, daß es, ausgelöst<br />

von König Hassan, seit zwei Jahren eine Diskussion<br />

in Marokko über die Frage des Föderalismus<br />

— mit deutlichem Blick auf den Föderalismus der Bundesrepublik<br />

— gibt. Das ist eine Herausforderung, in<br />

dieser Diskussion dienlich zu sein und weiter solche<br />

Gedankengänge zu unterstützen.


2686 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)<br />

Meines Erachtens geht unser Interesse und unsere<br />

Verpflichtung über die formale Einhaltung des UN-<br />

Friedensplanes und die Abhaltung des Referendums<br />

ein gutes Stück hinaus. Wir sollten auch hier versuchen,<br />

nicht nur den Krieg zu beenden, sondern den<br />

Frieden zu gewinnen.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

(Beifall bei der FDP)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als letzter Redner<br />

des heutigen Tages hat der Kollege Ulrich Irmer das<br />

Wort.<br />

Ulrich Irmer (FDP): Vielen Dank, Frau Präsidentin.<br />

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Nachdem der<br />

Kollege Köhler hier in sehr profunder und sorgfältiger<br />

Weise die Situation in der Westsahara geschildert hat,<br />

kann ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken.<br />

Erstens. Ich freue mich darüber, daß wir hier erneut<br />

einen Fall haben, in dem die Vereinten Nationen ihrer<br />

Rolle gerecht werden, nämlich da, wo es Ärger gibt,<br />

da, wo es Krieg gibt, da, wo es Schwierigkeiten gibt,<br />

vermittelnd einzugreifen und einen Plan vorzulegen,<br />

auf den sich dann alle Streitparteien verständigen<br />

können und der wirklich zur Bef riedung der Lage beitragen<br />

möge.<br />

Zweitens. Wir kennen Berichte über Menschenrechtsverletzungen<br />

in Marokko. Marokko hat nicht<br />

den besten „record" in Menschenrechtsfragen. Ich<br />

nehme diese Gelegenheit gerne wahr, anzumahnen,<br />

daß das Königreich Marokko sich bitte stärker der<br />

Wahrung der Menschenrechte verpflichten möge und<br />

auch Appellen von uns aufgeschlossener gegenübertreten<br />

möge. Wir bekommen ja die Berichte von amnesty<br />

international. Ich meine wirklich, daß Marokko<br />

ein wichtiger Partner ist, daß es aber eben aus dieser<br />

Partnerschaft auch Verpflichtungen gibt, sich in der<br />

Zukunft gerade in Menschenrechtsfragen besser zu<br />

verhalten, als es in der Vergangenheit leider der Fall<br />

war.<br />

Drittens. Die Polisario ist eine Organisation, die<br />

in den ideologischen Meinungsstreit geraten ist. Es<br />

hat in der Vergangenheit — speziell zu den Zeiten, als<br />

der Ost-West-Konflikt noch in vollem Schwange<br />

war — —<br />

(Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]<br />

geht grüßend am Rednerpult vorbei)<br />

-<br />

— Herr Kollege, guten Abend.<br />

(Heiterkeit)<br />

— Ich freue mich einfach, diesen Kollegen zu sehen,<br />

weil ich mit ihm eine Wette abgeschlossen habe. Ich<br />

weiß nur nicht, wie ich das Wort, um das es dabei geht,<br />

ausgerechnet in dieser Debatte unterbringe. Ich<br />

könnte jedoch sagen, daß der Süßfleischhund nicht zu<br />

den Leckerbissen in der Sahara, sondern in anderen<br />

Weltregionen gehört. — Jetzt habe ich es gesagt, und<br />

es wird im Protokoll vermerkt.<br />

(Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]<br />

meldet sich zu einer Zwischenfrage)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Lieber Kollege<br />

Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen<br />

Fuchtel? Es wird Ihnen selbstverständlich nicht auf<br />

Ihre Redezeit angerechnet.<br />

Ulrich Irmer (FDP): Ich gestatte selbstverständlich<br />

mit großem Vergnügen eine Zwischenfrage. Aber das<br />

ist nicht verabredet! Ich lege Wert darauf, daß das jetzt<br />

keine Inszenierung ist.<br />

Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Kollege,<br />

geben Sie mir recht, daß Ihre Rede hier in etwa die<br />

Qualität hat, die mit der Zähigkeit vergleichbar ist, die<br />

ein chinesischer Süßfleischhund an den Tag zu legen<br />

pflegt, kurz bevor er geschlachtet wird?<br />

(Heiterkeit)<br />

Ulrich Irmer (FDP): Herr Kollege, um diese Tageszeit<br />

dürfen wohl alle Reden nur so gewertet werden,<br />

als ob der Redner demnächst geschlachtet würde, weil<br />

nämlich die Geduld der Kollegen überstrapaziert ist.<br />

Ansonsten lege ich Wert auf die Feststellung, daß ich<br />

weder süße Reden noch Hundereden noch Fleischreden<br />

halte, sondern einfach Reden, die Hand und Fuß<br />

haben. Deshalb möchte ich jetzt auch wieder zur Sache<br />

zurückkehren.<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Würden Sie dennoch<br />

eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Soell<br />

gestatten?<br />

Ulrich Irmer (FDP): Aber selbstverständlich.<br />

Dr. Harmut Soell (SPD) : Herr Kollege Irmer, können<br />

Sie mir sagen, was die Frage der Abstimmung über<br />

die Westsahara und deren künftiges Schicksal mit<br />

dem Kampf der Viererbande im Unter(hosen)grund<br />

von Pjöngjang zu tun hat?<br />

(Heiterkeit)<br />

Ulrich Irmer (FDP): Ich habe das rein akustisch<br />

schlecht verstanden. Sie sprachen vom Kampf der<br />

Viererbande — —<br />

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: — — im Unter(ho<br />

sen)grund von Pjöngjang!)<br />

In Pjöngjang?<br />

(Heiterkeit)<br />

— Herr Kollege, ich weiß nicht, ob Sie sich mit Ihrer<br />

Frage jetzt nicht ganz buchstäblich und textilisch unter<br />

der Gürtellinie befinden, aber wenn ich die Frage<br />

richtig verstanden habe, so haben Sie einen Zusammenhang<br />

zwischen der Viererbande und der Westsahara<br />

hergestellt.<br />

(Dr. Harmut Soell [SPD]: Meine Frage war,<br />

ob überhaupt ein Zusammenhang besteht! —<br />

Dr. Uwe Holtz [SPD]: Nein!)<br />

— Herr Kollege Soell, ich schätze Sie so sehr, daß ich<br />

zugeben muß, daß, wenn Sie einen derartigen Zusammenhang<br />

auch nur ahnen, ein solcher bestehen<br />

muß;<br />

(Heiterkeit)<br />

denn andernfalls müßte ich Ihnen ja die Seriosität<br />

Ihrer Fragestellung absprechen, und das wäre mir nun<br />

doch angesichts dér tiefen Wertschätzung, die ich


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2687<br />

Ulrich Irmer<br />

Ihnen gegenüber immer gehegt habe und auch weiter<br />

hegen werde, außerordentlich zuwider.<br />

(Zuruf von der SPD: Wer hat denn angefan<br />

gen!)<br />

Dr. Hartmut Soell (SPD): Es war eine rein informatorische<br />

Frage.<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Irmer,<br />

es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.<br />

Ich würde es aber ab jetzt auf die Redezeit<br />

anrechnen.<br />

Ulrich Irmer (FDP): Frau Präsidentin, ich habe eine<br />

Bitte; Fraktionsmäßig gesehen ist jetzt der Kollege<br />

Köhler mit einer Zwischenfrage eigentlich an der<br />

Reihe. Können wir das nicht noch außerhalb der Anrechnung<br />

passieren lassen? Das wäre dann die letzte<br />

Zwischenfrage.<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Also gut, die<br />

letzte.<br />

Ulrich Irmer (FDP): Ich muß nämlich noch etwas<br />

Ernsthaftes sagen; nicht, daß das hier mißverstanden<br />

wird.<br />

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Herr<br />

Kollege Irmer, können Sie bestätigen, daß in jüngster<br />

Zeit in der Westsahara Kamele gesichtet worden sein<br />

sollen, die mit Ultrakurzwellenempfängern ausgestattet<br />

worden sind, so daß sich der vom Kollegen Professor<br />

Soell unterstellte Informationsstand dort inzwischen<br />

tatsächlich ausgebreitet hat?<br />

Ulrich Irmer (FDP): Herr Kollege Köhler, ich habe<br />

darüber Recherchen angestellt. Ich habe in der Tat<br />

Informationen darüber, daß es sich dabei um die Kamele<br />

handeln muß, die auf der Camel-Reklame plötzlich<br />

fehlen. Mir ist nämlich aufgefallen, daß es dort<br />

einen erstaunlichen Mangel an derartigen Tieren<br />

gibt.<br />

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Ich bitte, jetzt mit dem<br />

gebotenen Ernst zum Thema zurückzukeh<br />

ren!)<br />

— Frau Präsidentin, ich muß darum bitten, das Haus<br />

zur Ordnung zu rufen.<br />

(Heiterkeit)<br />

Ich möchte jetzt nämlich wirklich noch etwas Ernsthaftes<br />

sagen. Man traut mir das jetzt vielleicht nicht<br />

mehr zu, aber ich möchte wirklich noch etwas zum<br />

-<br />

Thema sagen.<br />

Ich möchte ganz ernsthaft sagen, daß sich die Frente<br />

Polisario in den letzten 15 Jahren der internationalen<br />

Öffentlichkeit gegenüber als eine Widerstandsbewegung<br />

dargestellt hat, die dort für die Befreiung eines<br />

ganzen Volkes kämpft. Ich muß ehrlich sagen, daß ich<br />

hier gewisse Zweifel habe. Die Frente Polisario ist<br />

natürlich auch von interessierten Kräften instrumentalisiert<br />

worden. Das waren damals noch Algerien und<br />

die Sowjetunion, die dahinterstand. Es war das alte<br />

Konzept, daß man in Nordafrika eine Art Cordon<br />

schaffen wollte. Dort hat der Ostblock den Versuch<br />

gemacht, seine Interessen zu verankern und sie dort<br />

vom Osten bis an die Küsten des Atlantik — wir wis<br />

sen um die Rohstoffvorkommen dort — festzuzurren.<br />

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Das trifft so nicht zu!<br />

Die Westsahara ist von 73 Staaten anerkannt<br />

worden, aber von keinem Ostblockland!)<br />

— Einen Augenblick! Ich sage, daß ich ein kleines<br />

Fragezeichen hinter die Eigenschaft der Frente Polisario<br />

als einer Befreiungsbewegung und hinter die Klassifizierung<br />

des blutigen Kriegs, der dort seit 16 Jahren<br />

tobt, als eines Befreiungskrieges setze.<br />

Herr Kollege Köhler hat eindrucksvoll dargestellt,<br />

daß die Verhältnisse in der Region nicht so sind, wie es<br />

hier vielleicht allgemein angenommen werden kann,<br />

und daß sie auch nicht nach solchen Maßstäben zu<br />

messen sind. Wo ist denn die Berechtigung einer<br />

Volksgruppe, verschiedener Volksstämme, nun zu sagen,<br />

daß sie als eigener Staat anerkannt werden wollen,<br />

der auch ökonomisch überhaupt nicht lebensfähig<br />

wäre?<br />

Es ist ganz klar: Es müssen dort die Menschenrechte<br />

gewahrt werden, es muß das Selbstbestimmungsrecht<br />

gewahrt werden. Das kann möglicherweise<br />

über Autonomieregelungen verschiedener Art<br />

geschehen. Wir hoffen darauf, daß der Friedensplan<br />

der Vereinten Nationen, der dort jetzt in die Tat umgesetzt<br />

wird, zu einer für alle Seiten befriedigenden Lösung<br />

führt. Wir hoffen, daß die ganze Auseinandersetzung<br />

aus dem ideologischen Streit herausgeholt werden<br />

kann.<br />

(Dr. Uwe Holtz [SPD]: Es war nie ein Ost<br />

West-Konflikt!)<br />

— Lieber Uwe Holtz, ich habe nicht gesagt, daß es ein<br />

Teil des Ost-West-Konflikts war. Ich habe gesagt: Es<br />

ist von interessierten Seiten als Teil des Ost-West<br />

Konflikts instrumentalisiert worden, und das hat die<br />

Sache so problematisch gemacht.<br />

Es ist richtig: Ein blutiger Krieg hat dort getobt. Es<br />

ist unser Anliegen, jeden Krieg zu beenden, überall in<br />

der Welt dafür zu sorgen, daß die Menschen friedlich<br />

miteinander leben und friedlich miteinander umgehen<br />

können. Wenn die Vereinten Nationen jetzt diesen<br />

Plan vorgelegt haben, wenn die Polisario ihn akzeptiert<br />

hat und wenn, wie ich höre, Marokko bereit<br />

ist, diesen Plan zu akzeptieren, dann ist es unser aller<br />

Aufgabe, alles dafür zu tun, daß dieser Plan nun auch<br />

in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann, daß er<br />

realisiert wird, daß , das Referendum stattfindet, daß<br />

wir nachher, wie immer es ausgeht, das Ergebnis respektieren<br />

und daß wir dann das Unsere dazu beitragen,<br />

daß diese Region, leidgeprüft, von Krieg überzogen,<br />

wieder aufgebaut werden kann, damit auch sie in<br />

Zukunft in Frieden leben kann.<br />

Danke schön.<br />

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD<br />

und dem Bündnis 90/GRÜNE)<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir sind damit am<br />

Ende der Aussprache. *)<br />

*) Zu Protokoll gegebene Rede Anlage 11


2688 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Vizepräsidentin Renate Schmidt<br />

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den<br />

Antrag der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der<br />

Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/798?<br />

— Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen?<br />

— Damit ist dieser Antrag bei überproportionaler Beteiligung<br />

von FDP und SPD<br />

einstimmig angenommen.<br />

(Heiterkeit)<br />

Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung.<br />

Ich berufe die nächste <strong>Sitzung</strong> des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es<br />

auf morgen, Donnerstag, den 20. Juni 1991,<br />

10 Uhr ein.<br />

Ich wünsche eine gute Nacht, fröhliche Feste und<br />

auch sonst alles, was Sie sich wünschen.<br />

Die <strong>Sitzung</strong> ist geschlossen.<br />

(Schluß der <strong>Sitzung</strong>: 23.26 Uhr)


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> - 12. Wahlperiode - <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2689*<br />

Anlagen zum Stenographischen Bericht<br />

Anlage i<br />

Abgeordnete(r)<br />

Liste der entschuldigten Abgeordneten<br />

entschuldigt bis<br />

einschließlich<br />

Becker-Inglau, Ingrid SPD 19. 06. 91<br />

Berger, Johann Anton SPD 19. 06. 91<br />

Genscher, Hans-Diet rich FDP 19. 06. 91<br />

Dr. Gysi, Gregor PDS 19. 06. 91<br />

Jung (Düsseldorf), Volker SPD 19. 06. 91<br />

Kolbe, Regina SPD 19. 06. 91<br />

Lohmann (Lüdenscheid), CDU/CSU 19. 06. 91<br />

Wolfgang<br />

Mischnick, Wolfgang FDP 19. 06. 91<br />

Molnar, Thomas CDU/CSU 19. 06. 91<br />

Dr. Müller, Günther CDU/CSU 19. 06. 91 *<br />

Pfuhl, Albert SPD 19. 06. 91<br />

Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 19. 06. 91<br />

Rennebach, Renate SPD 19. 06. 91<br />

Dr. Riedl (München), CDU/CSU 19. 06. 91<br />

Erich<br />

Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 19. 06. 91<br />

Dr. Seifert, Ilja PDS 19. 06. 91<br />

Titze, Uta SPD 19. 06. 91<br />

Zierer, Benno CDU/CSU 19. 06. 91 *<br />

* für die Teilnahme an <strong>Sitzung</strong>en der Parlamentarischen Versammlung<br />

des Europarates<br />

Anlage 2<br />

Zu Protokoll gegebene Rede<br />

zu Zusatztagesordnungspunkt 2 - Antrag betr.<br />

KSZE-Expertentreffen über nationale Minderheiten<br />

in Genf vom 1. bis 19. Juli i991 -<br />

Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Seit Jahrzehnten<br />

bemühen sich die Vereinten Nationen, ausgehend<br />

von Art. 27 des Paktes über bürgerliche und politische<br />

Rechte, um eine Konkretisierung der Rechte von Minderheiten.<br />

Trotz intensiver Anstrengungen der UN-<br />

Menschenrechtskommission sind diese Bemühungen<br />

aber bis heute nicht so recht vom Fleck gekommen.<br />

Nach wie vor geht es um Probleme wie eine umfassende<br />

und gleichzeitig akzeptable Definition des Minderheitenbegriffes<br />

und die Frage, ob eher die Stärkung<br />

des individualrechtlichen Ansatzes oder die<br />

Stärkung kollektiver Rechte im Vordergrund stehen<br />

sollten.<br />

Obwohl formal zu diesem Thema weiter als alle<br />

anderen internationalen Gremien, sind auch die Versuche<br />

des Europarates, dem Ziel einer Konvention<br />

zum Schutz von Minderheiten näher zu kommen, in<br />

den letzten Jahren ins Stocken geraten. Erst in allerjüngster<br />

Zeit gewinnen die Bemühungen des Europarates,<br />

angeregt durch die positive Entwicklung des<br />

KSZE-Prozesses, wieder an Profil.<br />

Bereits dieses Beispiel macht das aktuelle Gewicht<br />

der Minderheitendebatte im Rahmen der KSZE deutlich.<br />

Auch wir begrüßen deshalb nachdrücklich das<br />

Schlußdokument der KSZE-Konferenz von Kopenhagen.<br />

In ihm sind zur Frage der Minderheiten auf einer<br />

gesamteuropäischen Ebene erstmals Formulierungen<br />

gefunden worden, die den Weg zu einer völkerrechtlich<br />

verbindlichen Kodifizierung des Minderheitenschutzes<br />

eröffnen könnten.<br />

Auch das KSZE-Expertentreffen über nationale<br />

Minderheiten in Genf wird von uns als ein wichtiger<br />

Schritt auf diesem Wege angesehen, dessen positiver<br />

Einfluß auf die Minderheitendebatte in der UNO, im<br />

Europarat und im Europäischen Parlament sehr hoch<br />

eingeschätzt werden muß.<br />

Gleichzeitig jedoch macht bereits das Schlußdokument<br />

von Kopenhagen deutlich, wie weit wir noch von<br />

einem umfassenden Minderheitenschutz entfernt<br />

sind. Es setzt einmal einen starken Akzent auf die<br />

Festlegung von individuellen Rechten, deren weiterer<br />

Ausbau und deren gemeinsame Ausübung Gegenstand<br />

des Genfer Expertentreffens sein werden. Das<br />

begrüßen wir. Gleichzeitig beschränkt sich das<br />

Schlußdokument aber auf die Benennung allein von<br />

„nationalen" Minderheiten und gibt damit gewissermaßen<br />

der Hilflosigkeit der Kopenhagener Konferenz<br />

in bezug auf eine problemgerechtere, umfassendere<br />

Definition des Minderheitenbegriffs Ausdruck.<br />

Erfaßt werden von dieser Definition nur Staatsbürger<br />

eines Landes, die sich zu einer bestimmten Minderheit<br />

bekennen. Außen vor bleiben dagegen das<br />

Millionenheer der Arbeitsmigranten und ihrer Familien<br />

in allen Ländern Westeuropas, asylberechtigte,<br />

geduldete und illegale Flüchtlinge. Außen vor bleibt<br />

auch das Selbstbestimmungsrecht von nationalen<br />

Mehrheiten, die sich in ihnen aufgezwungenen größeren<br />

Staatsverbänden bestenfalls als Minderheiten<br />

geringeren Rechts artikulieren können; Kosovo-Albaner,<br />

die Völker im Balitikum, um nur Beispiele zu nennen.<br />

Alle diese wirklichen und aktuellen Minderheitsprobleme<br />

in Europa werden vom gegenwärtigen<br />

Stand der Minderheitendebatte auf KSZE-Ebene -<br />

noch - nicht erfaßt; und folglich auch nicht das individuelle<br />

und kollektive Elend der Betroffenen, das<br />

Ausspielen der einen Minderheit gegen die andere,<br />

die realen sozialen und menschlichen Probleme, die<br />

mit juristisch klugen und korrekten Vereinbarungen<br />

allein nicht bewältigt werden können.<br />

Wir würden uns deshalb wünschen, daß die Delegation<br />

der Bundesrepublik - über ihr auch von uns<br />

begrüßtes Verhandlungsziel des Ausbaus gemeinsamer<br />

Ausübung individueller Rechte hinaus - der Definitionsproblematik<br />

große Aufmerksamkeit widmet.<br />

Anregungen und Hilfe dazu kommen sicherlich auch


2690* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

von den Experten und Expertinnen der Nichtregierungsorganisationen,<br />

die sich in Genf erstmals an den<br />

Verhandlungen beteiligen können.<br />

Wir müssen erkennen, daß die Minderheitendebatte<br />

im europäischen Kontext trotz jahrelanger Bemühungen<br />

erst ganz am Anfang steht. Wir sehen aber<br />

auch, daß sie durch die hohe Aktualität, die sie im<br />

Rahmen des KSZE-Prozesses gewonnen hat, einen<br />

positiven, nach vorn weisenden Schub bekommen<br />

hat.<br />

Gleichwohl ist zu erwarten, daß Widerstände gegen<br />

eine weitergehende Festschreibung des Minderheitenschutzes<br />

nicht nur aus den Ländern Osteuropas<br />

kommen werden, die nach dem Ende der Ordnung<br />

von Jalta durch eine Phase ungeklärter Nationalitätenkonflikte<br />

gehen. Auch manche unserer westeuropäischen<br />

Nachbarländer haben deutlich gemacht, daß<br />

ihnen aus sehr verschiedenen Gründen bereits die in<br />

Kopenhagen vereinbarten Prinzipien zum Minderheitenschutz<br />

viel zu weit gehen.<br />

Gerade deshalb halten wir den KSZE-Prozeß, der<br />

sich bei der Durchsetzung der Menschenrechte in<br />

ganz Europa hervorragend bewährt hat, für die zur<br />

Zeit wichtigste internationale Ebene, um mit Geduld<br />

und gegenseitigem Verständnis die Bereitschaft zum<br />

gleichberechtigten Zusammenleben innerhalb der<br />

Gesellschaften Europas weiterzuentwickeln, ohne die<br />

jedes verbriefte Minderheitenstatut, sei es noch so<br />

umfassend, bloße Makulatur bliebe.<br />

Anlage 3<br />

Zu Protokoll gegebene Rede<br />

zu den Zusatztagesordnungspunkten 3, 4 und 5<br />

— Anträge betr. Krise in Jugoslawien und zur Lage in<br />

Kosovo —<br />

Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Daß die staatli<br />

che Zukunft Jugoslawiens vom Zusammenbruch der<br />

kommunistischen Herrschaft und damit des Erbes von<br />

Tito unberührt bleiben würde, glaubte spätestens<br />

nach den Entwicklungen im vorigen Jahr kaum noch<br />

einer der politischen Beobachter der dortigen Situation.<br />

Zu offensichtlich war der über 40 Jahre mühsam<br />

unterdrückte Konflikt, zu wenig überzeugend die<br />

Klammer kommunistischer Ideologie. Überraschend<br />

allerdings war die enorme Sprengkraft, die ihm innewohnt,<br />

und seine sich nur allmählich offenbarende<br />

Komplexität. Schließlich handelt es sich um eine Mischung<br />

aus historischen, ökonomischen, - kulturellen,<br />

nationalen und sozialen Problemen, die einander<br />

überlagern und beeinflussen.<br />

Lange Zeit dominierte in der Sicht westeuropäischer<br />

Politik auf die Entwicklung in Jugoslawien die<br />

Vorstellung, man könne die Entscheidung über dessen<br />

unveränderten staatlichen Zusammenhalt durch<br />

Appelle an die Aufrechterhaltung eines einzigen verbindlichen<br />

Partners in Gestalt der jugoslawischen<br />

Bundesregierung, verbunden mit der Drohung ökonomischer<br />

Sanktionen, beeinflussen. Dem lag nicht nur<br />

die Unterschätzung der Eigendynamik zugrunde, die<br />

nach der Entfernung des Deckels kommunistischer<br />

Herrschaft vom brodelnden Topf des jugoslawischen<br />

Völkergemischs einsetzte. Falsch war auch die Vorstellung,<br />

den westeuropäischen Standard grenzüberschreitender<br />

Integration von Nationen auf die Situation<br />

in Jugoslawien anwenden zu können. Dieser<br />

Standard ist im übrigen auch in dem doch so demokratischen<br />

und pluralistischen Westeuropa keineswegs<br />

erreicht, wie Beispiele von Nordirland über Belgien<br />

bis Korsika zeigen.<br />

Inzwischen hat sich längst erwiesen, daß die Realität<br />

diese Vorstellungen überholt hat. Um so begrüßenswerter<br />

ist es, daß — nicht zuletzt infolge eigener<br />

Anschauung einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses<br />

— sich auch in der Mehrheit der Parteien im<br />

<strong>Bundestag</strong> eine realitätsgerechtere Auffassung<br />

durchgesetzt hat. Ausdruck dieser veränderten Haltung<br />

zur Entwicklung in Jugoslawien ist der heute<br />

vorliegende Antrag. Hier wird konstatiert, daß „die<br />

bisherige Grundlage des Zusammenlebens nicht<br />

mehr die ausreichende Zustimmung aller Völker Jugoslawiens<br />

findet und daß es deshalb erforderlich ist,<br />

eine neue Grundlage zu vereinbaren". Betont wird<br />

dabei die Notwendigkeit rechtsstaatlicher und demokratischer<br />

Grundlagen für die Möglichkeit der Ausübung<br />

von Selbstbestimmung.<br />

Eine auf solcher Grundlage getroffene Entscheidung<br />

aller einzelnen Völker in Jugoslawien ist auch<br />

dann zu akzeptieren, wenn das Ergebnis die Aufgabe<br />

der bisherigen Föderation zugunsten einer Konföderation<br />

oder sogar noch weitergehender Souveränität<br />

ist. Daß ein solcher Umwandlungsprozeß nicht gewaltsam,<br />

sondern in einem geordneten Prozeß ablaufen<br />

sollte, der auch den Interessen der betroffenen<br />

Nationen in Jugoslawien dient, versteht sich von<br />

selbst.<br />

Wenn die Entscheidung über ihre staatliche Zukunft<br />

eine Sache der Völker in Jugoslawien ist, in die<br />

einzumischen sich verbietet, so gebieten die Behinderung<br />

des Selbstbestimmungsrechts und die Verweigerung<br />

grundlegender Menschenrechte, sich deutlich<br />

dazu zu äußern. „Die Forderung nach Achtung der<br />

Rechte nationaler Minderheiten als Teil des international<br />

anerkannten Menschenrechtsschutzes stellt<br />

keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten<br />

der Staaten dar. " So heißt es in dem heute vom <strong>Bundestag</strong><br />

beschlossenen Antrag zum KSZE-Experten<br />

treffen über nationale Minderheiten. Die Rede ist jetzt<br />

von der massiven Verletzung der Menschenrechte<br />

durch die serbische Regierung im Kosovo. Dabei ist<br />

zunächst ohne Belang, ob die Albaner eine nationale<br />

Minderheit in Serbien oder das Volk des Kosovo sind.<br />

Worum es geht und gehen muß, ist die klare Verurteilung<br />

der Serbischen Politik gegenüber der albanischen<br />

Bevölkerung. Dies betrifft die Aussetzung der<br />

Autonomie des Kosovo, die Auflösung des dortigen<br />

Parlaments, die sich steigernde Kampagne in Serbien<br />

gegen den Anspruch der Albaner auf Respektierung,<br />

vor allem und zunächst aber die kontinuierliche Verletzung<br />

elementarer Menschenrechte.<br />

Es mag sein, daß nicht jeder Bericht über jeden Vorfall<br />

im Kosovo einer objektiven Überprüfung standhielte.<br />

Wie sollte es anders sein in einem Land, in dem


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Öffentlichkeit die Gestalt von Gerüchten haben muß,<br />

da die Zensur freie Berichterstattung bestraft, in dem<br />

rechtsstaatliche Ermittlungen nicht oder nur manipuliert<br />

möglich sind, in dem Verfassungen nach Belieben<br />

geändert, Gesetze erlassen, ausgesetzt, eingehalten<br />

werden ausschließlich nach machtpolitischer Interessenlage,<br />

in einem Land, in dem politische Gegner<br />

zu Tausenden inhaftiert, Menschen auf offener Straße<br />

erschossen werden?<br />

Deshalb ist die Untersuchung der Situation der<br />

Menschenrechte im Kosovo durch eine unabhängige<br />

— und das bedeutet nach Lage der Dinge durch eine<br />

internationale — Kommission erforderlich. In diesem<br />

Punkt ist dem gemeinsamen Antrag der Koalitionsparteien<br />

und der SPD zuzustimmen. In allen anderen<br />

Punkten aber trifft dieser Antrag weder die Situation<br />

im Kosovo noch reagiert er angemessen auf diese.<br />

Wenn dies selbst jemand wie Viktor Meier in der<br />

„FAZ" von gestern bemerkt, zeigt es nur, wie weit<br />

entfernt von den Realitäten die Schlußfolgerungen<br />

der Abgeordneten liegen, deren Eindrücke im Kosovo<br />

dem Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP zugrunde<br />

liegen.<br />

Unsere Schlußfolgerungen aus den vielen vorliegenden<br />

Informationen zum Thema Kosovo sind andere.<br />

Am dringlichsten ist unserer Meinung nach die<br />

Aufforderung an die serbische Regierung zur Veränderung<br />

ihrer allen demokratischen und Menschenrechtsnormen<br />

Hohn sprechenden Kosovo-Politik —<br />

nicht nur wegen der skandalösen Zustände im Kosovo,<br />

sondern auch wegen der unmittelbaren Gefahr<br />

gewaltsamer Konflikte, die dadurch permanent und<br />

zunehmend provoziert werden. Deshalb hielten wir es<br />

für nötig, einen eigenen Antrag zu stellen, der sich in<br />

dieser Zielstellung von dem der Regierungsparteien<br />

und der SPD unterscheidet. Wir können nur hoffen,<br />

daß die Mitglieder des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es genügend<br />

Problembewußtsein entwickeln, ihn gemeinsam<br />

mit uns zu beschließen.<br />

Anlage 4<br />

Zu Protokoll gegebene Rede<br />

zu Tagesordnungspunkt 3 — Anträge betr.<br />

Einrichtung eines baltischen Informationsbüros<br />

in der Bundesrepublik Deutschland —<br />

Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Der heute zur<br />

Beschlußfassung vorgelegte Entschließungsantrag<br />

hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Sie begann<br />

mit einem Antrag unserer Gruppe Ende Februar,<br />

der aber zunächst nicht einmal auf die Tagesordnung<br />

kam. Ziel und Zeitpunkt schienen der Mehrheit des<br />

Hauses nicht opportun. Vorrangig war dieser, die Ratifizierung<br />

des Zwei-plus-Vier-Abkommens durch<br />

den Obersten Sowjet der UdSSR als letzten Schritt zur<br />

Souveränität Deutschlands nicht mit unnötigen Risiken<br />

zu belasten. Hier aber sollte den Bemühungen der<br />

baltischen Republiken um Selbstbestimmung — und<br />

das hieß in diesem Zusammenhang: um Souveränität<br />

gegenüber der sowjetischen Zentralmacht — praktische<br />

Unterstützung zuteil werden. Daß es hierbei im<br />

Baltikum auch um den Versuch geht, Demokratisierung<br />

und Wirtschaftsreform gegen die Offensive der<br />

Konservativen in der Sowjetunion, den Widerstand<br />

des Partei- und Staatsapparates gegen die Perestroika<br />

und die zumindest unklare Rolle Gorbatschows dabei<br />

zu verteidigen, blieb unbeachtet oder auch unverstanden.<br />

Nicht nur wurde der Loyalität gegenüber der<br />

Moskauer Zentrale Priorität eingeräumt, sondern man<br />

überschätzte auch deren noch vorhandene Macht.<br />

Trotz derlei Bedenken bedeutete unsere Initiative<br />

einen Impuls, der zu einem in der Substanz gleichen<br />

Antrag der SPD führte und in der Folge zur Überweisung<br />

beider Anträge in den Ausschuß. Beide beriefen<br />

sich — und wie sich zu unserer Befriedigung nun herausstellt,<br />

mit Recht und mit Erfolg — auf die gemeinsame<br />

Erklärung zur Lage, mit der der <strong>Bundestag</strong> am<br />

14. Januar die baltischen Völker seiner Unterstützung<br />

versichert hatte.<br />

Informationsbüros und Goethe-Institute sind keine<br />

diplomatischen Vertretungen. Ihre Aufgaben sind anderer<br />

Art. Aber ihre Bedeutung ist wohl kaum geringer<br />

einzuschätzen. Die Konzeption, die im Baltischen<br />

Informationsbüro in Deutschland zugrunde liegt — in<br />

Anlehnung an die bereits seit längerem im Aufbau<br />

befindlichen in Kopenhagen und Stockholm — , macht<br />

dies deutlich. Neben Informationen über das aktuelle<br />

Geschehen und Entwicklungstendenzen in den baltischen<br />

Republiken sollen Institutionen, Verbänden<br />

und Organisationen, Wirtschaftsunternehmen, interessierten<br />

Menschen, kurz, der Gesellschaft in<br />

Deutschland insgesamt auch Kenntnisse über soziale<br />

und ökologische Probleme, Geschichte und Kultur,<br />

Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit und<br />

Austauschbeziehungen bis hin zum Tourismus vermittelt<br />

werden. Die potentielle Wirksamkeit derartiger<br />

Einrichtungen kann kaum unterschätzt werden.<br />

Selbstverständlich gilt dies auch umgekehrt.<br />

Darüber hinaus kann die Haltung des <strong>Bundestag</strong>es<br />

auch ein Anstoß für den weiteren Ausbau der Beziehungen<br />

zwischen Städten im Baltikum und in<br />

Deutschland sein. In diesem Zusammenhang sind Initiativen<br />

wie die des Ost-West-Forums in Bremen, einer<br />

Partnerschaft von Riga, zur Gründung eines baltischen<br />

Informationszentrums ausdrücklich zu begrüßen.<br />

Die Einrichtung eines baltischen Informationsbüros<br />

in Deutschland und eines Goethe-Instituts im Baltikum<br />

ist ein richtiger und angemessener Schritt.<br />

Gleichzeitig kann es aber auch nur ein erster Schritt<br />

sein. Worauf es ankommt, ist die kontinuierliche praktische<br />

Unterstützung nicht nur im Bereich des Kulturaustauschs.<br />

Die Erfahrungen gerade auch der Opposition<br />

in der damaligen DDR zeigen, daß es eines ist,<br />

von Demokratie und Menschenrechten zu reden, und<br />

etwas ganz anderes, sie erkämpfen zu müssen. Wir<br />

wissen nur zu genau, welche Bedeutung erlebte Solidarität<br />

hat. Der Weg zu einem gemeinsamen Europa<br />

führt auch über das Baltikum.


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Anlage 5<br />

Zu Protokoll gegebene Reden<br />

zu Zusatztagesordnungspunkt 9 — Aktuelle<br />

Stunde — betr. Verhalten der Bundesregierung be<br />

züglich der geplanten Einlagerung von radioaktiven<br />

Abfällen in das Zwischenlager Gorleben und Berück<br />

sichtigung der Bedenken der betroffenen Bevölke<br />

rung und der Landesregierung von Niedersachsen<br />

Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Die Gruppe PDS/Linke<br />

Liste bleibt sich treu. Sie beschäftigt den <strong>Bundestag</strong><br />

mit Anfragen, Anträgen, beantragt Aktuelle Stunden,<br />

obwohl es ihr auf Grund ihres Gruppenstatus überhaupt<br />

nicht zusteht. Aber wer selbst keine Antworten<br />

weiß, selbst nicht auf die Zerwürfnisse und den galoppierenden<br />

Zerfall in den eigenen Reihen, ergeht sich<br />

in Fragen, um von den eigenen Problemen abzulenken.<br />

Daß Sie sich aber gerade der Thematik Kernenergie,<br />

radioaktiver Abfall und Lagerung annehmen, mutet<br />

geradezu grotesk an, wenn man sich der Vergangenheit<br />

einer Partei erinnert, deren Nachfolge Sie angetreten<br />

haben.<br />

Als Abgeordneter aus Ostthüringen, aus Ronneburg,<br />

dem Zentrum des Uranbergbaus in der ehemaligen<br />

DDR, weiß ich genau, wie die SED-Führungsschicht<br />

seinerzeit mit den Anfragen zur Strahlenproblematik<br />

umgegangen ist, wie die Sorgen und Nöte<br />

der Bevölkerung negiert wurden. Echtes, weil dringend<br />

erforderliches Umweltengagement beispielsweise<br />

vom kirchlichen Umweltkreis Ronneburg<br />

wurde in eine staatsfeindliche Ecke gedrängt. Wo war<br />

denn damals Ihr Engagement? Heute spielen Sie sich<br />

in geradezu unerträglicher Art und Weise als die Saubermänner<br />

der Nation auf. Sie haben damals die Menschen<br />

für dumm verkaufen wollen und versuchen<br />

heute mit durchsichtigen Methoden Angst und Verunsicherung<br />

unter den Menschen zu säen. Sie haben<br />

zuallerletzt die Legitimation, sich als Bewahrer von<br />

Natur und Umwelt aufzuspielen.<br />

Es ist bekannt, dem Greenpeace-Zug ist der Dampf<br />

ausgegangen. Die Aktionen werden müder. Waren es<br />

1989 noch zwölf Aktionen, so zählten wir 1990 ganze<br />

fünf. Offensichtlich sind Sie auf diesen Zug aufgesprungen.<br />

Doch ich versichere Ihnen, mit Ihrer Altlast<br />

wird er noch mehr an Geschwindigkeit verlieren.<br />

Meine Damen und Herren, die Stellungnahme der<br />

Bundesregierung zu der Einlagerung radioaktiver<br />

Abfälle in Gorleben ist eindeutig. Sie lautet: Die Einlagerung<br />

der Abfälle, die aus dem belgischen Mol<br />

nach Gorleben transportiert wurden, ist Rechtens.<br />

Erstens. Auf Grund der Verwaltungsverfügungen<br />

-<br />

der Staatlichen Gewerbeaufsicht Lüneburg vom<br />

27. Mai 1990 und vom 24. Mai 1991 und in Übereinstimmung<br />

mit der Umgangsgenehmigung der Staatlichen<br />

Gewerbeaufsicht Lüneburg vom 27. Oktober<br />

1983 reicht es für das Faßlager Gorleben aus, wenn<br />

die radioaktiven Abfälle gemäß den Prüfergebnissen<br />

den genehmigten Umgangsspezifikationen entsprechen.<br />

Hierbei kommt es nicht auf eine konkrete Zuordnung,<br />

sondern auf eine Einhaltung festgelegter<br />

Eigenschaften an. Diese Eigenschaften wurden von<br />

den aus Mol kommenden Abfällen erfüllt.<br />

Zweitens. Der TÜV Hannover hat in seinem Prüfbericht<br />

keinen Zweifel daran gelassen, daß es sich bei<br />

den Abfällen um gepreßte Betriebsabfälle handelt, die<br />

aus den deutschen Kernkraftwerken Krümmel und<br />

Neckarwestheim stammen.<br />

Drittens. Seitens der Umweltministerin Niedersachsens,<br />

Frau Griefahn, als auch des Gewerbeaufsichtsamtes<br />

Lüneburg konnte kein Beweis erbracht werden,<br />

daß es sich nicht um das Material aus den beiden oben<br />

genannten Kraftwerken handelt. Frau Grief ahn<br />

mußte ihren Lagerstopp rückgängig machen.<br />

Offensichtlich sollte mit dieser Protestaktion der<br />

Versuch gemacht werden, das angekratzte Image von<br />

Greenpeace wieder aufzupolieren. In diesem Zusammenhang<br />

ist es durchaus interessant zu wissen, daß<br />

Frau Griefahn, parteilos, lange Jahre aktiv bei Greenpeace<br />

tätig war.<br />

Um so bemerkenswerter aber ist die Beurteilung<br />

ihres Mannes, Herrn Dr. Michael Braungart, der<br />

meint: Längst sei das Umweltbewußtsein der Menschen<br />

weiterentwickelt als Greenpeace selbst. Und<br />

wörtlich: „Wer sich immer noch mit Aktionen begnügt,<br />

statt konkrete Lösungen zu suchen, sei überflüssig<br />

wie eine Game Show im TV. " — „Greenpeace<br />

ist nur noch eine Ersatzreligion. Die Menschen kaufen<br />

sich für 50 DM Jahresbetrag ein gutes Gewissen. "<br />

Dem ist fast nichts hinzuzufügen.<br />

Das Anliegen der PDS/Linke Liste scheint mir vordergründig<br />

mehr dem Versuch der Selbstdarstellung<br />

zu dienen. Versuchen Sie doch bitte nicht permanent,<br />

die Menschen in Deutschland über Ihre wahren Absichten<br />

zu täuschen.<br />

So, wie sich eine Schlange noch sooft häuten mag<br />

und dennoch eine Schlange bleibt, so bleiben Sie die<br />

Sachwalter einer Gesellschaftsordnung, deren Überwindung<br />

eine Sternstunde der deutschen Geschichte<br />

war.<br />

Horst Kubatschka (SPD): Als der alte Geheimrat<br />

aus Frankfurt das Gedicht „Zauberlehrling" schrieb,<br />

hatte er da eine Vision von der Atomenergie? Zumindest<br />

hat er ein Gedicht verfaßt, daß bildhaft die Probleme<br />

der Atomenergie beschreibt. Der Besen ist aus<br />

der Ecke, er schleppt Eimer um Eimer. Sie sind nicht<br />

voller Wasser. Atommüll liegt d rin. Als Forschungspolitiker<br />

suchen wir die Zauberformel, wie der Besen in<br />

die Ecke gestellt werden kann. Wenn die Formel gefunden<br />

sein sollte, muß sie ausgesprochen werden. Es<br />

besteht noch ein großer Bedarf an Wissen. Wir brauchen<br />

ein Konzept der Atommüllbeseitigung. Es ist<br />

nicht vorhanden. Bei uns nicht, in den USA nicht, in<br />

Frankreich nicht, in der UdSSR nicht. Weltweit haben<br />

wir kein Modell, wie radioaktiver Müll beseitigt werden<br />

soll.<br />

Atommüll als Abfall zu bezeichnen ist eine Verharmlosung.<br />

Die Bezeichnung Müll ist eine Verniedlichung.<br />

Das Problem wird wie eine heiße Kartoffel weitergereicht.<br />

Wie glühende Kohlen überlassen wir es<br />

den nächsten Generationen. Wie gesagt, Forschungsbedarf<br />

ist angesagt.<br />

Nicht angesagt ist die Wiederaufbereitung. Die Forschung<br />

auf dem Gebiet der Wiederaufbereitung muß<br />

beendet werden. Die notwendigen Haushaltsanträge<br />

wurden von der SPD-Fraktion gestellt. Im Haushalt<br />

1991 sind nach wie vor 6 Millionen DM für die<br />

Wiederaufbereitungsforschung enthalten. Zusätz-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2693*<br />

