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Gedanken zu «Je te rends ton amour - Farmer, Mylène

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Je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

M’extraire du cadre<br />

Ma vie suspendue<br />

Je rêvais mieux<br />

Je voyais l’âtre<br />

Tous ces inconnus<br />

Toi parmi eux<br />

M’extraire du cadre<br />

La vie étriquée<br />

D’une écorchée<br />

J’ai cru la fable<br />

D’un mor<strong>te</strong>l aimé<br />

Tu m’as trompé<br />

Et je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

Redeviens les contours<br />

Je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

C’est mon dernier recours<br />

Je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

Au moins pour toujours<br />

Redeviens les contours<br />

„La femme nue debout“<br />

Toile<br />

Fibre qui suin<strong>te</strong><br />

Des meurtrissures<br />

Tu voyais l’âme<br />

Mais j’ai vu ta main<br />

Choisir Gauguin<br />

Toi<br />

Tu m’as laissé<br />

Me comprommettre<br />

Je serais „l’Unique“<br />

Pour des milliers d’yeux<br />

un nu de maître<br />

Et je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

Au moins pour toujours<br />

Je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

Le mien est trop lourd<br />

Je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

C’est plus flagrant le jour<br />

Ses coleurs se sont diluées<br />

Je <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong><br />

Redeviens les contours<br />

De mon seul maître: et...<br />

1


Ich gebe Dir Deine Liebe <strong>zu</strong>rück/wieder [Ich nehme Deine Liebe nicht an]<br />

Mich aus dem Rahmen herausziehen<br />

Mein Leben aufgehängt/in der Schwebe<br />

Ich träum<strong>te</strong> lieber<br />

Ich sah die Feuers<strong>te</strong>lle<br />

All diese Unbekann<strong>te</strong>n<br />

Dich mit<strong>te</strong>n zwischen ihnen<br />

Mich aus dem Rahmen herausziehen<br />

Das von einer Wundreibung<br />

ents<strong>te</strong>ll<strong>te</strong> Leben<br />

Ich habe das Märchen geglaubt<br />

Eines gelieb<strong>te</strong>n S<strong>te</strong>rblichen<br />

Du hast mich getäuscht<br />

Und ich gebe Dir Deine Liebe <strong>zu</strong>rück<br />

Bekomme die Konturen wieder<br />

Ich gebe Dir Deine Liebe <strong>zu</strong>rück/wieder<br />

Es ist meine letz<strong>te</strong> Zuflucht/mein letz<strong>te</strong>s Mit<strong>te</strong>l<br />

Ich gebe Dir Deine Liebe <strong>zu</strong>rück<br />

Zumindest für immer<br />

Bekomme die Umrisse wieder<br />

„Die nack<strong>te</strong> aufrech<strong>te</strong> Frau“<br />

Gemälde/Gewebe/Leinen<br />

Faser, die Quetschungen/Flecken<br />

durchsickern läßt<br />

Du hast die Seele gesehen<br />

Aber ich sah Deine Hand<br />

Gauguin wählen<br />

Du<br />

Du hast mich<br />

mich bloßs<strong>te</strong>llen/in Gefahr begeben lassen<br />

Ich wäre „die Einzigartige“<br />

Für tausende von Augen<br />

ein Akt von Meis<strong>te</strong>rhand [Ein Nack<strong>te</strong>r des Meis<strong>te</strong>rs]<br />

Und ich gebe Dir Deine Liebe <strong>zu</strong>rück<br />

Zumindest für immer<br />

Ich gebe Dir Deine Liebe <strong>zu</strong>rück<br />

Die meinige ist <strong>zu</strong> schwer<br />

Und ich gebe Dir Deine Liebe <strong>zu</strong>rück<br />

Es ist offenkundiger am Tag<br />

Seine/Ihre Farben haben sich verwässert<br />

Und ich nehme meine Liebe <strong>zu</strong>rück an<br />

Bekomme die Konturen wieder<br />

Meines einzigen Meis<strong>te</strong>rs/Herrn: und ...<br />

Überset<strong>zu</strong>ng: Pe<strong>te</strong>r Marwitz & Michael Kuyumcu, 10.2.2000<br />