lich werden 10 Millionen im Kernforschungszentrum<br />

Karlsruhe für Wiederaufbereitung verwendet. Für uns<br />

Sozialdemokraten ist direkte Endablagerung der richtige<br />

Weg.<br />

Die Entsorgung muß national organisiert werden.<br />

Jeder ist für seinen Atommüll verantwortlich. Wir<br />

brauchen daher zwei weitere Erkundungen für Endlager.<br />

Dazu sind Forschungsmittel notwendig. Wir haben<br />

die Umwidmung im Haushalt 1991 verlangt, und<br />

zwar aus Forschungsmitteln für die Wiederaufbereitung.<br />

Ich möchte aber auch klar sagen, um ein Endlager<br />

kommen wir nicht herum, auch beim Ausstieg<br />

nicht oder gerade deswegen. Außerdem sind Forschungsmittel<br />

notwendig, um die Herkunft von Atommüll<br />

aufzuklären. Der Weg des Atommülls muß festgelegt<br />

und zurückverfolgbar sein.<br />

Die beste Art Müll ist derjenige, der nicht produziert<br />

wird. Darum kurz zum Kernkraftwerk Niederaichbach.<br />

Gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung<br />

erfolgt der Abriß. Radioaktives Material muß zwischengelagert<br />

werden, und zwar in Karlsruhe. Dies ist<br />

wahrlich kein zukunftsweisendes Projekt. Unnötig<br />

wird Atommüll erzeugt. Viele fragen: Hat dies einen<br />

Sinn? Es gibt zwei Gründe: erstens wirtschaftliche<br />

Gründe und zweitens wird die Illusion geschaffen,<br />

Atomkraftwerke könnten kurzfristig abgerissen werden.<br />

Das Kernkraftwerk Niederaichbach stellt kein<br />

Modell dar. 18 Tage Vollast und der Holzweg der<br />

deutschen Kernkraftindustrie war am Ende.<br />

Wie gesagt, der beste Müll ist der, der nicht entsteht.<br />

Gefragt ist daher der geplante Ausstieg aus der<br />

Kernenergie. Weichen müssen gestellt werden, Energiesparen<br />

ist angesagt, erneuerbare Energien sind die<br />

Zukunft.<br />

Zum Schluß möchte ich noch einmal auf Geheimrat<br />

von Goethe zurückkommen: Der Besen muß in die<br />

Ecke gestellt werden. Das Abpumpen des ausgeschütteten<br />

Wassers wird uns lange Zeit genug Sorgen<br />

bereiten.<br />

Dr. Paul Laufs (CDU/CSU): Die Fakten zu den Er<br />

eignissen am Zwischenlager Gorleben sind schnell<br />

dargestellt. Drei Container mit schwach radioaktivem<br />

Material — überwiegend zusammengepreßte Putzlappen<br />

und Schutzkleidung aus deutschen Kernkraftwerken<br />

— wurden vom belgischen Mol in das Faßlager<br />

Gorleben verbracht. Der Transport wurde zunächst<br />

durch eine Straßenblockade, später durch eine<br />

Verwaltungsverfügung des Gewerbeaufsichtsamts<br />

Lüneburg in Lüchow aufgehalten; eine Verfügung,<br />

die sich weder sachlich noch rechtlich als begründet<br />

-<br />

erwies.<br />

Es kam zu massiven Blockaden durch die Anti-<br />

Atomkraft-Bewegung und schließlich zur polizeilichen<br />

Räumung der Zufahrt zum Zwischenlager. Nach<br />

Polizeiangaben wurden dabei vier Demonstranten<br />

und sechs Polizisten leicht verletzt. Neun Personen<br />

wurden vorübergehend festgenommen.<br />

Es bleibt nachzutragen, daß es in der Nacht vom 13.<br />

auf den 14. Juni zu Ungereimtheiten kam, die einen<br />

schlimmen Verdacht aufwerfen. Wir hören, daß der<br />

am 13. Juni um 21 Uhr auf den Weg geschickte Containertransport<br />

bei Sprakensehl von der Polizei übernommen<br />

und auf unterschiedlichen Wegen fortge<br />

setzt wurde. Der Lkw mit dem Mol-Container wurde<br />

durch Salzwedel in Richtung Arendsee geführt und<br />

schließlich im Wald bei Schletau abgestellt.<br />

Es liegt keine rationale Erklärung für diese Umwege<br />

vor. Die Frage ist also, ob Zeit gewonnen werden<br />

sollte, bis sich die Blockierer vor Ort gruppieren<br />

konnten.<br />

Ich entnehme einer Pressemitteilung der CDU-<br />

Landtagsfraktion in Hannover von heute ein Zitat des<br />

Grünen-Abgeordneten Kempmann, wonach er sich<br />

im Niedersächsischen Landtag ausdrücklich zu politisch<br />

motivierten Straftaten bekannt und am 12. Juni<br />

1990 erklärt haben soll, „es werde im Zusammenhang<br />

mit Atomtransporten sehr schöne Blockaden geben<br />

und werde auch zu Auseinandersetzungen und Prügeleien<br />

mit der Polizei kommen, bei denen er selbst<br />

auf der richtigen Seite stehen werde". Wir verlangen<br />

von der niedersächsischen Landesregierung, daß sie<br />

diesen höchst dubiosen Sachverhalt rückhaltlos aufklärt.<br />

Meine Damen und Herren, niemand hat jemals behauptet,<br />

daß von diesen schwach aktiven Abfällen in<br />

ihren Sicherheitsbehältern irgendwelche Gefahren<br />

für Mensch und Umwelt ausgehen. Niemand konnte<br />

gegen die Einlagerung dieser Abfälle in das dafür<br />

genehmigte Zwischenlager Gorleben fundierte rechtliche<br />

Einwände vorbringen. Auch der niedersächsische<br />

Ministerpräsident Gerhard Schröder hat seine<br />

Bedenken wegen der Herkunft der Abfälle inzwischen<br />

zurückgezogen. Gleichwohl erhebt er gegen<br />

den Bundesumweltminister — so in der heutigen<br />

Presse — den unglaublich unverschämten Vorwurf<br />

der „Kumpanei mit der Atomlobby".<br />

Laut einer dpa-Nachricht von heute morgen prüft<br />

die niedersächsische Landesregierung jetzt, ob sie<br />

über einen Verwaltungsgerichtsprozeß weitere, bereits<br />

geplante Transporte von Atommüll aus Mol nach<br />

Gorleben unterbinden könne. Das Land wolle außerdem<br />

möglicherweise Bürger bei Klagen gegen die<br />

Einlagerung in Gorleben unterstützen. Dies erhellt<br />

eine düstere Sachlage, die ich wie folgt bewerten<br />

muß. Die rot-grüne Landesregierung Niedersachsens<br />

entfernt sich demonstrativ vom Gebot der Gesetzestreue<br />

und der Bundestreue. Es ist nicht zu erkennen,<br />

daß es ihr um Sicherheit und Umweltschutz geht. Sie<br />

verfolgt rigoros ihre ideologisch begründete Antikernkraftpolitik<br />

und schürt Ängste, wo überhaupt kein<br />

Anlaß besteht. Sie fügt dem Rechtsstaat schweren<br />

Schaden zu.<br />

SPD und Grüne setzen den Hebel an der Entsorgung<br />

von radioaktiven Abfällen an, um den Ausstieg<br />

aus der Kerntechnik zu erzwingen. Dazu scheint fast<br />

jedes Mittel recht zu sein. So weit ist es gekommen.<br />

Es ist bedrückend, zu erleben, wie in der Art der von<br />

Gewalt und Nötigung gekennzeichneten Greenpeace-Aktionen<br />

das Ansehen des Industriestandorts<br />

Bundesrepublik Deutschland beschädigt wird. Dies<br />

geschieht in einem Augenblick, wo wir alle Kräfte für<br />

den Aufbau in den neuen Bundesländern einsetzen<br />

müssen, die z. B. dringend eine saubere und preiswerte<br />

Energieversorgung brauchen. Die Stromwirtschaft<br />

fordert den politischen Grundkonsens zur Ener<br />

giepolitik, ohne den sie keine großen Investitionen


2694 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

tätigen will. Ich heiße dies nicht gut, aber ich sehe, daß<br />

die schmerzlich erwarteten Investitionsentscheidungen<br />

aufgeschoben werden.<br />

Es zeichnet sich ab, daß Deutschland als Standort<br />

der Energieerzeugung verlorengeht. Dies mag der<br />

rot-grünen Zielsetzung entsprechen. Was gewinnen<br />

wir aber, wenn die Anlagen jenseits unserer Grenzen<br />

errichtet werden, ohne daß sie dort unseren höchsten<br />

sicherheitstechnischen Anforderungen genügen müssen?<br />

Wir verlieren ein Stück Zukunft. Ist sich die Opposition<br />

überhaupt bewußt, welchen ungeheuren Schaden<br />

sie anrichtet? Daß die Gruppe PDS/Linke Liste mit<br />

dieser Aktuellen Stunde noch ihr destruktives politisches<br />

Süpplein daraus kochen will, ist so kläglich, daß<br />

man darüber besser schweigt.<br />

Dietmar Schütz (SPD): Wer bei der Durchsetzung<br />

von Recht und Rechtspositionen nur noch Verletzungen<br />

und Betroffenheit hinterläßt, hat entweder selbst<br />

etwas sehr falsch gemacht, oder aber das Umfeld der<br />

Rechtsakzeptanz ist schon so aufgewühlt, daß bei der<br />

Rechtsdurchsetzung nur noch Verwundungen auf treten.<br />

Die Rückführung der konditionierten radioaktiven<br />

Abfälle aus Mol zum Zwischenlager Gorleben und<br />

deren Begleitumstände zeigen, daß beides — Art und<br />

Weise der Rechtsdurchsetzung — zu weiteren Verhärtungen<br />

geführt haben und daß das politische Umfeld<br />

der Atompolitik nicht nur in Gorleben nicht oder<br />

nicht mehr akzeptiert wird. Viele von uns haben noch<br />

die quälenden Vernehmungen im Transnuklearatomskandal-Untersuchungsausschuß<br />

in Erinnerung. Wir<br />

erinnern uns an die Schlampereien in Mol, bei deren<br />

Konditionierungsarbeiten keiner wußte, ob die Abfälle<br />

aus X tatsächlich wieder dorthin zurückgingen.<br />

Wir haben alle um die Unvermeidbarkeit von Querkontaminationen<br />

in Mol erfahren. Auf dem Hintergrund<br />

dieser Erfahrung, die monatelang die bundesdeutsche<br />

Öffentlichkeit beschäftigt hat, ist deshalb<br />

mit diesen ersten Rückführungen von Atommüll aus<br />

Mol sehr sensibel umzugehen.<br />

Zur Sache. Die noch in den letzten Tagen der Albrecht-Regierung<br />

geänderten Verwaltungsbestimmungen<br />

zu den Aufnahmebedingungen für das Faß<br />

lager Gorleben kennen zwar keine Beschränkungen<br />

der einzulagernden Abfälle auf solche aus bundesdeutschen<br />

Kernkraftwerken mehr — was ich aus Akzeptanzgründen<br />

für äußerst problematisch halte —,<br />

gleichwohl war der Antrag der Lagergesellschaft<br />

-<br />

Gorleben<br />

ausdrücklich auf die Zulassung der Zwischenlagerung<br />

von konditionierten Mischabfällen aus den<br />

Kernkraftwerken Krümmel und Neckar-Westheim<br />

gerichtet. Ich halte es deshalb — vor allem angesichts<br />

der vergangenen Diskussion um die Atommüllschiebereien<br />

und angesichts der Akzeptanzsituation vor<br />

Ort — für mehr als legitim, daß das Umweltministerium<br />

in Hannover die Frage, woher die Mischabfälle<br />

kommen, gründlich prüfen wollte, bevor die endgültige<br />

Zwischenlagerung genehmigt wurde.<br />

Diese Forderung des Umweltministeriums nach einem<br />

lückenlosen Identitätsnachweis wird am 13. Juni<br />

gestellt. Am 14. Juni wird deshalb eine bereits erteilte<br />

endgültige Genehmigung so lange zurückgenommen,<br />

bis ein Identitätsnachweis erbracht wird. Am<br />

gleichen Tag ordnet das Bundesumweltministerium<br />

dagegen eine Zulassung der Einlagerung bis zum<br />

nächsten Tag an. Durch ausdrücklich bundesaufsichtliche<br />

Weisung am Sonntag, dem 16. Juni, wird dies<br />

durchgesetzt.<br />

Dieser sehr verkürzt dargestellte Ablauf läßt für den<br />

Beobachter der Szene nur noch den Schluß zu, daß das<br />

Weisungsinstrumentarium aus Art. 85 GG hier nur<br />

noch im Muster Befehl und Gehorsam vom Feldwebel<br />

Töpfer zu den niedersächsischen Soldaten gebraucht<br />

wurde.<br />

Ist es unsinnig, darüber nachzudenken, ob es sinnvoll<br />

ist, einen Identitätsnachweis führen zu müssen,<br />

weil es eben auch sinnvoll ist, nur eigene bundesdeutsche<br />

Abfälle wieder aufzunehmen? Wäre es nicht vernünftig<br />

gewesen, eine vorläufige Unterbringung im<br />

Faßlager zu vereinbaren, um das Identitätsproblem zu<br />

erörtern und nicht nur per Verfügung miteinander<br />

umzugehen? Kann man bundesfreundliches Verhalten<br />

von Niedersachsen nachhaltig anfordern, wenn<br />

von einem länderunfreundlichen Verhalten des Bundes<br />

durch das scharfe Handhaben bundesaufsichtlicher<br />

Instrumente gesprochen werden muß?<br />

Die Art und Weise der Rechtsdurchsetzung hat<br />

überflüssige Verletzung erzeugt, die ein Rechtsstaat<br />

so nicht zufügen sollte.<br />

Von dem Umfeld der Rechtsakzeptanz habe ich<br />

noch gar nicht gesprochen. Ich frage mich, wie lange<br />

wir, wie lange unser Staat es durchhalten will, eine<br />

völlig ungeklärte Endlagersituation vor sich herzuschieben.<br />

Wie lange will er jeden Schritt, der in Beziehung<br />

zu einem Atomkraftwerk steht, mit Polizeigewalt<br />

durchsetzen?<br />

Die Akzeptanz der Atomenergie — das zeigen immer<br />

wieder die konkreten Situationen, das zeigen<br />

aber genauso die Umfrageergebnisse — ist und bleibt<br />

nicht vorhanden. Wir müssen deshalb dazu kommen,<br />

einen energiewirtschaftlichen Konsens zu erreichen,<br />

der auf der Grundlage des Ausstiegs aus der Atomenergie<br />

erreicht werden muß. Jedenfalls kann es aber<br />

keinen energiewirtschaftlichen Konsens bei Feldwebelattitüden<br />

geben. Wer den Konsens will, darf vorher<br />

nicht nur den Büttel spielen.<br />

Heinrich Seesing (CDU/CSU): Erstens. Da gibt es<br />

eine Partei, die hat einmal laut ihrer Sorge Ausdruck<br />

gegeben, daß CDU und CSU Hindernisse sein würden<br />

auf dem nun einmal notwendigen Weg, viel und sichere<br />

Energie zu schaffen. Gemeint war die Kernenergie.<br />

Gesprochen wurden solche und ähnliche<br />

Sätze im Deutschen <strong>Bundestag</strong> Ende der 50er Jahre.<br />

Die Redner gehörten der SPD-Fraktion an. Ich muß<br />

die SPD loben, die damalige SPD. Denn es ist damals<br />

gelungen, einen weitgehenden Konsens in der Energiepolitik<br />

zu finden. Eine herausragende Stellung<br />

nahm die Kernenergie ein. Wer zur Kernenergie ja<br />

sagt, hatte auch zur Wiederaufarbeitung und zur Endlagerung<br />

ja gesagt. Die tollsten Anlagen wurden mit<br />

der SPD gebaut. Viele Kernkraftwerke produzieren<br />

Strom. Hochtemperaturreaktoren und Schnelle Brüter<br />

stehen als Denkmäler dieser SPD-Ära in deutschen


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2695*<br />

Landen. Um die Abwicklung machen wir uns Sorgen,<br />

die SPD auch.<br />

Zweitens. Da gibt es eine Partei, die hat sich 1986<br />

für eine Energiepolitik ohne Atomkraft entschieden.<br />

An Gefahren und Risiken hatte sich seit 1960 nichts<br />

geändert. Nur: eine neue Generation bestimmte die<br />

Energiepolitik der SPD. Sie bewertete diese anders als<br />

diejenigen, die für mehr Energie und damit für mehr<br />

Wohlstand eingetreten waren. Wir wissen heute, daß<br />

man Wohlstand auch mit weniger Energie erreichen<br />

kann, aber nicht ohne. Ich meine auch, daß man Kernenergie<br />

nur dann verantworten kann, wenn man die<br />

Entsorgung der Kernkraftwerke gesichert hat. Und<br />

damit meine ich nicht nur die Kernbrennstäbe, sondern<br />

auch alles das, was sonst an radioaktivem Abfall<br />

anfällt. Die SPD verzichtete auf die Kernenergie, weil<br />

die Entsorgung nicht gesichert sei. Was hat sie eigentlich<br />

seit 1960 getan, um das Problem zu lösen? Ich will<br />

dabei gerne zugestehen, daß auch mein politisches<br />

Lager nicht immer den Mut und die richtige Einstellung<br />

dazu hatte.<br />

Drittens. Da gibt es eine Partei, die beschließt auf<br />

ihrem Bundesparteitag 1991 folgendes: „Der Bundesparteitag<br />

mißt der Findung und Errichtung von Endlagerstätten<br />

herausragende Bedeutung bei. Er hält es<br />

deshalb für unabdingbar, daß die sozialdemokratisch<br />

geführten Landesregierungen bei der Bundesregierung<br />

darauf drängen, daß auf der Grundlage von alternativen<br />

Standorten die umweltverträglichste und<br />

sicherste Lösung gefunden wird." Bravo, SPD! Nur,<br />

wie alternativ soll das Ganze denn noch werden? Wie<br />

lang soll die Suche noch dauern? Also doch China<br />

oder der Mond?<br />

Also bringen wir alles nach Gorleben, ins Zwischenlager,<br />

weil wir vor lauter Suchen das Ziel vergessen<br />

haben. Oder soll das Dagegenhalten, sollen die Mätzchen<br />

der Landesregierung von Niedersachsen nur ein<br />

Hilfsmittel sein, um die Kernkraftwerke abschalten zu<br />

können? Vielleicht ist ja jetzt Hamburg bereit, auf<br />

Strom aus KKW zu verzichten — und bezieht den<br />

Strom dann aus den französischen KKW!<br />

Viertens. Da gibt es einen gewissen Herrn Schröder,<br />

der hat gestern wegen der Entscheidung des Bundesumweltministers<br />

in Sachen Gorleben von der „Verfilzung<br />

der Bundesregierung mit der Atomlobby" gesprochen.<br />

Es handelt sich, man kann es kaum glauben,<br />

um den Ministerpräsidenten eines schönen und<br />

großen Bundeslandes. Ein solches Wort aus dem<br />

Munde eines Ministerpräsidenten, der Verantwortung<br />

für ein Land und die Menschen in diesem Land<br />

übernommen hat! Seine Verantwortung heißt im Falle<br />

Gorleben, Sorge tragen, daß die Dinge so schnell und<br />

so gut als möglich geregelt werden. Ein ordnungsgemäßes<br />

Lager ist der Platz dafür, nicht der Parkplatz<br />

einer Polizeikaserne. Ich finde Verhalten und Äußerung<br />

nicht mehr zu vereinbaren mit den Aufgaben<br />

eines so hohen Amtes.<br />

Harald B. Schäfer (Offenburg) (SPD): Auch der<br />

Bundesumweltminister wirbt neuerdings um einen<br />

energiepolitischen Konsens. Wer Konsens tatsächlich<br />

will, kann nicht ein derart ultimatives länderunfreundliches<br />

bundesrechtliches Weisungsverfahren<br />

praktizieren, wie es Herr Töpfer tut. Konsens gibt es<br />

nur bei Kooperationsbereitschaft, nicht bei Konfrontation.<br />

Was für eine Energiepolitik ist das, die mit Weisungen<br />

und Polizeigewalt durchgesetzt werden<br />

muß?<br />

Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern für die<br />

notwendige Entsorgung nuklearen Mülls läßt sich<br />

nicht von Bonn aus verordnen. Akzeptanz setzt Vertrauen<br />

und Offenheit voraus. Gerade die aber haben<br />

Energiewirtschaft und Bundesumweltminister in der<br />

Vergangenheit verspielt. Uns allen ist der Atommüllskandal,<br />

die Transnuklear-Affäre, noch in schlechtester<br />

Erinnerung. Radioaktive Abfälle — zum Teil<br />

falsch deklariert — wurden international hin und her<br />

geschoben. Bestechungsgelder wurden bezahlt. Nicht<br />

nur menschliches Fehlverhalten, auch die ungelöste<br />

Entsorgung des Atommülls war die Ursache dafür.<br />

Kann es Sie da wundern, daß die Menschen auch da<br />

mißtrauisch sind, wo es sich vielleicht als unbegründet<br />

herausstellt? Das jahrelange Taktieren und Verschieben<br />

in der Entsorgung holt uns ein. Die Bundesrepublik<br />

muß riesige Mengen atomaren Atommülls in den<br />

nächsten Jahren aus dem Ausland (aus Belgien, aus<br />

Frankreich, aus England) zurücknehmen. Wir alle<br />

sind gegen Mülltourismus. Bei den besonders gefährlichen<br />

Atomabfällen wurde er zum Programm gemacht.<br />

Es ist berechtigt und richtig, daß die niedersächsische<br />

Landesregierung auf dem politischen Hintergrund<br />

der Transnuklear-Affäre exakte Aufklärung<br />

über den Inhalt und die Herkunft der Atommüllfässer<br />

aus dem belgischen Mol verlangt hat. Es ist auch richtig,<br />

daß sich die niedersächsische Landesregierung<br />

dagegen wehrt, daß Land zur atomaren Müllkippe<br />

Europas werden zu lassen.<br />

Die Vorgänge um die Atommüllfässer aus dem belgischen<br />

Mol sowie die notwendige Schließung des<br />

Hanauer Atomwerkes durch den hessischen Umweltminister<br />

— eine Maßnahme, die wir ausdrücklich begrüßen<br />

— zeigen vor allem eins: Vertrauen läßt sich<br />

nur mit einer neuen Energiepolitik zurückgewinnen:<br />

Erstens. Nur wer definitiv auf Neu- und Ersatzbau<br />

von Kernkraftwerken verzichtet und die Atomenergienutzung<br />

in einem überschaubaren Zeitraum beendet,<br />

kann von der Bevölkerung Akzeptanz für notwendige<br />

Entsorgungseinrichtungen erwarten. Denn<br />

nur so kann sichergestellt werden, daß der Jahrtausende<br />

strahlende Müllberg nicht immer weiter<br />

wächst.<br />

Zweitens. Es ist zwingend notwendig, den Weg der<br />

direkten Endlagerung der atomaren Abfälle gesetzlich<br />

vorzuschreiben und auf den Weg der Wiederaufarbeitung,<br />

auch über das Ausland, zu verzichten.<br />

Drittens. Die Herstellung der sogenannten Mischoxidbrennelemente<br />

mit Plutonium, wie sie in dem Hanauer<br />

Atomwerk erfolgt, muß gesetzlich untersagt<br />

werden.<br />

Wir Sozialdemokraten sind uns unserer Verantwortung<br />

für die Entsorgung radioaktiver Abfälle bewußt.<br />

Auch unter unserer Regierungszeit sind Atomkraftwerke<br />

gebaut und in Betrieb genommen worden. Der<br />

bereits heute angefallene Atommüll muß so sicher wie<br />

irgend möglich beseitigt bzw. gelagert werden. Wir<br />

haben in unseren Forderungen die Voraussetzungen


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dafür genannt, wie mit Akzeptanz und Unterstützung<br />

der Bevölkerung die atomare Entsorgung vorangebracht<br />

werden kann.<br />

Solange die Entsorgungsstrategie der Bundesregierung<br />

unklar ist, solange sie auf Wiederaufarbeitung<br />

besteht, solange sie ihre Politik mit dem Knüppel der<br />

Weisung durchsetzen will, solange sie nicht klar und<br />

deutlich beschließt, daß sie eine dauerhafte Nutzung<br />

der Kernenergie ablehnt und auf den Zubau und Neubau<br />

von Atomkraftwerken verzichtet, solange wird sie<br />

die Akzeptanz der Bevölkerung für die notwendige<br />

Entsorgung radioaktiver Abfälle nicht gewinnen. Wer<br />

wirklich den Konsens will, wem wirklich daran gelegen<br />

ist, langfristig verläßliche Rahmenbedingungen<br />

für die Wirtschaft und für die Verbraucher zu schaffen,<br />

der muß in der Atomenergiepolitik den Weg zu Ende<br />

gehen, der in Wackersdorf und Kalkar schon eingeschlagen<br />

wurde, den Weg des Ausstiegs aus der Nutzung<br />

der Atomenergie.<br />

Wolfgang Ehlers (CDU/CSU): Eine von der Gruppe<br />

PDS/Linke Liste zu diesem Thema beantragte Aktuelle<br />

Stunde hat bei mir mehrere Fragestellungen hervorgerufen.<br />

Erstens. Warum stellt sich gerade diese Partei, die in<br />

der ehemaligen DDR vor der Wende jegliches Umweltbewußtsein<br />

vermissen ließ und sich nie ernsthaft<br />

mit den Umweltproblemen beschäftigte, jetzt in der<br />

Öffentlichkeit so dar, als wenn ohne ihr Zutun die<br />

Umwelt gefährdet würde?<br />

Zweitens. Ist die PDS nicht in der Lage, das zugegebenermaßen<br />

nicht einfache deutsche Umweltrecht<br />

erst einmal gründlich zu studieren, bevor sie der Bundesregierung<br />

ein Fehlverhalten vorwirft? Meine Fraktionskollegen<br />

haben bereits eindeutig und ausreichend<br />

dargelegt, daß der Einlagerung von schwachradioaktiven<br />

Abfällen aus dem belgischen Mol weder<br />

sachliche noch rechtliche Gründe entgegenstehen.<br />

Drittens. Oder wollte die PDS mit dieser Aktuellen<br />

Stunde auf die Mißstände innerhalb des rot-grünen<br />

Bündnisses in Hannover hinweisen? Dann jedenfalls<br />

könnte ich diese Debatte noch verstehen.<br />

Es ist in der Tat merkwürdig, wenn die jetzige Umweltministerin<br />

Niedersachsens vor einem Jahr auf einer<br />

Veranstaltung in Gorleben Hunderte von Kernkraftgegnern<br />

dazu aufrief, „das Mittel der Blockade<br />

aktiv zu nutzen" , und der grüne Landtagsabgeordnete<br />

Kempmann sich bereits auf „sehr schöne Blockaden"<br />

freute. Wurden damit nicht schon Konfliktsituationen<br />

vorprogrammiert? Da sich schon am vergangenen<br />

Freitag der grüne Umweltsstaatssekretär - und der<br />

bereits erwähnte Abgeordnete Kempmann unter die<br />

Demonstranten mischten, ist sicherlich die Frage gestattet,<br />

ob die Blockade nicht vorsorglich inszeniert<br />

worden ist.<br />

Wenn Sie, meine Damen und Herren der PDS, diese<br />

gewiß wichtigen Fragen beantwortet haben möchten,<br />

dann gebe ich Ihnen einen guten Rat: Wenden Sie<br />

sich bitte an die Regierung in Hannover.<br />

Noch einen Hinweis erlaube ich mir Ihnen zu geben,<br />

die Sie ja größtenteils aus den neuen Bundesländern<br />

kommen. Was der Bundesminister für Umwelt,<br />

Naturschutz und Reaktorsicherheit gerade für diese<br />

neuen Bundesländer geleistet bzw. eingeleitet hat<br />

— ich denke nur an das Aktionsprogramm Ökologischer<br />

Aufbau — , erreicht Größenordnungen, von denen<br />

wir, die sich bereits vor der Wende für Umwelt<br />

und Natur einsetzten, nur träumen konnten.<br />

Ich empfehle Ihnen, unterstützen Sie diesen umfangreichen<br />

Maßnahmenkatalog durch angemessene<br />

Mitarbeit, dann leisten sie einen wirklich sinnvollen<br />

Beitrag zur ökologischen Sanierung und zum Schutz<br />

der Umwelt.<br />

Dr. Jürgen Starnick (FDP): Der Bundesumweltmini<br />

ster hat erneut in einem die Kernenergie betreffenden<br />

Sachverhalt eine bundesaufsichtliche Weisung erlassen<br />

müssen, weil das Land Niedersachsen den Transport<br />

von Abfällen nach Gorleben abgelehnt hat. Diese<br />

Weisung war rechtmäßig, weil nach zutreffender Auffassung<br />

des Bundesumweltministeriums die Voraussetzungen<br />

für den Transport und die Einlagerung der<br />

deutschen radioaktiven Abfälle, die aus dem belgischen<br />

Mol wieder zurück nach Deutschland kommen,<br />

rechtmäßig sind.<br />

Es geht um deutsche Abfälle, die als Altlasten des<br />

Transnuklearskandals hinreichend bekannt sind. Wie<br />

auch die Arbeit des Transnuklear-Untersuchungsausschusses<br />

im Deutschen <strong>Bundestag</strong> gezeigt hat, ist dieser<br />

Hanauer Nuklearskandal im einzelnen aufgearbeitet<br />

worden. Das trifft für den Deutschen <strong>Bundestag</strong>,<br />

aber auch für die Bundesregierung zu, die umfassende<br />

Konsequenzen gezogen hat — wie Entflechtung<br />

der deutschen Nuklearindustrie. Zur Lösung der<br />

Probleme, die aus diesem Skandal entstanden sind,<br />

gehört auch die Rücknahme deutscher radioaktiver<br />

Abfälle, die seinerzeit nach Belgien gelangt sind und<br />

von dort auch wieder in das Ursprungsland zurückkehren<br />

müssen. Der Grundsatz, daß Abfälle möglichst<br />

dort entsorgt werden, wo sie entstanden sind, gilt auch<br />

für die Bundesrepublik Deutschland gegenüber anderen<br />

Staaten.<br />

Für die Behauptung Niedersachsens, daß der lükkenlose<br />

Nachweis dafür, daß die Abfälle nicht aus<br />

Deutschland stammen, nicht erbracht sei, gibt es<br />

keine ernst zu nehmenden Hinweise. Der TÜV-Bericht<br />

verweist vielmehr ausdrücklich darauf, daß diese<br />

Abfälle kundenspezifisch in Mol gelagert wurden und<br />

ihre Sortierung getrennt erfolgte.<br />

Da die BRD für die deutschen Abfälle die volle Verantwortung<br />

trägt, erwarte ich von dem Bundesland<br />

Niedersachsen, daß es nicht nur, wie jetzt geschehen,<br />

der Weisung des Bundesumweltministers zur Aufhebung<br />

des Einlagerungsstopps für die radioaktiven Abfälle<br />

aus Mol folgt, sondern daß auch künftig die Landesregierung<br />

Niedersachsens den ihr nach Recht und<br />

Gesetz obliegenden Verpflichtungen insoweit nachkommt.<br />

Erneut drängt sich der Eindruck auf, daß hinter dem<br />

hier ausgetragenen Streit zwischen der Bundesregierung<br />

und der niedersächsischen Landesregierung das<br />

Kernproblem der unterschiedlichen Auffassung zum<br />

Einsatz der Kernenergie steht. Abermals agiert dabei<br />

eine rot-grüne Koalition etwas abseits der Rechtsstaatlichkeit.<br />

Ausstieg aus der Kernenergie rechtfertigt<br />

nicht jedes Mittel. Jedenfalls ist es rechtsstaatlich


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2697*<br />

äußerst bedenklich, wenn sich Frau Griefahn wie folgt<br />

einläßt: „Außerdem sei es (verdeckt) geboten, politische<br />

und juristische Schritte in einem Gleichklang zu<br />

initiieren, um die Erreichung eines bestimmten Zieles<br />

auch im Prozeßwege zu begünstigen. Dies sei z. B. bei<br />

der Prozeßführung dadurch sicherzustellen, daß in<br />

dem zulässigen Maße und in dem gebotenen Umfang<br />

das Ministerium mit Bürgerinitiativen und Nachbarn<br />

zusammenarbeite. "<br />

Unabhängig davon, ob man die weitere Nutzung<br />

der Kernenergie mittel- und langfristig bejaht oder<br />

einen Ausstieg fordert, so steht jedenfalls fest, daß für<br />

die schon vorhandenen radioaktiven Abfälle eine<br />

möglichst sichere Entsorgung vorgenommen werden<br />

muß. Ich habe kein Verständnis für diese letztlich<br />

nicht rechtlich, sondern politisch motivierte Weigerung<br />

Niedersachsens, diese Abfälle abzulagern. Ich<br />

appelliere an die Landesregierung von Niedersachsen,<br />

auch in Fragen des Atom- und Strahlenschutzrechts<br />

zu rechtsstaatlichem Verhalten zurückzukehren.<br />

Wir brauchen einen Energiekonsens, der die nukleare<br />

Entsorgung einschließt.<br />

Ich fordere deshalb Bund und Länder auf, alles zu<br />

unternehmen, um wieder zu einem Grundkonsens in<br />

Energie- und auch Kernenergieentsorgungsfragen zu<br />

kommen. Die Zukunft des Industriestandorts BRD<br />

hängt entscheidend davon ab, ob wir neben der Versorgungsinfrastruktur<br />

über eine modernsten Anforderungen<br />

entsprechende Entsorgungsinfrastruktur<br />

— und zwar für alle Arten von Abfällen — verfügen.<br />

Jedenfalls sollte die Bundesrepublik Deutschland ihre<br />

eigenen Entsorgungsprobleme nicht auf dem Rücken<br />

anderer Staaten austragen, sondern für ihre Abfälle,<br />

einschließlich der radioaktiven Abfälle, die Verantwortung<br />

selbst übernehmen.<br />

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na<br />

turschutz und Reaktorsicherheit: Mit ihrer Untersagungsverfügung<br />

vom 14. Juni 1991, für die es einer<br />

Weisung des Niedersächsischen Umweltministeriums<br />

an das Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg bedurfte, hat<br />

die Niedersächsische Landesregierung eindeutig<br />

rechtswidrig gehandelt. Es war daher meine mir durch<br />

Verfassung zugewiesene Pflicht, nachdem sich das<br />

Land weigerte, die rechtswidrige Verfügung aufzuheben,<br />

durch eine bundesaufsichtliche Weisung den<br />

rechtgemäßen Zustand wiederherzustellen.<br />

Offenkundig hat die Landesregierung versucht, mit<br />

dem Mittel des Rechtsbruchs ihre Koalitionsabsprache<br />

durchzusetzen. Die rechtlichen Argumente waren<br />

so fadenscheinig, daß dieses Spiel für jedermann, der<br />

-<br />

sich damit etwas näher beschäftigte, durchschaubar<br />

war.<br />

Die ausschließlich polemische, unsachliche und mit<br />

keinen Fakten versehene hemmungslose Kritik des<br />

Niedersächsischen Ministerpräsidenten entlarvt ihn<br />

selbst. Wenn ein Verfassungsorgan so handelt, argumentiert<br />

und polemisiert, dann muß man sich nicht<br />

wundern, wenn das Vertrauen vieler Menschen in<br />

unseren Rechtsstaat erschüttert wird. Da wird hemmungslos<br />

mit Unterstellungen gearbeitet, wider besseres<br />

Wissen vorhandene Information abgestritten —<br />

mit einem Wort: Es wird alles getan, um die politische<br />

Entscheidung in Koalitionsvereinbarung und Regie<br />

rungserklärung auch am bestehenden Recht vorbei<br />

durchzusetzen.<br />

Wie sind die Fakten?<br />

Die Herkunft dieser Abfälle ist durch ein TÜV-Gutachten<br />

und durch die Arbeiten der deutsch-belgischen<br />

Experten-Kommission eindeutig nachgewiesen.<br />

Die Genehmigungslage für das Faßlager und die<br />

Beförderung ist eindeutig. Die Genehmigungsvoraussetzungen<br />

sind gegeben. Die Erfüllung der Einlagerungsbedingungen<br />

ist nach Qualität und Umfang der<br />

Abfälle in einem von Bund und Land einvernehmlich<br />

festgelegten Prüfverfahren für diese Abfälle eindeutig<br />

nachgewiesen worden.<br />

Die Niedersächsische Landesregierung ist bei diesem<br />

Vorgang ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden:<br />

— Sie hat eine rechtswidrige Weisung erlassen in dem<br />

klaren Bewußtsein, daß die Bundesaufsicht weisen<br />

wird. Sie hat diese Weisung provoziert, um sich selbst<br />

aus der Verantwortung zu stehlen und ihre politische<br />

Vorabentscheidung zu bestätigen. Sie sollte sich nicht<br />

der Hoffnung hingeben, daß die Öffentlichkeit dies<br />

nicht durchschaut.<br />

Ich fordere die Niedersächsische Landesregierung<br />

auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden.<br />

— Wenn die Landesregierung künftig Abfälle deutscher<br />

Herkunft aus Belgien nicht abnehmen will, heißt<br />

dies nichts anderes als endgültiger Export deutschen<br />

radioaktiven Abfalls. Mit anderen Worten: Die Niedersächsische<br />

Landesregierung will deutschen radioaktiven<br />

Abfall im Ausland endlagern. Dies ist nicht<br />

hinnehmbar. Dies wäre eine Europäisierung der Abfallpolitik<br />

— nicht das, was wir verantwortungsvoll<br />

tun.<br />

— Ich bin mit der Transnuklear-Affäre konfrontiert<br />

worden. Ich habe gehandelt, um diese Affäre aufzuklären<br />

und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.<br />

Dies waren tiefe Schnitte. Wir haben Transnuklear<br />

und NUKEM Genehmigungen entzogen. Wir hab<br />

en die westdeutsche Nuklearwirtschaft entflochten.<br />

Wir haben das Schienenkonzept für den Transport<br />

radioaktiven Mate rials mit der Bahn durchgesetzt. Wir<br />

haben eine Abfallkontrollrichtlinie — gemeinsam mit<br />

den Ländern — erlassen, um jederzeit eine lückenlose<br />

Kontrolle auch der schwach- und mittelaktiven Abfälle<br />

zu haben. Und wir haben gemeinsam mit Belgien<br />

eine deutsch-belgische Expertenkommission unter<br />

Beteiligung der Länder — stellvertretend waren dies<br />

Hessen und Nordrhein-Westfalen — eingesetzt, um<br />

die Abfälle in Mol den Abfallverursachern zuzuordnen.<br />

Der 2. Untersuchungsausschuß des Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>es hat in der letzten Legislaturperiode die<br />

Richtigkeit und Konsequenz meiner Maßnahmen bestätigt.<br />

Die Länder waren hierüber stets voll informiert.<br />

Ihnen war bekannt, daß die Abfälle in die Bundesrepublik<br />

Deutschland zurückgenommen werden<br />

würden. Noch vor wenigen Wochen hat die Niedersächsische<br />

Landesregierung gegenüber Baden-Württemberg<br />

schriftlich bestätigt, daß flüssige Abfälle aus<br />

Mol, die im Kernforschungszentrum Mol konditioniert<br />

wurden im Faßlager Gorleben zwischengelagert wer-


2698* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

den dürfen. Heute will sie sich ihrer Verantwortung<br />

entziehen.<br />

Vor diesem Hintergrund ist es schon bezeichnend,<br />

daß der Antrag für die Aktuelle Stunde von der PDS<br />

und nicht von der SPD gestellt worden ist.<br />

Wie immer man zu Fragen der friedlichen Nutzung<br />

der Kernenergie stehen mag: Das Problem der Entsorgung<br />

radioaktiver Abfälle aus unseren Anlagen ist zu<br />

lösen. Dies ist unser gesetzlicher Auftrag, nicht nur<br />

des Bundes, sondern auch der Länder. Hierzu gehört<br />

auch die Lösung der Entsorgung des deutschen Verursachern<br />

zuzuordnenden Abfalls aus Mol. Ich werde<br />

die Niedersächsische Landesregierung aus ihrer<br />

Pflicht nicht entlassen und, wenn es sein muß, auch<br />

künftig durch bundesaufsichtliche Weisung zu deren<br />

Erfüllung anhalten.<br />

Ich fordere die Niedersächsische Landesregierung<br />

auf, endlich das Recht über die Koalitionsvereinbarung<br />

zu setzen und ihren verantwortungslosen Umgang<br />

mit rechtsstaatlichen Grundsätzen aufzugeben.<br />

Wir müssen einen politischen Konsens in der Entsorgungsfrage<br />

finden. Der Staatssekretärs-Ausschuß,<br />

der hierzu auf Initiative der Bundesregierung und<br />

Nordrhein-Westfalens eingesetzt worden ist und bereits<br />

gute Arbeit geleistet hat, ist hierfür der richtige<br />

Weg. Auf diesem Weg sollten wir fortfahren.<br />

Anlage 6<br />

Zu Protokoll gegebene Reden<br />

zu Tagesordnungspunkt 9 — Antrag betr. Fristver<br />

längerung zur Antragstellung auf Aufhebung von<br />

Zwangsadoptionen —<br />

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie<br />

und Senioren: Die jüngst aufgefundenen Akten über<br />

Zwangsadoptionen sowie erste öffentliche Stellungnahmen<br />

von Betroffenen haben ein erschütterndes<br />

Kapitel der Unmenschlichkeit der SED-Herrschaft in<br />

der ehemaligen DDR offenbart. Das ganze menschliche<br />

und rechtliche Ausmaß dieser Adoptionspraxis,<br />

die zwangsweise vollständige Familien auseinander<br />

gerissen hat, läßt sich noch nicht übersehen. Der demokratische<br />

Rechtsstaat, wir politisch Verantwortlichen<br />

dürfen und wollen über diese Mißachtung der<br />

Menschenwürde und insbesondere des Elternrechts<br />

nicht hinweggehen.<br />

-<br />

Dieser tiefe Eingriff in die natürlichen Rechte der<br />

Familie, in das Zusammenleben von Eltern mit ihren<br />

Kindern drängt mich als Familienministerin, mitzuhelfen,<br />

daß das bittere Unrecht wiedergutgemacht<br />

werden kann. Wir müssen hierbei allen Beteiligten<br />

gerecht werden: den Eltern, die ihre Kinder verloren<br />

haben, den Kindern, die zwangsvermittelt wurden,<br />

und den die Kinder annehmenden Eltern. In vielen<br />

Fällen sind die Beteiligten auch die Opfer.<br />

Gemäß dem Einigungsvertrag kann die Aufhebung<br />

der Adoptionen ohne die sonst erforderliche Einwilligung<br />

der Beteiligten innerhalb eines Jahres, also bis<br />

zum 2. Oktober 1991, beantragt werden. Nach dem,<br />

was wir bisher wissen, wird diese Einjahresfrist in der<br />

Regel nicht einzuhalten sein. Denn es hängt nicht nur<br />

von dem Willen der Betroffenen ab, eine Änderung<br />

anzustreben; vielmehr fehlt es häufig an den tatsächlichen<br />

Voraussetzungen.<br />

Zum einen müssen wir in jedem Einzelfall prüfen,<br />

ob tatsächlich eine unrechtmäßige Zwangsadoption<br />

vorliegt oder ob — angesichts der vorgefundenen sozialen<br />

und familiären Verhältnisse — auch bundesdeutsches<br />

Recht dem Verbleib des Kindes bei seinen<br />

leiblichen Eltern widersprochen hätte. Zugleich muß<br />

mit Eltern gerechnet werden, die im nachhinein bedauern,<br />

früher einer Adoption zugestimmt zu haben,<br />

jetzt also die Gunst der Stunde nutzen wollen, um<br />

ihren Schritt rückgängig zu machen.<br />

Die Überprüfung jedes beantragten Einzelfalls muß<br />

unser Ziel sein, nicht etwa die generelle Aufhebung<br />

aller, auch der in unserem Sinne rechtmäßigen Adoptionen.<br />

Daher dürfen den wirklich Betroffenen keine<br />

bürokratisch unüberwindbaren Hürden auferlegt<br />

werden. Dazu gehören die F rist des 2. Oktober und<br />

auch die Vorgabe, wonach Anträge nur vom jeweils<br />

zuständigen Vormundschaftsgericht entgegengenommen<br />

werden. Es wird also entscheidend auf die<br />

Mithilfe der Jugendämter ankommen. Hier jedoch<br />

sind möglicherweise noch Angestellte tätig, die an<br />

Zwangsadoptionen selbst mitgewirkt haben. Außerdem<br />

ist nicht sicher, ob die Vormundschaftsgerichte<br />

schon wieder vollständig und funktionstüchtig eingerichtet<br />

sind.<br />

Um den gesamten Problemkreis einmal umfassend<br />

und gründlich aufzuarbeiten, werde ich im Spätsommer<br />

hierzu eine Fachkonferenz in Ber lin mit Vertretern<br />

der Bundes- und Landesro essrts sowie mit Experten<br />

aus der Wissenschaft und den Fachorganisationen<br />

durchführen. Die Tagung mit einem begrenzten Teilnehmerkreis<br />

soll dazu dienen, die Probleme transparent<br />

zu machen und — wenn möglich — auch Lösungsmöglichkeiten<br />

aufzuzeigen, die den zuständigen<br />

Behörden und Ge richten eine Hilfe sein können.<br />

Unabhängig davon unterstütze ich intensiv den vorliegenden<br />

Antrag, die F rist des Art. 234 § 13 EGBGB<br />

mindestens zu verlängern, wenn nicht gänzlich aufzuheben.<br />

Unser Bemühen muß darin liegen, eine Brücke zwischen<br />

allen Beteiligten, den leiblichen Eltern, den<br />

Adoptiveltern und den betroffenen Kindern zu schlagen.<br />

Wir werden ihnen allen Gerechtigkeit nur widerfahren<br />

lassen können, wenn wir die bekanntgewordenen<br />

Fälle und die, die noch bekannt werden können,<br />

äußerst behutsam behandeln. Hier sind Familien in<br />

ihren existentiellen Rechten betroffen. Wir müssen<br />

ihnen als Staat — hier stehen wir in der Verpflichtung<br />

unseres Grundgesetzes — Genugtuung verschaffen<br />

und ihnen zu ihrem Recht verhelfen.<br />

Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Wenn sich heute<br />

der Deutsche <strong>Bundestag</strong> mit dem Thema der Zwangsadoption<br />

in der ehemaligen DDR beschäftigen muß,<br />

dann zeigt das deutlich, wie notwendig es ist, die Aufarbeitung<br />

von 40 Jahren DDR zu forcieren.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2699*<br />

Der Unrechtsstaat legte alle Dokumente seines<br />

Handelns zu den Akten: vom Schießbefehl bis zu den<br />

Stasi-Akten.<br />

In einem dunklen Keller des Bezirksamtes Berlin<br />

Mitte fand sich penibel niedergeschrieben wieder,<br />

was das DDR-Ministerium für Volksbildung einst als<br />

real-sozialistische Jugendhilfe diktiert hatte: die Geschichte<br />

der Zwangsadoption. Kinder, deren Eltern<br />

Fluchtversuche unternommen hatten, wurden in<br />

Heime gesteckt, die schließlich neue, regimetreue Eltern<br />

zuwiesen. Das ist real existierender Sozialismus,<br />

wo die Partei der Garant für die Kinder ist.<br />

Heute ist es amtlich, was für Garanten das waren:<br />

Kidnapper, die den Eltern wegen Republikflucht die<br />

leiblichen Kinder wegnahmen. Zwangsadoptionen<br />

nannten die Genossen den kriminellen Kinderklau,<br />

exakt von den Nazis übernommen. Und das Schlimmste:<br />

Es ist nicht auszuschließen, daß die Täter heute in<br />

den Talkshows, in den Ämtern oder sogar im <strong>Bundestag</strong><br />

sitzen.<br />

Bekannt ist dieses Problem schon seit langem. Der<br />

vom schwarzen Kanal und seinem Macher gehaßte<br />

und oft zitierte Gerd Löwenthal wurde in seinem<br />

„ZDF-Magazin" nicht müde, dieses Verbrechen anzuprangern.<br />

Doch das schien den Honecker Tourismus<br />

von Bonner Politikern aller Coleur zu stören.<br />

Der Einigungsvertrag erlaubt die Stellung von Anträgen<br />

auf Aufhebung solcher Adoptionen, aber nur<br />

bis 1 Jahr nach der Wiedervereinigung. Diese F rist ist<br />

gewählt worden, um möglichst schnell auf diesem<br />

höchst sensiblen Gebiet Rechtssicherheit zu schaffen.<br />

Das Wohl des Kindes fordert eine kurzfristige Klärung<br />

seiner künftigen persönlichen Bindungen.<br />

Das Problem ist schwieriger, als zuerst angenommen:<br />

Erstens. Da gab es neben der Zwangsadoption den<br />

Zwangsentzug des Sorgerechts, der bei Republikflucht<br />

oder bei versuchter Republikflucht relativ an<br />

der Tagesordnung war.<br />

Zweitens. Wieviel Fälle von Zwangsadoption es<br />

gab, kann heute niemand sagen. Die Recherchen sind<br />

schwierig angesichts unvollständiger oder gefälschter<br />

Akten.<br />

Drittens. Ein weiterer schlimmer Fakt sind die<br />

Adoptiveltern selbst. Sicher waren es Regimetreue,<br />

aber es waren Eltern ohne Kinder. Wer Eltern kennt,<br />

die von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind,<br />

weiß, welche psychologischen Krisen sie durchleben.<br />

Oft ist dann die Adoption die letzte Möglichkeit, ein<br />

Kind in der Familie zu erziehen.<br />

-<br />

Doch darf dieses Problem nicht im Rahmen stehen<br />

bleiben. Der Rechtsstaat würde dadurch schreiendes<br />

Unrecht des SED-Regimes im nachhinein anerkennen.<br />

Die Eltern brauchen Zeit für die Suche, und für das<br />

vernünftige Überlegen, was für sie und was für das<br />

Kind die richtige Entscheidung ist. Die Justiz braucht<br />

Zeit, um die Akten aufzuarbeiten.<br />

Bisher waren nur wenige Fälle bekannt. So wurden<br />

in den 70er Jahren einige echte Fälle mit dem Berliner<br />

Rechtsanwalt Vogel gelöst. In der letzten Zeit wurden<br />

nur wenig neue Zwangsadoptionen festgestellt. Der<br />

jüngste Aktenfund in einem Bezirksamt von Berlin<br />

läßt heute die Frage nach der Zahl der Fälle offen.<br />

Die Justiz braucht vor allem Zeit, weil nicht garantiert<br />

werden kann, daß der Antrag auf Überprüfung<br />

einer Adoption fristgemäß beim zuständigen Gericht,<br />

d. h. am Wohnsitz der Annehmenden gestellt wird.<br />

Die Personenstandsbücher beim Vormundschaftsgericht<br />

sind nicht da, unvollständig oder falsch, und der<br />

momentane Stand der Arbeitsfähigkeit der Ge richte<br />

ist hinlänglich bekannt.<br />

Die Frist muß verlängert werden, das ist die im<br />

Raum stehende Forderung und der Inhalt des Antrages.<br />

Um wieviel, das muß der <strong>Bundestag</strong> beurteilen.<br />

Dabei stehen die betroffenen Kinder in der Mitte, weil<br />

die Menge des menschlichen Leids durch eine unsichere<br />

Lage nicht besser wird.<br />

Gleichzeitig fordere ich aber hier eine strafrechtliche<br />

Aufarbeitung. Voran für Frau Honecker, die mit<br />

freundlichem Lächeln diese grausamen Anweisungen<br />

gab.<br />

Aber auch die Vollstreckung ist auf ihre juristische<br />

Legitimität zu prüfen. Es ist meiner Meinung nach<br />

nicht einzusehen, daß es nach DDR-Recht zulässig<br />

war, etwa aus einer Republikflucht zu schließen, daß<br />

Eltern nicht in der Lage seien, ihre Kinder zu erziehen.<br />

Deshalb müssen auch die Vollstrecker solcher<br />

Zwangsadoptionen mit zu den Verantwortlichen dieses<br />

Unrechts gezählt werden.<br />

Dr. Eckhart Pick (SPD): Die Öffentlichkeit ist zu<br />

Recht empört über die in der ehemaligen DDR von<br />

Staats wegen praktizierten Zwangsadoptionen, wobei<br />

„Adoption" ein verharmlosender Ausdruck ist.<br />

Zwangsadoption ist nämlich untrennbar verbunden<br />

mit der Zerstörung einer natürlichen Eltern-Kind-Beziehung<br />

durch einen Unrechtsspruch des Staates. Der<br />

Staat hat sich damit angemaßt, Familienbeziehungen<br />

einerseits aufzuheben und andererseits neue zu begründen.<br />

Als ob es im Belieben der Obrigkeit läge,<br />

darüber zu entscheiden.<br />

Wir sind uns einig in der Bewertung dieser Vorgänge,<br />

die zwangsweise Aufhebung von Familienbeziehungen<br />

aus politischen Gründen war unmenschlich<br />

und widersprach dem (Völker-)Recht. Sie sind<br />

und waren das unfreiwillige Eingeständnis eines Unrechtsstaates,<br />

daß man mit dem Problem des Widerstands<br />

und der Flucht aus diesem Staat nicht mit<br />

rechtsstaatlichen Mitteln, geschweige Toleranz, fertig<br />

wurde.<br />

Nach unserem Verständnis ist Adoption die freiwillige<br />

Begründung eines Eltern-Kind-Verhältnisses, es<br />

entspringt dem freien Willen der Beteiligten und hat<br />

dann dieselben Konsequenzen wie das natürliche<br />

Eltern-Kind-Verhältnis.<br />

Der Einigungsvertrag hat in seinem Art. 234 einerseits<br />

das bundesdeutsche Recht der Adoption, so wie<br />

es das Bürgerliche Gesetzbuch enthält, grundsätzlich<br />

eingeführt.<br />

Er hat zweitens das bisherige Adoptionsrecht des<br />

Familiengesetzbuchs der DDR und die auf seiner<br />

Grundlage erfolgten Adoptionen anerkannt. Für sie


2700* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

gelten jetzt ebenfalls die Regeln des Adoptionsrechts<br />

im BGB.<br />

Andererseits hat der Einigungsvertrag die Problematik<br />

von Adoptionen ohne Zustimmung der Betroffenen<br />

und auch ausgesprochene Zwangsadoptionen<br />

im Blick gehabt. Wir müssen deshalb sehr unterschiedlich<br />

gelagerte Fälle unterscheiden.<br />

Einige Fälle weisen darauf hin, daß das Erziehungsrecht<br />

wegen angeblicher „Asozialität" entzogen<br />

wurde. In solchen Fällen wurde den Eltern, weil sie<br />

z. B. ihre Pflicht zur Arbeit verletzten, während der<br />

Haftzeit das Erziehungsrecht entzogen. Im übrigen<br />

kann der Entzug des Erziehungsrechts auf ein Versagen<br />

der Eltern (z. B. mangelnde Versorgung, Kindesmißhandlung)<br />

zurückzuführen sein.<br />

Der Antrag der Koalition meint offenbar diese Fälle<br />

nicht, denn er spricht in der Überschrift von Zwangsadoptionen.<br />

Er ist allerdings im Antragstext nicht präzise<br />

genug, denn es geht ja wohl um politisch motivierte<br />

Zwangsadoptionen. In § 13 sind aber Tatbestände<br />

mit unterschiedlichem Fristverlauf aufgeführt.<br />

Ich gehe davon aus, daß hier der Fall des § 13 Abs. 5<br />

gemeint ist, in dem Eltern das Erziehungsrecht entzogen<br />

war. Hier kann das Annahmeverhältnis auf Antrag<br />

eines Elternteils innerhalb eines Jahres aufgehoben<br />

werden.<br />

Trotz aller Empörung über das auch in dieser Hinsicht<br />

begangene staatliche Unrecht formuliert der Einigungsvertrag<br />

eine differenzierte Lösung. Er knüpft<br />

zum einen die Wiedergutmachung an eine einjährige<br />

Ausschlußfrist, mit der Erwägung, daß baldmöglichst<br />

eine Klärung darüber herbeigeführt werden muß, ob<br />

eine Aufhebung von Zwangsadoptionen erfolgen soll.<br />

Nach Ablauf der Jahresfrist soll ein für allemal klar<br />

sein, ob solche Adoptionen Bestand haben sollen oder<br />

nicht.<br />

Zum anderen erfolgt auch die Überprüfung von<br />

Zwangsadoptionen auf Antrag durch das Vormundschaftsgericht<br />

im Einzelfall, bei dem gerichtlich überprüft<br />

wird, ob eine Rückgängigmachung der Adoption<br />

vertretbar ist. Entscheidend ist dabei das Wohl des<br />

Kindes. Dieses Kriterium kann auch bedeuten, daß<br />

eine Zwangsadoption im Einzelfall nicht rückgängig<br />

gemacht wird, weil innerhalb von 15 oder mehr Jahren<br />

zwischen den Kindern und den Adoptiveltern eine<br />

schützenswerte und vorrangige Eltern-Kind-Beziehung<br />

entstanden ist. D. h. in jedem Fall muß das Gericht<br />

das Kindeswohl in den Vordergrund stellen und<br />

eine Abwägung treffen. Also keine Automatik. Früheres<br />

Unrecht kann nicht durch neues Unrecht kompensiert<br />

werden, so schmerzlich dies im Einzelfall sein<br />

kann. Es wird im übrigen sehr stark davon - abhängen,<br />

wie sich die Kinder in der neuen Situation verhalten.<br />

Noch ein Gesichtspunkt verdient eine entsprechende<br />

Beachtung. In der Mehrzahl der Fälle geht es<br />

den Eltern auch um die eigene Rehabilitierung und<br />

darum, Kontakt zu den Kindern herzustellen. Dafür<br />

spricht, daß Aufhebungsanträge von den Eltern bisher<br />

nicht gestellt wurden. In diesem sensiblen Bereich ist<br />

es auch angezeigt, auf eine außergerichtliche Klärung<br />

hinzuwirken. In solchen Fällen könnte eine Verlängerung<br />

der Antragsfrist sinnvoll sein.<br />

Wir würden einer Änderung der Antragsfrist zunächst<br />

eine intensive Aufklärung durch die Bundesre<br />

gierung und die zuständigen Behörden vorziehen. Es<br />

sollten alle diejenigen auf den Ablauf der F rist hingewiesen<br />

werden, die davon betroffen sein können. Die<br />

Zahl der Fälle ist nicht bekannt. Es sind nicht viele.<br />

Aber ich glaube, daß diejenigen, die von der Zwangsadoption<br />

betroffen sind und diese rückgängig machen<br />

wollen, schon jetzt nicht ruhen werden, bis darüber<br />

entschieden ist.<br />

Eine Aufhebung der Antragsfrist ist für uns aus<br />

Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens<br />

nicht zu verantworten. Auch eine Fristverlängerung<br />

bedarf sorgfältiger Abwägung. Der Gegenbeweis,<br />

daß eine Verlängerung erforderlich ist, wäre noch zu<br />

führen.<br />

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Ein<br />

dunkles Kapitel in der Familienpolitik der ehemaligen<br />

DDR zwingt uns zu der heutigen Beratung. Die letzten<br />

Wochen haben es auf Grund einer ausführlichen Berichterstattung<br />

in den Medien an die Öffentlichkeit<br />

gebracht; Eltern wurde das Erziehungsrecht für ihre<br />

Kinder entzogen, und diese wurden dann zur Adoption<br />

freigegeben und von Dritten adoptiert. Nach den<br />

bisher bekanntgewordenen Fällen lag der Entziehung<br />

des Erziehungsrechts aber nicht das Wohl des Kindes<br />

zugrunde, sondern ausschlaggebend soll in einer derzeit<br />

noch nicht zu überblickenden Anzahl von Fällen<br />

politisch unerwünschtes und mißliebiges Verhalten<br />

der Eltern gewesen sein.<br />

Was das alles umfassen konnte und wie weit dies je<br />

nach Gutdünken und Absicht ausgelegt werden<br />

konnte, wird uns fast täglich im Zusammenhang mit<br />

der Beschäftigung mit Rehabilitierungsfragen und der<br />

Aufarbeitung der Stasi-Altlasten vor Augen geführt.<br />

Von politisch kritischen bzw. unerwünschten Äußerungen<br />

bis zu Fluchtversuchen waren diese Handlungen<br />

und Verzweiflungstaten anscheinend Anlaß genug,<br />

Eltern das Erziehungsrecht wegzunehmen und<br />

mit dem vorgeschobenen perfiden Argument, dies geschehe<br />

zum Wohl des Kindes, eine Adoption zu vermitteln.<br />

Der Verdacht solcher politisch motivierter Zwangsadoptionen<br />

erhärtert sich immer mehr. Die beim Berliner<br />

Senator für Jugend eingerichtete Clearingstelle<br />

zur Aufklärung von Einzelschicksalen arbeitet auf<br />

Hochtouren: Rund 50 Anfragen von Eltern und Kin<br />

dern sind bisher eingegangen, in möglicherweise<br />

sechs Fällen liegt dringender Verdacht auf Zwangsadoption<br />

vor.<br />

Ohne wahrscheinlich diese das Wohl des Kindes<br />

und das Recht der Eltern mißachtenden Praktiken in<br />

vollem Umfang zu kennen bzw. kennen zu können,<br />

sind im Einigungsvertrag gleichwohl vorausschauend<br />

Regelungen getroffen worden, die die Möglichkeit<br />

eröffnen, die Adoptionen gerichtlich überprüfen zu<br />

lassen. Maßstab der Überprüfung ist das bisher in den<br />

alten Bundesländern und seit dem 3. Oktober auch in<br />

den neuen Bundesländern geltende BGB. Zuständig<br />

für die Entscheidung ist jeweils das örtliche Vormundschaftsgericht.<br />

Nach dem Einigungsvertrag läuft die Frist zur Stellung<br />

eines Antrags auf Aufhebung der Adoption am<br />

2. Oktober 1991 — also ein Jahr nach der deutschen<br />

Einheit — ab. Inzwischen ist deutlich geworden, daß<br />

auf Grund der sehr unübersichtlichen Aktenlage, des


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2701*<br />

Nichtauffindens von Personenstandsbüchern, der erst<br />

im Aufbau sich befindenden Gerichte und damit der<br />

Schwierigkeiten, das zuständige Gericht zu finden,<br />

diese Frist nicht ausreicht. Um jegliche Rechtsunsicherheiten<br />

zu vermeiden, ist deshalb diese Frist auf<br />

mindestens drei Jahre zu verlängern.<br />

Dies ist die nüchterne rechtliche Betrachtungsweise.<br />

Viel schwerer wiegen die großen menschlichen<br />

Probleme. Durch die Zwangsadoptionen ist zwischen<br />

adoptiertem Kind und der annehmenden Familie eine<br />

über viele Jahre gewachsene Familienbindung entstanden,<br />

eine Eingewöhnung in das neue soziale Umfeld<br />

erfolgt und damit auch eine subjektive Identifikation<br />

mit den Adoptiveltern. Die Bindung zu den leiblichen<br />

Eltern ist sehr locker geworden, wenn nicht<br />

sogar in vielen Fällen abhängig vom Zeitablauf vollkommen<br />

abgerissen. Wunden werden mit einer Überprüfung<br />

wieder neu aufbrechen, im Vordergrund bei<br />

einer Überprüfung eines fehlerhaft begründeten Annahmeverhältnisses<br />

muß das Kindeswohl stehen. Aus<br />

diesen Gründen sollte die Antragsfrist nicht generell<br />

aufgehoben, sondern auf eine angemessene Frist verlängert<br />

werden.<br />

Dieses den leiblichen Eltern und dem Kind zugefügte<br />

Leid, die Zerstörung von Familienbanden und<br />

damit möglicherweise die Zerstörung von Lebensglück<br />

und einer glücklichen, zufriedenen Kindheit<br />

können weder rückgängig noch wiedergutgemacht<br />

werden. An diesem Beispiel offenbart sich die Unmenschlichkeit<br />

des früheren SED-Regimes.<br />

Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Die Aufhebung<br />

von Adoptionen, die unberechtigt, gegen den Willen<br />

der Eltern vorgenommen wurden, berührt sowohl die<br />

Identitiät als auch die elementarsten familiären Bindungen<br />

von Menschen. Wenn es gilt, zugunsten der<br />

Wahrung und Wiederherstellung individueller Identität<br />

und familiärer Bindung von Adoptierten eine Kurzschlüssigkeit<br />

des Einigungsvertrages zu beseitigen,<br />

dann sollten wir das tun und die dort gesetzte Frist<br />

aufheben. Allerdings sollten wir dafür Sorge tragen,<br />

daß die Lösung dieser zutiefst mit menschlichen Konflikten<br />

beladenen Situation für die Betroffenen nicht<br />

zum kaukasischen Kreidekreis wird.<br />

Meiner Ansicht nach ist es notwendig, die Interessen<br />

und Wünsche aller betroffenen Menschen angemessen<br />

zu berücksichtigen:<br />

Erstens sollten die leiblichen Eltern in jedem Fall —<br />

auch wenn sie es bisher versäumt haben, einen solchen<br />

Antrag zu stellen — die Möglichkeit - erhalten,<br />

über den bisherigen Termin hinaus ihre Elternrechte<br />

geltend zu machen.<br />

Zweitens sollten Adoptierte unabhängig von ihrem<br />

Alter nicht als bloße Rechtsobjekte behandelt, sondern<br />

nach ihren Wünschen befragt werden, welcher<br />

Familie sie sich verbunden fühlen und in welcher Familie<br />

sie fortan leben wollen. Es geht mir darum, vor<br />

allem Kinder und Jugendliche, die bei ihren Adoptiveltern<br />

feste soziale Verwurzelungen gefunden haben,<br />

nicht gegen ihren Willen aus diesen Familien herauszulösen<br />

und in tiefste psychische Konflikte zu stürzen.<br />

Drittens sollten die Interessen der Adoptiveltern<br />

nicht außen vor bleiben. Diese ursprünglich kinderlosen<br />

Paare haben in der berechtigten Hoffnung, mit<br />

einem Kind leben zu können, den Antrag auf Annahme<br />

eines Kindes gestellt. Da ihrem Handeln (in<br />

der Regel) zutiefst humanistische Motive zugrunde<br />

liegen und sie keinen Einblick in die soziale Situation<br />

des zu adoptierenden Kindes hatten, müssen ihre Interessen<br />

ohne jegliche Form der Kriminalisierung<br />

ebenso respektiert werden. Sie dürfen jetzt nicht für<br />

ihr humanes Handeln bestraft werden.<br />

Um begründet über diese vielschichtigen Zusammenhänge<br />

urteilen zu können, fordere ich namens<br />

der PDS/Linke Liste von der Bundesregierung zum<br />

schnellstmöglichen Termin einen Be richt über die Anzahl,<br />

die konkreten Ursachen und Umstände der<br />

staatlich vorgenommenen Adoptionen in der ehemaligen<br />

DDR sowie hinsichtlich der vorliegenden Anträge<br />

auf Aufhebung von Adoptionen.<br />

Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi<br />

nister der Justiz: Jeder von uns war erschrocken, als<br />

wir Gewißheit bekamen, daß die SED-Machthaber<br />

selbst vor der persönlichsten Beziehung, die sich denken<br />

läßt, nicht haltgemacht haben: der Eltern-Kind-<br />

Beziehung. Mitte der 70er Jahre erreichten uns Berichte,<br />

daß man politisch mißliebigen Eltern die Kinder<br />

weggenommen hatte. Als Vorwand reichte aus,<br />

daß die Eltern die DDR zu verlassen und damit dem<br />

Unrecht zu entkommen suchten. Über die Kinder<br />

wurde bürokratisch entschieden. Sie mußten sich mit<br />

fremden Adoptiveltern abfinden, die sie nicht ausgesucht<br />

hatten und die sie nicht wollten.<br />

Genaueres über diese menschenverachtende Praxis<br />

ließ sich nicht feststellen. Die Verantwortlichen in der<br />

DDR verweigerten jede Auskunft und stellten<br />

Zwangsadoptionen entrüstet in Abrede. Selbst die<br />

Machthaber der SED hatten ein schlechtes Gewissen.<br />

Wir haben diesen Beteuerungen niemals geglaubt<br />

und deshalb in den Einigungsvertrag eine Regelung<br />

der Zwangsadoption aufgenommen. Jetzt sind neue<br />

Fälle ans Licht gekommen. Leider machen wir überall<br />

die gleiche traurige Erfahrung: Das ganze Ausmaß<br />

des Unrechts wird erst jetzt offenbar. Unsere Befürchtungen<br />

werden durch die Wirklichkeit regelmäßig<br />

noch übertroffen.<br />

Es ist deshalb gar keine Frage, daß wir die Jahresfrist<br />

des Einigungsvertrages verlängern müssen. Im<br />

Bundesministerium der Justiz liegt bereits ein ausformulierter<br />

Gesetzesvorschlag vor, den ich in den nächsten<br />

Tagen in der Koalition abstimmen werde. Der<br />

Entwurf schlägt vor, die Antragsfrist des Einigungsvertrages<br />

um zwei auf drei Jahre zu verlängern. Diese<br />

Verlängerung gibt den Eltern genügend Zeit.<br />

Eine generelle Aufhebung der Frist würde nicht nur<br />

über dieses Ziel hinausschießen. Sie wäre auch mit<br />

den Grundgedanken unseres Adoptionsrechts kaum<br />

zu vereinbaren. Jede Adoption — auch die fehlerhafte,<br />

gegen elementare Elternrechte verstoßende —<br />

begründet ein Eltern-Kind-Verhältnis, das sich im<br />

Laufe der Zeit zur gelebten Familie verdichtet. Diesen<br />

Gegebenheiten trägt das geltende, „normale" Adoptionsrecht<br />

mit einer dreijährigen Ausschlußfrist Rech-


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nung. Sie beginnt mit der Begründung des Adoptionsverhältnisses<br />

und schließt jede spätere Berufung auf<br />

Willensmängel aus.<br />

Eltern, denen die SED ihr Kind weggenommen hat,<br />

können deshalb diese Zwangsadoptionen auch künftig<br />

durch das zuständige Vormundschaftsgericht<br />

überprüfen lassen. Maßstab sind die bewährten Regelungen<br />

des Bürgerlichen Gesetzbuchs.<br />

Entscheidend ist aber der Einzelfall; einen Automatismus<br />

gibt es nicht. Die Adoptionen liegen zum Teil<br />

Jahrzehnte zurück. Die adoptierten Kinder sind inzwischen<br />

erwachsen und es ist durchaus vorstellbar, daß<br />

eine Rückgängigmachung der Adoption neues Leid<br />

schaffen würde, statt altes zu heilen. Entscheidend ist<br />

allein — wie auch sonst in unserem Familienrecht —<br />

das Wohl des Kindes. Es kommt allein darauf an, was<br />

für die betroffenen Kinder am besten ist.<br />

Die Täter — das ist mir ganz wichtig — dürfen nicht<br />

ungeschoren bleiben. Sollten sie sich strafbar gemacht<br />

haben, müssen Ermittlungsverfahren eingeleitet<br />

werden. Die entsprechenden Prüfungen laufen in<br />

den Ländern. Auch bei den Zwangsadoptionen sind<br />

die politischen Machthaber in die konkreten Vorgänge<br />

verwickelt. Die Rolle, die Frau Honecker gespielt<br />

hat, muß genau aufgeklärt werden. Mir wird<br />

immer mehr klar, daß die Regierungskriminalität ein<br />

Schlüssel bei der Bewältigung des SED-Unrechts ist.<br />

Ich weiß sehr wohl, daß es bei der menschlichen<br />

Bewältigung der Zwangsadoptionen noch viele Probleme<br />

geben wird. Wir können sie den Betroffenen<br />

leider nicht abnehmen. Eltern und Kinder können<br />

aber sicher sein, daß ihnen jede Unterstützung und<br />

jede Hilfe gewährt wird, die nur möglich ist.<br />

Anlage 7<br />

Zu Protokoll gegebene Rede<br />

zu Tagesordnungspunkt 11<br />

— Antrag betr. nationale und internationale<br />

Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen<br />

des Golf-Krieges —<br />

Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Der hier vorlie<br />

gende Antrag des Abgeordneten Dr. Feige und der<br />

Gruppe Bündnis 90/GRÜNE zieht in einer Weise Konsequenzen<br />

aus dem Golfkrieg und seinen katastrophalen<br />

Folgen, die diesem Hause, wenn es sich denn<br />

als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger - dieses<br />

Landes begreifen würde, sehr wohl angemessen<br />

wäre. Leider ist zu vermuten — die Redebeiträge aus<br />

der Koalition sowohl zum Krieg selbst wie auch allgemein<br />

zu Fragen von Abrüstung und Frieden und die<br />

heutige Aktuelle Stunde zu den Polizeieinsätzen in<br />

Gorleben gegen Atomkraftgegner und -gegnerinnen<br />

zeigen es — , daß ein Umdenken von dieser Koalition<br />

nicht zu erwarten ist.<br />

Nichtsdestotrotz werden die Abgeordneten der<br />

PDS/LL diesem Antrag zustimmen, um mitzuhelfen,<br />

daß das Bewußtsein für die einzig mögliche Alternative<br />

zu Krieg, Ausbeutung der Dritte-Welt-Länder,<br />

massiver Zerstörung unser aller Lebensgrundlage und<br />

Abbau der sozialen und demokratischen Rechte der<br />

Menschen auch dieses Landes wachsen kann. Diese<br />

einzig mögliche Alternative liegt in der Anerkenntnis<br />

begründet, daß niemand das Recht hat, seine Vorstellungen<br />

und Überzeugungen mit militärischer Gewalt<br />

durchzusetzen, und daß eine Lösung aller Probleme<br />

allein durch solidarisches Handeln erreicht werden<br />

kann. Immer wieder ist auch in diesem Hause die<br />

Rede davon, wie doch die veränderten Bedingungen<br />

in der Welt — gemeint ist damit der Zusammenbruch<br />

der Politbürokratien Osteuropas — auch eine veränderte<br />

Politik dieses Landes ermöglichen. Praktische<br />

Konsequenzen werden nicht gezogen: Der Versuch,<br />

schnelle Eingreiftruppen zu installieren — und ich<br />

frage, wo die eingesetzt werden sollen — , die Weigerung,<br />

sich konstruktiv mit der Forderung sehr vieler<br />

Menschen nach Ausstieg aus der Atomenergie auseinanderzusetzen,<br />

die Plattwalzpolitik in Ostdeutschland<br />

sind deutliche Hinweise darauf, daß die Regierenden<br />

dieses Landes offenbar keine Veranlassung<br />

sehen, etwa einen neuen Ansatz für ihre Politik zu<br />

suchen.<br />

Nun zu dem Antrag: Hier wird — ich hoffe, in auch<br />

für die Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition<br />

verständlicher Form — dargelegt, wie durch<br />

Nachsorgepolitik und völkerrechtliche Vereinbarungen<br />

allein die ökologische Bedrohung der Menschheit<br />

durch Kriege nicht beseitigt werden kann, sondern<br />

daß es um die Beseitigung der Kriegsursachen gehen<br />

muß. Und ich füge hinzu, solange nicht mögliche<br />

Kriegsursachen wie Hunger, Unterdrückung, Machtgier,<br />

aber auch Gewinnsucht und Hegemoniebestrebungen<br />

für immer beseitigt sind, muß es eine Verständigung<br />

darüber geben, daß Krieg eben nicht mehr die<br />

legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln<br />

sein kann. Der Golfkrieg mit all seinen Folgen ist immer<br />

noch das aktuelle Beispiel dafür, wie Milliarden<br />

Mark dafür vernutzt wurden, im Namen der Freiheit<br />

Hunderttausende Menschen zu töten, ein Land in<br />

Schutt und Asche zu legen, Weltkulturgüter zu vernichten<br />

und ökologische Schäden anzurichten, deren<br />

Behebung wiederum Milliarden Mark verschlingen<br />

wird: der vorhersehbare sinnlose Kreislauf, der nur<br />

die Taschen derjenigen füllt, die Kriegsmaterial herstellen,<br />

das ja schließlich „verbraucht" wurde, und die<br />

Leistung derjenigen abzieht, deren Potenz und Kenntnisse<br />

dringend für die Beseitigung von Umweltschäden,<br />

die „nur" durch unsere exzessive Produktionsund<br />

Konsumtionsweise entstehen, gebraucht werden.<br />

Nötig ist hier neben der Hilfe bei der Ölbrandbekämpfung<br />

und anderen umwelttechnischen Maßnahmen<br />

die Lieferung von Hilfsgütern aller Art sowie die Unterstützung<br />

bei der Lösung der langfristigen Probleme<br />

dieser Region. Die gravierendsten Probleme, die der<br />

Krieg zum Teil verschärft — wie die Autonomieforderungen<br />

verschiedener Völkergruppen — oder erst<br />

hervorgerufen hat — wie die mangelhafte Versorgung<br />

mit Wasser und Nahrungsmitteln — können nur<br />

durch internationale Unterstützung der politischen<br />

Forderungen und durch Hilfsprogramme gelöst werden.<br />

Wir teilen die Auffassung, daß völkerrechtliche<br />

Konsequenzen aus diesem Krieg gezogen werden<br />

müssen. Vor allem unterstützen wir die Forderung<br />

nach Einsetzung eines internationalen Untersu-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2703*<br />

chungsausschusses, der sich mit den am Golf eingesetzten<br />

Kriegsführungsmethoden gegen Zivilbevölkerung<br />

und Umwelt auseinandersetzt.<br />

Nun zu den innenpolitischen Folgerungen: Hier legen<br />

wir besonderen Wert auf die Feststellung, daß es<br />

dringend erforderlich ist, gerade in der Energiepo litik<br />

mit dem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie eine<br />

grundsätzliche Wende zu vollziehen und statt auf forcierten<br />

Energieverbrauch auf eine neue Energiepolitik<br />

der Einsparung und der Umstellung auf erneuerbare<br />

Energien zu setzen. Die PDS/LL unterstützt<br />

nachdrücklich die Forderung nach Annulierung des<br />

Stromvertrages der Energieversorgungsunternehmen<br />

Westdeutschlands, der nicht einfach nur die Rechte<br />

der Kommunen in der ehemaligen DDR beseitigt,<br />

sondern auch verhindert, daß dort mit Stadtwerken<br />

ein strukturell effizientes Energiesystem aufgebaut<br />

wird.<br />

Zu den innenpolitisch notwendigen Folgerungen<br />

gehören für die PDS/LL ebenso Konsequenzen für den<br />

Verkehrsbereich: Neben der vorrangigen Vermeidung<br />

von Verkehr kann nur der flächendeckend betriebene<br />

Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und<br />

der generelle Vorrang der Schiene vor der Straße im<br />

Güterverkehr gravierende Verringerungen im Treib<br />

stoffverbrauch und bei den Emissionen erreichen.<br />

Tempo 100 gehört für uns genauso zu den längst überfälligen<br />

Maßnahme wie ein Mineralölabgabengesetz.<br />

Als Mitglied der Völkergemeinschaft ist die BRD<br />

gefordert, sich für eine umfassende Schuldenstreichung<br />

der Länder Afrikas, Asiens, Osteuropas und<br />

Süd- und Lateinamerikas einzusetzen. Dieser Schuldenerlaß<br />

ist die Voraussetzung dafür, daß die betreffenden<br />

Länder überhaupt in der Lage sind, Verhältnisse<br />

zu schaffen, die für alle Menschen sozial und<br />

ökologisch vertretbar sind und z. B. die soziale Klimakatastrophe,<br />

die dort durch Armut droht, verhindern<br />

können.<br />

Ich hoffe, daß die inhaltliche Auseinandersetzung<br />

mit diesem umfangreichen Antrag nicht nur dazu führen<br />

wird, daß umweltpolitische Positionen revidiert<br />

werden, sondern daß auch solche Vorschläge wie die<br />

Befreiung von der Militärsteuer, deren Ablehnung<br />

noch einmal deutlich gemacht hat, wie bestimmte Politiker<br />

und Politikerinnen nicht zum Umdenken bereit<br />

sind, erneut auf die Tagesordnung kommen.<br />

Anlage 8<br />

Zu Protokoll gegebene Rede<br />

zu Tagesordnungspunkt 12 — Antrag betr. Erlassung<br />

der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR —<br />

Klaus Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Die Streichung<br />

von Altschulden Nicaraguas gegenüber der ehemali<br />

gen DDR halten wir aus entwicklungspolitischer Sicht<br />

für berechtigt, ja notwendig. Allerdings darf die Pro<br />

-<br />

blematik von DDR-Schuldnern nicht auf ein Land reduziert<br />

werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung<br />

auf, ein Gesamtkonzept vorzulegen.<br />

Völlig unakzeptabel wäre allerdings eine Lösung,<br />

die zu Lasten des BMZ-Etats ginge.<br />

Einlassungen von Regierungsvertretern, der Erlaß<br />

von Schulden könnte mit erheblichen zusätzlichen<br />

Belastungen des Bundeshaushaltes verbunden sein,<br />

da die Betriebe und Banken ihre Forderungen an Entwicklungsländer<br />

durch eigene Mittelaufnahme refinanziert<br />

haben und diese Mittelaufnahme im Falle<br />

eines Forderungsverzichts abzulösen wäre, gehen an<br />

der Wirklichkeit vorbei. Glaubt jemand im BMF allen<br />

Ernstes, daß wir von den betroffenen Entwicklungsländern<br />

größere Beträge zurückerhalten? Beispiel<br />

Syrien: Die Gesamtschulden belaufen sich auf<br />

650,4 Millionen. Es scheint mir schon ein gewisser<br />

Widerspruch darin zu liegen, wenn man einerseits<br />

Rückzahlungen erwartet, andererseits aber seitens<br />

der Bundesregierung ein neuer Zweihundert-Millionen-Scheck<br />

überreicht wird.<br />

Der Antrag der PDS ist allerdings nicht ohne Ironie.<br />

Es ist für mich überhaupt nicht hinnehmbar, wenn<br />

hier gerade diese Gruppierung, die mit die Verantwortung<br />

für vierzig Jahre Unterdrückung in der ehemaligen<br />

DDR und Unterstützung eines Unterdrükkungssystems<br />

in Nicaragua trägt, nun den Eindruck<br />

demokratischer Glaubwürdigkeit erwecken will.<br />

Erstens. Der demokratische Neuanfang dieses leidgeprüften<br />

Landes darf nicht durch die sandinistische<br />

Erblast zerstört werden. Die Sandinisten hatten zwar<br />

auch von Somoza schon erhebliche Schulden übernommen.<br />

Mit der Welle der Hilfsbereitschaft ab 1979<br />

hätten sie ihr Land aber auf den Weg eines zweiten<br />

Costa Rica bringen können. Statt dessen provozierten<br />

sie Bürgerkrieg, Massenflucht, Zerstörung von Infrastruktur<br />

und Ernährungsbasis. Frau Chamorro erbte<br />

daher einen noch größeren Schuldenberg und eine<br />

völlig zerrüttete Wirtschaft sowie galoppierende Inflation<br />

mit wahrhaft astronomischen Werten.<br />

Derart gefesselt kann der Sprung zur Reform nicht<br />

gelingen.<br />

Zweitens. Die Sandinisten haben tatsächlich alles<br />

vor der Machtübergabe abgeräumt, was beweglich<br />

war. Sie haben sich bis Ap ril 1990 ihre schamlose<br />

Selbstbedienung mit ihrer Mehrheit legalisiert. Die<br />

Parallelen zur DDR, als sie in ihren letzten Zügen lag,<br />

sind unverkennbar.<br />

Drittens. Nicaragua erfüllt zur Zeit alle Voraussetzungen<br />

eines Least Developed Country. Angeblich<br />

verhindert die relativ hohe Alphabetisierungsrate<br />

eine derartige Einstufung. So bedeutend war die Alphabetisierungskampagne<br />

der Sandinisten aber nicht<br />

und vor allem auch nicht nachhaltig. Wir sollten nicht<br />

die Propaganda der Sandinisten glauben und das<br />

neue demokratische Nicaragua dafür büßen lassen.<br />

Die Vereinten Nationen gewähren über ihre Unterorganisationen<br />

dem Land die gleichen Konditionen wie<br />

einem LDC. Es sind auch die VN, die den LDC-Status<br />

zuteilen. Es gibt keinen Grund für uns, bei Nicaragua<br />

vom üblichen Verfahren abzuweichen.