2


<strong>Gedanken</strong> <strong>zu</strong> <strong>«Je</strong> <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong>» von Pe<strong>te</strong>r Marwitz, März 2000:<br />

<strong>«Je</strong> <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong>» ist die zwei<strong>te</strong> Single vom Innamoramento-Album, eines meiner absolu<strong>te</strong>n Lieblingslieder<br />

von <strong>Mylène</strong> und besticht bei näherem Hinsehen durch den ausgesprochen komplexen, sehr persönlich wirkenden<br />

Text. Bereits die ers<strong>te</strong> Strophe («Ich sah die Feuers<strong>te</strong>lle / All diese Unbekann<strong>te</strong>n / Dich mit<strong>te</strong>n zwischen ihnen»)<br />

läßt an die Schilderung von Traumbildern denken und macht das ganze Lied damit für einen Außens<strong>te</strong>henden<br />

reichlich verschlüsselt und schwer <strong>zu</strong>gänglich. Ich würde mich sogar <strong>zu</strong> der Behauptung vers<strong>te</strong>igen, daß<br />

JTRTA eines der bisher schwierigs<strong>te</strong>n Gedich<strong>te</strong> von <strong>Mylène</strong> <strong>Farmer</strong> ist. Aber tapfer, wie ich nun mal nicht bin, will<br />

ich versuchen, trotzdem ein wenig Licht ins Dunkel <strong>zu</strong> bringen... :-) Mindes<strong>te</strong>ns drei Ebenen bzw. Grundelemen<strong>te</strong><br />

spielen im Text eine Rolle – zwei davon hat <strong>Mylène</strong> in einem In<strong>te</strong>rview sogar höchstpersönlich angesprochen:<br />

«Das Lied kann eine Liebesgeschich<strong>te</strong> sein oder eine Geschich<strong>te</strong> über die Abwendung von<br />

Gott...» Hin<strong>zu</strong> tritt auch noch die Anspielung auf den ös<strong>te</strong>rreichischen Maler Egon Schiele,<br />

dessen Signatur am Ende des Liedes im Booklet abgedruckt ist. In Anlehnung daran<br />

wurde übrigens auch der Ti<strong>te</strong>l auf dem Single-Cover gestal<strong>te</strong>t. Gerade durch diese Referenz<br />

erhält das Lied meines Erach<strong>te</strong>ns seine persönliche, mys<strong>te</strong>riöse Dich<strong>te</strong>. <strong>Mylène</strong><br />

<strong>Farmer</strong>s Vorliebe für Schiele ist nicht neu – bereits 1991 äußer<strong>te</strong> sie sich im In<strong>te</strong>rview mit<br />

der Zeitschrift Madame Figaro über ihre Beziehung <strong>zu</strong> seinem Leben und Werk:<br />

<strong>Mylène</strong> <strong>Farmer</strong>:<br />

«Ich öffne mich vorsichtig, instinktiv der modernen und zeitgenössischen Kunst. Ich liebe die<br />

abstrak<strong>te</strong> Malerei, weil ich darin sehen kann, was ich will: man schreibt mir nichts vor. Es ist damit<br />

<strong>zu</strong> vergleichen, sich in jemanden <strong>zu</strong> verlieben: man weiß nicht, wer dieser „Andere“ („l’Autre”) wirklich ist, aber man hat<br />

schlagartig das Verlangen, ihn <strong>zu</strong> kennen, sein Geheimnis <strong>zu</strong> durchdringen, wohl wissend, daß einem das niemals<br />

vollständig gelingen wird... Die Malerei ist eine Vergewaltigung; man öffnet sich ihr oder nicht; dann verwandelt sich die<br />

Vergewaltigung in Liebe, es ist wunderbar. Ich liebe auch leidenschaftlich die Malerei von Egon Schiele. Ich hät<strong>te</strong> eines<br />

seiner Modelle sein können. Wenn ich mich in einem Spiegel betrach<strong>te</strong>, habe ich manchmal den<br />