2704* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Anlage 9<br />

Zu Protokoll gegebene Reden<br />

zu Tagesordnungspunkt 13 —<br />

Antrag betr. Aufnahme des grünen Pfeils<br />

in die Straßenverkehrsordnung —<br />

Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Die Diskussion<br />

um den grünen Pfeil, um das Für und Wider dieser<br />

Regelung für das Rechtsabbiegen bei „Rot" an ampelgeregelten<br />

Kreuzungen in der ehemaligen DDR bewegt<br />

inzwischen seit Monaten Bürgerinnen und Bürger<br />

vor allem in den neuen Bundesländern. Sie<br />

schließt den Streit verantwortlicher Politiker, Stellungnahmen<br />

von Verkehrsverbänden und Verkehrsexperten<br />

ein. Es wurden regelrechte Kopfstände vollführt,<br />

der Pfeil demontiert und wieder montiert.<br />

Die letztlich getroffene Kompromißlösung, die<br />

Rechtsabbiegeregelung in den neuen Bundesländern<br />

bis zum 31. Dezember 1991 beizubehalten, sollte sicher<br />

auch den wachsenden Unmut von Bürgern der<br />

ehemaligen DDR dämpfen. Die ja damit eingeschlossene<br />

Liquidierung dieser nützlichen Verkehrsregelung<br />

zum Jahresende sehen viele Menschen in den<br />

neuen Bundesländern als Bestandteil einer Politik,<br />

nach der alles, was nicht in eingefahrene Gleise der<br />

Alt-BRD paßt, auch nichts in der Gesetzgebung zu<br />

suchen hat.<br />

Mit unserem Antrag zur Änderung der Straßenverkehrsordnung<br />

hinsichtlich der Übernahme des grünen<br />

Pfeils soll Bewährtes als eine vernünftige Regelung<br />

in ganz Deutschland gesetzt werden. Wenn ich<br />

entsprechende Meldungen richtig deute, steht ja auch<br />

der Bundesverkehrsminister Günther Krause mit seinen<br />

Erfahrungen als Verkehrsteilnehmer in der ehemaligen<br />

DDR dieser Regelung aufgeschlossen gegenüber.<br />

Wortmeldungen des Berliner Senators Elmar<br />

Pieroth verdeutlichen, daß er auch ohne diese Erfahrungen<br />

für den Pfeil im deutschen Straßenverkehr<br />

ist.<br />

Mit unserem Antrag plädieren wir für Vernunft, für<br />

die Verbesserung des Verkehrsflusses für Fußgänger,<br />

Radfahrer und Kraftfahrer an Kreuzungen. Die Entscheidung,<br />

welche größeren ampelgeregelten Kreuzungen<br />

mit dem Abbiegepfeil für Rechtsabbiegen bei<br />

„Rot" ausgerüstet werden, ist dabei eine rein kommunale<br />

Sache.<br />

Verstopfte Straßen, starke Abgasemissionen, Verkehrschaos<br />

nicht nur zu Spitzenzeiten sind bestimmend<br />

für das Bild in den Städten. Nun ist der „grüne<br />

Pfeil" nicht die Lösung — diese bedarf einer völlig<br />

neuen Verkehrspolitik — , aber ein Mittel für eine gewisse<br />

Entschärfung an stark frequentierten Kreuzungen.<br />

Unübersehbar ist, die in den neuen Bundesländern<br />

anstehenden Verkehrsprobleme wurden und werden<br />

durch die Demontage der grünen Pfeile an den Ampeln<br />

der Kreuzungen für das Rechtsabbiegen bei<br />

„Rot" zusätzlich verschärft. Der grüne Pfeil war wesentliches<br />

Element des fließenden Verkehrs in den<br />

Kreuzungsbereichen. Seine ersatzlose Demontage im<br />

Rahmen der Straßenverkehrsordnung der alten Bundesländer<br />

führt zum Anwachsen und Entstehen von<br />

neuen Staus und belastet dadurch die Luft in den<br />

Städten zusätzlich. Was das Argument zur Verringerung<br />

der Verkehrssicherheit für Fußgänger durch die<br />

Möglichkeit des Rechtsabbiegens bei „Rot" bet rifft, so<br />

war in der früheren DDR nach Einführung dieses<br />

Pfeils keine Unfallzunahme — aus ebendiesen Gründen<br />

— zu verzeichnen.<br />

Alle sachlichen Gründe sprechen für die Aufnahme<br />

des „grünen Pfeils" in die Straßenverkehrsordnung<br />

der BRD. Dagegen spricht nur die Nichtakzeptanz der<br />

Übernahme früheren DDR-Rechts in die Gesetze der<br />

BRD.<br />

Eduard Oswald (CDU/CSU): Unser gemeinsames<br />

Ziel muß die Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer<br />

auf und an unseren Straßen sein. Ohne jetzt Pro und<br />

Kontra zu beleuchten, muß man objektiv feststellen:<br />

Ein sachgerechter Abbau der Grünpfeile und eine<br />

Umstellung auf die nach der Straßenverkehrsordnung<br />

zulässigen Möglichkeiten — wie grüner Lichtpfeil<br />

oder gesonderte Abbiegespur mit negativen Vorfahrtszeichen<br />

— wird bis zum Ablauf der vorgesehenen<br />

Übergangsfrist nicht möglich sein. Es ist deshalb<br />

eine Verlängerung dieser Frist durch eine neue Verordnung<br />

zur Änderung der Straßenverkehrsordnung<br />

anzustreben.<br />

Es ist keine Frage, daß es Kreuzungsbereiche gibt,<br />

in denen es im Interesse der Leistungsfähigkeit der<br />

Kreuzung und damit der Verbesserung des Verkehrsflusses<br />

dem Kraftfahrzeugverkehr ermöglicht werden<br />

muß, nach rechts abbiegen zu dürfen, wenn dem Geradeaus-<br />

oder dem Linksabbiegeverkehr die Weiterfahrt<br />

durch Rotlicht einer Lichtzeichenanlage untersagt<br />

ist. Dies gilt ganz sicher gleichermaßen für die<br />

neuen wie für die alten Bundesländer.<br />

Ich will jetzt nicht auf die Entstehungsgeschichte<br />

der Grünen-Pfeil-Regelung eingehen. Das entscheidende<br />

Argument für die Beibehaltung und Einführung<br />

einer solchen Regelung ist der Verkehrsfluß. Die<br />

Frage wird sein, ob die für den Verkehrsfluß positive<br />

Wirkung des Grün-Pfeils die mit dem wachsenden<br />

Verkehr auftretenden Verkehrsprobleme lösen kann.<br />

Ich glaube, gerade in den Kreuzungsbereichen, besonders<br />

in den größeren Städten, wird man den starken<br />

Verkehrszuwächsen nur mit der Nutzung der<br />

Möglichkeiten der modernen Lichtsignaltechnik und<br />

einer entsprechenden Ampelschaltung gerecht werden<br />

können.<br />

Auch wenn ich das Thema jetzt problematisiere, bin<br />

ich der Meinung, daß eine endgültige Entscheidung<br />

zur Aufnahme oder Nichtaufnahme des Grünen Pfeils<br />

in die Straßenverkehrsordnung erst dann getroffen<br />

werden kann, wenn uns eindeutige Analysen auf der<br />

Basis der Verkehrskonflikttechnik vorliegen. Ich kann<br />

nur begrüßen, daß der Bundesminister für Verkehr die<br />

Bundesanstalt für das Straßenwesen — und hier die<br />

Außenstelle Berlin — beauftragt hat, gemeinsam mit<br />

der Hochschule für Verkehr in Dresden ein Gutachten<br />

zu erstellen.<br />

Wir werden dann im Herbst im Verkehrsausschuß<br />

auf der Grundlage dieser Ergebnisse Vor- und Nachteile<br />

der Grünen-Pfeil-Regelung abzuwägen haben.<br />

Dabei gelten drei entscheidende Punkte:<br />

1. Die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer,<br />

2. die Leistungsfähigkeit lichtsignalgesteuerter Knotenpunkte,


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2705*<br />

3. die Auswirkung auf den Verkehrsablauf, auf Emission<br />

und weitere Probleme auf der Basis der Verkehrskonflikttechnik.<br />

Wir werden dann auch sehr sorgfältig die Auswirkungen<br />

auf alle Verkehrsteilnehmer zu überprüfen<br />

haben, auf den Fußgänger ebenso wie auf den Radfahrer.<br />

Denn der Schutz des schwächeren Verkehrsteilnehmers,<br />

unserer Kinder, der älteren Menschen,<br />

muß sehr sensibel diskutiert werden. Es ist keine<br />

Frage, daß durch den zunehmenden Verkehr sich die<br />

Probleme für den Fußgänger verstärken.<br />

Ich will jetzt nicht die Frage prüfen, ob der Abbau<br />

der Grünpfeile in erster Linie ursächlich für Verkehrsstauungen<br />

in einzelnen Städten ist. Es muß geprüft<br />

werden, ob die bisherigen Ampelschaltungen den<br />

starken Verkehrszuwächsen nicht mehr gewachsen<br />

sind. Abhilfe kann insoweit nur die verkehrsgerechte<br />

Umstellung der Ampel schaffen.<br />

Bei diesen nun anstehenden Untersuchungen bitte<br />

ich, auch die Ergebnisse aus den USA mit einzubeziehen,<br />

wo eine Regelung das Abbiegen, besser: Einbiegen,<br />

bei Rot gestattet.<br />

Ferner ist sicher zu überprüfen, inwieweit die<br />

Grüne-Pfeil-Regelung mit dem „Wiener-Übereinkommen<br />

über die Verkehrszeichen" vereinbar ist. Wir<br />

müssen die Frage einer einheitlichen europäischen<br />

Regelung ebenfalls im Auge behalten. Wir sind europäisches<br />

Durchgangsland, und es muß überprüft werden,<br />

was es bedeutet, wenn Verkehr aus dem Ausland,<br />

wo die Grüne-Pfeil-Regelung nicht praktiziert<br />

wird, hinzukommt.<br />

Wenn ich jetzt bei der Beurteilung des Antrags kritische<br />

Fragen formuliert habe, so ist dies keine abschließende<br />

Bewertung. Wichtig scheint mir auch zu<br />

sein, daß die Mittel des kommunalen Straßenbaus, die<br />

ja erheblich verstärkt wurden, auch dafür verwendet<br />

werden, einen zügigen Umbau der Straßenkreuzungen<br />

vorzunehmen, wo die Verkehrssicherheit dies erfordert,<br />

um Verkehrsfluß und Sicherheit gleichermaßen<br />

zu verbessern.<br />

Nehmen wir uns nach Vorliegen der Gutachten für<br />

eine objektive Beurteilung auch aller internationalen<br />

und rechtlichen Fragen dann die Zeit, dieses Thema<br />

im Verkehrsausschuß eingehend zu erörtern!<br />

Dr. Dietmar Matterne (SPD): Die DDR gibt es nicht<br />

mehr, und mit ihr sind viele Symbole und Zeichen<br />

vergangen. Hammer und Sichel sind unter Mitwirkung<br />

und Beifall des Volkes entfernt worden. Anders<br />

sieht es mit dem unscheinbaren kleinen grünen - Pfeil<br />

aus, einem verkehrsorganisatorischen Hinweis, bewährt<br />

und voll akzeptiert im Alltag der Autofahrer des<br />

Ostens. Sein Verschwinden wird sehr bedauert.<br />

Die Entscheidung für und wider diese Regelung hat<br />

sich zum Politikum mit Symbolcharakter entwickelt.<br />

Wir wollten im Osten die Einigung, das Grundgesetz,<br />

eine demokratische Staatsordnung. Wir wollten dies<br />

allerdings nicht durch einseitiges konsequentes Überstülpen<br />

der westdeutschen Ordnung; das wenige<br />

Brauchbare sollte sorgfältig geprüft werden, ob es<br />

nicht auch für das geeinigte Deutschland geeignet<br />

ist!<br />

Die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung sollen<br />

darauf hinzielen, die Sicherheit im Straßenverkehr<br />

zu gewährleisten. 11 000 Verkehrstote im Jahr mahnen<br />

dies dringend an. In Ostdeutschland ist die Zahl<br />

der Verkehrstoten im vergangenen Jahr um 80 % (!)<br />

gestiegen. Wesentlich dazu beigetragen haben Aggressionen<br />

im dichten Straßenverkehr. Dem muß<br />

durch bessere Regelungen entgegengetreten werden.<br />

Neben dem Problem der Verkehrssicherheit stellt sich<br />

zudem die Frage, inwieweit die Umweltbeeinträchtigung<br />

— Lärm und Kraftstoffverbrauch — gemindert<br />

werden können.<br />

Die übliche Reihenfolge bei der Einführung neuer<br />

Regelungen ist: 1. die gutachtliche Bewertung der geplanten<br />

Maßnahme; 2. die experimentelle Phase, in<br />

der Regel durch einen Großfeldversuch.<br />

Mit dem grünen Pfeil ist es nun umgekehrt. Der<br />

Großfeldversuch hat — als geltendes Straßenverkehrsrecht<br />

der DDR — jahrelang stattgefunden. Das<br />

von Bundesverkehrsminister Krause in Auftrag gegebene<br />

Gutachten wird mit Optimismus erwartet.<br />

Entsprechend der Verkehrsbelastung sind für Kreuzungen<br />

unterschiedliche Maßnahmen erforderlich; an<br />

einfachen, übersichtlichen Straßenschnittpunkten genügen<br />

Verkehrszeichen, an komplizierten sind aufwendige<br />

Ampelanlagen u. a. erforderlich. Möglich ist,<br />

daß der grüne Pfeil im mittleren Bereich eine Lücke<br />

schließen und mit zu einem reibungslosen Verkehrsablauf<br />

beitragen kann. Sehr gut vorstellen könnte ich<br />

mir dies z. B. für den Bereich des <strong>Bundestag</strong>s in<br />

Bonn.<br />

Die SPD-Fraktion wird sich abschließend erst nach<br />

Vorlage des genannten Gutachtens äußern und<br />

schlägt Überweisung vor.<br />

Dr. Klaus Röhl (FDP): Es entbehrt nicht einer gewis<br />

sen Delikatesse, nicht einer besonderen Ironie, daß<br />

gerade die Gruppe PDS/Linke Liste beantragt, daß<br />

man bei einem roten Sperrsignal, komplettiert durch<br />

einen grünen Pfeil, nach rechts abbiegen darf. —<br />

Dies nur zur Aufmunterung in dieser späten Stunde.<br />

Der grüne Pfeil an der Verkehrsampel ist eines der<br />

wenigen, von der verflossenen DDR auf uns überkommenen<br />

Dinge, über deren weitere Existenz sich nachzudenken<br />

lohnt. Seine Funktion, seine Wirkungsweise<br />

vor Ort ist hinreichend bekannt. Trotzdem<br />

möchte ich in diesem Zusammenhang auf zwei wichtige<br />

Fakten hinweisen, die in der Regel nicht auffallen,<br />

daher nicht beachtet werden, aber in der Praxis<br />

wichtig sind.<br />

1. In gleicher Fahrtrichtung geradeausfahrende<br />

Radfahrer werden durch die Rechtsabbieger nicht gefährdet,<br />

denn sie müssen ja bei Ampel „rot" stehenbleiben.<br />

2. In gleicher Richtung geradeauslaufende Fußgänger<br />

werden durch den Rechtsabbiegerverkehr ebenfalls<br />

nicht gefährdet, denn auch für sie gilt das Signal<br />

Ampel „rot" , also müssen auch sie stehenbleiben.<br />

Allen anderen Verkehrsteilnehmern in der grünen<br />

freigegebenen Richtung ist der Vorbeimarsch oder die<br />

Vorfahrt zu gewähren.<br />

Der große Nutzen dieses kleinen Ampelaccessoires<br />

für den Verkehr liegt in der Tatsache, daß es zügiges


2706* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Kreuzungsräumen ermöglicht, damit den Rückstau<br />

erheblich vermindert, und daß es ausgesprochen<br />

preiswert ist und aufwendige Ampelausstattung erspart.<br />

Natürlich sollte es, wie bei allen preiswerten<br />

Accessoires, nur an solchen Stellen zur Anwendung<br />

gelangen, wo seine Regelwirkung gut ist, wo es nicht<br />

überfordert wird, kurz, wo es nützlich ist. Solche Stellen<br />

sind aber in unseren Straßen in überreichlicher<br />

Zahl vorhanden. Seine Anwendung hat sich in den<br />

jetzigen, nun neuen Bundesländern seit vielen Jahren<br />

bewährt.<br />

Mehr noch in einem unbeabsichtigten, aber beeindruckenden<br />

mehrwöchigen Feldversuch hat der ehemalige<br />

Berliner Verkehrssenator Wagner bewiesen,<br />

daß mit dem Entfernen dieses kleinen Helfers sich<br />

hervorragend kilometerlange Staus mit dem zugehörigen<br />

Verkehrschaos und Belastungen für die Menschen<br />

hervorrufen lassen. Das hatte die Wirkung, daß<br />

der konkurrierende Bausenator und der nachfolgende<br />

Verkehrssenator die kleinen Pfeile wieder anmontieren<br />

ließen, wofür ihnen die Berliner noch heute, trotz<br />

der doppelten Kosten, dankbar sind. Der Landtag von<br />

Sachsen hat übrigens beschlossen, die grünen Pfeile<br />

erhalten zu wollen.<br />

Noch ein Hinweis: In den USA kommt man sogar<br />

bei gleicher Verfahrensweise an den Ampeln ohne<br />

grüne Pfeile aus, aber vielleicht ist dort grün nicht<br />

besonders populär.<br />

Wie ist nun heute die Sachlage bei uns?<br />

Der Herr Verkehrsminister hat sich, in diesem Falle<br />

in dankenswerter Weise, schon öffentlich positiv für<br />

dieses Verkehrszeichen ausgesprochen.<br />

In den neuen Bundesländern bleibt dieser Pfeil vorerst,<br />

d. h. bis Ende 1991 erhalten. Eine Verlängerung<br />

dieser Frist ist vorgesehen. Seine Einführung in den<br />

alten Bundesländern wird erwogen, insbesondere da<br />

sich herausgestellt hat, daß entgegen früheren Aussagen<br />

die Wiener Konvention dieses Verkehrszeichen<br />

zuläßt, es also nicht ausdrücklich verbietet.<br />

Zur Zeit wird durch das Bundesamt für Straßenwesen<br />

zusammen mit der Hochschule für Verkehr in<br />

Dresden ein Gutachten zur Anwendbarkeit des grünen<br />

Pfeils erarbeitet. Dieses Gutachten, das für Juli<br />

1991 avisiert ist, sollte abgewartet werden. Wir empfehlen<br />

daher, den vorliegenden Antrag zur weiteren<br />

Bearbeitung an den Verkehrsausschuß und natürlich<br />

auch an den Haushaltsausschuß zu überweisen.<br />

Noch ein Wort zum Abschluß. Wir haben hier mit<br />

diesem kleinen Verkehrsregelzeichen ein besonders<br />

gutes Beispiel, wie man eine Regelungsangelegenheit<br />

vertrauensvoll in die Hände der verantwortungsbe-<br />

-<br />

wußten Bürger legen kann, und das mit bewiesenem<br />

Erfolg.<br />

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundes<br />

minister für Verkehr: Die Grün-Pfeil-Regelung wurde<br />

1977 in die Straßenverkehrs-Ordnung der damaligen<br />

DDR aufgenommen; zuvor war das Rechtsabbiegen<br />

bei Rot generell erlaubt. In der Begründung zur Grün-<br />

Pfeil-Regelung heißt es: ,,... in Übereinstimmung mit<br />

der Wiener Konvention wurde das Rechtsabbiegen<br />

bei Rot verboten, in Ausnahmefällen soll diese an sich<br />

bewährte Form des nichtkonfliktfreien Rechtsabbiegens<br />

jedoch noch zugelassen werden, ..."<br />

In der Praxis wurde dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis<br />

jedoch umgekehrt, der grüne Pfeil wurde an 70<br />

bis 80 % der Kreuzungen in der bisherigen DDR installiert.<br />

Die Bundesregierung hat auf Probleme beim Abbau<br />

des grünen Pfeils rasch reagiert.<br />

Der Abbau des grünen Pfeils brachte spürbare Behinderungen<br />

im Verkehrsfluß in den neuen Ländern.<br />

Daher hat das Bundesverkehrsministerium bereits<br />

Ende 1990 mit einer Übergangsregelung (3. Ausnahmeverordnung<br />

zur Straßenverkehrsordnung vom<br />

11. Dezember 1990) die weitere Verwendung des grünen<br />

Pfeils in den neuen Ländern bis zum 31. Dezember<br />

1991 zugelassen. Der Bundesregierung ist bekannt,<br />

daß ein sachgerechter Abbau der Grünpfeile<br />

und eine Umstellung auf die nach der Straßenverkehrs-Ordnung<br />

zulässigen Möglichkeiten — wie grüner<br />

Lichtpfeil oder gesonderte Abbiegespur mit negativem<br />

Vorfahrtszeichen — bis zum Ablauf dieser<br />

Übergangsfrist nicht möglich sein wird. Wir streben<br />

daher eine Verlängerung der Übergangsfrist durch<br />

eine neue Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung<br />

an. Insofern dürften die in dem Antrag<br />

zum Ausdruck gebrachten Bedenken gegen einen sofortigen<br />

Abbau des grünen Pfeils ausgeräumt sein.<br />

Zur weiteren Zukunft der Grün-Pfeil-Regelung:<br />

Um in der Zukunft eine endgültige Entscheidung<br />

zur Aufnahme/Nichtaufnahme des grünen Pfeils in<br />

die Straßenverkehrs-Ordnung treffen zu können, hat<br />

der Bundesminister für Verkehr die Bundesanstalt für<br />

Straßenwesen (Außenstelle Berlin) beauftragt, gemeinsam<br />

mit der Hochschule für Verkehr in Dresden<br />

eine Analyse auf der Basis der Verkehrskonflikttechnik<br />

zu erstellen. Die Vorlage des Gutachtens wird für<br />

Juli dieses Jahres erwartet. Dann wird zu prüfen sein,<br />

ob und gegebenenfalls wie die Regelung über den<br />

grünen Pfeil umgesetzt werden kann. Hierbei wird<br />

auch eine Rolle spielen, inwieweit eine solche Regelung<br />

mit dem Wiener Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen<br />

vereinbar ist.<br />

Die in Aussicht stehende weitere Verlängerung der<br />

Übergangsfrist für die Grün-Pfeil-Regelung wird es<br />

nicht zu akuten Problemen kommen lassen und bietet<br />

genügend Zeit auch für bauliche Veränderungen im<br />

Kreuzungsbereich; über die Zukunft der Grün-Pfeil-<br />

Regelung und deren eventuelle Übernahme in die<br />

Straßenverkehrs-Ordnung kann somit in Ruhe entschieden<br />

werden.<br />

Anlage 10<br />

Zu Protokoll gegebene Reden<br />

zu Tagesordnungspunkt 14<br />

— Erste Beratung zum Bundesbesoldungsund<br />

-versorgungsanpassungsgesetz 1991 —<br />

Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Der Ihnen<br />

vorliegende Entwurf des Besoldungs- und Versor<br />

gungsanpassungsgesetzes 1991 setzt die erfolgreiche


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2707*<br />

Dienstrechtspolitik der Koalitionsfraktionen fort.<br />

Diese Politik bleibt auf absehbare Zeit von zwei Zielen<br />

bestimmt, die wir gleichzeitig anstreben:<br />

Erstens. In den neuen Bundesländern ist eine<br />

rechtsstaatliche, effiziente Verwaltung aufzubauen,<br />

und zwar so schnell wie möglich.<br />

Zweitens. In den alten Bundesländern müssen wir<br />

eine bewährte, leistungsfähige Verwaltung auch in<br />

Konkurrenz zu Wirtschaft und Industrie neuen Anforderungen<br />

anpassen.<br />

Unstreitig ist inzwischen selbst für notorische Kritiker<br />

des öffentlichen Dienstes, daß eine hochentwikkelte,<br />

arbeitsteilige Volkswirtschaft ohne die Infrastrukturleistungen<br />

einer öffentlichen Verwaltung<br />

nicht erfolgreich arbeiten kann. Unstreitig ist auch,<br />

daß Wirtschaft und Indust rie in den alten Bundesländern<br />

erfolgreich arbeiten — auch dank des öffentlichen<br />

Dienstes. Aber: Dieser öffentliche Dienst muß im<br />

Wettbewerb um qualifizierten Nachwuchs mit der im<br />

Westen auf Hochtouren laufenden Wirtschaft Schritt<br />

halten. In vielen Bereichen, besonders in technischen<br />

Verwaltungen, aber auch in der Steuerverwaltung<br />

mehren sich die Anzeichen, daß Bewerber nur noch<br />

sehr schwer zu gewinnen sind oder daß qualifizierte<br />

Beamte den öffentlichen Dienst verlassen. In Ballungsgebieten<br />

gilt dies ganz besonders. Es ist deshalb<br />

richtig, mit dem jetzt zur Beratung anstehenden Besoldungs-<br />

und Versorgungsanpassungsgesetz 1991 den<br />

6 %-Tarifabschluß für die Arbeitnehmer im öffentlichen<br />

Dienst voll auf die aktiven und die ehemaligen<br />

Beamten zu übertragen. Daß diese Besoldungs- und<br />

Versorgungserhöhung statt zum 1. Januar 1991 zum<br />

1. März 1991 in Kraft treten wird, ist kein Sonderopfer,<br />

sondern ein Solidarbeitrag der Beamten zu den Kosten<br />

der Angleichung der Lebensverhältnisse im vereinten<br />

Deutschland, die auch Arbeitnehmer im öffentlichen<br />

Dienst aufgrund der gestiegenen Abgaben zur<br />

Arbeitslosenversicherung tragen müssen.<br />

Auch für die Versorgungsempfänger, also die Ruhestandsbeamten<br />

gilt als Zeitpunkt des Inkrafttretens<br />

der Versorgungsanpassung der 1. März 1991. Das ist,<br />

wie ich zugebe, im Vergleich zu den Rentnern nicht<br />

unproblematisch, entspricht aber dem gesetzlichen<br />

Gebot, Besoldung und Versorgung gleichzubehandeln.<br />

Meine Fraktion hat im Vorfeld der Erarbeitung<br />

des Gesetzentwurfs angeregt, für einen Ausgleich des<br />

späteren Inkrafttretens zu sorgen. Dem wurde entsprochen.<br />

Für die Versorgungsempfänger wird ab<br />

1993 der Versorgungsanpassungszuschlag wieder<br />

eingeführt; dies stellt sicher, daß ehemalige Beamte - —<br />

wie Rentner — an allen Einkommensverbesserungen<br />

der aktiven Beamten partizipieren. Sozusagen im Vorgriff<br />

werden die Versorgungsempfänger bereits 1991<br />

eine um 0,4 % höhere Versorgung erhalten. Wir lassen<br />

die Ruhestandsbeamten nicht im Stich!<br />

Bei der Beratung des Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetzes<br />

werden wir prüfen, wo<br />

weitere gezielte Verbesserungen notwendig und<br />

möglich sind, damit der öffentliche Dienst in die allgemeine<br />

Wirtschaftsentwicklung einbezogen bleibt<br />

und nicht personell ausblutet. Ich denke z. B. daran,<br />

daß auch die Feuerwehrbeamten in die Regelung für<br />

die Schicht- und Wechselschichtzulage einbezogen<br />

werden. Für Beamte in technischen Verwaltungen<br />

und in der Steuerverwaltung müssen nach meiner<br />

Auffassung die Stellenplanobergrenzen verbessert<br />

werden, damit diese Verwaltungsbereiche den Abwerbungsversuchen<br />

der Wirtschaft standhalten können.<br />

Wir werden auch sorgfältig untersuchen, inwieweit<br />

die für Angestellte und Arbeiter im öffentlichen<br />

Dienst neben der linearen Gehaltssteigerung von 6 %<br />

vereinbarten Tarifregelungen auf den Besoldungsbereich<br />

übertragen wurden und inwieweit noch Ergänzungen<br />

erforderlich sind.<br />

Auf Grund der ab 1. Juli 1991 in den neuen Bundesländern<br />

geltenden 2. Besoldungsüberleitungsverordnung<br />

erhalten die Beamten dort 60 % der Besoldung<br />

in den alten Bundesländern; auch diese Beamten haben<br />

also Anteil an den Besoldungsverbesserungen.<br />

Das ist ein weiterer Schritt, die Einkommensverhältnisse<br />

im öffentlichen Dienst in den alten und den<br />

neuen Bundesländern einander anzugleichen. In die<br />

sem Zusammenhang ein Wort zum Aufbau von Verwaltung<br />

und Justiz in den neuen Bundesländern:<br />

Wenn es des Beweises bedurft hätte: Die ehemalige<br />

DDR hat mit ihrem auf Unterdrückung und Mängelverwaltung<br />

ausgerichteten Staatsapparat auf Kosten<br />

unserer Landsleute den fatalen Beweis erbracht, wie<br />

unabdingbar eine auf Recht und Gesetz verpflichtete<br />

demokratische Verwaltung für das Wohl der Bürger<br />

ist. Diese Verwaltung gilt es mit aller Entschiedenheit<br />

und schnell aufzubauen. Dafür sind — ich betone: für<br />

eine Übergangszeit — westdeutsche Fachleute erforderlich.<br />

Ich brauche das nicht näher zu begründen.<br />

Festhalten aber will ich: Die Maßnahmen der Bundesregierung<br />

und das vom Deutschen <strong>Bundestag</strong> auf Initiative<br />

- der Koalitionsfraktionen beschlossene 10<br />

Punkte-Programm greifen. Die Bereitschaft zum<br />

Wechsel in die neuen Bundesländer ist hoch; für<br />

Zwangsversetzungen bestand und besteht nach unseren<br />

derzeitigen Erfahrungen überhaupt kein Anlaß.<br />

Mehr als 10 000 Mitarbeiter aus dem Westen helfen<br />

bereits in den neuen Bundesländern beim Aufbau von<br />

Verwaltung und Justiz. Dennoch lasse ich offen, ob<br />

dies in Zukunft ausreicht. Wenn nötig, werden wir<br />

unsere Anreize weiter verbessern und verfeinern.<br />

Nach der Sommerpause werden wir eine konkrete<br />

Zwischenbilanz ziehen.<br />

Die insgesamt bis jetzt positive Entwicklung darf<br />

uns nicht den Blick auf — nach meiner Auffassung —<br />

unverzeihliches Fehlverhalten einzelner verstellen. In<br />

vielen Fällen, die mir und meinen Kollegen geschildert<br />

werden, geht die Personalvermittlung nur schleppend<br />

vonstatten, weil Behördenleiter eine Personalabgabe<br />

absichtsvoll verzögern oder gar verhindern.<br />

Dafür darf es — von begründeten Ausnahmen abgesehen<br />

— kein Verständnis geben. Jetzt ist nicht die<br />

Zeit für kleinkarierten Behördenegoismus. Helfen ist<br />

angesagt! Wir danken ausdrücklich den Beamten und<br />

Angestellten, die in den neuen Bundesländern tatkräftig<br />

helfen, im vereinten Deutschland einheitliche<br />

Lebensverhältnisse herzustellen.<br />

Noch eine Anmerkung zu der Blockade-Haltung<br />

mancher Behörden: Bevor jemand über nicht zu erledigende<br />

Arbeiten klagt, muß er prüfen, ob diese überhaupt<br />

erforderlich sind. Arbeitsverdichtung, die ich


2708* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

nicht grundsätzlich bestreiten will, kann und muß als<br />

ein Mittel zur Rationalisierung beg riffen werden, als<br />

Anlaß für innerbehördliche Vorschriftenentsorgung.<br />

Zeit- und Aufgabendruck schärfen den Blick für das<br />

Wesentliche.<br />

Die Verwaltungen in den neuen Bundesländern,<br />

besonders die Gemeinden, fordere ich auf, die angebotenen<br />

Personal- und Finanzhilfen zum Verwaltungsaufbau<br />

unverzüglich anzunehmen. Die Mitarbeiter<br />

westdeutscher Verwaltungen kommen nicht,<br />

wie es die PDS zum Schutz ihrer Seilschaften darzustellen<br />

versucht, als „Besatzer" , sondern als Menschen,<br />

die aus nationaler Solidarität helfen wollen.<br />

Den offenbar unvermeidlichen Kritikern des Finanzaufwandes<br />

für die Personalhilfen hier im Westen sage<br />

ich: Diese Finanzhilfen sind keine verlorenen Kosten,<br />

sondern Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft,<br />

die wir vor allem den Menschen in den neuen Bundesländern<br />

schulden.<br />

Fritz Rudolf Körper (SPD): Unter der Drucksache<br />

12/732 liegt uns der Entwurf eines Gesetzes über die<br />

Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in<br />

Bund und Ländern für das Jahr 1991 vor. Dieser Gesetzentwurf<br />

ist von der Bundesregierung eingebracht<br />

worden. Er hat in erster Linie die Anpassung der Bezüge<br />

der Beamten, Richter und Soldaten sowie der<br />

Versorgungsempfänger des Bundes, der Länder und<br />

Gemeinden entsprechend der allgemeinen wirtschaftlichen<br />

Verhältnisse unter Berücksichtigung des<br />

Tarifabschlusses für den Arbeitnehmerbereich des öffentlichen<br />

Dienstes vom 16. März 1991 zur Grundlage.<br />

Der Vorschlag wird gemacht, die Bezüge linear<br />

um 6 Prozent zum 1. März 1991 anzuheben.<br />

Dazu bleibt festzustellen: Die Beschäftigten des öffentlichen<br />

Dienstes haben Anspruch auf Teilnahme<br />

an der allgemeinen Einkommensentwicklung. Dabei<br />

hat sich in der Vergangenheit das Verfahren bewährt,<br />

die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst auch auf<br />

den Beamtenbereich zu übertragen. Davon sollte auch<br />

in diesem Jahr keine Ausnahme gemacht werden.<br />

Dies bedeutet nach unseren Vorstellungen, daß man<br />

die Anpassung zum 1. Januar 1991 vornehmen<br />

sollte.<br />

Ich bin überzeugt, daß auch die Beamtinnen und<br />

Beamten bereit sind, ihren Beitrag zur Finanzierung<br />

der deutschen Einheit zu leisten. Eine inhaltliche Abkoppelung<br />

der Beamtenbesoldung vom Tarifergebnis<br />

ist aber nicht der richtige Weg, dies zu gewährleisten.<br />

Eine gerechte Verteilung der Lasten kann nur über<br />

Steuern und die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe<br />

erreicht werden.<br />

Wie fragwürdig das von der Bundesregierung vorgeschlagene<br />

Verfahren ist, wird insbesondere im Versorgungsbereich<br />

deutlich. Die Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge<br />

und die entsprechende<br />

Belastung der aktiven Beamten haben gleichzeitig<br />

Auswirkungen auf die Versorgungsempfänger. Diesen<br />

wird damit wie den aktiven Beschäftigten ein<br />

Opfer zugemutet, ohne danach zu fragen, ob sie es in<br />

gleicher Weise wie die aktiven Beschäftigten verkraften<br />

können.<br />

Wir von der SPD-<strong>Bundestag</strong>sfraktion bleiben dabei:<br />

Die Arbeitsmarktabgabe für alle — ich betone: für<br />

alle — Erwerbstätigen wäre die bessere, gerechtere<br />

Lösung. Die SPD-<strong>Bundestag</strong>sfraktion hat wiederholt<br />

die Bundesregierung dazu aufgefordert, eine Arbeitsmarktabgabe<br />

zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit<br />

einzuführen. Die Beratung zu diesem Gesetzentwurf<br />

wäre eine gute Gelegenheit, unsere Vorschläge<br />

von seiten der Bundesregierung noch einmal<br />

neu zu überdenken.<br />

Auch müssen die Strukturverbesserungen des Tarifbereiches<br />

auf den Beamtenbereich übertragen werden.<br />

Dies gilt u. a. für die Zulagenregelung bei<br />

Schicht- und Wechselschicht. Benachteiligt werden<br />

offensichtlich nach diesem Entwurf beispielsweise<br />

Feuerwehrbeamte, da ihnen die Zulage vorenthalten<br />

wird, Polizeibeamte, Justizvollzugsbeamte sowie Beamte<br />

der Krankenpflege, da ihnen die Zulage nur zur<br />

Hälfte zugestanden wird. Die Zulagenregelung wird<br />

den Schichtsystemen, insbesondere bei Bahn, Post<br />

und Polizei, offensichtlich nicht gerecht.<br />

Bei den Fragen nach diesen Strukturverbesserungen<br />

sollte der Bund eine enge Absprache mit den<br />

betroffenen Ländern und Gemeinden pflegen. Wir<br />

müssen in den parlamentarischen Beratungen, insbesondere<br />

im Innenausschuß, diesen Komplex sorgfältig<br />

prüfen und uns auch dabei mit den gewerkschaftlichen<br />

Vorschlägen auseinandersetzen.<br />

In diesem Zusammenhang sei mir eine Anmerkung<br />

zum Beteiligungsrecht der gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen<br />

bei der Vorbereitung beamtenrechtlicher<br />

Vorhaben erlaubt. Wir von der SPD-<strong>Bundestag</strong>sfraktion<br />

sind der Auffassung, daß dieses Beteiligungsverfahren<br />

bei den parlamentarischen und Regierungsentscheidungen<br />

im Sinne einer größeren<br />

Einflußmöglichkeit der Gewerkschaften verändert<br />

werden sollte. Die Praxis des gegenwärtigen Beteiligungsverfahrens<br />

bei der Erarbeitung von Entwürfen<br />

der Bundesregierung, bei der häufig nicht einmal die<br />

Mindestfrist für Stellungnahmen eingehalten wird,<br />

gibt jedenfalls Anlaß zur Kritik und muß grundsätzlich<br />

verbessert werden.<br />

Es ist schon bedenklich, wenn uns berichtet wird,<br />

daß nunmehr der 23. Fall in Folge vorliegt, in dem der<br />

Bundesminister des Innern seit Sommer 1989 das gesetzlich<br />

zwingend vorgeschriebene Beteiligungsverfahren<br />

der gewerkschaftlichen Spitzenorganisation<br />

mißachtet hat. Nach den mir vorliegenden Informationen<br />

hat es seit Amtsantritt des amtierenden Bundesinnenministers<br />

kein Beteiligungsverfahren von Relevanz<br />

mehr gegeben, bei dem die von mir schon angesprochene<br />

Mindestfrist von sechs Wochen zur Abgabe<br />

von Stellungnahmen eingehalten wurde. Auch diesen<br />

Problemkreis wollen wir bei den anstehenden Ausschußberatungen<br />

ansprechen.<br />

Darüber hinaus wird unsererseits sorgfältig geprüft<br />

werden, wie die Tarifergebnisse auf den Beamtenbereich<br />

übertragen werden. Es geht selbstverständlich<br />

nicht an, daß mit besoldungsrechtlichen Regelungen<br />

in die Tarifautonomie eingegriffen wird. Aus diesem<br />

Blickwinkel werden wir den Gesetzentwurf sorgfältig<br />

prüfen und bei Verstößen gegen den Grundsatz nachdrücklich<br />

Korrekturen vorschlagen.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2709*<br />