Eindruck, eine seiner wundgescheuer<strong>te</strong>n Rothaarigen <strong>zu</strong> sein. Er hat alles verstanden, bis hin <strong>zu</strong><br />

seiner Art, die Gemälde <strong>zu</strong> signieren. Er trägt unaufhörlich eine Mischung aus Leben und Tod<br />

in sich, als wenn er sich bewußt gewesen wäre, mit 28 Jahren <strong>zu</strong> verschwinden. Malerei faßt den<br />

wahren Wahnsinn <strong>zu</strong>sammen, die intims<strong>te</strong> Aufregung/Schwärmerei. Merkwürdigerweise habe<br />

ich etwas von dieser kreativen Überschwenglichkeit in meinem Geist erkannt, als ich vor zwei<br />

Jahren <strong>zu</strong>m ers<strong>te</strong>n Mal auf die Bühne gegangen bin. Es war die schöns<strong>te</strong> Erfahrung meines<br />

Lebens. Und gleichzeitig die destabilisie<strong>rends</strong><strong>te</strong>. Aber die Wor<strong>te</strong> bleiben für mich das Wesentliche.<br />

Meine Lieder <strong>zu</strong> schreiben ist meine Art <strong>zu</strong> leben. Vielleicht, weil ich in meinen Tex<strong>te</strong>n nur von<br />

mir selbst spreche. Das ist die Egozentrik des Künstlers...»<br />

Damit beginnt sich der ers<strong>te</strong> Nebel ein ganz klein wenig <strong>zu</strong> lich<strong>te</strong>n – die Zeilen «„Die nack<strong>te</strong> aufrech<strong>te</strong> Frau“» und<br />

«Ein Akt von Meis<strong>te</strong>rhand» scheinen sich direkt darauf <strong>zu</strong> beziehen, daß <strong>Mylène</strong> sich <strong>zu</strong>weilen wie ein Modell von<br />

Egon Schiele empfindet. Möglicherweise ist „Die nack<strong>te</strong> aufrech<strong>te</strong> Frau“ auch konkret der Ti<strong>te</strong>l eines von Schieles<br />

Bildern; <strong>zu</strong>mindest haben seine Werke oft Namen, die ähnlich aufgebaut sind: „Kniender Halbakt nach links<br />

gebeugt“, „S<strong>te</strong>hender männlicher Akt“, „Zwei Frauen“, „Kauernder Mädchenakt“. Wer aber ist nun eigentlich<br />

dieser Egon Schiele? Der früher obligatorische Griff <strong>zu</strong>m Großen Brockhaus wird heut<strong>zu</strong>tage bekanntlich durch<br />

den Klick ins In<strong>te</strong>rnet ersetzt, und so stieß ich dort auf diese wei<strong>te</strong>rführenden Informationen...:<br />

«Auch 80 Jahre nach seinem Tod ist Egon Schieles direk<strong>te</strong>r Zugang <strong>zu</strong> zentralen Bereichen<br />

unseres Lebens, Erotik, Sexualität und Tod, aufreizend. Seine Werke sind schonungslos und<br />

obsessiv. Sie gehen keine Kompromisse ein. Diese Haltung macht einen großen Teil ihrer in<strong>te</strong>rnational in<br />

höchs<strong>te</strong>m Maße geschätz<strong>te</strong>n Qualität aus. Der ös<strong>te</strong>rreichische Expressionismus hat mit Egon Schiele Weltgeltung<br />

erlangt.»<br />

Quelle: http://www.stmk.gv.at/verwaltung/lmj-ng/97/schiele/schiele.html<br />

3<br />

Egon Schiele


«Schiele war neben Oskar Kokoschka der zwei<strong>te</strong> bedeu<strong>te</strong>nde Maler, der sich aus<br />

dem Einflußbereich der vom Jugendstil, aber auch von symbolistischen Elemen<strong>te</strong>n<br />

gepräg<strong>te</strong>n Wiener Secession lös<strong>te</strong> und <strong>zu</strong> einem erregenden Stil mit expressiven<br />

und realistischen Komponen<strong>te</strong>n fand. So schuf der anfänglich von Gustav Klimt<br />

beeinfluß<strong>te</strong> Künstler Aquarelle, Zeichnungen und Ölbilder, in deren Zentrum der<br />