- Bei strukturellen Verbesserungen im Besoldungs<br />

und Versorgungsrecht fehlt es nach unserer Auffassung<br />

seit langem an einem Gesamtkonzept. Der von<br />

der Bundesregierung in der vergangenen Wahlperiode<br />

vorgelegte Bericht zur strukturellen Entwicklung<br />

des öffentlichen Dienstrechtes verdient diesen<br />

Namen eigentlich nicht. Er beschränkt sich auf einige<br />

punktuelle Maßnahmen und klammert wesentliche<br />

Probleme aus.<br />

Selbstverständlich muß anerkannt werden, daß im<br />

Augenblick zweifellos der Aufbau leistungsfähiger öffentlicher<br />

Verwaltungen in den neuen Bundesländern<br />

und in den Gemeinden stark im Vordergrund steht.<br />

Dies kann aber wiederum nicht bedeuten, daß wir die<br />

notwendige sachgerechte Fortentwicklung der Strukturen<br />

des öffentlichen Dienstes in den alten Ländern<br />

vernachlässigen dürfen. Beide Aufgaben — die Entwicklung<br />

des öffentlichen Dienstes in Ost und West —<br />

müssen im Zusammenhang gesehen werden. Deshalb<br />

erscheint es mir sinnvoll, daß die Bundesregierung in<br />

einem Bericht die gegenwärtige Situation des öffentlichen<br />

Dienstes einmal umfassend darstellt.<br />

Darüber hinaus muß der Strukturbericht mit Vorschlägen<br />

zur Fortentwicklung des öffentlichen Dienstrechtes<br />

in dieser Wahlperiode fortgeschrieben werden.<br />

Nach unserer Auffassung muß das Bezahlungs<br />

-<br />

und Laufbahnrecht im Rahmen eines Gesamtkonzeptes<br />

anforderungs- und funktionsgerechter ausgestaltet<br />

und die Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen<br />

Dienstes im Vergleich zur Wirtschaft, die heute vielfach<br />

nicht mehr gewährleistet ist, hergestellt werden.<br />

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einmal<br />

das Stichwort Wettbewerbsfähigkeit aufgreifen und<br />

ein Problem ansprechen, was offensichtlich einen<br />

dringenden Handlungsbedarf aufzeigt. In den sogenannten<br />

Ballungsräumen scheint es immer schwieriger<br />

zu werden, Bedienstete für den öffentlichen<br />

Dienst zu bekommen und damit auch dem Sicherstellungsauftrag<br />

gerecht zu werden. Die öffentliche Seite<br />

ist zunehmend in Gefahr, ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />

auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere in den von mir<br />

angesprochenen Ballungsräumen, zu verlieren.<br />

Ich bin mir darüber im klaren, daß eine Schwierigkeit<br />

darin liegt, den Begriff Ballungsraum korrekt und<br />

eingrenzend zu definieren. Allerdings denke ich, sollten<br />

wir trotzdem vor diesen Herausforderungen nicht<br />

die Augen verschließen und uns gemeinsam bemühen,<br />

in diesem Bereich Lösungsvorschläge zu erarbeiten.<br />

Selbstverständlich kann dies nicht ungeachtet der<br />

Tatsache geschehen, daß hier insbesondere mit den<br />

betroffenen Ländern und Gemeinden eine Absprache -<br />

gefunden werden muß, zumal damit ein erheblicher<br />

finanzieller Aufwand auch für sie verbunden wäre.<br />

Wir sollten den öffentlichen Dienst als Dienst für<br />

den Bürger durch den Bürger künftig stärker im öffentlichen<br />

Bewußtsein verankern. Wie gerade ein<br />

Blick in die neuen Länder zeigt, hängen der Wohlstand<br />

der Bürger und die Qualität ihres Lebens heute<br />

ebenso von Gemeinschaftseinrichtungen ab wie von<br />

privaten Einkommen und Konsum. Nicht ein anonymer<br />

Staat hat Bedürfnisse, sondern die Bürgerinnen<br />

und Bürger. Sie und die Beschäftigten im öffentlichen<br />

Dienst können erwarten, daß sich Regierungen und<br />

politische Parteien zu ihrer Verantwortung für den<br />

öffentlichen Dienst bekennen.<br />

Viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes tun oftmals<br />

mehr als ihre Pflicht. Der öffentliche Dienst sollte<br />

nicht zum Prügelknaben der Nation gemacht werden.<br />

Den Beschäftigten gebührt unser Dank. Mehr noch:<br />

sie können erwarten, daß wir uns um ihre Probleme<br />

kümmern. Das wollen wir auch bei den Beratungen<br />

des anstehenden Gesetzentwurfes tun.<br />

Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes<br />

minister des Innern: Mit dem Entwurf des Bundesbesoldungs-<br />

und -versorgungsanpassungsgesetzes<br />

1991 legt die Bundesregierung dem Hohen Haus die<br />

notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur<br />

Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge in<br />

Bund und Ländern vor.<br />

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung übernimmt<br />

für die Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger<br />

das Ergebnis der Tarifverhandlungen<br />

vom 16. März 1991 mit demselben Erhöhungssatz<br />

von 6 v. H. Neben den auch bisher in die Linearanpassung<br />

einbezogenen Bezügebestandteilen sind diesmal,<br />

den Absichtserklärungen auch dieses Hauses<br />

entsprechend, bestimmte Stellenzulagen mit erhöht<br />

worden. Ich nenne insbesondere die allgemeine Stellenzulage,<br />

die Polizei- und Feuerwehrzulage sowie<br />

die Sicherheitszulagen.<br />

Die vorgeschlagene Anhebung um 6 % kann sich —<br />

auch im Verhältnis zur gewerblichen Wirtschaft —<br />

durchaus sehen lassen. Sie ist angesichts der Gesamtentwicklung<br />

als solide und bef riedigend anzusehen.<br />

Gemessen an der zu erwartenden Preissteigerungsrate<br />

ergibt sich für die Mitarbeiter des öffentlichen<br />

Dienstes ein deutlicher realer Einkommenszuwachs.<br />

Der öffentliche Dienst hält damit Anschluß an die positive<br />

allgemeine Entwicklung und wird nicht abgekoppelt.<br />

Die Linearanpassung berücksichtigt aber auch<br />

gleichzeitig die Situation der öffentlichen Haushalte<br />

besonders mit Blick auf den Wiederaufbau in den<br />

neuen Bundesländern. Nach dem Gesetzentwurf treten<br />

die Erhöhungen für Beamte, Richter, Soldaten und<br />

Versorgungsempfänger zwei Monate später, als es<br />

der Tarifabschluß für Arbeiter und Angestellte vorsieht,<br />

in Kraft, also nicht zum 1. Januar 1991, sondern<br />

zum 1. März 1991. Dieser Einsparungsbeitrag berücksichtigt,<br />

daß Arbeiter und Angestellte mit ähnlicher<br />

Wirkung durch die Veränderungen der Beitragssätze<br />

zur Sozialversicherung betroffen sind. Mit der zweimonatigen<br />

Verschiebung der Anpassung wird der<br />

Handlungsspielraum der öffentlichen Haushalte um<br />

weit mehr als 1 Milliarde DM erweitert. Beamte, Richter,<br />

Soldaten und Versorgungsempfänger leisten damit<br />

einen eigenständigen Beitrag für den wirtschaftlichen<br />

Aufbau in den neuen Bundesländern. Dies wird<br />

in den nächsten Jahren zu berücksichtigen sein.<br />

Mit dieser Lösung bleibt das bisherige Verhältnis<br />

der aktiven Nettoeinkommen im Besoldungs- und Tarifbereich<br />

grundsätzlich unverändert; Beamte und Arbeitnehmer<br />

werden also nicht auseinanderdividiert.<br />

Dadurch, daß Beamte bei den Nettozuwächsen nicht<br />

schlechter und nicht besser als Angestellte und Arbei-


2710* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

ter im öffentlichen Dienst gestellt werden, bleibt der<br />

Gleichklang zwischen Ta rif und Besoldung gewahrt;<br />

das ist wichtig für die Einheit des öffentlichen<br />

Dienstes. Dies ist verantwortungsvolle und zukunftsorientierte<br />

Besoldungspolitik. Die Bundesregierung<br />

wird auch weiterhin auf Ausgewogenheit und Gerechtigkeit<br />

der Verbesserungen und Belastungen im<br />

öffentlichen Dienst und im Verhältnis zur gewerblichen<br />

Wirtschaft achten. Weil die Bundesregierung<br />

diese Verpflichtung besonders ernst nimmt, enthält<br />

der Gesetzentwurf Vorschriften über die Beteiligung<br />

der Versorgungsempfänger an strukturellen Veränderungen<br />

im Besoldungsbereich durch einen pauschalierenden<br />

Anpassungszuschlag. Hiernach werden<br />

die Versorgungsempfänger ab 1. Januar 1993 an<br />

den strukturellen Maßnahmen im Besoldungsbereich<br />

dadurch beteiligt, daß ihnen solche Veränderungen in<br />

Form eines durchschnittlichen Vomhundertsatzes<br />

zeitversetzt zu den den Versorgungsbezügen zugrunde<br />

liegenden ruhegehaltfähigen Dienstbezügen<br />

gewährt werden. Als Vorwegmaßnahme ist ein Strukturausgleich<br />

von 0,4 v. H. der ruhegehaltfähigen<br />

Dienstbezüge ab 1. März 1991 vorgesehen.<br />

Die vom Bundesrat vorgeschlagene Streichung der<br />

Wiedereinführung des Anpassungszuschlags für Versorgungsempfänger<br />

lehnt die Bundesregierung ab.<br />

Die Bundesregierung hält an ihrem Grundsatz fest,<br />

keine Sonderopfer von einzelnen Gruppen zu verlangen.<br />

Was für den Aktivbereich Geltung hat, muß<br />

ebenso für Versorgungsempfänger gelten. Der<br />

Gleichklang zwischen aktiven Beamten und Versorgungsempfängern<br />

bei der Bezügeentwicklung muß<br />

gewahrt bleiben.<br />

Neben den Regelungen zur Linearanpassung sieht<br />

der Gesetzentwurf eine möglichst gleichwertige<br />

Übertragung der im Tarifbereich vereinbarten strukturellen<br />

Verbesserungen vor. Dies sind vor allem Regelungen<br />

über die Verbesserung der Beförderungsmöglichkeiten<br />

für Beamte des einfachen Dienstes<br />

durch Erweiterung des höchstzulässigen Anteils der<br />

Planstellen im Spitzenamt A 5 plus Amtszulage, ferner<br />

Bezahlungsverbesserungen für Beamte des mittleren<br />

technischen und gehobenen technischen<br />

Dienstes durch Festsetzung günstigerer Stellenobergrenzen,<br />

Ermächtigung zur Schaffung günstigerer<br />

Stellen und damit Beförderungsverhältnisse für beamtete<br />

Sozialarbeiter und Sozialpädagogen sowie die<br />

Einführung allgemeiner Wechselschichtzulagen und<br />

Schichtzulagen.<br />

Den hierzu vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen,<br />

die sehr unterschiedliche Einzel- und Detailfragen<br />

betreffen, hat die Bundesregierung meist zugestimmt,<br />

im übrigen Prüfung im weiteren Verfahren<br />

zugesagt. Damit ist eine zügige Beratung und Verabschiedung<br />

des Gesetzentwurfs nach der Sommerpause<br />

möglich.<br />

Manfred Richter (Bremerhaven) (FDP): Bei diesem<br />

Gesetzentwurf geht es uns nicht anders als bei vielen<br />

anderen vergleichbaren Besoldungsmaßnahmen für<br />

den öffentlichen Dienst: Den einen ist es zuwenig, den<br />

anderen ist es zuviel.<br />

Den Letztgenannten will ich folgendes sagen: Wer<br />

einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst haben will,<br />

muß ihn auch anständig, daß heißt leistungsgerecht,<br />

bezahlen.<br />

Dabei kann es keinen Unterschied geben zwischen<br />

Angestellten, Arbeitern oder Beamten.<br />

Ich kann diejenigen, die da meinen, der öffentliche<br />

Dienst könne vorübergehend oder noch am besten auf<br />

Dauer mit geringeren Steigerungsraten in der Einkommensentwicklung<br />

als sonst in der Bundesrepublik<br />

Deutschland auskommen, nur nachdrücklich warnen:<br />

Wir haben in den verschiedensten Bereichen, besonders<br />

in den technischen Laufbahnen, Nachwuchsgewinnungsprobleme<br />

spürbarer und zum Teil schon beklemmender<br />

Art. Nachwuchssorgen macht uns mittlerweile<br />

auch schon der nichttechnische Dienst; auch<br />

dort dürfen keine Qualitätseinbußen hingenommen<br />

werden.<br />

Was den üblichen Hinweis auf die sogenannten Beamtenprivilegien<br />

anbetrifft, gilt nach wie vor zweierlei:<br />

Erstens gibt es diese Beamtenprivilegien nicht, sondern<br />

es gibt nur ein ausgewogenes besonderes Treue-<br />

Loyalitäts- und Pflichtenverhältnis.<br />

Zweitens können diese Besonderheiten gegen eine<br />

vernünftige Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung<br />

nicht gegengerechnet werden.<br />

Sonst wäre die notwendige Schlußfolgerung, Beamte<br />

hätten ihre besonderen Pflichten, eine zusätzliche Alimentation<br />

durch Gehalt brauchten sie eigentlich gar<br />

nicht.<br />

Zum Gesetzentwurf selber. Wir stimmen mit der<br />

Bundesregierung darin überein, wie für den Tarifbereich<br />

des öffentlichen Dienstes vereinbart auch die<br />

Beamtengehälter um linear 6 % zu erhöhen.<br />

Wir stimmen mit der Bundesregierung ferner darin<br />

überein, die Strukturtarifverträge, die im Vorfeld der<br />

Besoldungsrunde 1991 ausgehandelt worden sind, in<br />

gleicher Weise, soweit das irgend geht, auf den Beamtenbereich<br />

zu übertragen. Seit Jahren setzt sich die<br />

FDP für das nahtlose Übertragen der Tarifverträge für<br />

den öffentlichen Dienst auf die Beamtenschaft ein.<br />

Für diesen Gleichklang von Ta rif und Besoldung<br />

kann es keinen Unterschied machen, ob es sich um<br />

lineare Anpassung oder um Strukturverbesserungen<br />

handelt. Ich weiß, daß an dieser Stelle in diesem Jahr<br />

die Argumentation brüchig ist, weil — anders als die<br />

lineare Erhöhung bei Angestellten und Arbeitnehmern<br />

— wir die lineare Erhöhung der Besoldung der<br />

Beamten erst zum 1. März 1991 wollen. Diese zeitliche<br />

Verschiebung des Inkrafttretens hat nichts mit einer<br />

Hilfe für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern<br />

zu tun. Aus unserer Sicht ist die zeitliche Verschiebung<br />

begründet, weil Bund, Länder und Gemeinden<br />

durch die deutsche Einheit bereits mit erheblichen<br />

Haushaltsproblemen zu kämpfen haben.<br />

Das ist der Grund für die Besoldungsverschiebung.<br />

Die Auswirkungen der zeitlichen Verschiebungen<br />

der Beamtenbesoldung sind, prozentual gesehen, höher<br />

als die Belastungen der Arbeitnehmereinkommen<br />

im Tarifbereich durch die Veränderungen der Beitragssätze<br />

in den gesetzlichen Sozialversicherungen.<br />

Aber das ist kein Grund, in irgendeiner Weise die Verschiebung<br />

der Anpassung der Beamtenbesoldung


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2711*<br />

und Versorgung um zwei Monate mit den Bedürfnissen<br />

des Arbeitsmarkts in den neuen Bundesländern<br />

zu rechtfertigen.<br />

Was die Versorgungsempfänger anbetrifft, wird sichergestellt<br />

werden, daß sie bei der diesjährigen Besoldungs-<br />

und Versorgungsanpassung nicht wie in<br />

den vergangenen Jahren leer ausgehen. Eine der<br />

denkbaren Möglichkeiten wäre gewesen — wofür ich<br />

mich öffentlich eingesetzt hatte — , sie von der allgemeinen<br />

Verschiebung der Anpassung um zwei Monate<br />

auszunehmen.<br />

Der jetzt von der Bundesregierung gemachte Vorschlag<br />

der Wiedereinführung des Versorgungsanpassungszuschlages<br />

hätte uns allein nicht ausgereicht,<br />

weil er erst 1993 wirksam geworden wäre.<br />

Mit der Vorabgewährung eines Anpassungszuschlages<br />

von 0,4 % bereits in diesem Jahr wegen der<br />

Strukturverbesserungen des Jahres 1990 läßt sich<br />

möglicherweise auskommen.<br />

Insgesamt ist die Wiedereinführung des Versorgungsanpassungszuschlages<br />

— in welcher Form auch<br />

immer — zu begrüßen.<br />

Grob gesagt handelt es sich um die Rentenformel im<br />

Versorgungsrecht.<br />

Der Anpassungszuschlag stellt sicher, daß die Pensionäre,<br />

wenn sie einmal aus dem aktiven Beamtenleben<br />

ausgeschieden sind, und ihre Familien nicht auf<br />

ihrer Versorgung sitzenbleiben und von der übrigen<br />

Sozialentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland<br />

abgekoppelt sind. Auch wenn der Anpassungszuschlag<br />

in Mark und Pfennig in diesem Jahr weniger<br />

sein sollte, als wenn die Versorgung schon zum 1. Januar<br />

erhöht würde — auf Dauer gesehen ist der Versorgungsanpassungszuschlag<br />

vernünftiger, weil gerechter<br />

und sozialorientiert.<br />

Was den weiteren Beratungsgang anbetrifft, bekunde<br />

ich hier den festen Willen der FDP-Fraktion,<br />

die bisherigen Vorschläge der Bundesregierung zu<br />

überprüfen und gegebenenfalls dort, wo es nötig ist,<br />

mit zusätzlichen strukturellen Maßnahmen anzureichern.<br />

Das beginnt mit dem Problemfeld, daß bislang die<br />

Übertragung der Strukturtarifverträge im vollen Umfang<br />

auf die Beamtenbesoldung noch nicht gelungen<br />

ist. Das setzt sich fort über die Lösung bei verschiedenen<br />

mittlerweile aufgekommenen Strukturfragen bei<br />

den Zulagen, insbesondere bei den durch den Tarif<br />

vorgegebenen Wechselschichtdienstzulagen.<br />

Ich könnte eine ganze Menge weiterer Stichworte<br />

aufzählen, beginnend beispielsweise bei Einzelheiten<br />

der Verbesserungen für den gehobenen technischen<br />

Dienst, bei Überlegungen für die Ausweitung des<br />

Spitzenamtes A 13 plus Zulage im gehobenen Dienst.<br />

Ich möchte mir das ersparen. Das sind Dinge für die<br />

Einzelberatungen, die wir unmittelbar nach der Sommerpause<br />

aufnehmen werden.<br />

Wir haben eine interessante Entwicklung beobachtet<br />

bei den Beratungen im Bundesrat. Dort war plötzlich<br />

das Problem aufgetaucht, daß manche der tariflichen<br />

Fortschritte in dem Spezialbereich der gesetzlichen<br />

Krankenkassen unterlaufen werden sollten<br />

durch gesetzgeberische Maßnahmen. Für die FDP<br />

kommt ein Eingriff in die Tarifautonomie durch die<br />

Hintertür nicht in Frage.<br />

Wir müssen natürlich bei allen Maßnahmen klar<br />

sehen, daß die Zeit für große Sprünge nicht reif ist. Die<br />

Zeit ist eigentlich, weil es um die Besoldung von Beamten<br />

geht, nie gut für großzügige und weitgeplante<br />

Strukturverbesserungen.<br />

Jetzt geht es natürlich neben der Anpassung und<br />

Verbesserung der Besoldung in den westlichen Bundesländern<br />

um die Angleichung der Lebensverhältnisse<br />

in den östlichen Bundesländern an das sonst geltende<br />

Niveau, und das natürlich auch bei der Beamtenbesoldung<br />

und der Versorgung.<br />

Gleichwohl bleibt eine vernünftige Strukturpolitik<br />

im Bereich des öffentlichen Dienstes, eine Besoldungsstrukturpolitik<br />

mit Augenmaß, das fernere Anliegen,<br />

dem wir uns immer wieder widmen werden.<br />

Dazu gehört auch, manche Überlegungen und Vorstellungen<br />

aus der alten Dienstrechtsreform wieder<br />

aufzugreifen und erneut zu überprüfen. So können<br />

wir uns beispielsweise auch eine gewisse Flexibilisierung<br />

des Besoldungsrechts denken, eines Gebiets, auf<br />

dem wir in absehbarer Zeit über erste Erfahrungen<br />

aus dem Bereich der Deutschen Bundespost verfügen<br />

können, soweit es um Leistungszulagen und andere<br />

spezielle Instrumente des Besoldungsrechts geht.<br />

Wir werden umgekehrt auch ganz bestimmte Nachwuchsgewinnungsmaßnahmen,<br />

beispielsweise in den<br />

Sonderzuschlagsverordnungen daraufhin überprüfen,<br />

ob sie sich bewährt haben, wo sie verbesserungswürdig<br />

sind, ob sich eine vorsichtige und begrenzte<br />

Ausweitung solcher Personalsteuerungsinstrumente<br />

empfiehlt, um im öffentlichen Dienst Leistungsbereitschaft<br />

und Leitungsfähigkeit, Motivation und Effizienz<br />

des Personals zu steigern. Dem sind wir, nicht<br />

zuletzt auch im Interesse des Ansehens der Beamtenschaft<br />

in der öffentlichen Meinung, verpflichtet.<br />

Anlage 11<br />

Zu Protokoll gegebene Rede<br />

zu Zusatztagesordnungspunkt 10 —<br />

Antrag betr. Westsahara-Friedensplan<br />

der Vereinten Nationen —<br />

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen<br />

Amt: Die Bundesregierung begrüßt den von allen im<br />

<strong>Bundestag</strong> vertretenen Fraktionen einschließlich der<br />

Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN getragenen Entschließungsantrag<br />

des Kollegen Dr. Franz Altherr und<br />

anderer, mit dem die Unterstützung der VN-Friedensmission<br />

für die West-Sahara (MINURSO) gefordert<br />

wird. Wir teilen die positive Einschätzung der jüngsten<br />

Friedensmission der Vereinten Nationen und halten<br />

eine Entschließung des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es,<br />

die das zum Ausdruck bringt, für richtig.<br />

Schon seit langem fordert Bundesaußenminister<br />

Genscher, daß die Rolle der Vereinten Nationen gestärkt<br />

wird. Wir wollen entsprechend dem Auftrag<br />

unseres Grundgesetzes die Vereinten Nationen in die


2712* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Lage versetzen, daß sie ihren umfassenden Friedensauftrag<br />

erfüllen können. Der Wegfall des Ost-West<br />

Gegensatzes und die Auflösung des dadurch bedingten<br />

Patts in der Weltorganisation haben hierfür günstige<br />

Voraussetzungen geschaffen. Es gilt auch, die<br />

durch die Lösung des Golfkonflikts neu gewonnene<br />

Autorität der Vereinten Nationen zu nutzen.<br />

Uns liegt vor allem an einer Stärkung der Stellung<br />

des Generalsekretärs. Er soll das Instrumentarium erhalten<br />

und benutzen, um Krisen, wo immer sie in der<br />

Welt entstehen, nicht erst dann zu begegnen, wenn<br />

sie sich zu einem bewaffneten Konflikt ausgeweitet<br />

haben, sondern möglichst schon im Vorfeld solcher<br />

Konflikte regelnd und friedenstiftend einzugreifen.<br />

Der vom VN-Generalsekretär entworfene und vom<br />

Sicherheitsrat am 29. Ap ril 1991 beschlossene Friedensplan<br />

für die ehemalige spanische Kolonie West<br />

Sahara eröffnet einen Weg, den seit Jahren schwelenden<br />

und von der Weltöffentlichkeit fast verdrängten<br />

Konflikt in diesem Gebiet zu beenden und die Voraussetzungen<br />

für eine dauerhafte und stabile Friedensordnung<br />

zu schaffen. Die „Mission der Vereinten Nationen<br />

für die Organisation eines Referendums in der<br />

West-Sahara" (MINURSO) stellt in diesem Sinne einen<br />

neuen Typ der VN-Friedensmissionen dar. Während<br />

sich in der Vergangenheit die Friedensmissionen<br />

weitgehend darauf beschränkten, mit Hilfe von<br />

„Blauhelmen" die Einhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen<br />

zwischen Konfliktparteien zu überwachen,<br />

haben die Vereinten Nationen mit der Überwachung<br />

der ersten freien Wahlen in Namibia (UN-<br />

TAG) Neuland betreten. Neben den klassischen Militärbeobachtern<br />

(Blauhelme) wurden erstmals ziviles<br />

Personal und Polizeibeamte zur Überwachung einer<br />

demokratischen Parlamentswahl entsandt. Die UNO<br />

hat damit entscheidende Hilfe bei der Erlangung der<br />

Unabhängigkeit des ehemaligen Mandatsgebiets geleistet.<br />

Dieses Instrument wurde bei den Missionen in<br />

Zentralamerika (ONUCA) und speziell in Nicaragua<br />

(ONUVEN) fortentwickelt. Bei der bevorstehenden<br />

Mission in der West-Sahara (MINURSO) übernehmen<br />

die Vereinten Nationen erstmals auch die Organisation<br />

und ordnungsgemäße Durchführung eines Referendums,<br />

bei dem die Bevölkerung frei über ihr künftiges<br />

Schicksal — Unabhängigkeit oder Zugehörigkeit<br />

zum Königreich Marokko — entscheiden soll. Das<br />

ist aktive und unmittelbare Hilfe zur Förderung der<br />

Demokratisierung in einem Land der Dritten Welt.<br />

Wir begrüßen den Trend zur Ausweitung der VN-<br />

Aktivitäten in dieser Richtung. Es ist genau das, was<br />

Bundesminister Genscher meinte, als er in der Haushaltsdebatte<br />

im Deutschen <strong>Bundestag</strong> am 13. März<br />

1991 forderte, die Fähigkeit der UNO-Organe, des<br />

Generalsekretärs und des Sicherheitsrates im Sinne<br />

des Ausbaus der politischen Konfliktlösung zu verstärken.<br />

Die Bundesregierung wird die Friedensmission in<br />

der West-Sahara finanziell unterstützen. Sobald weitere<br />

Einzelheiten über den Einsatz der bei der Operation<br />

benötigten internationalen Polizeibeamten geklärt<br />

sind, wird die Bundesregierung zudem prüfen,<br />

ob sich Deutschland auch durch die Entsendung eines<br />

kleineren Kontingents von BGS-Beamten — und, so<br />

vorhanden, Beamtinnen — personell an dieser wichtigen<br />

Initiative beteiligen kann.<br />

Wir begrüßen daher den heute eingebrachten Entschließungsantrag,<br />

der mit der Politik der Bundesregierung<br />

übereinstimmt.<br />

-


Nachtrag zum Plenarprotokoll 12/33<br />

<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong><br />

Nachtrag zum<br />

Stenographischen Bericht<br />

<strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong><br />

Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Inhalt:<br />

Anlage 12<br />

Verkehrsberuhigung auf der B 7 zwischen<br />

Kassel und Eisenach, z. B. durch Umleitung<br />

und Nachtfahrverbot für den Straßengüterverkehr<br />

MdlAnfr 5, 6 — Drs 12/766 —<br />

Joachim Tappe SPD<br />

SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV<br />

Anlage 13<br />

Auszahlung der Liquiditätshilfen aus dem<br />

Fonds „Deutsche Einheit" an die Wohnungsunternehmen<br />

in den neuen Bundesländern,<br />

insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern<br />

MdlAnfr 11, 12 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Christine Lucyga SPD<br />

SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach<br />

BMBau<br />

Anlage 14<br />

Umsetzung der aus Mitteln des BMFT geförderten<br />

Abfallvermeidungs- und Abfallverwertungstechniken<br />

von der Entwicklung bis<br />

zur Anwendung im großtechnischen Maßstab<br />

MdlAnfr 15, 16 — Drs 12/766 —<br />

Ursula Burchardt SPD<br />

2713* A<br />

2713* B<br />

SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMFT 2713* D<br />

Anlage 15<br />

Kürzung der Forschungsmittel in den alten<br />

Bundesländern; Abschluß von Sozialplänen<br />

bei einzelnen Großforschungseinrichtungen<br />

MdlAnfr 17, 18 — Drs 12/766 —<br />

Edelgard Bulmahn SPD<br />

SchrAntw PStSekr Bernd Neumann BMFT 2714* B<br />

Anlage 16<br />

Verhandlungen zwischen dem BMZ und<br />

China über die Einrichtung verschiedener<br />

Fabriken<br />

MdlAnfr 19 — Drs 12/766 —<br />

Dietrich Austermann CDU/CSU<br />

SchrAntw PStSekr Hans -Peter Repnik BMZ 2714* D<br />

Anlage 17<br />

Begünstigung der israelischen Kriegführung<br />

im Südlibanon durch die deutschen Finanzzuweisungen<br />

MdlAnfr 24 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Peter Ramsauer CDU/CSU<br />

SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2715* B<br />

Anlage 18<br />

Stand der bündnisinternen Beratungen über<br />

die amerikanisch-sowjetischen SNF-Verhandlungen;<br />

Einbeziehung der luftgestützten<br />

Short-Nuclear-Forces-Systeme in die<br />

Verhandlungen<br />

MdlAnfr 29, 30 — Drs 12/766 —<br />

Katrin Fuchs (Verl) SPD<br />

SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 2315* C


II <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Anlage 19<br />

Bemühungen der Bundesregierung um<br />

Rückführung der ca. 2 Millionen Flüchtlinge<br />

aus Ruanda in ihre Heimat<br />

MdlAnfr 31, 32 — Drs 12/766 —<br />

Horst Sielaff SPD<br />

SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA<br />

Anlage 20<br />

Sowjetische Erklärungen über Lagerung und<br />

Abzug von Atomwaffen und Trägersystemen<br />

aus dem Gebiet der früheren DDR<br />

MdlAnfr 33 — Drs 12/766 —<br />

Norbert Gansel SPD<br />

SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA<br />

Anlage 21<br />

Verhinderung der Diskriminierung von Bewerbern<br />

und Bewerberinnen aus anderen<br />

EG-Staaten um die Anstellung im Lehramt;<br />

Änderung dés Lehrerstatus zur Ermöglichung<br />

des Zugangs von Lehrern und Lehrerinnen<br />

aus anderen EG-Staaten zum öffentlichen<br />

Dienst<br />

MdlAnfr 3, 34 — Drs 12/766 —<br />

Eckart Kuhlwein SPD<br />

SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />

Anlage 22<br />

Anpassung der Vergütungsordnung für<br />

Krankenpflegepersonal an die Lohn- und<br />

Gehaltsentwicklung anderer Berufe<br />

MdlAnfr 35, 36 — Drs 12/766 —<br />

Uta Würfel FDP<br />

SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />

Anlage 23<br />

Zentrale Unterbringung neuer Asylbewerber<br />

und unmittelbare Abschiebung bei unbegründeten<br />

Asylanträgen gemäß dem Vorschlag<br />

des Bundesinnenministers; Harmonisierung<br />

des Asylrechts in Europa<br />

MdlAnfr 37, 38 — Drs 12/766 —<br />

Meinrad Belle CDU/CSU<br />

SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />

Anlage 24<br />

Anzahl der wegen mangelhafter Ausweisepapiere<br />

nicht abschiebbaren Asylbewerber;<br />

Lösung dieses Problems<br />

MdlAnfr 39, 40 — Drs 12/766 —<br />

Bärbel Sothmann CDU/CSU<br />

SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />

2715* D<br />

2716* B<br />

2716* C<br />

2717* A<br />

2717* C<br />

2718* A<br />

Anlage 25<br />

Gespräche über die Rückgabe von Beständen<br />

der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin<br />

durch die polnische Universitätsbibliothek in<br />

Krakau<br />

MdlAnfr 42 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD<br />

SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />

Anlage 26<br />

Förderung des Behindertensports in den<br />

neuen Bundesländern; Aufbau eines zweiten<br />

zentralen Bundesleistungszentrums für den<br />

Behindertensport in der Sportschule Lindow<br />

(Brandenburg)<br />

MdlAnfr 43, 44 — Drs 12/766 —<br />

Friedhelm Julius Beucher SPD<br />

SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />

Anlage 27<br />

Abwicklung der Zonenrandförderung im<br />

Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung<br />

MdlAnfr 45 — Drs 12/766 —<br />

Ludwig Stiegler SPD<br />

SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI<br />

Anlage 28<br />

Einführung eines Straftatbestandes „Geldwäsche"<br />

im Strafgesetzbuch zur Vermeidung<br />

von Geldanlagen aus dem internationalen<br />

Drogenhandel und anderen Bereichen<br />

der organisierten Kriminalität in der Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

MdlAnfr 46, 47 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD<br />

2718* D<br />

2719* A<br />

2719* C<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Reinhard Göhner<br />

BMJ<br />

2719* D<br />

Anlage 29<br />

Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu den<br />

Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR<br />

MdlAnfr 48 — Drs 12/766 —<br />

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Reinhard Göhner<br />

BMJ<br />

Anlage 30<br />

Vereinfachung der Subventionsregelungen<br />

und Förderungsprogramme in den neuen<br />

Bundesländern<br />

MdlAnfr 49 — Drs 12/766 —<br />

Klaus Harries CDU/CSU<br />

2720* C<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />

BMF<br />

2321* A


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

III<br />

Anlage 31<br />

Anstieg des sowjetischen Militärhaushalts<br />

um über 20 % nach den deutschen Zahlungen<br />

an die Sowjetunion<br />

MdlAnfr 50 — Drs 12/766 —<br />

Ortwin Lowack fraktionslos<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />

BMF<br />

2721* B<br />

Anlage 32<br />

Zeitpunkt der Auswirkungen des beabsichtigten<br />

Subventionsabbaus<br />

MdlAnfr 51 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Otto Schily SPD<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />

BMF<br />

2721* D<br />

Anlage 33<br />

Verwendung von Mitteln aus dem Gemeinschaftswerk<br />

Aufschwung Ost für den kommunalen<br />

Straßenbau<br />

MdlAnfr 52 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Margrit Wetzel SPD<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />

BMF<br />

2722* A<br />

Anlage 34<br />

Erweiterung des Privatisierungsauftrags der<br />

Treuhandanstalt im Bereich Tourismus; Zentralisierung<br />

der touristischen Objekte bei der<br />

Treuhandanstalt<br />

MdlAnfr 53, 54 — Drs 12/766 —<br />

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />

BMF<br />

2722* B<br />

Anlage 35<br />

Personelle Verstärkung der Grenzübergänge<br />

Waidhaus und Furth i. W.<br />

MdlAnfr 55 — Drs 12/766 —<br />

Ludwig Stiegler SPD<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />

BMF<br />

2722* C<br />

Anlage 36<br />

Bereitstellung ehemaliger Kasernen für Studentenheime;<br />

Auflagen für den britischen<br />

Käufer<br />

MdlAnfr 56, 57 — Drs 12/766 —<br />

Dietmar Schütz SPD<br />

SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald<br />

BMF<br />

2723* A<br />

Anlage 37<br />

Erschließung neuer Märkte für Unternehmen<br />

mit ausschließlicher Kohleförderung<br />

und -verwertung<br />

MdlAnfr 66 — Drs 12/766 —<br />

Wolfgang Meckelburg CDU/CSU<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2723* C<br />

Anlage 38<br />

Verhinderung der Entstehung negativer Folgen<br />

für die gewachsenen Wirtschafts- und<br />

Handelsbeziehungen zwischen den osteuropäischen<br />

Ländern und der Sowjetunion<br />

durch die deutschen Hilfen<br />

MdlAnfr 67, 68 — Drs 12/766 —<br />

Gernot Erler SPD<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2723* D<br />

Anlage 39<br />

Unterstützung touristischer Pilotprojekte,<br />

z. B. für den Spreewald; Anerkennung von<br />

Kur- und Badeorten<br />

MdlAnfr 69, 70 — Drs 12/766 —<br />

Jürgen Türk FDP<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2724* C<br />

Anlage 40<br />

Erschließung kultureller Wegstrecken in den<br />

neuen Bundesländern, z. B. die Sächsische<br />

Silberstraße, für den Tourismus<br />

MdlAnfr 71 — Drs 12/766 —<br />

Jürgen Koppelin FDP<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* A<br />

Anlage 41<br />

Stärkung des Tourismus im Rahmen des Gemeinschaftswerks<br />

Aufschwung Ost; Berücksichtigung<br />

gastronomischer Gepflogenheiten<br />

bei der Vergabe der Mittel<br />

MdlAnfr 72, 73 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Sigrid Semper FDP<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* A<br />

Anlage 42<br />

Kritik an den Übersichten über die Fördermittel<br />

für den Tourismus in den neuen Bundesländern<br />

MdlAnfr 74 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Gisela Babel FDP<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* C


IV <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Anlage 43<br />

Verbesserung der Infrastruktur aus dem Gemeinschaftswerk<br />

Aufschwung Ost für den<br />

Tourismus; Auswirkungen der günstigen<br />

Wechselkurse für West-Touristen bei Reisen<br />

nach Osteuropa auf den deutschen Tourismus,<br />

insbesondere in den neuen Bundesländern<br />

MdlAnfr 75, 76 — Drs 12/766 —<br />

Josef Grünbeck FDP<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2725* D<br />

Anlage 44<br />

Unterstützung der neuen Bundesländer beim<br />

Aufbau des Tourismus<br />

MdlAnfr 77, 78 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Olaf Feldmann FDP<br />

SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 2726* B<br />

Anlage 45<br />

Wettbewerbsnachteile für die Kartoffelwirtschaft<br />

in den neuen Bundesländern durch die<br />

staatliche Förderung des Kartoffeltransports<br />

aus den alten Bundesländern nach Berlin<br />

MdlAnfr 81, 82 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Gerald Thalheim SPD<br />

SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2726* D<br />

Anlage 46<br />

Zusammenhang zwischen dem Schafsterben<br />

und der PCB-Belastung im Raum Kehl<br />

MdlAnfr 83, 84 — Drs 12/766 —<br />

Harald B. Schäfer SPD<br />

SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2727* A<br />

Anlage 49<br />

Weitere Entwicklung der Bundeswehrhochschulen<br />

MdlAnfr 89 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Egon Jüttner CDU/CSU<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />

Anlage 50<br />

Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland<br />

lagernden Atomsprengköpfe; Entwicklung<br />

von als nukleare Abstandswaffen in Europa<br />

im Rahmen der NATO einsetzbaren Systemen<br />

in den USA<br />

MdlAnfr 90, 91 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Hartmut Soell SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />

Anlage 51<br />

Änderung des nuklearen Waffenbestands in<br />

der Bundesrepublik Deutschland unabhängig<br />

von amerikanisch-sowjetischen SNF<br />

-<br />

Verhandlungen<br />

MdlAnfr 92, 93 — Drs 12/766 —<br />

Walter Kolbow SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />

Anlage 52<br />

Notwendigkeit der Ausrüstung der NATO<br />

mit nuklearen Abstandswaffen; Stationierung<br />

dieser Waffen auf deutschem Boden<br />

MdlAnfr 94, 95 — Drs 12/766 —<br />

Uta Zapf SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />

. 2728* A<br />

. 2728* B<br />

. 2728* C<br />

. 2728* D<br />

Anlage 47<br />

Zusammenhang zwischen der PCB-Belastung<br />

und dem Schafsterben im Raum Kehl;<br />

Senkung der PCB-Werte<br />

MdlAnfr 85, 86 — Drs 12/766 —<br />

Marion Caspers-Merk SPD<br />

SchrAntw PStSekr Gottfried Haschke BML 2727* B<br />

Anlage 53<br />

NATO-Pläne zur Stationierung nuklearer<br />

Abstandswaffen in Europa und insbesondere<br />

in der Bundesrepublik Deutschland<br />

MdlAnfr 96, 97 — Drs 12/766 —<br />

Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />

. 2729* A<br />

Anlage 48<br />

Begründung für den VIP-Service für den<br />

ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet<br />

im Frankfurter Flughafen<br />

MdlAnfr 87, 88 — Drs 12/766 —<br />

Ursula Schmidt (Aachen) SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2727* C<br />

Anlage 54<br />

Nukleare Abdeckung der auf der NATO-<br />

Tagung beschlossenen schnellen Eingreiftruppe<br />

MdlAnfr 98 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Hermann Scheer SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg<br />

. 2729* B


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

V<br />

Anlage 55<br />

Fähigkeit der Sowjetunion zu einem Überraschungsschlag<br />

gegen den Westen; Einstellung<br />

sowjetischer Tiefflüge<br />

MdlAnfr 99, 100 — Drs 12/766 —<br />

Hans Wallow SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* C<br />

Anlage 56<br />

Gründe für die vermehrten Tiefflüge über<br />

der Pfalz<br />

MdlAnfr 101, 102 — Drs 12/766 —<br />

Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2729* D<br />

Anlage 57<br />

Anteil der verbündeten Streitkräfte an den<br />

Tiefflügen über der Bundesrepublik<br />

Deutschland, insbesondere über der Pfalz<br />

MdlAnfr 103, 104 — Drs 12/766 —<br />

Lydia Westrich SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2730* B<br />

Anlage 61<br />

Erkenntnisse über die Zunahme von Aids<br />

und des Drogenkonsums in den Großstädten<br />

der neuen Bundesländer<br />

MdlAnfr 110, 111 — Drs 12/766 —<br />

Antje -Marie Steen SPD<br />

SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann<br />

Pohl BMG<br />

Anlage 62<br />

Verbesserung der Anspruchsvoraussetzungen<br />

für die Gewährung von Leistungen bei<br />

Schwerpflegebedürftigkeit im Rahmen des<br />

Gesundheits-Reformgesetzes<br />

MdlAnfr 112, 113 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup CDU/CSU<br />

SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann<br />

Pohl BMG<br />

2731* D<br />

2733* A<br />

Anlage 58<br />

Vereinbarkeit -<br />

der Übernahme von SS-23<br />

Flugkörpern durch die Bundeswehr mit dem<br />

INF-Vertrag<br />

MdlAnfr 105 — Drs 12/766 —<br />

Norbert Gansel SPD<br />

SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 2730* C<br />

Anlage 59<br />

Verbesserung der finanziellen Lage der<br />

freien Wohlfahrtsverbände in den neuen<br />

Bundesländern<br />

MdlAnfr 106, 107 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Helga Otto SPD<br />

SchrAntw PStSekrin Roswitha Verhülsdonk<br />

BMFuS<br />

2730* D<br />

Anlage 60<br />

Einheitliche Regelung der Anrechnung des<br />

Krankenkassen-Pflegegeldes auf das Pflegegeld<br />

nach § 69 Bundessozialhilfegesetz<br />

MdlAnfr 108, 109 — Drs 12/766 —<br />

Adolf Ostertag SPD<br />

-<br />

SchrAntw PStSekrin Roswitha Verhülsdonk<br />

BMFuS<br />

2731* B<br />

Anlage 63<br />

Verhinderung der Zweckentfremdung von<br />

Investitionsmitteln in den neuen Bundesländern,<br />

insbesondere der Mittel für soziale Einrichtungen<br />

für den Straßenbau<br />

MdlAnfr 114, 115 — Drs 12/766 —<br />

Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU<br />

SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann-<br />

Pohl BMG<br />

Anlage 64<br />

Aufhebung der Beschränkungen bei der<br />

Krankenversicherung von in den neuen Bundesländern<br />

tätigen westdeutschen Arbeitnehmern<br />

mit einem Einkommen von unter<br />

2 250 DM (§ 311 Abs. 1, Buchst. c SGB V)<br />

MdlAnfr 116 — Drs 12/766 —<br />

Verena Wohlleben SPD<br />

2733* B<br />

SchrAntw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann<br />

Pohl BMG<br />

2733* C


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2713*<br />

Anlagen zum Stenographischen Bericht<br />

Anlage 12<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Joachim Tappe (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 5 und 6) :<br />

Ist die Bundesregierung im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit<br />

bereit, im Verlauf der nordhessischen Streckenabschnitte der<br />

A 4/A 7 ein Autobahngebot für den Güterfernverkehr auszusprechen,<br />

um die LKW im Ost-West-Verkehr zu zwingen, den<br />

zumutbaren Umweg über das Kirchheimer Dreieck zu wählen,<br />

um so die hohe Zahl von täglich mehr als 3 500 LKW im Strekkenverlauf<br />

der B 7/B 27 spürbar herunterzufahren?<br />

Sieht die Bundesregierung eine realistische Möglichkeit, als<br />

ersten Schritt zur Entlastung der leidgeprüften Menschen in den<br />

Anliegergemeinden an der B 7 zwischen Kassel und Eisenach,<br />

die täglich mehr als 20 000 KFZ-Fahrbewegungen ertragen<br />

müssen, ein Nachtfahrverbot für LKW auf der B 7 im oben genannten<br />

Streckenabschnitt auszusprechen, wie es bereits für die<br />

B 27 zwischen Fulda und Göttingen gilt?<br />

Zu Frage 5:<br />

Die Straßenverkehrsordnung eröffnet keine Möglichkeit,<br />

ein Autobahngebot für Lkw anzuordnen.<br />

Lkw können von bestimmten Straßen oder Straßenstrecken<br />

nur ferngehalten werden, wenn diese Straßen<br />

oder Straßenstrecken hierfür gesperrt wurden<br />

(Zeichen 253). Die Anordnung solcher Verbote ist<br />

nach der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung<br />

Sache der Bundesländer, deren Verkehrsbehörden<br />

vor allem auch in Kenntnis der Örtlichkeit entscheiden.<br />

In der Abwägung über die Sachgerechtheit des<br />

Verbots ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß<br />

Bundesfernstraßen eine überörtliche Funktion haben<br />

und dem weiträumigen Verkehr dienen (§ 1 Bundesfernstraßengesetz).<br />

Zu Frage 6:<br />

Für die Anordnung eines Nachtfahrverbotes für<br />

Lkw sind ebenfalls die Länder zuständig.<br />

Auch hier gilt es aber, die Interessen der Anlieger<br />

mit der Erhaltung der verkehrlichen Funktion der<br />

Bundesfernstraßen abzuwägen.<br />

Anlage 13<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die<br />

Fragen der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 11 und 12):<br />

Ist der Bundesregierung bekannt, daß die vom Bund bereitgestellten<br />

Liquiditätshilfen zur Wohnungsbewirtschaftung bis<br />

Ende Mai 1991 in Mecklenburg-Vorpommern nicht zur Auszahlung<br />

gekommen sind, und welche Gründe gibt es dafür?<br />

Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um<br />

die u. a. in einem Brief des Bundesministeriums für Raumordnung,<br />

Bauwesen und Städtebau vom 24. April 1991 angekündigten<br />

Soforthilfen zur Liquiditätssicherung aus dem Fonds<br />

„Deutsche Einheit" den Wohnungsbaugesellschaften und anderen<br />

Vermietern zugänglich zu machen?<br />

Zu Frage 11:<br />

Nach der grundgesetzlichen Aufgabenteilung zwischen<br />

Bund und Ländern sind die Länder für die Zahlung<br />

von Verbrauchersubventionen (dazu gehören<br />

auch Subventionen für Mieten) zuständig. Die Länder<br />

regeln deshalb auch in eigener Verantwortung die<br />

Zahlung von Bewirtschaftungshilfen an die Wohnungswirtschaft.<br />

Soweit der Bundesregierung bekannt,<br />

sind inzwischen überall die notwendigen Entscheidungen<br />

gefallen, so daß die entsprechenden Anträge<br />

gestellt werden können. Über den Stand der<br />

Bewilligungen und Auszahlungen ist die Bundesregierung<br />

aber nicht informiert.<br />

Zu Frage 12:<br />

In dem zitierten Brief des Bundesbauministeriums<br />

wurde die grundsätzliche Haltung der Bundesregierung<br />

dargelegt. Insbesondere wurde auf den Beitrag<br />

des Bundes zur Verbesserung der Finanzsituation der<br />

neuen Bundesländer hingewiesen. Dazu zählen u. a.<br />

auch die Soforthilfen aus dem Fonds „Deutsche Einheit".<br />

Wegen der bereits erwähnten Zuständigkeit der<br />

Länder für Verbrauchersubventionen hat der Bund<br />

allerdings keinen Einfluß darauf, wann und wie die<br />

Länder ihrerseits Finanzmittel für Hilfen an die Wohnungswirtschaft<br />

bereitstellen.<br />

Anlage 14<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Ursula Burchardt (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 15 und 16) :<br />

Wie lange dauert in der Regel nach neuesten Erkenntnissen<br />

der Bundesregierung die Umsetzung der aus Mitteln des Bundesministeriums<br />

für Forschung und Technologie geförderten<br />

Abfallvermeidungs- und Abfallverwertungstechniken von der<br />

Entwicklung bis zur Anwendung im großtechnischen Maßstab?<br />

Welche Hemmnisse sind der Bundesregierung bekannt, die<br />

die Umsetzung verzögern?<br />

Zu Frage 15:<br />

Im Rahmen einer Studie „Umsetzung/Nutzen der<br />

BMFT-Förderung Umwelttechnik" ließ der BMFT von<br />

1985 bis 1988 die Umsetzung der Ergebnisse aus Forschung<br />

und Entwicklung zur Umwelttechnologie untersuchen.<br />

In dem betrachteten Zeitraum wurden 249 Projekte<br />

mit 228 Mio. DM Gesamtfördervolumen abgeschlossen.<br />

Hieraus wurden 57 repräsentativ ausgewählte<br />

Projekte mit 101 Mio. DM Fördermitteln untersucht.


2714* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Bezüglich der Umsetzungszeiträume kommt die<br />

Studie zu folgendem Ergebnis:<br />

„Für die Entwicklung und Umsetzung von neuen<br />

Verfahren der Umwelttechnik ist mit unterschiedlichen<br />

Zeiträumen zu rechnen. Deren Kenntnis ist wesentlich<br />

für zukünftige Planungen.<br />

Der zeitliche Aufwand für die Entwicklung und Umsetzung<br />

von neuen Verfahren liegt im Bereich von<br />

2 bis 10 Jahren, wobei dies den Zeitraum zwischen<br />

dem Beginn der Förderung der Unternehmen durch<br />

das BMFT und dem Beginn der Umsetzung, d. h. der<br />

Inbetriebnahme der entsprechenden Anlage, betrifft.<br />

Je nach Art des Verfahrens ergeben sich deutliche<br />

Zeitunterschiede. Während nachgeschaltete Maßnahmen<br />

durchweg in 2 bis 4 Jahren entwickelt und umgesetzt<br />

werden konnten, erforderte die Einführung integrierter<br />

Maßnahmen 6 bis 10 Jahren. "<br />

Zu Frage 16:<br />

Zur Frage von Innovationshemmnissen bei der Umsetzung<br />

von F + E-Ergebnissen im Bereich Abfallwirtschaft<br />

hat der BMFT auf Grund einer kleinen Anfrage<br />

(BT-Drucksache 11/5986) ausführlich Stellung genommen<br />

(BT-Drucksache 11/6194 vom 4. 1. 1990).<br />

Danach sind Innovationshemmnisse in Form einzelner<br />

rechtlicher Regelungen nicht festzustellen.<br />

Dennoch ergeben sich erhebliche Unsicherheiten<br />

bei den Unternehmen der Abfallwirtschaft, die sich als<br />

gravierende Innovationshemmnisse erweisen. Als Ursachen<br />

wurden insbesondere die Summenwirkung<br />

komplexer rechtlicher Regelungen und daraus abgeleitete<br />

Sondergenehmigungsverfahren von bis zu<br />

10 Jahren sowie fehlende öffentliche Akzeptanz genannt.<br />

Der BMFT versucht bei seiner Förderung z. B. durch<br />

Verbundvorhaben zwischen Hochschule und Industrie<br />

zumindest die Hemmnisse beim Wissenstransfer<br />

zwischen Entwickler und Anwender zu minimieren.<br />

Daneben hat die Bundesregierung für Anlagen, die<br />

der Entwicklung und Erprobung dienen, auch im Abfallrecht<br />

eine Regelung analog der Regelung im Bundesimmissionsschutzgesetz<br />

eingeführt, die rasche Genehmigungsverfahren<br />

ermöglicht.<br />

Anlage 15<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Bernd Neumann auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Edelgard Bulmahn (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 17 und 18) :<br />

Trifft der Be richt der „Welt" vom 14. Juni 1991 zu, daß die<br />

Forschungseinrichtungen in den alten Bundesländern in den<br />

kommenden Jahren mit erheblichen Mittelkürzungen seitens<br />

des Bundesministers für Forschung und Technologie rechnen<br />

müssen und daß hinsichtlich der Großforschungseinrichtungen<br />

sogar darüber nachgedacht werde, die einzelnen Großforschungseinrichtungen<br />

zum Abschluß von Sozialplänen zu ermächtigen?<br />

Mit welcher Zielsetzung und anhand welcher Kriterien will<br />

die Bundesregierung die Forschungslandschaft neuordnen?<br />

Zu Frage 17:<br />

Die Gestaltung einer neuen gesamtdeutschen Forschungslandschaft<br />

ist eine der herausragenden forschungspolitischen<br />

Aufgaben der vor uns liegenden<br />

Jahre. Wir werden die Chancen, die darin liegen, nur<br />

dann verantwortlich nutzen, wenn wir auch im bisherigen<br />

Bundesgebiet die bestehenden Kapazitäten hinsichtlich<br />

Aufgabenspektrum und Umfang überprüfen.<br />

Dabei werden alle Förderbereiche einzubeziehen<br />

sein.<br />

Es wird zu Verlagerungen in der Projektförderung<br />

in die Neuen Bundesländer kommen müssen. Hiervon<br />

werden Wirtschaft und Hochschulen, aber auch<br />

Fraunhofer-Gesellschaft und Max-Planck-Institute<br />

betroffen sein. Die Großforschungseinrichtungen in<br />

den alten Bundesländern sind der mit über 2,3 Milliarden<br />

DM bei weitem größte institutionelle Bereich im<br />

Haushalt des Bundesministers für Forschung und<br />

Technologie (BMFT). Es versteht sich deshalb von<br />

selbst, daß ihre Finanzplanung nicht unverändert<br />

bleiben kann. Ihre Grundfinanzierung soll aber nicht,<br />

wie die „Welt" schreibt, ab 1993 erheblich reduziert<br />

werden. Allerdings führen wir mit den GFE Gespräche,<br />

wie im Hinblick auf die knapper werdenden Mittel<br />

durch Straffungen, Vermeidung von Doppelkapazitäten<br />

und Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben<br />

Einsparungen erreicht werden können. Dabei<br />

werden wir differenziert nach forschungspolitischen<br />

Grundsätzen, die den Abgeordneten des FTTA-Ausschusses<br />

zugeleitet werden, vorgehen.<br />

Die betroffenen Länder sind entsprechend informiert<br />

worden. Die Einrichtungen erarbeiten derzeit<br />

Konzepte. Der BMFT wird bemüht sein, die nötigen<br />

Instrumentarien für eine Umsetzung solcher Konzepte<br />

zu schaffen.<br />

Zu Frage 18:<br />

Die Forschungslandschaft der Bundesrepublik<br />

Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten in<br />

den alten Bundesländern erfolgreich entwickelt. Es<br />

steht deshalb keine Neuordnung an, vielmehr geht es<br />

gerade darum, die in den alten Ländern bewährten<br />

Methoden und Programme der Forschungsförderung<br />

und die institutionelle Differenzierung auch in den<br />

neuen Bundesländern einzuführen. Dies ist die Zielsetzung<br />

von Art. 38 des Einigungsvertrages.<br />

Die GFE sind ein tragendes Element unserer Forschungslandschaft,<br />

sie werden auch in der künftigen<br />

gesamtdeutschen Forschungslandschaft eine zentrale<br />

Rolle spielen. Es wird deshalb auch in den neuen Ländern<br />

GFE geben: DLR und DESY z. B. werden Standorte<br />

in Brandenburg und Berlin/Adlershof bekommen.<br />

Selbständige GFE sind zu Medizin, Geologie<br />

und Umwelt sehr ernsthaft im Gespräch. Die Anfang<br />

Juli zu erwartenden Empfehlungen des Wissenschaftsrates<br />

sollen hier wesentliche Weichen stellen.<br />

Anlage 16<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Hans-Peter Repnik auf die<br />

Frage des Abgeordneten Dietrich Austermann (CDU/<br />

CSU) (Drucksache 12/766 Frage 19):


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2715*<br />

Ist es zutreffend, daß — trotz anderslautender Beschlüsse und<br />

Stellungnahmen in Gremien des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es —<br />

vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

Vereinbarungen mit der Volksrepublik China außerhalb des<br />

Umweltbereiches, der Armutsbeseitigung und der Wirtschaftsreform<br />

abgeschlossen oder vorbereitet werden, um die Einrichtung<br />

einer Ammoniakfabrik, einer LKW-Fabrik und einer Reifenfabrik<br />

mit deutscher Unterstützung zu ermöglichen?<br />

Der Deutsche <strong>Bundestag</strong> hat am 30. Oktober 1990<br />

die Bundesregierung aufgefordert, „künftig die entwicklungspolitische<br />

Zusammenarbeit mit der Volksrepublik<br />

China auch auf neue Maßnahmen auszudehnen,<br />

soweit sie unmittelbar der Bevölkerung bzw. dem<br />

Schutz und der Erhaltung der Umwelt dienen sowie<br />

zur Reform der chinesischen Wirtschaft beitragen" .<br />

Die Bundesregierung beachtet diese Entschließung<br />

bei der Gestaltung der Zusammenarbeit mit China<br />

konsequent.<br />

Die in der Frage genannten Projekte der Ammoniak-Fabrik,<br />

der LKW-Fabrik und der Reifenfabrik<br />

wurden bei den Regierungsverhandlungen 1988 bzw.<br />

1989 mit der chinesischen Regierung vereinbart, also<br />

vor der Niederschlagung der Demokratiebewegung<br />

im Juni 1989 und den darauf folgenden Beschlüssen<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es, die eine wesentliche<br />

Einschränkung der Zusammenarbeit vorsahen. Es<br />

handelt sich insofern um Altprojekte. Der <strong>Bundestag</strong><br />

ist im übrigen über die Durchführung dieser drei Projekte<br />

mehrfach unterrichtet worden, so z. B. der AwZ<br />

in seiner <strong>Sitzung</strong> am 6. September 1990 mit dem sog.<br />

Soll-Ist-Vergleich für das Jahr 1989 und über den<br />

Durchführungsauftrag über die Ammoniak-Fabrik<br />

Dalian am 3. April 1991.<br />

Anlage 18<br />

Antwort<br />

des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen der<br />

Abgeordneten Katrin Fuchs (Verl) (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 29 und 30):<br />

Wie ist der Stand der bündnisinternen Beratungen über amerikanisch-sowjetische<br />

SNF-Verhandlungen hinsichtlich ihrer<br />

Gegenstände, Zielstellungen und des Geltungsbereiches des<br />

angestrebten Abkommens?<br />

Hält es die Bundesregierung für erforderlich, bei den amerikanisch-sowjetischen<br />

SNF-Verhandlungen nicht nur über die<br />

Beseitigung der landgestützten SNF-Systeme, sondern auch<br />

über die luftgestützten SNF-Systeme zu verhandeln, und wenn<br />

ja, mit welchem Ziel?<br />

Zu Frage 29:<br />

Die zur Ausarbeitung eines westlichen SNF-Rüstungskontrollansatzes<br />

des Bündnisses eingesetzte<br />

Besondere Beratungsgruppe (Special Consultative<br />

Group) hat bisher wesentliche Fragen einer westlichen<br />

Verhandlungsposition erörtert. Sie hat aber noch<br />

keine gemeinsamen Festlegungen getroffen. Auf der<br />

NATO-Außenministertagung am 6./7. Juni 1991 in<br />

Kopenhagen hat der SCG-Vorsitzende einen Fortschrittsbericht<br />

vorgelegt.<br />

Zu Frage 30:<br />

Die Vorgabe der Londoner Erklärung für SNF-Rüstungskontrolle,<br />

von der die gegenwärtigen Bündnisberatungen<br />

ausgehen, bezieht sich auf landgestützte<br />

nukleare Raketensysteme unter 500 km Reichweite<br />

und nukleare Artilleriemunition. Die Bundesregierung<br />

ist der Auffassung, daß grundsätzlich auch luftgestützte<br />

Nuklearwaffen in Verhandlungen einbezogen<br />

werden sollten. Über Zielsetzung und Modalitäten<br />

wird zu gegebener Zeit entschieden werden.<br />

Anlage 17<br />

Antwort<br />

des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des<br />

Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 24):<br />

Hält es die Bundesregierung für denkbar, daß durch die Finanzzuweisungen<br />

der Bundesrepublik Deutschland an den<br />

Staat Israel im Zusammenhang mit dem Golfkrieg die derzeitige<br />

intensive Kriegführung des Staates Israel im Südlibanon begünstigt<br />

wird?<br />

Bei der Finanzzuweisung der Bundesrepublik<br />

Deutschland an den Staat Israel handelt es sich um<br />

eine humanitäre Hilfe, die im Zusammenhang mit den<br />

durch den Golfkrieg entstandenen Schäden gewährt<br />

worden ist. Die Vereinbarung sieht ausdrücklich vor,<br />

daß durch diese Mittel die Schäden, die durch die<br />

Scud-Angriffe entstanden sind, beseitigt werden sollen.<br />

Eine Verwendung für andere Zwecke, insbesondere<br />

militärische Ausrüstung oder Maßnahmen, ist<br />

ausgeschlossen. Der Bundesregierung liegen keine<br />

Hinweise vor, daß durch die Zahlung militärische Aktionen<br />

im Südlibanon begünstigt worden sind.<br />

Anlage 19<br />

Antwort<br />

des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des<br />

Abgeordneten Horst Sielaff (SPD) (Drucksache 12/<br />

766 Fragen 31 und 32):<br />

Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in der Vergangenheit<br />

ergriffen, um zu erreichen, daß den ca. 2 Millionen<br />

Flüchtlingen aus Ruanda von der dortigen Regierung ermöglicht<br />

wird, in ihre Heimat zurückzukehren, und was gedenkt die Bundesregierung<br />

in Zukunft zu tun, um diesem Ziel näherzukommen?<br />

In welchem Umfang wird Ruanda mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt<br />

unterstützt?<br />

Zu Frage 31:<br />

Zunächst eine Richtigstellung: Die in der Frage behauptete<br />

Zahl von 2 Millionen Flüchtlingen aus Ruanda<br />

ist bei weitem zu hoch angesetzt. Nach den jüngsten<br />

Erhebungen des UNHCR (November 1990) gibt<br />

es insgesamt etwa 500 000 ruandische Flüchtlinge in<br />

der Region.<br />

Das Flüchtlingsproblem, das 1959 durch die erfolgreiche<br />

Revolution der unterdrückten Hutu-Mehrheit<br />

gegen die Herrschaft der Tutsi-Minderheit ausgelöst<br />

wurde, war über drei Jahrzehnte lang nicht virulent.<br />

Erst mit dem bewaffneten Einfall in Uganda lebender<br />

Tutsi-Flüchtlinge nach Ruanda (Oktober 1990), die


2716* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

sich zur Front Patriotique Rwandaise (FPR) zusammengeschlossen<br />

hatten, wurde die Flüchtlingsfrage<br />

Gegenstand regionaler und internationaler Lösungsbemühungen.<br />

Erfreulicherweise haben sich die betroffenen Regionalstaaten<br />

ihrer Verantwortung für die Lösung des<br />

Flüchtlingsproblems gestellt. In einer regionalen<br />

Staatschef-Konferenz am 19. Februar 1990 in Daressalam<br />

erkannte Ruanda das Rückkehrrecht für alle<br />

Tutsi-Flüchtlinge förmlich an und stellte für sie eine<br />

Amnestie in Aussicht. Der ruandische Staatspräsident<br />

Habyarimana hat diese Verpflichtung zuletzt beim<br />

OAE-Gipfel in Abuja (Nigeria) Anfang Juni 1991 bestätigt.<br />

Der UNHCR wurde von den afrikanischen Regionalstaaten<br />

beauftragt, ein umfassendes Konzept für<br />

die Reintegration rückkehrwilliger Flüchtlinge auszuarbeiten.<br />

Hauptproblem hierfür ist die schon jetzt bestehende<br />

erhebliche Überbevölkerung Ruandas.<br />

Die Bundesregierung und ihre europäischen Partner<br />

haben die afrikanischen Bemühungen um eine<br />

Lösung des Flüchtlingsproblems und um eine Beendigung<br />

der damit in Zusammenhang stehenden Kampfhandlungen<br />

zwischen FPR und ruandischer Armee<br />

politisch mit Nachdruck unterstützt. Wir haben in diesem<br />

Sinne mehrfach bilateral und gemeinsam mit den<br />

EG-Staaten in Ruanda und in den betroffenen Nachbarländern<br />

demarchiert. Nach Vorlage eines vom<br />

UNHCR und den Regionalstaaten entwickelten Konzepts<br />

für Rückkehr der Flüchtlinge nach Ruanda wird<br />

die Bundesregierung Möglichkeiten der finanziellen<br />

Unterstützung eines solchen Programms prüfen.<br />

Zu Frage 32:<br />

Für den zweijährigen Zusagerahmen 1989/90 erhielt<br />

Ruanda 50 Millionen DM aus Mitteln der Finanziellen<br />

Zusammenarbeit und 38 Millionen DM aus<br />

Mitteln der Technischen Zusammenarbeit. Im September<br />

1991 finden in Ruanda die nächsten Regierungsverhandlungen<br />

über entwicklungspolitische<br />

Zusammenarbeit in den Jahren 1991/92 statt. Es ist<br />

damit zu rechnen, daß sich das Fördervolumen im<br />

ähnlichen Rahmen wie im vorigen Zusagezeitraum<br />

bewegen wird. Schwerpunkte der Zusammenarbeit<br />

sind die landwirtschaftliche Entwicklung, Infrastrukturvorhaben<br />

und das Erziehungswesen.<br />

Anlage 20<br />

Antwort<br />

des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des<br />

Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Frage 33):<br />

Welche Erklärungen haben sowjetische Stellen über Lagerung<br />

und Abzug von sowjetischen Atomwaffen und Trägersystemen<br />

auf dem Gebiet der früheren DDR abgegeben, und welche<br />

Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Glaubwürdigkeit<br />

dieser Erklärungen?<br />

Der sowjetische Außenminister Bessmertnych hat<br />

anläßlich seines Besuches am 12./13. Juni in Bonn<br />

klargestellt, es gebe noch einige Atomwaffen auf dem<br />

Gebiet der ehemaligen DDR, welche nach einem Abzugsplan<br />

ziemlich rasch abgezogen würden. Nach deren<br />

Abzug werde die Bundesregierung entsprechend<br />

unterrichtet.<br />

Die Bundesregierung sieht keinen Grund, an der<br />

Glaubwürdigkeit der am 13. Juni 1991 abgegebenen<br />

klarstellenden Erklärung des sowjetischen Außenministers<br />

zu zweifeln.<br />

Anlage 21<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Eckart Kuhlwein (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 3 und 34):<br />

Trifft es zu, daß die EG-Kommission die Bundesregierung<br />

schriftlich aufgefordert hat, durch eine entsprechende Gesetzesänderung<br />

sicherzustellen, daß Bewerber und Bewerberinnen<br />

aus anderen Staaten der EG um die Anstellung im Lehramt nicht<br />

diskriminiert werden, wenn sie die erforderliche Ausbildungsqualifikation<br />

besitzen?<br />

Welche Änderungen des Status der Lehrer hält die Bundesregierung<br />

für erforderlich, um der Rechtsprechung des Europäischen<br />

Gerichtshofs zu entsprechen, nach der die Beschränkung<br />

des Zugangs zum öffentlichen Dienst der Mitgliedsländer (Artikel<br />

48 Abs. 4 EWG-Vertrag) nur bei „hoheitlichen Aufgaben",<br />

nicht jedoch für das Lehramt an staatlichen Schulen gilt?<br />

Aus Gründen des Sachzusammenhanges möchte<br />

ich beide Fragen zusammen beantworten.<br />

Die Bundesregierung hat sich in ihrer mit den Ländern<br />

abgestimmten Stellungnahme von Ap ril 1990 zu<br />

der sog. „systematischen Aktion" der EG-Kommission<br />

zu den Fragen des Zugangs von EG-Mitbürgern zum<br />

deutschen öffentlichen Dienst eingehend geäußert.<br />

Dabei hat die Bundesregierung gegenüber der EG-<br />

Kommission ausdrücklich ihre Bereitschaft zu einem<br />

konstruktiven Dialog über alle Möglichkeiten der<br />

Verbesserung der Freizügigkeit für Angehörige der<br />

Mitgliedstaaten der EG innerhalb der öffentlichen<br />

Verwaltung erklärt.<br />

Die Kommission hat dieses Angebot bisher nicht<br />

aufgegriffen. Vielmehr hat sie im Rahmen von Verfahren<br />

nach Art. 169 EWG-Vertrag mit Schreiben vom<br />

April 1991 die Bundesregierung aufgefordert, sich zu<br />

angeblichen Verstößen gegen Artikel 48 des Vertrags<br />

im Zusammenhang mit der Beschäftigung von EG-<br />

Staatsangehörigen in verschiedenen Bereichen der<br />

deutschen öffentlichen Verwaltung (u. a. Personal der<br />

staatlichen Bildungseinrichtungen, Bedienstete von<br />

Bundespost und Bundesbahn, Personal im Bereich der<br />

Wasserversorgung) zu äußern.<br />

Die Äußerung der Kommission wird geprüft und in<br />

Abstimmung mit den Ländern eine Stellungnahme<br />

erarbeitet.<br />

Im übrigen hat die Bundesregierung bereits Anfang<br />

des Jahres eine gesetzliche Neuregelung in Aussicht<br />

gestellt, um die Berufung von EG-Mitbürgern in das<br />

Beamtenverhältnis generell zu erleichtern.<br />

Der Status der Lehrer in der Bundesrepublik entspricht<br />

den Vorgaben der Verfassung, er hat sich bewährt.<br />

Weder der EWG-Vertrag noch der Prozeß der


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2717*<br />

europäischen Integration erfordern hier Änderungen.<br />

Anlage 22<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Uta Würfel (FDP) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 35 und 36):<br />

Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß 1974<br />

eine Unterrichtsschwester mit der Eingruppierung nach Krankenhaustarif<br />

Kr VII über der Beitragsbemessungsgrenze lag<br />

und dieselbe nun leitende Unterrichtsschwester, eingruppiert<br />

nach Kr IX und 17 Jahre älter, heute nicht mit ihrem Gehalt die<br />

Beitragsbemessungsgrenze der Krankenkasse erreicht?<br />

Zu welchem Handeln veranlaßt die Bundesregierung die Tatsache,<br />

daß das Gehalt der Krankenpflegepersonen weit hinter<br />

der Lohn- und Gehaltsentwicklung anderer Berufe zurückgeblieben<br />

ist?<br />

Zu Frage 35:<br />

Aus dem in Ihrer Frage beschriebenen Beispiel der<br />

Einkommensentwicklung einer Unterrichtsschwester<br />

von 1974 bis 1991 lassen sich keine Folgerungen für<br />

eine verzögerte Einkommensentwicklung im Bereich<br />

des Krankenpflegepersonals bzw. der Unterrichtsschwestern<br />

treffen. Mit diesem Beispiel meinen Sie<br />

eine Unterrichtsschwester, deren Vergütung 1974<br />

wohl nur knapp über der damals geltenden Beitragsbemessungsgrenze<br />

für die gesetzliche Krankenversicherung<br />

in Höhe von 1 875, — DM gelegen hat und<br />

deren Vergütung heute in der Vergütungsgruppe<br />

Kr. IX nur dann knapp unter der derzeit geltenden<br />

Grenze von 4 875, — DM liegt, wenn sie ledig oder<br />

verheiratet ohne Kinder ist. Ebenso läßt sich umgekehrt<br />

ein Beispiel für eine Unterrichtsschwester bilden,<br />

die 1974 unterhalb und 1991 oberhalb der jeweils<br />

geltenden Beitragsbemessungsgrenze vergütet wird.<br />

Das von Ihnen herangezogene Beispiel ist auch deshalb<br />

für allgemeine Schlußfolgerungen ungeeignet,<br />

weil es nur auf ein ganz bestimmtes Basisjahr abstellt,<br />

nämlich das Jahr 1974, in dem bekanntlich eine besonders<br />

starke Anhebung der Einkommen im öffentlichen<br />

Dienst stattfand und deshalb die Bemessungsgrenze<br />

auch in vielen Fällen erreicht und überschritten<br />

wurde. Wenn man z. B. ein früheres oder ein späteres<br />

Bezugsjahr zugrundelegt, gäbe es auch andere<br />

Ergebnisse.<br />

Ferner muß beachtet werden, daß sich die individuelle<br />

Gehaltsentwicklung nach dem Bezahlungssystem<br />

des öffentlichen Dienstes auch nach der Entwicklung<br />

des Familienstandes und der Zahl der Kinder<br />

sowie danach richtet, ob man noch in den Altersstufen<br />

aufsteigt oder schon die Endvergütung erhält.<br />

Zu Frage 36:<br />

Die Bundesregierung kann — wie auch in meiner<br />

Antwort auf Ihre vorhergehende Frage aufgezeigt —<br />

nicht bestätigen, daß das Gehalt der Krankenpflegepersonen<br />

weit hinter der Lohn- und Gehaltsentwicklung<br />

anderer Berufe zurückgeblieben ist. Vielmehr<br />

umfassen gerade die Tarifverträge aus jüngster Zeit<br />

vom Juni 1989 und März 1991 eine Reihe von strukturellen<br />

Maßnahmen — z. B. die Einführung von Bewährungsaufstiegen<br />

und die Erhöhung von Zulagen<br />

für besonders belastende Dienste —, die zu erheblichen<br />

Verbesserungen der Vergütung von Krankenpflegepersonen<br />

führten.<br />

Im übrigen sieht die Bundesregierung davon ab, die<br />

tarifliche Eingruppierung und Vergütung für einzelne<br />

Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes allgemein zu<br />

werten, da es sich hierbei um eine Angelegenheit der<br />

Tarifvertragsparteien handelt.<br />

Anlage 23<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Meinrad Belle (CDU/CSU)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 37 und 38):<br />

Wie ist der derzeitige Sachstand der Gespräche zwischen dem<br />

Bund und den einzelnen Bundesländern über den Vorschlag des<br />

Bundesministers des Innern, neu einreisende Asylbewerber<br />

zentral unterzubringen und nach Prüfung bei offensichtlich unbegründetem<br />

Asylantrag von dort unmittelbar abzuschieben?<br />

Wie ist der Stand der Gespräche zur Vereinheitlichung des<br />

Asylrechts im Rahmen der Verhandlungen zur Realisierung des<br />

Schengener Abkommens, und wann wird mit den Gesprächen<br />

zur Harmonisierung des Asylrechts in Europa im Rahmen der<br />

Europäischen Gemeinschaft begonnen?<br />

Zu Frage 37:<br />

Der Bundesminister des Innern hat die Innenminister<br />

und Senatoren für Inneres der Länder eindringlich<br />

gebeten, die Möglichkeit des § 23 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz<br />

, Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften<br />

unterzubringen, konsequenter als bisher zu<br />

nutzen, weil die zentrale Unterbringung von ganz<br />

wesentlicher Bedeutung für die von allen Beteiligten<br />

geforderte Straffung und Beschleunigung der Asylverfahren<br />

ist, wenn sich die Anträge als unbeachtlich<br />

oder offensichtlich unbegründet erweisen und deshalb<br />

in einem vereinfachten Verfahren beschieden<br />

werden können.<br />

Die Länder sehen das im wesentlichen ebenso. Sie<br />

haben durch Errichtung zentraler Ausländerbehörden<br />

die Möglichkeit geschaffen, daß die vom Bundesamt<br />

für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eingerichteten<br />

Außenstellen mit den örtlichen Behörden<br />

eng zusammenarbeiten können und die Asylbewerber<br />

kurzfristig erreichbar sind. Es zeigt sich aber auch,<br />

daß es den Ländern derzeit nicht möglich ist, alle neu<br />

hinzukommenden Asylbewerber in zentralen Sammellagern<br />

unterzubringen. Hier sieht der Bundesminister<br />

des Innern bei den Ländern noch Handlungsbedarf.<br />

Denn bei zentraler Unterbringung kann die Ausreiseverpflichtung<br />

derjenigen abgelehnten Asylbewerber<br />

konsequenter durchgesetzt werden, bei denen<br />

Abschiebungshindernisse nicht entgegenstehen. Dadurch<br />

würde insbesondere den Gemeinden, die auch<br />

für die Unterbringung der abgelehnten Asylbewerber<br />

zuständig sind, ganz wesentlich geholfen werden<br />

können. Der Bundesminister des Innern wird deshalb<br />

dieses Anliegen gerade auch im Interesse der kleineren<br />

Gemeinden mit Nachdruck weiter verfolgen.


2718* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Zu Frage 38:<br />

Im Schengener Rahmen ist unter deutschem Vorsitz<br />

eine Arbeitsgruppe „Asyl" eingesetzt worden, die<br />

sich mit einem Vergleich der Asylrechtssysteme der<br />

Schengen-Staaten befaßt. Die Arbeiten werden im<br />

2. Halbjahr unter italienischem Vorsitz fortgesetzt.<br />

Die Einwanderungsminister der EG-Mitgliedstaaten<br />

haben auf ihrer <strong>Sitzung</strong> am 13. Juni 1991 die adhoc-Arbeitsgruppe<br />

„Einwanderung" gebeten, bis<br />

Ende dieses Jahres die für eine Harmonisierung des<br />

Asylrechts zu prüfenden Problemfelder aufzulisten<br />

und für die Prüfung einen Zeitplan zu erstellen.<br />

Die EG selbst hat bisher auf dem Gebiet des Asylrechts<br />

keine Kompetenz. Fragen einer Kompetenz der<br />

EG auf dem Gebiet des Asylrechts sind derzeit Gegenstand<br />

der Erörterungen in der Regierungskonferenz<br />

zur Europäischen Politischen Union.<br />

Anlage 24<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Bärbel Sothmann (CDU/CSU)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 39 und 40):<br />

Ist der Bundesregierung bekannt, wie hoch die Zahl der nicht<br />

anerkannten und nach dem Ausländergesetz abzuschiebenden<br />

Asylbewerber ist, die allein aus dem Grund nicht in ihre Heimatländer<br />

zurückgeschickt werden können, weil sie keine oder<br />

zweifelhafte Ausweispapiere besitzen?<br />

Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Zahl<br />

der aus oben genanntem Grund nicht abschiebbaren Asylbewerber<br />

zu vermindern bzw. welche unterstützenden Maßnahmen<br />

kann und wird die Bundesregierung — angesichts der Länderkompetenz<br />

beim Vollzug des Ausländergesetzes — zur Lösung<br />

dieses Problems ergreifen?<br />

Zu Frage 39:<br />

Nach den Erfahrungen der Länder stellt die Paßlosigkeit<br />

nicht in jedem Einzelfall ein dauerhaftes Abschiebehindernis<br />

dar. In der überwiegenden Zahl der<br />

Fälle kommt es lediglich zu Verzögerungen bei der<br />

Abschiebung. Deshalb werden diese Fälle von den<br />

Ausländerbehörden in der bundeseinheitlichen Statistik<br />

über den Zugang und den Verbleib (ehemaliger)<br />

Asylbewerber nicht besonders erfaßt. Soweit in einzelnen<br />

Ländern eine genauere statistische Erfassung<br />

erfolgt, wird zum Teil auch nur die Zahl der aktuell<br />

erfolglosen Abschiebeversuche festgehalten. In Folge<br />

dessen hat die Bundesregierung kein einheitliches<br />

Bild über die Anzahl vorübergehender und dauerhafter<br />

Abschiebehindernisse.<br />

Aufzeichnungen darüber, wie lange in Einzelfällen<br />

die Paßlosigkeit eine Abschiebung verhindert, werden<br />

von den Ländern ebenfalls nicht geführt.<br />

Zu Frage 40:<br />

Der Verhinderung solcher Fälle dienen zum einen<br />

die Vorschriften im Ausländergesetz und im Asylverfahrensgesetz<br />

über die Verwahrung der Pässe von<br />

ausreisepflichtigen Ausländern und von Asylbewerbern<br />

bei der Ausländerbehörde. Zum anderen enthält<br />

das Ausländergesetz in § 41 die erforderliche und ausreichende<br />

Rechtsgrundlage, um bei Ausländern, die<br />

nicht im Besitz eines Passes sind, alle erforderlichen<br />

Maßnahmen einschließlich erkennungsdienstlicher<br />

Maßnahmen zur Feststellung der Identität und der<br />

Staatsangehörigkeit zu treffen. Bei der Auswertung<br />

der erkennungsdienstlichen Unterlagen leistet das<br />

Bundeskriminalamt nach § 78 Ausländergesetz Amtshilfe;<br />

dort werden Unterlagen zentral aufbewahrt. Dadurch<br />

können insbesondere die Fälle aufgedeckt werden,<br />

in denen Ausländer früher bereits mit Identitätspapieren<br />

einen Asylantrag im Bundesgebiet gestellt<br />

haben.<br />

Wenn die Staatsangehörigkeit ermittelt ist, kann bei<br />

der Auslandsvertretung des Herkunftsstaates im Bundesgebiet<br />

die Ausstellung eines Passes oder Heimreisescheines<br />

beantragt werden. Jeder Staat ist völkerrechtlich<br />

anderen Staaten gegenüber grundsätzlich<br />

zur Rücknahme der eigenen Staatsangehörigen verpflichtet.<br />

Soweit ein Herkunftsstaat die Ausstellung<br />

der von ihm für die Einreise geforderten Papiere verweigert,<br />

drängt die Bundesregierung mit Nachdruck<br />

auf diplomatischem Wege auf die Erfüllung dieser völkerrechtlichen<br />

diplomatischen Verpflichtung.<br />

Die Bundesregierung erwartet, daß auch durch die<br />

engere Zusammenarbeit mit den anderen EG-Staaten,<br />

insbesondere den Partnerstaaten des Schengener<br />

Übereinkommens, die Möglichkeiten erleichtert und<br />

erweitert werden, den Aufenthalt von Ausländern<br />

ohne Paß zu beenden. Gerade in den Fällen, in denen<br />

der Drittstaatsangehörige sich zunächst in einem anderen<br />

EG-Staat aufgehalten hatte, lassen sich dort<br />

möglicherweise Unterlagen über seine Identität und<br />

seine Staatsangehörigkeit finden. Zum anderen kann<br />

in den Fällen, in denen Herkunftsstaaten nur zögerlich<br />

zur Paßausstellung bereit sind, durch ein gemeinsames<br />

Vorgehen der EG- bzw. Schengen-Staaten<br />

eher Abhilfe geschaffen werden.<br />

Anlage 25<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage<br />

des Abgeordneten Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 42):<br />

Trifft es zu, daß gegen Ende des Zweiten Weltkrieges große<br />

Teile des Bestandes der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin<br />

(Unter den Linden) ausgelagert und heute in Krakau/Polen in<br />

die dortige Universitätsbibliothek eingegliedert sind, und gibt es<br />

bereits Gespräche über eine mögliche Rückgabe dieser Bestände,<br />

analog der Lage bei den Kunstschätzen, die in der Sowjetunion<br />

lagern?<br />

Es trifft zu, daß Teilbestände der ehemaligen Preußischen<br />

Staatsbibliothek im 2. Weltkrieg nach Schlesien<br />

in die Abtei Grüssau ausgelagert worden sind<br />

und sich heute in der Universitätsbibliothek Krakau<br />

befinden. Dort sind sie der wissenschaftlichen Benutzung<br />

zugänglich. Es handelt sich um Handschriften,<br />

Autographen, Musikautographen und Druckschriften.<br />

Gemäß Artikel 28 Abs. 3 des am 17. Juni 1991 unterzeichneten<br />

Vertrages zwischen der Bundesrepublik<br />

Deutschland und der Republik Polen über gute<br />

Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenar-


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2719*<br />

beit werden die Vertragsparteien bestrebt sein, die<br />

Probleme der verlagerten Kulturgüter, beginnend mit<br />

Einzelfällen, zu lösen. Die Bundesregierung wird nach<br />

Inkrafttreten des Vertrages Gespräche mit der polnischen<br />

Regierung über die Rückführung von Kulturgütern<br />

aufnehmen. Einer der zu behandelnden Einzelfälle<br />

wird der in Krakau gelagerte Bestand der ehemaligen<br />

Preußischen Staatsbibliothek sein.<br />

Anlage 26<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 43 und 44):<br />

Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung getroffen, um<br />

die Verpflichtungen aus dem Artikel 39 Abs. 3 des Einigungsvertrages<br />

— „für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1992<br />

unterstützt der Bund den Behindertensport" — zu erfüllen?<br />

Wie steht die Bundesregierung zur Forderung des Landessportbundes<br />

Brandenburg nach einem zweiten zentralen Bundesleistungszentrum<br />

für den Behindertensport in der Sportschule<br />

Lindow?<br />

Zu Frage 43:<br />

Für die Unterstützung des Breitensports der Behinderten<br />

in den neuen Bundesländern sollen 1991<br />

900 000 DM zur Verfügung gestellt werden. Abschlagszahlungen<br />

sind bereits geleistet worden. Die<br />

Mittel sind vorgesehen für<br />

— Personalkostenzuschüsse für je einen Bediensteten<br />

der Landesverbände der Behinderten und der<br />

Gehörlosen,<br />

— Zuwendungen zu Breitensportmaßnahmen der<br />

Landesverbände der Behinderten und der Gehörlosen<br />

(insbesondere für Sportveranstaltungen auf<br />

regionaler Ebene; Tagungen/Schulungen von<br />

Vereinsvorsitzenden, Schatzmeistern, Organisations-<br />

und Übungsleitern sowie Trainern, Kosten<br />

der Geschäftsstellen der Landesverbände).<br />

Für 1992 sind nach gegenwärtigem Stand der Haushaltsberatungen<br />

für diese Zwecke 1 200 000 DM vorgesehen.<br />

Zu Frage 44:<br />

Die von Ihnen erwähnte Forderung des Landessportbundes<br />

Brandenburg ist der Bundesregierung<br />

-<br />

nicht bekannt.<br />

Der Deutsche Behinderten-Sportverband wurde im<br />

Zusammenhang mit der Errichtung des im Bau befindlichen<br />

Leistungszentrums für den Behindertensport<br />

in Duisburg im Dezember 1990 gebeten, ein<br />

Konzept für die Errichtung von Leistungszentren für<br />

den Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland<br />

zu erstellen. Dieses Konzept liegt bisher noch<br />

nicht vor. Ich gehe davon aus, daß der Deutsche Behinderten-Sportverband<br />

die Forderung des Landessportbundes<br />

Brandenburg in seine Überlegungen einbeziehen<br />

wird.<br />

Anlage 27<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage<br />

des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Frage 45) :<br />

Wie stellt sich die Bundesregierung die Abwicklung der kulturellen<br />

und sozialen Zonenrandförderung im Zeitraum der mittelfristigen<br />

Finanzplanung vor, und welche Beträge sind nach<br />

der Ressortplanung bisher dafür in den kommenden Haushaltsjahren<br />

eingesetzt?<br />

Für das bis 1994 auslaufende kulturelle und soziale<br />

Zonenrandprogramm ist ein Plafond von 270 Millionen<br />

DM vorgesehen, der wie folgt zur Verfügung stehen<br />

soll:<br />

1991 120 Millionen DM<br />

1992 100 Millionen DM<br />

1993 30 Millionen DM<br />

1994 20 Millionen DM<br />

Dieser Gesamtplafond ist vorrangig dazu bestimmt,<br />

solche kulturellen und sozialen Maßnahmen und Einrichtungen<br />

im ehemaligen Zonenrandgebiet abzuwickeln,<br />

— für die in den Vorjahren verbindliche Zuwendungszusagen<br />

vorgelegen haben<br />

— die in Vorjahren bereits mit Bundesmitteln an<br />

finanziert worden sind oder<br />

— bei denen die Bundesländer in Kenntnis des Bedarfes<br />

an Bundesmitteln den vorzeitigen Maßnahmebeginn<br />

gemäß Nr. 1.3 der vorl. VV zu §§ 44, 44 a<br />

BHO genehmigt haben.<br />

Außerdem soll dieser Gesamtbetrag den laufenden<br />

Unterhalt der großen bis mittleren Kulturträger des<br />

ehemaligen Zonenrandgebietes (Theater, Orchester,<br />

Festspiele und Bildungseinrichtungen) bis einschließlich<br />

1992 garantieren. Damit soll den Ländern Bayern,<br />

Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ausreichend<br />

Zeit für eine Umstrukturierung ihrer Haushalte<br />

zur Übernahme der künftig ausfallenden Bundesförderung<br />

verschafft werden.<br />

Der bisher für die Verteilung von Bundesmitteln<br />

maßgebende Schlüssel von<br />

Bayern 33,96 %<br />

Hessen 13,35 %<br />

Niedersachsen 28,33 %<br />

Schleswig-Holstein 24,36<br />

bleibt hierbei unverändert bestehen.<br />

Anlage 28<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Reinhard Göhner auf die<br />

Fragen des Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer (Ulm)<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 46 und 47):<br />

Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß nach der Einführung<br />

eines Straftatbestandes der „Geldwäscherei" in der<br />

Schweiz (Artikel 305 schweizerisches StGB) und in anderen<br />

westeuropäischen Ländern im Jahre 1990 die Gefahr besteht,<br />

daß vermehrt Gelder aus dem internationalen Drogenhandel<br />

und anderen Bereichen der organisierten Kriminalität in der<br />

Bundesrepublik Deutschland angelegt werden, wo es bisher<br />

keinen entsprechenden Straftatbestand gibt?