männliche und weibliche Akt sowie viele Selbstbildnisse s<strong>te</strong>hen. Die Darges<strong>te</strong>ll<strong>te</strong>n werden<br />

in schonungsloser Deformation und mit übers<strong>te</strong>iger<strong>te</strong>n Emotionen gezeigt (z.B. „Selbstporträt,<br />

eine Grimasse schneidend“, 1910, Wien, Sammlung Rudolf Leipold) oder klammern<br />

sich in erotischer Ekstase aneinander (z.B. „Umarmung“, 1917, Wien, Ös<strong>te</strong>rreichische<br />

Galerie). In eckigen, mageren Gestal<strong>te</strong>n mit knotigen Muskeln und hervortre<strong>te</strong>nden<br />

Knochen, <strong>te</strong>ilweise mit stark abstrahier<strong>te</strong>n Zügen, bricht sich Schieles Lebenspessimismus Bahn.<br />

Daneben entstanden ornamentalisier<strong>te</strong> Bildnisse, Stilleben und Landschaf<strong>te</strong>n, <strong>te</strong>ilweise bis <strong>zu</strong>r Abstraktion<br />

vorstoßend, wei<strong>te</strong>r figurale Dars<strong>te</strong>llungen un<strong>te</strong>r dem Einfluß E. Munchs sowie stilisier<strong>te</strong> Stadtansich<strong>te</strong>n. In ihrer<br />

Überwindung aller tradier<strong>te</strong>n Stile und der bis dahin wohl nur von H. de Toulouse-Lautrec und E. Degas<br />

erreich<strong>te</strong>n Unmit<strong>te</strong>lbarkeit des Ausdrucks sowie dem sicheren Strich waren Schieles Zeichnungen mit<br />

Aktstudien und Porträts für die wei<strong>te</strong>re Entwicklung der Malerei folgenreich.»<br />

Quelle: http://www.museumonline.at/1996/schulen/pinka/schiele.htm<br />

«1890 in Tulln bei Wien geboren, studier<strong>te</strong> Schiele von 1906-1909 an der<br />

Akademie der bildenden Küns<strong>te</strong> in Wien. Durch Hodler und Klimt, mit<br />

dem ihn eine starke künstlerische Va<strong>te</strong>r-Sohn- Beziehung verband, wird<br />

sein künstlerisches Schaffen stark beeinflußt. Er wendet sich von den<br />

Sezessionis<strong>te</strong>n bald ab, hin <strong>zu</strong>m Expressionismus.<br />

Die Expressionis<strong>te</strong>n vermieden die objektive Weltdars<strong>te</strong>llung, sie<br />

bevor<strong>zu</strong>g<strong>te</strong>n die subjektive Ausdrucksweise, veränder<strong>te</strong>n die natürlichen<br />

Maßverhältnisse und s<strong>te</strong>ll<strong>te</strong>n ihre individuelle seelische Erlebniswelt dar.<br />

So ist aus Schieles Bildern immer wieder seine innere krankhaf<strong>te</strong> Zerissenheit<br />

sowie die allgemein spürbare Un<strong>te</strong>rgangsstimmung im Kaiserreich<br />

erkennbar.<br />

Erst seine Frau, die er 1915 ehelich<strong>te</strong>, sowie die Vorfreude auf sein<br />

Kind bewirk<strong>te</strong>n, daß sein Stil ruhiger, weniger gestikulierend wird. Im<br />

März 1918 brach<strong>te</strong> ihm eine große Auss<strong>te</strong>llung seiner Werke in der<br />

Wiener Sezession den ganz großen künstlerischen und auch finanziellen<br />

Erfolg. Nur ein halbes Jahr spä<strong>te</strong>r, im Sep<strong>te</strong>mber 1918, verstarben er und<br />

seine schwangere Frau an den Folgen der Spanischen Grippe.»<br />

Quelle: http://www.its.at/linz/kultur/museum/html/ngalerie/schiele1.htm<br />

Schon seit jeher war <strong>Mylène</strong> <strong>Farmer</strong> fasziniert von extremen Künstlern, die <strong>zu</strong> ihrer Zeit oftmals unverstanden<br />

waren und ein (kurzes) leidvolles Leben hat<strong>te</strong>n, wobei diese aus ihren Leiden oft gerade ihre besondere kreative<br />

Energie schöpf<strong>te</strong>n: E.A. Poe, Baudelaire, Kafka, Primo Levi, Frances <strong>Farmer</strong>.... Und nun Egon Schiele. Mal sehen,<br />

ob uns diese Zusatzinformationen dabei helfen, <strong>«Je</strong> <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong>» etwas mehr <strong>zu</strong> durchschauen... Ich<br />

denke, daß man die komplet<strong>te</strong> zwei<strong>te</strong> Strophe («Gemälde/Gewebe // Faser, die Quetschungen/Flecken // durchsickern<br />

läßt // Du hast die Seele gesehen // Aber ich sah Deine Hand // Gauguin wählen») als eine Aussage über Schiele<br />

deu<strong>te</strong>n kann. Das «toile», das Gewebe oder Gemälde könn<strong>te</strong> die Leinwand dars<strong>te</strong>llen, auf der er seine Bilder<br />

gemalt hat. Dieses Leinen ließ die inneren Verlet<strong>zu</strong>ngen, «Quetschungen», die «krankhaf<strong>te</strong> Zerrissenheit» des<br />

Künstlers durchscheinen, da seine Gemälde seine Seelenpein ausdrück<strong>te</strong>n, dars<strong>te</strong>ll<strong>te</strong>n, sichtbar mach<strong>te</strong>n. Gerade<br />

dadurch, daß sich Schiele für seine Kunst so in<strong>te</strong>nsiv mit sich selbst beschäftig<strong>te</strong>, tief in sich selbst hineinschau<strong>te</strong>,<br />

wird er – so die vier<strong>te</strong> Zeile dieser Liedstrophe – seiner „Seele“, seinem „wahren Selbst“ sicher näher gekommen<br />

sein als der einfach so vor sich hin lebende Normalbürger.<br />

In der fünf<strong>te</strong>n und sechs<strong>te</strong>n Zeile folgt ein Verweis auf einen wei<strong>te</strong>ren Maler – auf Gauguin. Da ich<br />

unser Kompendium nicht (noch mehr) <strong>zu</strong> einem Lexikon ausar<strong>te</strong>n lassen möch<strong>te</strong>, will ich <strong>zu</strong> diesem<br />

Gauguin<br />

4


Künstler nur ganz kurz etwas anmerken, soweit es für das Verständnis des Liedes hilfreich sein könn<strong>te</strong>.<br />

Paul Gauguin war ein französischer Maler des 19. Jahrhunderts, der auf der Flucht vor der «zivilisatorischen<br />

Last» in die Südsee auswander<strong>te</strong>, wo er im Laufe der Jahre seinen besonderen Malstil entwickel<strong>te</strong>.<br />

«Er erweckt in der Farbe eine emotionale Ausdruckskraft, wie diese kein Beispiel in der Kunst vor ihm hat. Gauguin<br />

beruhigt die Form, vereinfacht sie und s<strong>te</strong>igert mit ihr die Glut der Farben. Daß Farben „seelische“ Bedeutung haben<br />

und die Welt auch ohne wortreiche Erklärungen in<strong>te</strong>rpretieren können, hat die Entwicklung der Malerei nachhaltig<br />

beeinflußt. (...) Vor allem die Expressionis<strong>te</strong>n soll<strong>te</strong>n sich spä<strong>te</strong>r auf seine Kunst beziehen.» (Zitat In<strong>te</strong>rnet) Möglicherweise<br />

spielen <strong>Mylène</strong>s Zeilen «Ich sah Deine Hand / Gauguin wählen» genau auf diesen<br />

„kunsthistorischen“ Zusammenhang zwischen Gauguin und den spä<strong>te</strong>ren Expressionis<strong>te</strong>n, <strong>zu</strong><br />

denen ja auch Schiele zähl<strong>te</strong>, an. In dieser Formulierung könn<strong>te</strong> auch der Hinweis auf einen<br />