2720* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Beabsichtigt die Bundesregierung, daraus Konsequenzen zu<br />

ziehen und die Verpflichtungen aus den von ihr getragenen<br />

Übereinkommen, Empfehlungen und Richtlinien der UNO, des<br />

Europarates, der Europäischen Kommission und der EG trotz der<br />

Bedenken des Kreditgewerbes endlich zu erfüllen?<br />

Zu Frage 46:<br />

Die Entscheidung der einschlägigen Täter darüber,<br />

wo der Versuch unternommen wird, die Gewinne aus<br />

der Organisierten Kriminalität zu „waschen", dürfte<br />

von einer Reihe von Faktoren abhängen. Das jeweils<br />

geltende Strafrecht ist nur einer dieser Faktoren. Die<br />

in der Frage angesprochene Gefahr könnte sich auf<br />

Dauer nur dann ergeben, wenn die Geldwäsche in<br />

Deutschland straflos bliebe. Aus meiner Antwort zu<br />

der nächsten Frage wird sich aber ergeben, daß dieser<br />

Fall nicht eintreten wird. Die angesprochene Gefahr<br />

sehe ich daher nicht.<br />

verständlich bemüht, die Richtlinie so zügig wie möglich<br />

umzusetzen.<br />

Soweit in der Frage auch noch der Europarat angesprochen<br />

ist, möchte ich darauf hinweisen, daß die<br />

Bundesregierung selbstverständlich auch das Übereinkommen<br />

des Europarates über das Waschen, das<br />

Aufspüren, die Beschlagnahme und die Einziehung<br />

von Erträgen aus Straftaten, zu dessen Erstzeichnern<br />

die Bundesrepublik Deutschland gehört hat, so<br />

schnell wie möglich zur Ratifizierung vorlegen wird,<br />

wenn die innerstaatlichen Voraussetzungen dafür geschaffen<br />

werden. Wie Sie aus meinen vorausgegangenen<br />

Ausführungen entnehmen konnten, wird hieran<br />

mit Nachdruck gearbeitet.<br />

Zu Frage 47:<br />

Die in der Frage angesprochenen Konsequenzen<br />

beziehen sich im Grunde auf zwei verschiedene Bereiche,<br />

auf eine Strafvorschrift über Geldwäsche und<br />

auf eine Regelung zur Aufspürung der Gewinne aus<br />

schweren Straftaten.<br />

Zur Geldwäsche habe ich in der Fragestunde vom<br />

17. April 1991 auf eine Frage des Herrn Kollegen Singer<br />

ausgeführt, daß die Bundesregierung bereits in<br />

der Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates<br />

zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels<br />

und anderer Erscheinungsformen der Organisierten<br />

Kriminalität einen eigenen Vorschlag für eine neue<br />

Strafvorschrift im vergangenen Jahr dem Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong> unterbreitet hat. Eine ergänzte, mit den<br />

beteiligten Bundesressorts zwischenzeitlich abgestimmte<br />

Fassung soll in das Ausführungsgesetz zu<br />

dem Vertragsgesetz zur Wiener Drogenkonvention<br />

von 1988 eingestellt werden. Die Bundesregierung<br />

hält am Ziel einer möglichst schnellen Ratifizierung<br />

dieses Übereinkommens durch den Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />

noch vor Jahresende 1991 fest und ist dementsprechend<br />

auch um eine schnelle Einbringung des<br />

Ausführungsgesetzes dazu bemüht.<br />

Unabhängig hiervon hat der Bundesrat am 26. April<br />

1991 beschlossen, in seinem Gesetzentwurf zur Bekämpfung<br />

des illegalen Rauschgifthandels und anderer<br />

Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität<br />

einen Geldwäschetatbestand aufzunehmen, der in<br />

seiner Ausgestaltung weitgehend der im Bundesministerium<br />

der Justiz ausgearbeiteten Formulierung entspricht.<br />

Damit ist sichergestellt, daß die Pönalisierung<br />

der Geldwäsche auch im Rahmen der Gesetzgebung<br />

zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität<br />

-<br />

weiter<br />

verfolgt wird. Je nachdem, welches der beiden<br />

Gesetzgebungsvorhaben schneller läuft, wird die Regelung<br />

also entweder in dem einen oder in dem anderen<br />

Gesetz verabschiedet werden. Zum Gewinnaufspürungsgesetz<br />

ist darauf hinzuweisen, daß die Richtlinie<br />

der EG zur Verhinderung der Nutzung des<br />

Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche erst am<br />

10. Juni 1991, also in der vorigen Woche, in Brüssel<br />

beschlossen worden ist. Die Forderung, die Richtlinie<br />

„endlich" umzusetzen, ist deshalb nicht verständlich.<br />

Die Richtlinie schreibt eine Umsetzung bis zum 1. Januar<br />

1993 vor. Die Bundesregierung ist jedoch selbst<br />

Anlage 29<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Reinhard Göhner auf die<br />

Frage des Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt)<br />

(FDP) (Drucksache 12/766 Frage 48) :<br />

Ist der Bundesregierung bekannt, ob im Hinblick auf die<br />

durch Aktenfunde belegten Zwangsadoptionen in der ehemaligen<br />

DDR staatsanwaltschaftliche Ermittlungen eingeleitet wurden,<br />

und denkt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund<br />

gesetzliche Maßnahmen einzuleiten?<br />

Die Nachfrage bei den betroffenen Landesjustizverwaltungen<br />

hat ergeben, daß in Berlin und Brandenburg<br />

im Zusammenhang mit dem Verdacht von<br />

„Zwangsadoptionen" staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren<br />

bisher nicht eingeleitet worden sind.<br />

In diesen Ländern soll nach Auswertung der Verdachtsfälle<br />

durch die Senatsverwaltung für Jugend in<br />

Berlin entschieden werden, ob Anlaß zu strafrechtlichen<br />

Ermittlungen besteht. Im Lande Sachsen-Anhalt<br />

ist bei der Staatsanwaltschaft Halle auf Grund der<br />

Strafanzeige eines Rechtsanwalts ein Ermittlungsverfahren<br />

zu dem angesprochenen Fragenkomplex eingeleitet<br />

worden. Erkenntnise über weitere staatsanwaltschaftliche<br />

Ermittlungen haben sich in der Kürze<br />

der zur Beantwortung der Frage zur Verfügung stehenden<br />

Zeit nicht gewinnen lassen.<br />

Aus strafrechtlicher Sicht sind bisher keine gesetzlichen<br />

Maßnahmen angezeigt. Es ist Aufgabe der<br />

Strafverfolgungsorgane der Länder und letztlich der<br />

unabhängigen Ge richte zu beurteilen, ob sich jemand<br />

im Zusammenhang mit dem angesprochenen Fragenkomplex<br />

nach den zur Tatzeit geltenden Gesetzen<br />

strafbar gemacht hat. Soweit dies nicht der Fall sein<br />

sollte, kann eine Strafbarkeit nicht nachträglich begründet<br />

werden. Dies ist durch das in Artikel 103<br />

Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot<br />

ausgeschlossen.<br />

Zur Erforderlichkeit gesetzgeberischer Maßnahmen<br />

im Bereich des Familienrechts, namentlich einer<br />

Verlängerung der Antragsfrist zur Überprüfung der<br />

nach dem Recht der ehemaligen DDR ohne Einwilligung<br />

der leiblichen Eltern erfolgten Adoptionen wird


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — 33, <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2721*<br />

Herr Bundesminister Dr. Kinkel heute abend vor dem<br />

<strong>Bundestag</strong> die Auffassung der Bundesregierung vortragen.<br />

Anlage 30<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />

die Frage des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/<br />

CSU) (Drucksache 12/766 Frage 49):<br />

Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, die Vielzahl von<br />

Subventionen und Förderungsprogrammen in den neuen Bundesländern,<br />

die insbesondere für die Städte, Kreise und Gemeinden<br />

unübersichtlich bis verwirrend sind, baldmöglichst zu straffen<br />

und zu vereinfachen?<br />

Um den Kommunen einen Überblick über alle bestehenden<br />

Bundesprogramme zu geben, hat der Bundesminister<br />

der Finanzen in Zusammenarbeit mit den<br />

anderen Bundesressorts die Broschüre „Finanzierungshilfen<br />

der Bundesregierung 1991" zusammengestellt.<br />

In dieser Informationsschrift sind ausführlich<br />

die Förderprogramme dargestellt, die Adressen der<br />

Antragsstellen angeben sowie — soweit möglich —<br />

Musteranträge beigefügt. Die Broschüre ist inzwischen<br />

an alle Gemeinden und Kreise in den neuen<br />

Bundesländern versandt worden.<br />

Die Bundesregierung ist sich durchaus bewußt, daß<br />

die Vielzahl der Förderprogramme die Übersichtlichkeit<br />

verringert. Unter anderem auch aus diesem<br />

Grunde hat sie deshalb im Rahmen des Gemeinschaftswerkes<br />

„Aufschwung Ost" und unter Beachtung<br />

der Eigenverantwortung von Ländern und Gemeinden<br />

5 Milliarden DM den Kommunen in den<br />

neuen Ländern als Investitionspauschale für Instandsetzungen<br />

insbesondere von Schulen, Krankenhäusern<br />

und Altersheimen zur Verfügung gestellt. Damit<br />

konnten ohne bürokratische Verzögerungen unverzüglich<br />

Aufträge an die heimische Wirtschaft vergeben<br />

und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen<br />

werden.<br />

Im übrigen sieht die Bundesregierung derzeit keine<br />

Möglichkeiten, die Vielzahl von Subventionen und<br />

Förderprogrammen in den neuen Bundesländern zu<br />

straffen und zu vereinfachen, da die Mischfinanzierungs-<br />

und Subventionstatbestände vielfältiger Art<br />

sind und auch unterschiedlichen Sachgesetzlichkeiten<br />

unterliegen.<br />

Anlage 31<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />

die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 50):<br />

Treffen Mitteilungen zu, wonach der Militärhaushalt der Sowjetunion<br />

in diesem Jahr um über 20 % ansteigt, und wie läßt<br />

sich gegebenenfalls diese Tatsache mit den deutschen Zahlungen<br />

an die Sowjetunion vereinbaren, die in diesem Jahr eine<br />

Größenordnung von voraussichtlich 70 Milliarden DM erreichen<br />

werden?<br />

Es trifft nach den Informationen der Bundesregierung<br />

zu, daß der sowjetische Militärhaushalt 1991 um<br />

über 20 % gegenüber 1990 steigt. Dabei handelt es<br />

sich allerdings um eine Nominalzahl, die im Zusammenhang<br />

mit der offiziell mit 24 % angegebenen, aber<br />

von sowjetischen und ausländischen Ökonomen für<br />

1991 auf bis zu 200 % geschätzten Inflationsrate zu<br />

sehen ist. Zwar ist der Bundesregierung nicht bekannt,<br />

inwieweit die sowjetischen Militärkosten von<br />

den Preissteigerungen betroffen sind. Es ist aber nicht<br />

auszuschließen, daß es real zumindest nicht zu einer<br />

Steigerung der Militärausgaben kommt.<br />

Die in der Frage genannte Zahl von 70 Milliarden<br />

DM für angeblich deutsche Zahlungen an die UdSSR<br />

ist nicht nur überhöht; sie umfaßt auch Leistungen<br />

unterschiedlicher Natur und verschiedener Zeiträume.<br />

So betragen die Zahlungen aus dem Bundeshaushalt<br />

in 1991 etwa ein Viertel der nach dem<br />

deutsch-sowjetischen Überleitungsabkommen zu erbringenden<br />

und auf vier Jahre verteilten Leistungen<br />

in Höhe von insgesamt rund 12 Milliarden DM, also<br />

rund 3 Milliarden DM. Daneben werden unter anderem<br />

deutschen Exporteuren zu kommerziellen Bedingungen<br />

Ausfuhrgarantien für Exporte in die UdSSR<br />

gewährt, wobei zugunsten der Exporte aus dem Beitrittsgebiet<br />

bestimmte Sonderkonditionen gelten. Dabei<br />

bleibt es aber bei der Verzinsung zu Marktkonditionen<br />

und der Rückzahlbarkeit.<br />

Weder die Leistungen nach dem Überleitungsabkommen<br />

noch die Exportbürgschaften eignen sich als<br />

Ansatzpunkte, um die UdSSR zur Verringerung ihrer<br />

Rüstungsausgaben zu bewegen.<br />

In dem inzwischen beiderseits ratifizierten Überleitungsabkommen<br />

hat sich die Bundesregierung völkerrechtlich<br />

verbindlich verpflichtet. Die Zahlungen<br />

dienen dazu, den termingerechten Abzug der sowjetischen<br />

Truppen aus Deutschland zu sichern.<br />

Die Exportbürgschaften dienen zumindest auch der<br />

Sicherung der Beschäftigung, insbesondere in den<br />

neuen Bundesländern. Ein politisches Junktim würde<br />

den ohnehin stockenden Handelsaustausch gefährden,<br />

womit keiner Seite gedient wäre. Im Rahmen<br />

ihrer außenpolitischen Bemühungen strebt die Bundesregierung<br />

eine nachhaltige und dauerhafte Abrüstung<br />

an.<br />

Anlage 32<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />

die Frage des Abgeordneten Otto Schily (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 51):<br />

Zu welchem Zeitpunkt will die Bundesregierung den beabsichtigten<br />

Subventionsabbau von 10 Milliarden DM „kassenwirksam"<br />

werden lassen?<br />

Von dem vereinbarten Subventionsabbau sind im<br />

Bundeshaushalt 1991 rund 0,5 Milliarden DM kassenwirksam.<br />

Dieser Betrag steigt auf 1,5 Milliarden DM<br />

im Jahr 1994 an und ist im Finanzplan berücksichtigt.<br />

Der weitere Abbau von Finanzhilfen wird noch in<br />

einer Arbeitsgruppe beraten. Zum Abbau zusätzlicher


2722* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

steuerlicher Vergünstigungen sind bereits Vorschläge<br />

erarbeitet worden. Das Gesamtpaket wird dem Bundeskabinett<br />

am 10. Juli 1991 vorliegen. Vorher lassen<br />

sich Aussagen weder über Einzelmaßnahmen, noch<br />

über deren kassenmäßigen Auswirkungen machen.<br />

Anlage 33<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />

die Frage der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Frage 52):<br />

In welcher Höhe wurden aus dem Etat Kommunales Investitionsprogramm<br />

(insbesondere Schulen, Krankenhäuser, Altenheime)<br />

„Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost" in Höhe von<br />

5 Mrd. DM Mittel für den kommunalen Straßenbau verwendet?<br />

Den Kommunen und Kreisen in den neuen Bundesländern<br />

sind im Rahmen des Gemeinschaftswerks<br />

„Aufschwung Ost" vom Bund fünf Milliarden DM als<br />

Investitionspauschale über die Verwaltungen der<br />

neuen Bundesländer zur Verfügung gestellt worden.<br />

Eine ausschließliche Verwendung der Mittel für Investitionen<br />

in soziale Einrichtungen — dies muß betont<br />

werden — ist in der zwischen Bund und Ländern<br />

geschlossenen Verwaltungsvereinbarung zur Investitionspauschale<br />

nicht vorgesehen. Vielmehr können<br />

bei entsprechendem Bedarf investive Maßnahmen für<br />

die Kommunale Infrastruktur insgesamt, also auch<br />

zum Beispiel für kommunale Gebäude und sonstige<br />

Anlagen allgemein, gefördert werden, mithin auch<br />

kommunale Straßen.<br />

Wie sich die Investitionsvorhaben bei den Kommunen<br />

aufgliedern, ist im Augenblick noch nicht zu sagen,<br />

da sich die neuen Länder zu einer entsprechenden<br />

Berichterstattung an den Bund bisher nicht in der<br />

Lage sehen.<br />

Anlage 34<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />

die Fragen der Abgeordneten Sabine Leutheusser<br />

-<br />

Schnarrenberger (FDP) (Drucksache 12/766 Fragen<br />

53 und 54):<br />

Ist die Bundesregierung bereit, den Privatisierungsauftrag der<br />

Treuhand im Bereich Fremdenverkehr auf die Ferienheime der<br />

Betriebe der NVA und der verschiedenen Sondervermögen sowie<br />

die Gästehäuser des Ministerrates der ehemaligen DDR zu<br />

erweitern?<br />

Ist die Bundesregierung bereit, innerhalb der Treuhand die<br />

Zuständigkeit für die Privatisierung aller touristischen Objekte<br />

zu zentralisieren — und zwar möglichst beim Koordinator Fremdenverkehr<br />

— und dessen Stellung innerhalb der Treuhand<br />

durch Zuordnung eines adäquaten Mitarbeiterstabes zu stärken?<br />

Zu Frage 53:<br />

Die in der Frage angesprochenen Einrichtungen<br />

sind teils der Treuhandanstalt zur Verwaltung und<br />

Verwertung übertragen, teils stehen sie unmittelbar<br />

im Eigentum des Bundes. Diese Aufteilung ist durch<br />

Gesetz geregelt.<br />

Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, hieran etwas<br />

zu ändern.<br />

Zu Frage 54:<br />

Die Trauhandanstalt ist mittlerweile personell und<br />

organisatorisch in der Lage, ihrer Aufgabe voll gerecht<br />

zu werden. So ist zukünftig der Koordinator für<br />

Fremdenverkehr und Tourismus der alleinige Ansprechpartner<br />

für die Privatisierung von Hotels und<br />

Ferienheimen, soweit sie der Verwaltung der Treuhandanstalt<br />

unterliegen. Auch von daher sieht die<br />

Bundesregierung keinen Anlaß, Einfluß auf die Organisationsstruktur<br />

der Treuhandanstalt zu nehmen.<br />

Anlage 35<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />

die Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 55):<br />

Welche zusätzlichen personellen Möglichkeiten für die<br />

Grenzübergänge Waldhaus und Furth im Wald sieht die Bundesregierung<br />

auf der Grundlage des verabschiedeten Bundeshaushalts,<br />

und welche Chancen eröffnet er, den Beförderungsstau<br />

dort aufzulösen?<br />

Zur Anpassung an die allgemeine Verkehrsentwicklung<br />

ist der Personalbestand der in Bayern an der<br />

Grenze zur Tschechoslowakei gelegenen Zolldienststellen<br />

um insgesamt über 200 Beamte, die bisher an<br />

der innerdeutschen Grenze eingesetzt waren, erhöht<br />

worden. In Kürze werden den Zollämtern Waidhaus<br />

und Furth im Wald insgesamt mehr als 40 weitere<br />

Beamte auf Dauer zugeführt.<br />

Im Bundeshaushalt 1991 sind die notwendigen Personalverstärkungen<br />

an der deutsch-tschechoslowakischen<br />

Grenze berücksichtigt worden. Sie führen aber<br />

insgesamt nicht zu Stellenvermehrungen, weil gleichzeitig<br />

im Zusammenhang mit dem Wegfall von Aufgaben<br />

der Zollverwaltung an der ehemaligen innerdeutschen<br />

Grenze noch Stellenüberhänge abzubauen<br />

sind.<br />

Die Einführung der neuen Funktionsgruppe<br />

„Grenzzolldienst" eröffnet für die in diesem Bereich<br />

eingesetzten Beamten eine Vielzahl von Beförderungsmöglichkeiten.<br />

Zu den konkreten Beförderungsaussichten<br />

der Beschäftigten der Zollämter<br />

Waidhaus und Furth im Wald läßt sich jedoch keine<br />

Aussage machen, da die Beamten der Zollverwaltung<br />

— unabhängig von der Dienststelle, der sie angehören<br />

— bundeseinheitlich nach einer mit der Personalvertretung<br />

abgestimmten Reihenfolge befördert werden.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2723*<br />

Anlage 36<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf<br />

die Fragen des Abgeordneten Dietmar Schütz (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 56 und 57):<br />

Steht die Bundesregierung jetzt nicht mehr zu ihrer mit den<br />

Regierungschefs der Länder getroffenen Übereinkunft vom<br />

12. Dezember 1989 — die vor Ort durch den damaligen Bundesminister<br />

für Bildung und Wissenschaft, Jürgen W. Möllemann,<br />

bekräftigt wurde — Studentenwerken ehemalige Kasernen zu<br />

günstigen Konditionen zur Verfügung zu stellen?<br />

Wie soll im Kaufvertrag mit dem britischen Investor sichergestellt<br />

werden (z. B. durch Begrenzung der Höchstmiete etc.), daß<br />

der Investor — wie in der Presse angekündigt — dort 270 Studentenwohnungen<br />

bauen wird?<br />

Zu Frage 56:<br />

Die in dem Protokoll der Ministerpräsidentenkonferenz<br />

vom 21. Dezember 1989 enthaltene Forderung<br />

der Länder, der Bund solle geeignete bundeseigene<br />

Baugrundstücke „zu einem symbolischen Preis" zur<br />

Schaffung von Wohnraum für Studenten bereitstellen,<br />

ist im Rahmen der Besprechung des Bundeskanzlers<br />

mit den Regierungschefs der Länder in die „gemeinsame<br />

Erklärung der Regierungschefs von Bund und<br />

Ländern zu grundsätzlichen Fragen der Bildungs- und<br />

Forschungspolitik" nicht aufgenommen worden.<br />

In der Ministerpräsidentenkonferenz am 21. Dezember<br />

1989 ist deshalb keine Übereinkunft getroffen<br />

worden.<br />

Zu Frage 57:<br />

Es geht bei Ihrer Frage offenbar um die Pferdemarkt-Kaserne<br />

in Oldenburg.<br />

Der meistbietende Kaufinteressent, ein britischer<br />

Staatsangehöriger, beabsichtigt nach Angaben des<br />

ihn vertretenden Anwalts, die beiden unteren Stockwerke<br />

des Hauptgebäudes der Pferdemarkt-Kaserne<br />

einer gewerblichen Nutzung zuzuführen (beispielsweise<br />

Praxen für Ärzte und Anwälte) und in den beiden<br />

oberen Stockwerken Studentenwohnraum zu<br />

schaffen.<br />

In den Kaufvertrag sollen folgende Forderungen<br />

des Bundes aufgenommen werden:<br />

— Die Herrichtung zu Studentenwohnungen ist in<br />

spätestens 5 Jahren nach Eigentumsübertragung<br />

abgeschlossen. Die Nutzung als Studentenwohnungen<br />

wird für mindestens 10 Jahre nach Abschluß<br />

der Baumaßnahmen aufrechterhalten.<br />

— Der Mietzins beträgt höchstens 8, — DM/m 2. Er ist<br />

für die Dauer von einem Jahr nach Erstvermietung<br />

unveränderlich. Nach diesem Zeitraum ist eine<br />

Steigerung im Verhältnis der Steigerung der Mietzinsen<br />

im öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau<br />

zulässig.<br />

— Der Bund hat sich im Kaufvertrag das Recht des<br />

Wiederkaufs für den Fall vorzubehalten, daß das<br />

Grundstück nicht vertragsgemäß verwendet<br />

wird.<br />

Zur Sicherung dieses Rechts ist eine Vormerkung<br />

für den Bund an dem Kaufgrundstück zu bestellen<br />

und an erster Rangstelle einzutragen.<br />

Im übrigen hat der Bund vom Kaufinteressenten<br />

gefordert, daß auch im Nebengebäude (rd. 660 m 2 )<br />

Studentenwohnungen einzurichten sind.<br />

Anlage 37<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die<br />

Frage des Abgeordneten Wolfgang Meckelburg<br />

(CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Frage 66):<br />

Wie verhält sich die Bundesregierung zu Vorschlägen, Unternehmen,<br />

die bisher in der reinen Kohleförderung und -verwertung<br />

tätig sind, bei deren Bemühen zu fördern, wie andere Energiekonzerne<br />

auch neue Märkte in anderen Bereichen zu erschließen,<br />

und ist sie bereit, rechtliche und praktische Hindernisse,<br />

die dabei im Wege stehen, umgehend zu beseitigen?<br />

Die Unternehmen des deutschen Steinkohlenbergbaus<br />

unterscheiden sich von anderen Energiekonzernen<br />

u. a. dadurch, daß sie in hohem Maße von öffentlichen<br />

Hilfen abhängig sind.<br />

Von den heute im Prinzip nur noch drei selbständigen<br />

Bergbauunternehmen verfügt vor allem die Ruhrkohle<br />

AG bereits über einen umfangreichen Beteiligungsbereich.<br />

Dort erzielt sie rd. ein Drittel ihres Konzernumsatzes.<br />

Einer begrenzten und wirtschaftlich<br />

vernünftigen Ausweitung dieses Bereichs hat die<br />

Bundesregierung nichts in den Weg gelegt; die aus<br />

bürgschaftsrechtlichen Gründen erforderliche Zustimmung<br />

der öffentlichen Hand zum Erwerb von Beteiligungen<br />

ist in aller Regel erteilt worden.<br />

Eine Förderung der Bergbauunternehmen aus den<br />

Kohlehilfen zur Erschließung neuer Märkte, in denen<br />

sie im Wettbewerb mit anderen Unternehmen stehen,<br />

kann nicht in Betracht kommen. Die den Bergbauunternehmen<br />

gewährten Kohlehilfen sind zweckgebunden<br />

zur Erhaltung des politisch gewollten Versorgungsbeitrages<br />

der deutschen Steinkohle. Die Kohlehilfen<br />

können auch nur in dem Umfang gewährt werden,<br />

wie die Unternehmen alle eigenen Möglichkeiten<br />

der Finanzierung und zur Rationalisierung ausgeschöpft<br />

haben; Gewinne aus Beteiligungen sind<br />

grundsätzlich zur Verringerung der Kohlehilfen zu<br />

verwenden.<br />

Die bereits erfolgte Diversifizierung trägt auch zur<br />

Beschleunigung des Strukturwandels und zur Bewältigung<br />

des Personalüberhangs bei. Als Instrument zur<br />

Schaffung neuer Arbeitsplätze im Nichtmontanbereich<br />

stehen in den Bergbauregionen Hilfen aus der<br />

Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen<br />

Wirtschaftsstruktur und anderen Förderprogrammen<br />

zur Verfügung.<br />

Anlage 38<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 67 und 68) :


2724* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Von welchen Ländern sind der Bundesregierung gegenüber<br />

Klagen über Folgen der westlichen Sowjetunion-Hilfe für die<br />

eigenen Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion geäußert<br />

worden?<br />

Welche Konzepte verfolgt die Bundesregierung, damit durch<br />

ihre Hilfen an die Sowjetunion keine negativen Folgen für die<br />

gewachsenen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen<br />

den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion entstehen<br />

können?<br />

Im übrigen ist die Bundesregierung bemüht, bei<br />

ihren Hilfen die mittel- und osteuropäischen Staaten<br />

und die Sowjetunion möglichst gleichgewichtig zu<br />

behandeln.<br />

Zu Frage 67:<br />

An die Bundesregierung sind bisher keine offziellen<br />

Klagen anderer Staaten über negative Auswirkungen<br />

der Hilfen für die UdSSR auf ihre Handelsbeziehungen<br />

mit der UdSSR herangetragen worden.<br />

Der Bundesregierung ist jedoch bekannt, daß sich<br />

Vertreter Polens, Ungarns und der CSFR bei verschiedenen<br />

Anlässen besorgt über Beeinträchtigungen<br />

ihrer Agrarausfuhren in die UdSSR durch die westlichen<br />

Nahrungsmittellieferungen zu Vorzugskonditionen<br />

äußerten.<br />

Die Befürchtungen dieser Staaten werden von der<br />

Bundesregierung ernst genommen. In diesem Zusammenhang<br />

ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Handel<br />

der ehemaligen RGW-Staaten seit dem 1. Januar<br />

1991 auf der Basis konvertibler Währungen abgewikkelt<br />

wird. Diese Umstellung dürfte wegen der Devisenknappheit<br />

der UdSSR den Agrarhandel dieser<br />

Länder stärker tangiert haben als die Nahrungsmittellieferungen<br />

der westlichen Länder.<br />

Zu Frage 68:<br />

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß mit<br />

den deutschen Wirtschafts- und Finanzhilfen an die<br />

UdSSR ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der<br />

Volkswirtschaft dieses Landes geleistet wird. Die<br />

Stärkung der Wirtschaftskraft der UdSSR ist eine wesentliche<br />

Voraussetzung für die Aufrechterhaltung<br />

ihrer gewachsenen Handelsbeziehungen mit dem<br />

mittel- und osteuropäischen Staaten. Die Hilfen für<br />

die Sowjetunion kommen auf diese Weise mittelbar<br />

auch den anderen ehemaligen RGW-Staaten zugute.<br />

Die aus humanitären Motiven geleisteten Unterstützungen<br />

zur Erleichterung von akuten Versorgungsengpässen<br />

in der UdSSR bei Nahrungsmitteln<br />

im Winter 1990/1991, nämlich vor allem die Spende<br />

von Vorräten aus der Auflösung der Berlin-Reserve,<br />

hat traditionelle Einkäufe der UdSSR in anderen Ländern<br />

nach unserem Wissen nicht tangiert, - denn die<br />

Sowjetunion war aufgrund ihrer Devisenschwäche<br />

nicht in der Lage, diese Engpässe durch zusätzliche<br />

Käufe am Weltmarkt zu überbrücken.<br />

Von den Sonderkonditionen bei der Hermes-Absicherung,<br />

die die Bundesregierung der UdSSR zur Erleichterung<br />

der Einkäufe in den fünf neuen Bundesländern<br />

für 1991 eingeräumt hat, gehen ebenfalls<br />

keine Effekte aus, die Handelsströme umlenken.<br />

Denn sie betreffen ein Volumen, das nur einen Teil<br />

der früheren langjährigen Wirtschaftsbeziehungen<br />

zwischen Bet rieben der ehemaligen DDR und sowjetischen<br />

Abnehmern abdeckt.<br />

Anlage 39<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Jürgen Türk (FDP) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 69 und 70):<br />

Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, z. B. für den Spreewald,<br />

im Rahmen von Pilotprojekten ein auch touristisch konzipiertes,<br />

umweltverträgliches, traditionsgebundenes und den<br />

Mittelstand förderndes, wirtschaftlich attraktives Leistungsangebot<br />

zu initiieren und sowohl finanziell als auch ideell zu unterstützen?<br />

Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Anerkennungen<br />

von Kur- und Badeorten und die damit verbundenen<br />

Investitionen wie z. B. den Ausbau der Übernachtungskapazitäten<br />

und der Infrastruktur möglichst schnell umzusetzen, und in<br />

welchem Rahmen ist sie bereit, diese zu unterstützen?<br />

Zu Frage 69:<br />

Der Spreewald als einzigartige Niederungslandschaft<br />

in Mitteleuropa ist eine Region von besonderer<br />

touristischer Attraktivität. Dementsprechend groß ist<br />

das öffentliche Interesse. So gibt es bereits mehrere<br />

Studien mit konzeptionellen Vorstellungen für die<br />

Entwicklung dieser Region, u. a. von der Universität<br />

Trier.<br />

Über diese Unterstützung hinaus steht für konkrete<br />

Investitionsprojekte das differenzierte Förderinstrumentarium<br />

zur Verfügung, das im wesentlichen vom<br />

Land verwaltet wird. Die Bundesregierung geht davon<br />

aus, daß das Land sich bei den finanziellen Zusagen<br />

— insbesondere aus der Gemeinschaftsaufgabe<br />

„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" —<br />

an diesen Entwicklungskonzepten orientiert. Die<br />

Konzepte berücksichtigen die in der Frage erwähnten<br />

Kriterien.<br />

Zu Frage 70:<br />

Die Situation im Kur- und Bäderbereich der neuen<br />

Länder ist noch schwierig, da die überwiegende Zahl<br />

der Erholungsorte, in denen sich Kureinrichtungen<br />

befanden, die ehrgeizigen Kriterien zur Kurortanerkennung<br />

im alten Bundesgebiet nicht erfüllen kann.<br />

Daher wird es notwendig sein, eine Auswahl von geeigneten<br />

Kurorten für die Anerkennung zu treffen,<br />

denen eine gewisse Schonzeit von mehreren Jahren<br />

zuzusichern ist und denen verstärkte Förderhilfen<br />

durch die Landesregierung zu geben sind.<br />

Zur Unterstützung des Kur- und Bäderbereiches<br />

prüft das Bundesministerium für Wirtschaft einen Untersuchungsauftrag<br />

zur Erstellung eines Marketing<br />

Konzepts unter besonderer Berücksichtigung der Situation<br />

der neuen Länder.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2725*<br />

Anlage 40<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die<br />

Frage des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 71):<br />

Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, besondere<br />

kulturelle Wegstrecken wie z. B. die Sächsische Silberstraße<br />

überregional bekanntzumachen und für den Tourismus zu erschließen?<br />

Die Profilierung derartiger touristischer Straßen<br />

muß in erster Linie von den Bürgern und Verantwortlichen<br />

vor Ort mitgetragen werden. Eine enge Zusammenarbeit<br />

der beteiligten Gemeinden ist ebenfalls<br />

vorauszusetzen. Zur Unterstützung entsprechender<br />

Initiativen können die verschiedenen Möglichkeiten<br />

der wirtschaftlichen Förderung durch die Landesregierung<br />

eingesetzt werden.<br />

Eine überregionale, internationale Beachtung kann<br />

bei geeigneten Projekten durch die Deutsche Zentrale<br />

für Tourismus im Rahmen ihrer Tourismuswerbung<br />

erzielt werden.<br />

Anlage 41<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Dr. Sigrid Semper (FDP)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 72 und 73):<br />

Welche Maßnahmen sind bei der regionalen Wirtschaftsförderung<br />

im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost"<br />

zur Stärkung der Fremdenverkehrsbranche vorgesehen, und<br />

wie verteilen sich diese Maßnahmen auf die einzelnen Bundesländer?<br />

In welchem Umfang werden bei der Investitionsmittelvergabe<br />

die traditionellen gastronomischen Gepflogenheiten der Region<br />

berücksichtigt bzw. ein enger landsmannschaftlicher und kultureller<br />

Bezug sichergestellt?<br />

Zu Frage 72:<br />

Auch für das Sonderprogramm „regionale Wirtschaftsförderung"<br />

im Rahmen des Gemeinschaftswerks<br />

„Aufschwung-Ost" bleibt es den Ländern überlassen,<br />

regionale und sektorale Schwerpunkte der<br />

Förderung zu bestimmen.<br />

Die Aufteilung der insgesamt 2,4 Milliarden<br />

D-Mark auf die einzelnen Länder ergibt sich wie<br />

folgt:<br />

Brandenburg<br />

360 Millionen D-Mark<br />

Mecklenburg-Vorpommern 300 Millionen D-Mark<br />

Sachsen-Anhalt<br />

400 Millionen D-Mark<br />

Sachsen<br />

720 Millionen D-Mark<br />

Thüringen<br />

440 Millionen D-Mark<br />

Berlin-Ost<br />

180 Millionen D-Mark.<br />

Zu Frage 73:<br />

Eine Bindung der Fördermittelvergabe an spezielle<br />

gastronomische Ausstattungsformen im Sinne einer<br />

staatlichen Vorgabe erfolgt nicht. Die Wahl des Leistungsprofils<br />

einer Gaststätte unterliegt der freien unternehmerischen<br />

Entscheidung und muß sich am<br />

Markt orientieren. Es wird allerdings häufig im Interesse<br />

des Investors liegen, sein Angebot in Anknüpfung<br />

an regionale Traditionen zu gestalten.<br />

Anlage 42<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die<br />

Frage der Abgeordneten Dr. Gisela Babel (FDP)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 74):<br />

Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die vorhandenen<br />

Übersichten über die bereitgestellten Fördermittel den Anforderungen<br />

der Existenzgründer und Investoren gerecht werden,<br />

und welche Konsequenzen zieht sie aus vorgetragener Kritik<br />

wie z. B. im Rahmen der internen Anhörung der Fraktion der<br />

FDP „Fremdenverkehrstag Aufschwung-Ost"?<br />

Die Bundesregierung ist ständig bemüht, die vorhandenen<br />

Informationsmaterialien für Existenzgründer<br />

und potentielle Investoren zu verbessern. Ende<br />

Mai 1991 wurde eine neue Broschüre des Bundesministers<br />

für Wirtschaft aufgelegt mit dem Titel „Wirtschaftliche<br />

Förderung in den neuen Bundesländern" .<br />

Diese Broschüre gibt viele praktische Hinweise für<br />

potentielle Existenzgründer und Investoren. Naturgemäß<br />

gibt es im konkreten Einzelfall weitergehenden<br />

Beratungsbedarf, der seit 7. Juni 1991 u. a. auch durch<br />

die Benutzung des Bürgertelefons gedeckt werden<br />

kann, das bei der Außenstelle des Bundesministeriums<br />

für Wirtschaft eingerichtet wurde.<br />

In Regionalkonferenzen und Fachveranstaltungen<br />

vor Ort bemüht sich das Bundesministerium für Wirtschaft,<br />

zusätzliche Beratung weiterzugeben. In zunehmendem<br />

Maße sind auch die Wirtschaftsministerien<br />

der Länder, die Indust rie- und Handelskammern<br />

und zahlreiche Fachverbände inzwischen in der Lage,<br />

Beratung vor Ort und im konkreten Einzelfall zu erteilen.<br />

Die Bundesregierung bleibt weiter bemüht, das vorhandene<br />

Informationsangebot zu verbessern.<br />

Anlage 43<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Josef Grünbeck (FDP) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 75 und 76):<br />

Welche Maßnahmen sind bei der beschleunigten Verbesserung<br />

der Verkehrsinfrastruktur im Rahmen des Gemeinschaftswerkes<br />

„Aufschwung-Ost" für einen umweltfreundlichen Tourismus<br />

vorgesehen, und auf welcher Höhe belaufen sich die<br />

Investitionen, bezogen auf jedes einzelne neue Bundesland?<br />

Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der extrem<br />

günstigen Wechselkurse und damit verbundenen Kaufkraftvorteile<br />

für West-Touristen bei Reisen in die benachbarten<br />

osteuropäischen Länder für den deutschen Tourismus, insbesondere<br />

in den neuen Bundesländern?<br />

Zu Frage 75:<br />

Welche Maßnahmen von den insgesamt vom Bund<br />

bereitgestellten 5,6 Milliarden DM im einzelnen finanziert<br />

werden, hängt im wesentlichen von den Länderverwaltungen<br />

ab. Die Maßnahmen dienen der<br />

Verbesserung der Mobilität und kommen damit generell<br />

dem Tourismus zugute. Soweit die Investitionen<br />

einem flüssigeren Verkehrsablauf oder einer Entlastung<br />

von Ortsdurchfahrten dienen, kann davon ausgegangen<br />

werden, daß sie besonders positive Umwelteffekte<br />

haben werden.


2726* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Von den für die Bundesfernstraßen vorgesehenen<br />

400 Millionen DM in 1991 entfallen auf die Länder<br />

folgende Beträge:<br />

Brandenburg<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Sachsen<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Thüringen<br />

Berlin-Ost<br />

116,8 Millionen DM<br />

52,8 Millionen DM<br />

100,8 Millionen DM<br />

64,0 Millionen DM<br />

61,2 Millionen DM<br />

4,4 Millionen DM.<br />

Die entsprechende Aufteilung im kommunalen<br />

Straßenbau:<br />

Brandenburg<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Sachsen<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Thüringen<br />

Berlin-Ost<br />

93,0 Millionen DM<br />

66,0 Millionen DM<br />

163,2 Millionen DM<br />

90,6 Millionen DM<br />

80,4 Millionen DM<br />

106,8 Millionen DM.<br />

Die Länderaufteilung im Bereich öffentlicher Personennahverkehr<br />

wird zur Zeit mit den Ländern beraten.<br />

Die für Investitionsvorhaben der deutschen Reichsbahn<br />

vorgesehenen Mittel werden sich erst nach<br />

Durchführung der Maßnahmen aufgliedern lassen.<br />

Zu Frage 76:<br />

Seitdem die Bürger der neuen Länder über eine<br />

harte Währung verfügen, sind Reisen in die osteuropäischen<br />

Nachbarländer attraktiver geworden. Eng<br />

begrenzte Aufnahmekapazitäten lassen allerdings<br />

keine quantitativ bedeutsamen touristischen Bewegungen<br />

— abgesehen von Tagesausflügen — erwarten.<br />

Für die Bürger der alten Bundesländer, bei denen<br />

das Interesse an Osteuropa tendenziell zunimmt,<br />

dürfte das Preisniveau nur eines unter mehreren Motiven<br />

für die Reisezielwahl sein.<br />

Anlage 44<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann (FDP)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 77 und 78):<br />

In welcher Weise ist die Bundesregierung aktiv an Bemühungen<br />

beteiligt, den Aufbau einer touristischen Infrastruktur in<br />

den neuen Bundesländern zwischen den einzelnen Landesregierungen<br />

zu koordinieren, und inwieweit wird dabei der Erstellung<br />

flächendeckender Landschaftspläne sowie länderübergreifender<br />

Tourismusentwicklungspläne Rechnung getragen?<br />

Mit welchen Maßnahmen unterstützt die Bundesregierung<br />

die Regierungen der neuen Länder beim Aufbau von Fremdenverkehrsreferaten<br />

sowie bei der Erstellung touristischer Entwicklungspläne?<br />

Zu Frage 77:<br />

Die Bemühungen der Bundesregierung sind zunächst<br />

darauf gerichtet, den einzelnen Regionen und<br />

Ländern beim Aufbau einer touristischen Infrastruktur<br />

Hilfe zu leitsen. Als Beitrag zur Erstellung regionaler<br />

Landschaftspläne dient das Förderinstrumtent<br />

„Projektteams zur Beratung von ausgewählten Regionen<br />

in den neuen Bundesländern beim Aufbau wirtschaftsnaher<br />

Infrastruktur" .<br />

Abgesehen von dem Bereich der Verkehrsinfrastruktur<br />

konzentrieren sich die Planungen der Länder<br />

beim touristischen Angebot auf die örtliche und regionale<br />

Ebene. Bei diesen kleinräumigeren Planungen<br />

tritt in der Regel noch kein weitergehender Koordinierungsbedarf<br />

auf. Dringlich erscheint aus touristischer<br />

Sicht eine entsprechende Abstimmung zwischen den<br />

Ländern Berlin und Brandenburg.<br />

Zu Frage 78:<br />

Das Bundeswirtschaftsministerium bemüht sich,<br />

auch durch seine Außenstelle in Berlin, mit ideeller<br />

Unterstützung, insbesondere durch laufenden Erfahrungsaustausch<br />

und Know-how-Transfer, den neuen<br />

Ländern beim Aufbau von Tourismusreferaten behilflich<br />

zu sein.<br />

Landesweite oder länderübergreifende Entwicklungspläne<br />

könnten eine wichtige Hilfe für einen rascheren<br />

Aus- und Aufbau des touristischen Angebotes<br />

darstellen; Fördermittel des Bundes stehen hierfür im<br />

Haushalt 1991 nicht zur Verfügung.<br />

Anlage 45<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Gottfried Haschke auf die<br />

Fragen des Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 81 und 82):<br />

Trifft es zu, daß auch nach Herstellung der deutschen Einigung<br />

der Kartoffeltransport (sowohl der Speisekartoffeln als<br />

auch der weiterverarbeiteten Produkte) nach Berlin staatlich<br />

gefördert wird, und wenn ja, in welcher Höhe bzw. auf welchen<br />

Berechnungsgrundlagen erfolgen die Bezuschussungen?<br />

Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, daß eine Transportbegünstigung<br />

der Kartoffellieferungen aus den alten Bundesländern<br />

nach Berlin zu Wettbewerbsbenachteiligungen der<br />

Kartoffelwirtschaft in den neuen Bundesländern führt, vor allem,<br />

wenn man die ohnehin bestehenden Absatzschwierigkeiten der<br />

neuen Bundesländer berücksichtigt?<br />

Zu Frage 81:<br />

Eine Transportförderung von Kartoffeln und Kartoffelerzeugnissen<br />

nach Berlin findet aus Bundesmitteln<br />

nicht statt.<br />

Zu Frage 82:<br />

Die Bundesregierung teilt die Einschätzung, daß<br />

einseitige Förderungen für derartige Transporte aus<br />

den alten Bundesländern nach Berlin zu Wettbewerbsnachteilen<br />

für Kartoffeln und Kartoffelerzeugnisse<br />

aus den neuen Bundesländern führen würden.<br />

Da Transportvergünstigungen nicht gewährt werden,<br />

entstehen auch keine Wettbewerbsnachteile für derartige<br />

Waren aus den neuen Bundesländern.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2727<br />

Anlage 46<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Gottfried Haschke auf die<br />

Fragen des Abgeordneten Harald B. Schäfer (Offenbach)<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 83 und 84).<br />

Treffen Pressemeldungen zu, wonach im Raum Kehl<br />

18 Schafe mit bis zu 30fach erhöhten PCB-Werten verendet<br />

sind?<br />

Besteht nach Auffassung der Bundesregierung ein Zusammenhang<br />

zwischen dem Schafsterben und der PCB-Belastung,<br />

und sind der Bundesregierung ähnliche Fälle von Tiersterben<br />

bekannt?<br />

Zu Frage 83:<br />

Pressemeldungen, wonach im Raum Kehl 18 Schafe<br />

mit dem Nachweis erhöhter PCB-Werte verendet sind<br />

bzw. getötet wurden, treffen zu. Untersuchungen einer<br />

Anzahl von gestorbenen bzw. getöteten Tieren<br />

haben bei einem Tier einen 30fach erhöhten PCB-<br />

Wert ergeben. Bei den übrigen Tieren wurden Werte<br />

ermittelt, die über denen liegen, die in der Schadstoffhöchstmengenverordnung<br />

festgelegt sind.<br />

Zu Frage 84:<br />

Nach Auffassung der Bundesregierung kann eine<br />

gesundheitliche Beeinträchtigung der Schafe vermutet<br />

werden; es gibt allerdings keine gesicherten Erkenntnisse<br />

über einen alleinigen Zusammenhang<br />

zwischen der Erkrankung der Tiere und der PCB-<br />

Belastung. Ähnliche Fälle von Tiersterben sind der<br />

Bundesregierung nicht bekannt.<br />

Anlage 47<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Gottf ried Haschke auf die<br />

Fragen der Abgeordneten Marion Caspers-Merk<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 85 und 86):<br />

Kann die Bundesregierung bestätigen, daß die beim Kehler<br />

Schafsterben verendeten Tiere in der Abluftzone der Straßburger<br />

Giftmüllverbrennungsanlage TREDI, der Straßburger Klärschlammverbrennungsanlage<br />

und der Badischen Stahlwerke<br />

geweidet haben, und sieht die Bundesregierung einen möglichen<br />

Zusammenhang zwischen diesem Umstand und der Ursache<br />

des Schafsterbens?<br />

Wird sich die Bundesregierung daran beteiligen, den möglichen<br />

Ursachenzusammenhang zwischen der PCB-Anreicherung<br />

in Tieren und der Abluft von Emittenten zu klären, und sich<br />

auf internationaler Ebene dafür einsetzen, die PCB-Werte zu<br />

senken?<br />

Die Bundesregierung kann — nach Rückfrage bei<br />

dem Minister für Ländlichen Raum, Ernährung, Landwirtschaft<br />

und Forsten des Landes Baden-Württemberg<br />

— bestätigen, daß die betroffene Schafherde im<br />

Einwirkungsbereich der Straßburger Müllverbrennungsanlage<br />

und der Badischen Stahlwerke weidete.<br />

Bisher untersuchte Aufwuchs- und Bodenproben der<br />

Schafkoppel erbrachten keine erhöhten PCB-Werte.<br />

Gleichwohl wird in Baden-Württemberg intensiv an<br />

der Ursachenermittlung gearbeitet. Die Tatsache, daß<br />

Aufwuchs- und Bodenproben keine erhöhten PCB-<br />

Werte, das Fleisch der erkrankten Schafe jedoch überhöhte<br />

PCB-Werte aufwies, läßt nach Auffassung der<br />

Bundesregierung den Schluß zu, daß in diesem Fall<br />

nicht die Abluft der genannten Anlagen, sondern andere<br />

PCB-Quellen eine Rolle spielen müssen.<br />

Anlage 48<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Ursula Schmidt (Aachen) (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 87 und 88) :<br />

Trifft es zu, daß der Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte<br />

und ehemalige Diktator Chiles, General Augusto Pinochet,<br />

am 23. Mai 1991 zwei Stunden den VIP-Service im Frankfurter<br />

Flughafen auf Kosten des Bundesministers der Verteidigung<br />

genoß?<br />

Wenn ja, welche Begründung führt die Bundesregierung für<br />

diese zuvorkommende Behandlung eines Gewaltherrschers an<br />

— vor allem im Hinblick darauf, daß andere demokratische Staaten<br />

Europas Pinochet die Einreise verweigert haben?<br />

Zu Frage 87:<br />

1. Am 23. Mai 1991 wurde das Protokoll BMVg vom<br />

Auswärtigen Amt, Protokoll, sehr kurzfristig, telefonisch<br />

darum ersucht, General Pinochet und dessen<br />

Begleitung während eines gut zweistündigen Transitaufenthaltes<br />

in Frankfurt/Main protokollarisch wahrzunehmen.<br />

Ankunft: 20.15 Uhr aus Lissabon kommend<br />

Weiterflug: 22.35 Uhr nach Santiago de Chile.<br />

Vom Protokoll BMVg wurden telefonisch folgende<br />

Maßnahmen getroffen:<br />

Reservierung und Bezahlung des VIP-Raumes über<br />

die Fluggastsonderbetreuung.<br />

Auftrag an Chef des Stabes WBK IV, Mainz, den<br />

General P. auf dem Flughafen wahrzunehmen.<br />

Am 24. Mai 1991 meldete Chef des Stabes WBK IV<br />

die Durchführung.<br />

Die o. g. Maßnahmen entsprechen dem üblichen<br />

Verfahren, wenn auf Bitten des Auswärtigen Amtes<br />

oder der jeweiligen Botschaft um protokollarische<br />

Wahrnehmung wegen des Aufenthaltes bzw. Transits<br />

eines hohen ausländischen Militärs oder Verteidigungsministers<br />

das Protokoll im BMVg tätig wird.<br />

2. Mit Schreiben vom 14. Juni 1991 hat der stellvertretende<br />

Chef des Protokolls des Auswärtigen Amtes<br />

BMVg überraschend wissen lassen, daß das BMVg im<br />

Falle des Generals Pinochet nicht auf Ersuchen oder<br />

Bitte des Auswärtigen Amtes oder in Amtshilfe gehandelt<br />

habe.<br />

Zu Frage 88:<br />

Erst nach dem 23. Mai 1991 wurde dem Bundesministerium<br />

der Verteidigung bekannt, daß General<br />

Pinochet bereits am 10. Mai 1991 auf Veranlassung<br />

des Auswärtigen Amtes durch den Bundesminister<br />

des Innern mit der Maßnahme 3 (ZURÜCKWEISUNG)<br />

ausgeschrieben worden war.<br />

Unter diesen Umständen hätte sich — nach Ansicht<br />

BMVg — eine protokollarische Wahrnehmung verboten,<br />

auch wenn, wie geschehen, General Pinochet sich<br />

ausschließlich im Transitbereich des Flughafens auf-


2728* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

hielt und somit nicht in das Bundesgebiet eingereist<br />

ist.<br />

Anlage 49<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage<br />

des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 89) :<br />

Wie stellt sich die Bundesregierung die weitere Entwicklung<br />

der Universitäten der Bundeswehr unter den Bedingungen der<br />

neuen Struktur der Bundeswehr vor?<br />

Die bisherigen Überlegungen zur zukünftigen<br />

Struktur basieren auf den Zahlen des Personalstrukturmodells<br />

370. Danach wird für längerdienende Offiziere<br />

ein Bedarf ausgewiesen, der die Nutzung der<br />

vollen Kapazität der Universitäten der Bundeswehr<br />

auch in Zukunft notwendig macht. Da das in die Ausbildung<br />

zum Offizier integrierte Studium an den Universitäten<br />

der Bundeswehr mehr denn je ausschlaggebender<br />

Faktor für die Berufswahl der Offiziersbewerber<br />

ist, wird angestrebt, das Studienangebot in<br />

vollem Umfang zu erhalten. Einschnitte in quantitativer<br />

und qualitativer Hinsicht sollen vermieden werden.<br />

Zukünftige Änderungen des Personalstrukturmodells<br />

370 müßten zu einer Neubewertung der weiteren<br />

Entwicklung der Universitäten der Bundeswehr<br />

führen.<br />

Anlage 50<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Dr. Hartmut Soell (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 90 und 91) :<br />

Wie viele Atomsprengköpfe der nuklearen Artillerie, nuklearer<br />

Kurzstreckenraketen bzw. luftgestützter Systeme lagern<br />

zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland?<br />

Welche Systeme, die für einen Einsatz als nukleare Abstandswaffen<br />

in Europa im Rahmen der NATO geeignet sind, werden<br />

zur Zeit in den USA entwickelt, und wieweit ist diese Entwicklung<br />

fortgeschritten?<br />

Zu Frage 90:<br />

Die Bundesregierung vertritt unverändert die Position,<br />

daß Angaben über Art, Umfang und<br />

-<br />

Lagerung<br />

des nuklearen Potentials der NATO der Geheimhaltung<br />

unterliegen und nicht öffentlich bekanntgemacht<br />

werden.<br />

Über die Anzahl der Nuklearwaffen, die die sowjetischen<br />

Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland<br />

lagern, liegen der Bundesregierung keine Informationen<br />

vor.<br />

Zu Frage 91:<br />

Die Bundesregierung nimmt zu nationalen Planungen<br />

und Entwicklungen bezüglich neuer Waffensysteme<br />

von Bündnispartnern nicht Stellung.<br />

Anlage 51<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Walter Kolbow (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 92 und 93):<br />

Existieren Planungen der NATO oder der USA, den Nuklearwaffenbestand<br />

in der Bundesrepublik Deutschland unabhängig<br />

von amerikanisch-sowjetischen SNF(Short Nuclear Forces)-<br />

Verhandlungen zu verändern?<br />

Sollen die landgestützten Nuklearwaffenbestände in der Bundesrepublik<br />

Deutschland auch unabhängig von amerikanisch<br />

sowjetischen SNF-Verhandlungen verringert oder beseitigt<br />

werden?<br />

Zu Frage 92:<br />

In ihrer Londoner Erklärung haben die Staats- und<br />

Regierungschefs ausgeführt:<br />

„Neue Verhandlungen über die Reduzierung nuklearer<br />

Mittel kürzerer Reichweite zwischen den<br />

Vereinigten Staaten und der Sowjetunion sollten<br />

kurz nach Unterzeichnung eines KSE-Abkommens<br />

beginnen. Die betroffenen Bündnispartner<br />

werden einen Rahmen für diese Rüstungskontrollverhandlungen<br />

entwickeln, der ihren Bedarf<br />

an weit weniger Nuklearwaffen sowie das verringerte<br />

Erfordernis für substrategische Nuklearsysteme<br />

kürzester Reichweite berücksichtigt."<br />

„... Sie haben konkret beschlossen, daß das<br />

Bündnis gleich nach Beginn von Verhandlungen<br />

über nukleare Mittel kürzerer Reichweite vorschlagen<br />

wird, alle seine nuklearen Artilleriegeschosse<br />

in Europa im Gegenzug zu einem<br />

gleichartigen Vorgehen der Sowjetunion zu beseitigen.<br />

"<br />

— Im Bündnis finden zur Unterstützung dieser Absichten<br />

zur Zeit Beratungen zur Vorbereitung von<br />

Verhandlungspositionen für die Rüstungskontrollverhandlungen<br />

zwischen den Vereinigten Staaten<br />

und der Sowjetunion statt. Diese sind noch nicht<br />

abgeschlossen.<br />

— Davon unabhängige Planungen oder Absichten<br />

bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung<br />

nicht.<br />

Anlage 52<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Uta Zapf (SPD) (Drucksache 12/766<br />

Fragen 94 und 95):<br />

Hält es die Bundesregierung für erforderlich, daß die NATO<br />

über nukleare Abstandswaffen verfügt?<br />

Hält es die Bundesregierung für erforderlich, nukleare Abstandswaffen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren?<br />

Die Staats- und Regierungschefs der NATO — wie<br />

auch die Verteidigungsminister haben erklärt:<br />

„Zur Wahrung des Friedens muß das Bündnis für<br />

die vorhersehbare Zukunft eine geeignete Zusammensetzung<br />

nuklearer und konventioneller<br />

Streitkräfte beibehalten, die in Europa stationiert<br />

sind und auf dem gebotenen Stand gehalten werden,<br />

wo dies erforderlich ist."


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2729*<br />

Entscheidungen zur Umsetzung sind nicht getroffen.<br />

Anlage 53<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 96 und 97):<br />

Wann sollen nach den Planungen der NATO nukleare Abstandswaffen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland stationiert<br />

werden, bzw. wann soll über eine mögliche Stationierung solcher<br />

nuklearen Abstandswaffen in der Bundesrepublik<br />

Deutschland entschieden werden?<br />

Wie weit ist innerhalb der NATO der Planungsprozeß bezüglich<br />

der Stationierung nuklearer Abstandswaffen in Europa fortgeschritten?<br />

Zu Frage 96:<br />

Entscheidungen über evtl. Stationierungen nuklearer<br />

Abstandswaffen stehen nicht an.<br />

Zu Frage 97:<br />

Es gibt keinen Planungsprozeß bezüglich einer Stationierung<br />

nuklearer Abstandswaffen innerhalb der<br />

NATO.<br />

Hält die Bundesregierung die Sowjetunion jetzt oder in absehbarer<br />

Zeit für fähig und willens, einen Überraschungsschlag<br />

gegen die Bundesrepublik Deutschland oder den Westen zu<br />

führen?<br />

Gibt es oder gab es mit der Sowjetunion Gespräche darüber,<br />

die Tiefflugübungen simultan einzustellen?<br />

Zu Frage 99:<br />

Die Sowjetunion ist eine nukleare Supermacht,<br />

weltweit stärkste konventionelle Landmacht und<br />

zweitstärkste Seemacht sowie zweitstärkste Weltraummacht.<br />

Sie ist aufgrund der geostrategischen<br />

Nähe für die Sicherheit Deutschlands weiterhin von<br />

maßgeblicher Bedeutung. Es gibt derzeit keinen Hinweis<br />

auf feindliche Absichten in der sowjetischen Politik.<br />

Ein „Überraschungsschlag" mit nuklearen Mitteln<br />

wäre grundsätzlich führbar. Er wird als jetzige oder<br />

künftige Absicht der Sowjetunion nicht angenommen.<br />

Zu Frage 100:<br />

Die Bundesregierung erklärt, daß Gespräche mit<br />

der Sowjetunion mit dem Ziel, „die Tiefflugübungen<br />

simultan einzustellen", weder geführt wurden noch<br />

geführt werden. Es ist auch nicht beabsichtigt, mit der<br />

Sowjetunion Gespräche über dieses Thema aufzunehmen.<br />

Anlage 54<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage<br />

des Abgeordneten Dr. Hermann Scheer (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Frage 98):<br />

Bedarf die auf der jüngsten Tagung der NATO-Verteidigungsminister<br />

beschlossene „Rapid Reaction Force" einer nuklearen<br />

Abdeckung, und wenn ja, mit welchen Mitteln soll diese<br />

gewährleistet werden?<br />

Nuklearwaffen haben auch künftig eine wesentliche<br />

Rolle in der Gesamtstrategie des Bündnisses zur<br />

Kriegsverhütung. Sie stellen sicher, daß nie eine Lage<br />

entsteht, in der nicht mit nuklearer Vergeltung als<br />

Reaktion auf militärisches Vorgehen gerechnet werden<br />

müßte.<br />

Als politische Waffen der Kriegsverhütung sind Nuklearwaffen<br />

nicht isoliert ausgerichtet auf bestimmte<br />

Einsatzoptionen oder zur Unterstützung einzelner<br />

Großverbände. Die Zusammensetzung der „Rapid Reaction<br />

Force" sieht von daher auch keine nuklearen<br />

Anteile vor.<br />

Anlage 55<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 99 und 100) :<br />

Anlage 56<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

des Abgeordneten Albrecht Müller (Pleisweiler)<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 101 und 102):<br />

Was sind die Gründe dafür, daß über weiten Teilen der Pfalz in<br />

den letzten zehn Tagen in unerträglichem Maß und bis in die<br />

Nacht hinein wieder militärischer Tiefflug geübt wird — übrigens<br />

auch über der Stadt Ludwigshafen, wie Augenzeugen berichten?<br />

Gibt es Anzeichen dafür, daß eine Bedrohungssituation vorliegt,<br />

die die Tiefflugvorbereitung auf einen Überraschungsschlag<br />

des Ostens und für ein tiefes Eindringen in den Raum des<br />

(nicht mehr vorhandenen) Warschauer Pakts nötig macht?<br />

Zu Frage 101:<br />

Die Bundesregierung erklärt, daß der angesprochene<br />

Flugbetrieb „über weiten Teilen der Pfalz in<br />

den letzten Tagen", was die 24. Kalenderwoche anbetrifft,<br />

mit der NATO-Luftwaffenübung „Central Enterprise"<br />

in Zusammenhang stand.<br />

Diese jährlich stattfindende Übung dient insbesondere<br />

dazu, die Zusammenarbeit der NATO-Luftstreitkräfte<br />

in Mitteleuropa bei taktischen Luftoperationen<br />

zu überprüfen und zu erproben. Das Übungsgebiet<br />

umfaßte den Luftraum über den Benelux-Staaten, Dänemark<br />

sowie der Bundesrepublik Deutschland mit<br />

Ausnahme der neuen Bundesländer.<br />

Insgesamt gesehen, verursachte die Übung „Central<br />

Enterprise" kein zusätzliches Flugaufkommen.<br />

Die seit dem 17. 9. 1990 grundsätzlich bestehende<br />

Tiefflugmindesthöhe vom 1 000 Fuß (300 m) wurde<br />

beibehalten.


2730* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Für die 23. Kalenderwoche liegen keine Hinweise<br />

auf Verdichtungen des Flugbetriebs in der Pfalz vor.<br />

Auch auf Tiefflugübungen über der Stadt Ludwigshafen<br />

liegen keine Anhaltspunkte vor. Das aus der<br />

Luft erkennbar zum Stadtkern gehörende Siedlungsgebiet<br />

von Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern<br />

darf nicht unterhalb von 2 000 Fuß (ca. 600 m) überflogen<br />

werden.<br />

Zu Frage 102:<br />

Es gibt keine Anzeichen dafür, daß eine Bedrohungssituation<br />

vorliegt, die auf einen möglichen<br />

Überraschungsschlag „des Ostens" hindeutet.<br />

Bezüglich der Tiefflugübungen weist die Bundesregierung<br />

allerdings darauf hin, daß Streitkräfte auch<br />

weiterhin ihren Auftrag nur dann erfüllen können,<br />

wenn sie bereits im Frieden die hierfür erforderliche<br />

Ausbildung erhalten. Für die Luftstreitkräfte bedeutet<br />

dies, daß den fliegenden Besatzungen angemessene<br />

Übungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden<br />

müssen, ohne die die Befähigung zum auftragsgemäßen<br />

und sicheren Führen eines Luftfahrzeuges nicht<br />

erhalten werden kann.<br />

Anlage 57<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Fragen<br />

der Abgeordneten Lydia Westrich (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Fragen 103 und 104):<br />

Welchen Anteil haben die Alliierten zur Zeit an den Tiefflugübungen<br />

über der Pfalz und über der Bundesrepublik Deutschland<br />

insgesamt?<br />

Wie begründen die Alliierten gegenüber der Bundesregierung<br />

die Fortsetzung ihrer Tiefflugübungen, und wie kontrolliert<br />

die Bundesrepublik Deutschland die Einhaltung der 300 m<br />

Grenze?<br />

Zu Frage 103:<br />

Der Anteil der Alliierten am Tiefflug beträgt ca.<br />

65 % des Gesamtumfanges.<br />

Statistiken über die Tiefflugbelastung einzelner<br />

Bundesländer werden nicht geführt.<br />

Zu Frage 104:<br />

Gemäß Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut<br />

§ 46 Abs. 1 haben die Alliierten das Recht, im Luftraum<br />

der Bundesrepublik Deutschland zu fliegen. Die<br />

Untergrenze von 300 m wird von ihnen - beachtet.<br />

- Der Führungsstab der Luftwaffe setzt SKYGUARD<br />

Geräte ein, um die Einhaltung der Tiefflugmindesthöhe<br />

zu überwachen.<br />

Anlage 58<br />

Antwort<br />

des Parl. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage<br />

des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache<br />

12/766 Frage 105):<br />

Warum hat die Bundesregierung einer Feststellung im Gemeinsamen<br />

Kommuniqué des Verteidigungsplanungsausschusses<br />

und der nuklearen Planungsgruppe der NATO vom<br />

28./29. Mai 1991 zugestimmt, nach der „die endgültige Vernichtung<br />

der im INF-Vertrag erfaßten amerikanischen und sowjetischen<br />

Flugkörper nunmehr vollzogen wurde", obwohl 24 vom<br />

INF-Vertrag erfaßte SS 23-Flugkörper sowjetischer Herkunft<br />

seit dem Tage der deutschen Einheit der Verfügungsgewalt der<br />

Bundesregierung unterliegen und bis heute nicht vernichtet<br />

worden sind?<br />

Die Bundesregierung hat diesem Kommuniqué zugestimmt,<br />

weil die darin getroffene Aussage den Tatsachen<br />

entspricht. Die Bundesregierung stützt sich<br />

dabei wie alle anderen Verbündeten auf Erklärungen<br />

der beiden INF-Vertragsstaaten, der Sowjetunion und<br />

der Vereinigten Staaten, daß die Vernichtung der vom<br />

INF-Vertrag erfaßten Systeme beider Staaten wie im<br />

Vertrag vorgesehen abgeschlossen ist. Die Eliminierung<br />

dieser Systeme ist in beiderseitigen Inspektionen<br />

überprüft und nachgewiesen worden. Die Bundesrepublik<br />

Deutschland ist nicht Vertragspartner des INF-<br />

Vertrages. Aus diesem Vertrag ist daher für die Bundesrepublik<br />

Deutschland keine Verpflichtung zur<br />

Vernichtung der von der ehemaligen NVA übernommenen<br />

SS-23-Flugkörper abzuleiten. Gleichwohl hat<br />

die Bundesregierung alle Vorbereitungen getroffen,<br />

um diese Systeme so bald wie möglich zu vernichten.<br />

Anlage 59<br />

Antwort<br />

der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf<br />

die Fragen der Abgeordneten Dr. Helga Otto (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 106 und 107):<br />

Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die finanzielle<br />

Lage der Träger der Freien Wohlfahrtsverbände in den<br />

neuen Bundesländern zu verbessern — besonders auch unter<br />

dem Blickwinkel der Notwendigkeit, sie in die Lage zu versetzen,<br />

die Kindergärten und Kinderkrippen zu erhalten — und die<br />

katastrophale Situation in diesen Einrichtungen in den neuen<br />

Bundesländern zu verbessern?<br />

Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, die Bank für<br />

Sozialwirtschaft mit finanziellen Mitteln auszustatten, so daß sie<br />

in die Lage versetzt wird, den freien Wohlfahrtsverbänden der<br />

neuen Bundesländer Kredite zu gewähren?<br />

Zu Frage 106:<br />

Die Freie Wohlfahrtspflege ist ein unverzichtbarer<br />

Faktor des modernen Sozialstaates. Dies ist auch im<br />

Einigungsvertrag gewürdigt worden.<br />

In den alten Ländern, verfügt die Freie Wohlfahrtspflege<br />

in mehr als 64 000 Einrichtungen über ca.<br />

2,5 Mio Betten und Plätze und beschäftigt rd. 750 000<br />

hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.<br />

Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung der<br />

Freien Wohlfahrtspflege bewußt.<br />

Daher wurde der Titel für die zentralen und internationalen<br />

Aufgaben einschließlich der Fortbildung in<br />

1991 auf 68 Mio DM von 30 Mio DM in 1990 erhöht.<br />

Der größte Teil der zusätzlichen Summe soll für den<br />

Aufbau der Freien Wohlfahrtspflege in den neuen<br />

Bundesländern eingesetzt werden, damit die einzelnen<br />

sozialen Einrichtungen auch ein Wirkungsoptimum<br />

erreichen.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2731*<br />

Für diese Einrichtungen ist grundsätzlich eine Länderzuständigkeit<br />

gegeben. Angesichts der Situation<br />

der Länderverwaltungen und der Finanzsituation sind<br />

eine Reihe von Programmen und Instrumente entwikkelt<br />

worden, um die Freien Träger zu unterstützen.<br />

Im Rahmen des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost"<br />

ist eine kommunale Investitionspauschale<br />

in Höhe von 5 Mrd DM vorgesehen. Aus dieser<br />

Investitionspauschale können auch Freie Träger Mittel<br />

erhalten.<br />

Die Bundesregierung hat bereits 1990 im Rahmen<br />

des Soforthilfe-Programms für die Spitzenverbände<br />

der Freien Wohlfahrtspflege 20 Mio DM zum Aufbau<br />

ambulanter Dienste in den neuen Bundesländern zur<br />

Verfügung gestellt.<br />

Das Soforthilfe-Programm für besondere Maßnahmen<br />

zugunsten von Familien und älteren Menschen in<br />

den neuen Bundesländern wird 1991 mit 50 Mio DM<br />

fortgesetzt. Zur Zeit werden Gespräche mit den Spitzenverbänden<br />

über den weiteren Aufbau ambulanter<br />

Dienste geführt. Darüber hinaus sollen die Mittel des<br />

Soforthilfe-Programms auch für Maßnahmen in stationären<br />

Einrichtungen, die sich in der Trägerschaft der<br />

Verbände befinden, eingesetzt werden.<br />

Nach Art. 31 Abs. 3 des Einigungsvertrages beteiligt<br />

sich der Bund bis zum 30. Juni 1991 an den Kosten<br />

für die Tageseinrichtungen für die Kinder, um ihre<br />

Weiterführung zu gewährleisten. An diesen Mitteln<br />

partizipieren gleichberechtigt die Tageseinrichtungen<br />

in freier Trägerschaft. Aus dem Gemeinschaftswerk<br />

Aufschwung-Ost können für freie Träger von<br />

Tageseinrichtungen Mittel aus der Investitionspauschale<br />

von 5 Mrd DM und aus dem ABM-Programm<br />

eingesetzt werden.<br />

Den Kirchen werden im Jahre 1991 70 Mio DM für<br />

die Förderung von kirchlichen und caritativen Hilfsmaßnahmen<br />

aus Bundesmitteln zur Verfügung gestellt.<br />

Schließlich ist auf Mittel zu verweisen, die freie<br />

Träger von Tageseinrichtungen von Ländern und<br />

Kommunen erhalten.<br />

Zu Frage 107:<br />

Die Bundesregierung stockt in den nächsten vier<br />

Jahren den Revolvingfonds um insgesamt 100 Mio<br />

DM auf, die vollständig für Einrichtungen in den<br />

neuen Ländern zur Verfügung stehen.<br />

Anlage 60<br />

Antwort<br />

der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf<br />

die Fragen des Abgeordneten Adolf Ostertag (SPD)<br />

(Drucksache 12/766 Fragen 108 und 109) :<br />

Wann gedenkt die Bundesregierung hinsichtlich der immer<br />

drängender werdenden Problematik der Anrechnung der häuslichen<br />

Pflegehilfe der Krankenkassen auf das Pflegegeld nach<br />

§ 69 BSHG endlich im Rahmen einer Gesetzesänderung Rechtsklarheit<br />

zu schaffen mit dem Ziel, daß die Träger der Sozialhilfe<br />

im Interesse der Betroffenen, die dringend auf die ihnen zustehende<br />

gesetzliche Hilfe angewiesen sind, bundeseinheitlich<br />

verfahren können, und wie bewertet sie die derzeitige Anrechnungspraxis<br />

unter dem Gesichtspunkt, daß die neue Pflegehilfe<br />

-<br />

nach dem SGB V §§ 53 his 57 von ihr selbst immer als ergänzend<br />

gekennzeichnet wurde, was sich auch im Text des § 55 SGB V<br />

niederschlägt?<br />

Über welche Informationen verfügt die Bundesregierung bezüglich<br />

der Anzahl der Klageverfahren hinsichtlich der Anrechnung<br />

des Krankenkassen-Pflegegeldes auf das Pflegegeld nach<br />

dem Bundessozialhilfegesetz, getrennt nach Bundesländern?<br />

Zu Frage 108:<br />

Maßgebend für die Anrechnung der Geldleistung<br />

nach § 57 Abs. 1 SGB V auf das Pflegegeld in der<br />

Sozialhilfe ist § 69 Abs. 3 Satz 3 BSHG. Nach dieser<br />

Bestimmung wird ein Pflegegeld nicht gewährt, soweit<br />

der Pflegebedürftige gleichartige Leistungen<br />

nach anderen Rechtsvorschriften erhält. Auf diese<br />

Regelung ist in der Begründung zum Gesundheits<br />

Reformgesetz hingewiesen worden (BT-Drucks.<br />

11/2237, Art. 40 — Bundessozialhilfegesetz, zu Nr. 4,<br />

S. 267). Die Sozialämter verfahren zur Zeit unterschiedlich<br />

und rechnen die Geldleistung von 400 DM<br />

ganz oder nur zum Teil auf das Pflegegeld in der Sozialhilfe<br />

an.<br />

Um diese für die Betroffenen außerordentlich unbefriedigende<br />

Anrechnungspraxis möglichst bald zu beenden<br />

und um die auf die Förderung der häuslichen<br />

Pflegebereitschaft ausgerichtete Zielrichtung der gesetzlichen<br />

Pflegeleistungen für den häuslichen Bereich<br />

zu unterstützen, habe ich den Sozialressorts in<br />

den Bundesländern, den beteiligten Bundesministerien<br />

sowie den Kommunalen Spitzenverbänden mit<br />

Schreiben vom 6. Mai 1991 eine Gesetzesänderung<br />

vorgeschlagen. Sie sieht die Nichtanrechnung der<br />

Hälfte der Geldleistung nach § 57 SGB V auf das Pflegegeld<br />

in der Sozialhilfe vor. Die hierzu erbetenen<br />

Stellungnahmen stehen noch aus.<br />

Zu Frage 109:<br />

Das Bundesministerium für Familie und Senioren<br />

hat die Sozialressorts der Länder und die Kommunalen<br />

Spitzenverbände mit Schreiben vom 6. Mai 1991<br />

auch gebeten, die ihnen bekannten gerichtlichen Entscheidungen<br />

mitzuteilen. Eine Übersicht über die Anzahl<br />

der Klageverfahren ließe sich nur mit einer gezielten<br />

Umfrage bei den Sozialressorts der Länder erreichen,<br />

die ihrerseits alle Sozialämter befragen müßten.<br />

Ich gehe aber davon aus, daß in den süd- und<br />

ostdeutschen Bundesländern, in denen man weitgehend<br />

den Empfehlungen des Deutschen Vereins für<br />

öffentliche und private Fürsorge folgt und die Geldleistung<br />

der Krankenkassen nur zur Hälfte auf das Pflegegeld<br />

in der Sozialhilfe anrechnet, kaum Klagen anhängig<br />

sind.<br />

Anlage 61<br />

Antwort<br />

der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />

auf die Fragen der Abgeordneten Antje -Marie Steen<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Fragen 110 und 111):<br />

Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob, vor allem<br />

durch den grenzüberschreitenden Verkehr, die AIDS -Erkrankungen<br />

und der Drogenkonsum in Großstädten wie Frankfurt/<br />

Oder, Leipzig, Berlin, Rostock oder Dresden zugenommen haben?


2732* <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />

Was unternimmt die Bundesregierung über die üblichen finanziellen<br />

Hilfen hinaus, um den betroffenen Ländern in der<br />

Arbeit von Prävention und Aufklärung zu helfen und durch<br />

besondere Maßnahmen zu unterstützen?<br />

Zu Frage 110:<br />

Zum 31. Mai 1991 lagen dem AIDS-Zentrum Meldungen<br />

über 31 AIDS-Erkrankungen und 167 HIV-<br />

Infektionen in den neuen Bundesländern einschließlich<br />

Berlin (Ost) vor. Ein überproportionaler Anstieg<br />

von AIDS-Fällen ist aufgrund der langen Inkubationszeit<br />

in der kurzen Beobachtungszeit nicht zu erwarten.<br />

Es liegen außerdem keine Anzeichen für eine<br />

erhebliche Zunahme von HIV-Infektionen in den<br />

neuen Bundesländern vor. Die nachgewiesenen HIV-<br />

Infektionen entsprechen dem Muster in den alten<br />

Bundesländern, d. h. es sind hauptsächlich Homosexuelle<br />

betroffen. Bezüglich weiterer Einzelheiten wird<br />

auf die Presseerklärung des BMG Nr. 39 vom 12. Juni<br />

1991 verwiesen.<br />

Verläßliche Daten über eine Zunahme von Drogenkonsum<br />

bzw. eine Etablierung entsprechender Szenen<br />

von iv. Drogenabhängigen in den neuen Bundesländern<br />

liegen bisher nicht vor.<br />

Zu Frage 111:<br />

Bereits 1990 wurden die damalige DDR und später<br />

die neuen Bundesländer in die Verteilung von Printund<br />

audiovisuellen Medien der Bundeszentrale für<br />

gesundheitliche Aufklärung einbezogen. Der Umfang<br />

dieser Verteilung hat stetig zugenommen. Vertreter<br />

der neuen Länder arbeiten seit Mai dieses Jahres im<br />

- Bund-Länder-Gremium zur Koordinierung der AIDS<br />

Aufklärung mit. Die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />

Aufklärung führt im 1. Halbjahr 1991 im Rahmen<br />

der personalen Kommunikation etwa 30 % ihrer Aktivitäten<br />

in den neuen Bundesländern durch. Eine Ausweitung<br />

auf 50 % und ggf. 60 % ist beabsichtigt. Ebenfalls<br />

personalkommunikativen Charakter hat ein Projektantrag<br />

der Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung<br />

e. V., der gegenwärtig mit positiver Tendenz<br />

geprüft wird. Er sieht vor, durch Multiplikatorenschulung<br />

insbesondere im verbandlichen Bereich die<br />

AIDS-Prävention in den neuen Ländern zu stärken<br />

und leistet damit zugleich einen Beitrag zum Aufbau<br />

der Gesundheitserziehung insgesamt. Vom AIDS-<br />

Zentrum des Bundesgesundheitsamtes wurden bisher<br />

präventionsorientierte Fortbildungsveranstaltungen<br />

in Ziegenhals bei Berlin, Erfurt, Magdeburg und<br />

Schwerin durchgeführt. Angesprochen als Multiplikatoren<br />

waren hier vor allem Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter<br />

und Lehrer. Entsprechende Veranstaltungen<br />

für die Länder Brandenburg und Sachsen sind in<br />

Vorbereitung.<br />

Um die AIDS-Aufklärung insgesamt möglichst<br />

frühzeitig weiten Kreisen der Gesamtbevölkerung<br />

vorzustellen, ist als massenmediales Eröffnungsangebot<br />

in den neuen Ländern eine Anzeigenschaltung in<br />

den Tageszeitungen vorgesehen. Sie soll auf die Gefahren<br />

von AIDS/HIV sowie die verschiedenen Präventionsmedien<br />

hinweisen und die Anforderung dieser<br />

Medien erleichtern.<br />

Speziell für den Einsatz in Präventionsschwerpunkten<br />

der neuen Länder wurden der Deutschen AIDS-<br />

Hilfe 5 Stellen für „Streetworker" bewilligt. Für jedes<br />

dieser Länder ist zudem die Förderung eines interdisziplinär<br />

angelegten Projekt-Teams zur AIDS-Prävention<br />

vorgesehen, das jeweils 5 Personen/Land umfassen<br />

und die Entwicklung einer zielgruppenspezifischen<br />

AIDS-Beratung und -Aufklärung vorantreiben<br />

soll. Für den Ostteil von Berlin schließlich ist beabsichtigt,<br />

im Bereich der Prävention arbeitende Dienste<br />

und Einrichtungen mit zusätzlichen, aus Bundesmitteln<br />

geförderten Stellen zu verstärken. Zwei zum Aufbau<br />

einer wirkungsvollen AIDS-Beratung dort geförderte<br />

Stellen stehen bereits seit Mai 1990 zur Verfügung.<br />

Als erste drogenpolitische Aufgabe in den neuen<br />

Bundesländern ist die Verstärkung der Prävention anzusehen.<br />

Dazu bietet sich an, das im Zuge der Umsetzung<br />

des Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes<br />

1990 angelaufene Modellprogramm „Mobile Drogenprävention"<br />

in die neuen Bundesländer auszudehnen.<br />

Wie in den alten Bundesländern soll auch in den<br />

neuen Ländern die Deutsche Hauptstelle gegen die<br />

Suchtgefahren (DHS) Koordination und Begleitung<br />

des Programms übernehmen. Sie verfügt bereits über<br />

tragfähige Kontakte mit entsprechenden Einrichtungen<br />

und Trägern in den neuen Ländern. Es ist vorgesehen,<br />

in Berlin, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg<br />

und Mecklenburg-Vorpommern je 2 und in<br />

Sachsen wegen der deutlich höheren Gesamtbevölkerung<br />

3 Präventionsstellen einzurichten.<br />

Im Unterschied zu den alten Bundesländern, wo die<br />

im Programm tätigen Präventionsfachkräfte in Verbindung<br />

mit einer erfahrenen Drogenberatungsstelle<br />

eingesetzt werden, sollen in den neuen Ländern durch<br />

den zusätzlichen Einsatz von ABM-Kräften die Bildung<br />

von „Zweier-Teams" ermöglicht werden, um<br />

die in den neuen Ländern besonders problematische<br />

„Einzelkämpfer-Situation" zu vermeiden und um<br />

gleichzeitig möglichen künftigen Mitarbeitern in der<br />

Präventionsarbeit der Länder eine entsprechende Erfahrungsbildung<br />

zu ermöglichen. Das Programm soll<br />

von Mitte 1991 an zunächst eine Laufzeit von 3 Jahren<br />

haben.<br />

Darüber hinaus finden in den neuen Ländern Aktionswochen<br />

unter dem Motto „Bewußter leben —<br />

Möglichkeiten und Methoden der Gesundheitsförderung"<br />

statt. Diese Aktionswochen umfassen Ausstellungen<br />

und Präsentationen, Informationsveranstaltungen<br />

sowie Seminare zu Themen der Gesundheitserziehung<br />

und -förderung, die schwerpunktmäßig<br />

auch den Suchtbereich beinhalten. Angesprochen<br />

werden Multiplikatoren/innen aus dem schulischen<br />

und außerschulischen Bereich. Veranstalter dieser<br />

Aktionen ist die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />

Aufklärung. Auch die Deutsche Hauptstelle gegen die<br />

Suchtgefahren informiert im Rahmen dieser Veranstaltungen<br />

über ihre Arbeit.<br />

Die Resonanz der ersten Aktionswochen, die vom<br />

4. Mai bis 1. Juni 1991 im Hygiene-Museum in Dresden<br />

stattfanden, war gut. Es ist geplant, die o. a. Aktion<br />

in allen fünf östlichen Bundesländern durchzuführen.


<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2733*<br />

Anlage 62<br />

Antwort<br />

der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />

auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Reinhard<br />

Meyer zu Bentrup (CDU/CSU) (Drucksache 12/766<br />

Fragen 112 und 113):<br />

Welche Erfahrungen liegen der Bundesregierung in bezug auf<br />

die Erfüllung der Vorversicherungszeiten zur Gewährung von<br />

Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit im Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes<br />

vor?<br />

Beabsichtigt die Bundesregierung auf Grund der gemachten<br />

Erfahrungen, die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung<br />

von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne<br />

der Betroffenen zu verbessern?<br />

Die Leistungen der Krankenkassen bei Schwerpflegebedürftigkeit<br />

setzen zum Schutz der Beitragszahler<br />

Vorversicherungszeiten voraus. Danach muß der Versicherte<br />

u. a. seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit<br />

bis zur Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit<br />

mindestens 9/10 der zweiten Hälfte dieses<br />

Zeitraums versichert gewesen sein. Die Erfahrungen<br />

haben gezeigt, daß gerade in der zweiten Hälfte<br />

des Arbeitslebens Unterbrechungen bei sonst langjähriger<br />

Mitgliedschaft auftreten. Für selbständige<br />

Landwirte und ehemalige Landwirte, die zum Zeitpunkt<br />

des Eintritts der Schwerpflegebedürftigkeit in<br />

der allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung<br />

versichert sind, ergibt sich zudem eine andere gesetzliche<br />

Behandlung als für Landwirte, die im Zeitpunkt<br />

des Eintritts der Schwerpflegebedürftigkeit nach dem<br />

erst im Jahre 1972 wirksam gewordenen Gesetz über<br />

die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG)<br />

pflichtversichert sind.<br />

Die Regierungskoalition prüft im Rahmen der Weiterentwicklung<br />

des Gesundheits-Reformgesetzes, ob<br />

und welche Änderungen möglich sind, um langjährig<br />

Versicherte unabhängig von der geltenden 9/10-Regelung<br />

in den Kreis der Begünstigten einzubeziehen. Als<br />

Lösung kommt in Betracht, neben der 9/10-Regelung<br />

eine bestimmte Anzahl von Versicherungsjahren —<br />

zum Beispiel 18 oder 20 Jahre — ausreichen zu lassen,<br />

um die Vorversicherungszeiten als erfüllt anzusehen.<br />

Auf das Erfordernis einer Vorversicherungszeit insgesamt<br />

kann bereits aus finanziellen Gründen nicht<br />

verzichtet werden.<br />

Anlage 63<br />

Antwort<br />

der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />

auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo<br />

(CDU/CSU) (Drucksache 12/766 Fragen 114 und<br />

115):<br />

Welche Beweise hat die Bundesministerin für Gesundheit,<br />

Gerda Hasselfeldt, für die von ihr wiedergegebene Beobachtung,<br />

daß von den (doch wohl öffentlichen?) Geldern für Investitionen<br />

für Schulen, Altenheime und Krankenhäuser nur 25 %<br />

in diese Einrichtungen fließen und der Rest im Straßenbau, auf<br />

Festgeldkonten oder anderswo landet?<br />

Welche Maßnahmen sind inzwischen getroffen worden, um<br />

zweck- und pflichtwidrige Verwendungen von öffentlichen Investitionsgeldern<br />

der genannten Art unverzüglich zu korrigieren?<br />

Aufgrund gezielter Einzelnachfragen des Bundesministeriums<br />

für Gesundheit in den neuen Bundesländern<br />

hat sich eine durchschnittliche Inanspruchnahme<br />

von ca. 25 % für die Bereiche Krankenhäuser,<br />

Alteneinrichtungen und Schulen ergeben (Stand Mai<br />

1991).<br />

Um einen exakten Überblick zu erhalten, sind zwischenzeitlich<br />

alle Kreise und kreisfreien Städte gebeten<br />

worden, ihren Vergabeanteil mitzuteilen. Ergebnisse<br />

der Umfrage werden für Anfang Juli erwartet.<br />

Von pflichtwidrigen Verwendungen kann nicht gesprochen<br />

werden, da die Förderschwerpunkte zwar<br />

genannt, aber für die kommunalen Entscheidungsträger<br />

nicht verpflichtend sind.<br />

Anlage 64<br />

Antwort<br />

der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl<br />

auf die Frage der Abgeordneten Verena Wohlleben<br />

(SPD) (Drucksache 12/766 Frage 116):<br />

Wie weit ist die Bundesregierung in ihren Vorbereitungen zur<br />

Änderung des § 311 Abs. 1 Buchstabe c SGB V, womit Beschränkungen<br />

bei der Krankenversicherung von Arbeitnehmern<br />

aus den alten Bundesländern, die in den neuen Bundesländern<br />

einer Beschäftigung nachgehen und unter 2 250 DM<br />

verdienen, aufgehoben werden sollen, damit diese Regelung,<br />

wie in der Fragestunde am 27. Februar 1991 angekündigt, zum<br />

1. Juli 1991 in Kraft treten kann?<br />

Für Arbeitnehmer und ihre Familien aus den alten<br />

Bundesländern können bei Aufnahme einer Beschäftigung<br />

in den neuen Bundesländern Nachteile im<br />

- Krankenversicherungsschutz entstehen. Die vertrags<br />

und vergütungsrechtlichen Beschränkungen des für<br />

Versicherte im Beitrittsgebiet geltenden § 311 Abs. 1<br />

Buchst. c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch können<br />

insbesondere bei den Angehörigen zu Zuzahlungen<br />

führen, wenn sie Kassenleistungen im bisherigen<br />

Bundesgebiet in Anspruch nehmen.<br />

Um diese Nachteile zu vermeiden, hat die Bundesregierung<br />

in Artikel 6 Nr. 4 des Entwurfs eines Gesetzes<br />

zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen<br />

Renten- und Unfallversicherung — Rentenüberleitungsgesetz<br />

— am 9. April 1991 eine gesetzliche<br />

Regelung beschlossen. Die Neuregelung sieht für<br />

die betroffenen Arbeitnehmer das Recht vor, bei<br />

der Krankenkasse im bisherigen Bundesgebiet Mitglied<br />

zu bleiben, bei der sie zuletzt versichert<br />

waren.<br />

Diese Regelung, die gegenwärtig in den parlamentarischen<br />

Gremien beraten wird, soll am Tag nach der<br />

Verkündung des Gesetzes in Kraft treten. Z. Z. läßt<br />

sich nicht absehen, ob die ursprüngliche Zeitplanung<br />

für die parlamentarischen Beratungen, die am 5. Juli<br />

1991 abgeschlossen sein sollten, eingehalten werden<br />

kann.

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