Verrat, das Fallengelassenwerden durch Gott liegen: „Du hast die, d.h. in meine Seele gesehen,<br />

dich aber für einen anderen (Gauguin) entschieden.“ Trotzdem ist mir die Bedeutung,<br />

die diese Strophe für das gesam<strong>te</strong> Lied hat, eher unklar. Im Lied tauchen übrigens auch noch<br />

ein paar wei<strong>te</strong>re Begriffe auf, die sich auf den Bereich der Malerei beziehen, nämlich<br />

«Rahmen», «Konturen», «Akt» und «verwässer<strong>te</strong> Farben».<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit der Kirche...<br />

Das wichtigs<strong>te</strong> Thema von <strong>«Je</strong> <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong>» scheint<br />

für mich jedoch «die Abwendung von Gott», hier auch eine<br />

Abwendung von der Institution der (katholischen) Kirche <strong>zu</strong> sein – ein Thema, das <strong>Mylène</strong> <strong>Farmer</strong> und Laurent<br />

Bou<strong>ton</strong>nat seit Beginn ihrer Karriere verfolgt und mit dem sie sich im Laufe der Jahre in vielfältiger Art auseinandergesetzt<br />

haben. Diese Kritik an Religion & Kirche tauch<strong>te</strong> erstmals 1985 auf der B-Sei<strong>te</strong> «L’Annonciation» ihrer<br />

weitgehend in Vergessenheit gera<strong>te</strong>nen Single «On est tous des imbéciles» auf und wurde visuell im 1986er Video<br />

<strong>zu</strong> «Plus grandir» umgesetzt, aber auch in den Clips oder Tex<strong>te</strong>n von «Vieux bouc», «We’ll never die», «Tristana»,<br />

«Sans logique», «Agnus Dei», «Que mon cœur lâche» und nicht <strong>zu</strong>letzt in ihrem Kinofilm «Giorgino» gibt es immer<br />

wieder mehr oder weniger vers<strong>te</strong>ck<strong>te</strong> Anspielungen und Ohrfeigen in Richtung kirchlicher Dogmen und Ideologien.<br />

Der Text und vor allem das Video <strong>zu</strong> <strong>«Je</strong> <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong>» – das in Frankreich wegen „Blasphemie“ auf<br />

den Index gesetzt wurde und nur in einer zensier<strong>te</strong>n Version im Fernsehen gezeigt werden darf – greifen thematisch<br />

also wieder diese früheren Ideen auf und rücken von der inhaltlichen<br />

Radikalität her ein wenig in die Nähe von «Agnus Dei» (1991).<br />

Letz<strong>te</strong>res befaßt sich allerdings hauptsächlich mit einer Beschreibung der erlit<strong>te</strong>nen Qualen und deu<strong>te</strong>t nur am<br />

Ende vage eine Art Erlösung an («Ich entferne mich von allem / Ich bin Euch so fern»), während JTRTA gleich in der<br />

ers<strong>te</strong>n Zeile mit dem «Herausziehen aus dem Rahmen» beginnt, d.h. dort fortsetzt, wo «Agnus Dei» abbrach, und<br />

im ganzen auch viel entschlossener, selbstbewuß<strong>te</strong>r, kämpferischer wirkt. <strong>Mylène</strong> scheint also seit damals auf<br />

ihrem Weg der Loslösung von diesen belas<strong>te</strong>nden Dogmen wei<strong>te</strong>r vorangeschrit<strong>te</strong>n <strong>zu</strong> sein (u.a. hat sie sich nach<br />

eigener Aussage ja auch mit den Lehren des Buddhismus beschäftigt).<br />

Es fällt auf, daß <strong>Mylène</strong> sehr vage, doppeldeutige Formulierungen gewählt hat, die vielerlei<br />

In<strong>te</strong>rpretationen <strong>zu</strong>lassen und, anders als in «Agnus Dei», das Thema der Abwendung<br />

von Gott kaum direkt ansprechen. Ein Blick auf das Single-Cover läßt allerdings<br />

erahnen, daß dies trotzdem ein zentrales Anliegen des Liedes sein dürf<strong>te</strong>, denn dort<br />

sehen wir <strong>Mylène</strong> in einer Kreuzigungspose, mit dem Kopf hin<strong>te</strong>nüber (<strong>zu</strong>m Schutz vor<br />

einen Angriff von vorne?) aus einer Art Fens<strong>te</strong>r oder (Bilder-)Rahmen gebeugt, die Beine<br />

dabei wie in Abwehrs<strong>te</strong>llung übereinandergeschlagen. (Übrigens wurde selbst das Cover<br />

angefeindet und durf<strong>te</strong> für die Exportsingles nicht verwendet werden. Probleme haben<br />

die Leu<strong>te</strong>...) Schauen wir uns den Text aus diesem Blickwinkel etwas genauer an.<br />

In der 1. & 2. Strophe entfernt sich das lyrische Ich «aus dem Rahmen/der Einfassung». Diese Beschreibung der<br />

Befreiung spielt erneut mit der Sprache der Malerei, es könn<strong>te</strong> sich um einen Bilderrahmen handeln, symbolisch<br />

um etwas, das das Leben umfaßt und gleichzeitig einschränkt, die Entfaltung behindert. Zudem klingt das französische<br />

Wort «cadre» gesungen genauso wie «cadres», also «Kader» – das läßt ans Militär denken, an eine in fes<strong>te</strong>n<br />

Ritualen erstarr<strong>te</strong> Gruppe von machthungrigen Menschen, an Herrschaft und Obrigkeit. Die Assoziation <strong>zu</strong>r<br />

katholischen Kirche und ihren Pontifices liegt nahe. Die zwei<strong>te</strong> Zeile greift die Metapher des Bilderrahmens wieder<br />

auf, <strong>Mylène</strong> beschreibt ihr Leben als «aufgehängt» oder auch «in der Schwebe», so, als wäre sie ein an einer<br />

... ein wiederkehrendes Thema<br />

5


Wand hängendes Bild, den Blicken preisgegeben, «bloßges<strong>te</strong>llt<br />

... für tausende von Augen», wie es in der 5. Strophe<br />

heißt. Dies könn<strong>te</strong> sich auf <strong>Mylène</strong> als „Person des öffentlichen<br />

Lebens“ beziehen. <strong>Mylène</strong> <strong>Farmer</strong> deu<strong>te</strong>t in der drit<strong>te</strong>n Zeile<br />

an, daß es sich beim Nachfolgenden um einen Traum handeln könne<br />

– «Ich träum<strong>te</strong> lieber/besser» –, andererseits könn<strong>te</strong> es auch heißen,<br />

daß sie sich wünscht, <strong>zu</strong> träumen und all das nicht wirklich <strong>zu</strong> erleben.<br />

Beim «l’âtre», dem «Herd» oder der «Feuers<strong>te</strong>lle» kommen wieder<br />

vage <strong>Gedanken</strong> an die kirchliche Thematik auf. Michaels spontane<br />

Idee war hier ein Altar, auf denen früher Brandopfer dargebo<strong>te</strong>n<br />

wurden. Sehen wir den Refrain als eine direk<strong>te</strong> Ansprache an die Kirche<br />

und Gott, so ist dies eine ganz offenkundige Wegwendung des<br />

lyrischen Ichs von dieser Ideologie. Sie gibt die sie belas<strong>te</strong>nde Liebe<br />

des ach! so liebevollen Got<strong>te</strong>s (2. Strophe: «Ich habe das Märchen<br />

eines gelieb<strong>te</strong>n S<strong>te</strong>rblichen geglaubt / Du hast mich getäuscht») an<br />

IHN <strong>zu</strong>rück, um wieder ihre eigene, persönliche Gestalt, ein eigenes Profil, ihre «Konturen», <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>erhal<strong>te</strong>n, die<br />

sie von der amorphen Menge un<strong>te</strong>rscheidbar, einzigartig, kurz: menschlich, menschenwürdig machen. Das Bild,<br />

das <strong>Mylène</strong> hier<strong>zu</strong> heraufbeschwört, ist das der «aufrech<strong>te</strong>n, nack<strong>te</strong>n Frau» – aufrecht, das bedeu<strong>te</strong>t auch ungebeugt,<br />

nicht <strong>zu</strong>r demutsvollen Verbeugung geneigt, selbstbewußt, auf eigenen Füßen s<strong>te</strong>hend, und die Nacktheit<br />

erinnert an eine Rückkehr <strong>zu</strong> einem Zustand der Ursprünglichkeit, der „verlorenen Unschuld“; <strong>«Je</strong> voudrais retrouver<br />

l’innocence» («Ich möch<strong>te</strong> die Unschuld wiederfinden») singt M.F. bereits 1991 in «Désenchantée».<br />

Sehr gelungen finde ich auch die Schlußzeile des Liedes, eine net<strong>te</strong> ironische Replik auf das christliche Alleinvertretungs-Dogma<br />

«Du sollst keinen Gott haben neben mir» – <strong>Mylène</strong> beendet die Aussage, ihr einziger Meis<strong>te</strong>r<br />

sei Egon Schiele, mit einem «und...» – frei nach dem Kalkofe’schen Motto: «Es kann nur einen geben... oder<br />

zwei... oder drei... aber viel mehr bestimmt nicht...» Außerdem wird hier, un<strong>te</strong>rstützt durch die Doppeldeutigkeit<br />

des Wor<strong>te</strong>s «maître», das «Meis<strong>te</strong>r» und «Herr» heißen kann, vielleicht auch <strong>zu</strong>m Ausdruck gebracht, daß sie der<br />

Idee eines Herrn, DES Herrn dort oben, kritisch gegenüber s<strong>te</strong>ht und diesen Begriff deshalb nur im Zusammenhang<br />

mit Meis<strong>te</strong>rn der Kunst sehen mag.<br />

Der „Skandalclip“<br />

Wirklich deutlich und unübersehbar springt der Be<strong>zu</strong>g von JTRTA <strong>zu</strong>m Bruch mit der Institution<br />

Kirche allerdings erst im da<strong>zu</strong>gehörigen „Skandalclip“ ins Auge des Betrach<strong>te</strong>rs.<br />

Dieses Video knüpft von der Qualität, der Tiefe der Bilder, dem verstörenden, irritierenden Faktor (endlich!) wieder<br />

an ihre Kurzfilme an, die sie mit Laurent Bou<strong>ton</strong>nat geschaffen hat. Diesmal ist <strong>Mylène</strong> erstmals komplett für<br />

Inhalt und Konzeption des Clips verantwortlich, was sich ganz offensichtlich extrem positiv auf die visuelle Sogkraft<br />

der Bilder ausgewirkt hat – kein Vergleich <strong>zu</strong> den harmlosen, eindimensionalen Clips, die Marcus Nispel für<br />

sie vor allem <strong>zu</strong>r «Anamorphosée»-Zeit dreh<strong>te</strong>. Realisiert wurde JTRTA von François Hanss, der bereits in den<br />

80ern an der Sei<strong>te</strong> von Bou<strong>ton</strong>nat mehrmals für die visuelle Umset<strong>zu</strong>ng ihrer Ideen mitverantwortlich war.<br />

Eigentlich woll<strong>te</strong> ich ja hier nur eine kurze Zusammenfassung des Videos in zwei, drei Sätzen schreiben, doch<br />

das erwies sich als schwieriger, als <strong>zu</strong>nächst gedacht. Zu dicht erscheint mir die Symbolik, als daß ich ihr damit<br />

gerecht werden könn<strong>te</strong>. Deswegen bleiben mir nur zwei Auswege aus diesem Dilemma: <strong>zu</strong>m einen die Beschreibung<br />

komplett <strong>zu</strong> kippen und statt dessen auf den Artikel der Zeitschrift Voici <strong>zu</strong> verweisen (s. S. 10), in dem einige<br />

Bilder des Films kommentiert dargebo<strong>te</strong>n werden. Oder andererseits halt eine umfassende Schilderung ab<strong>zu</strong>liefern.<br />

Es vers<strong>te</strong>ht sich von selbst, daß mir mein krankhaf<strong>te</strong>r li<strong>te</strong>rarischer Ehrgeiz keine wirkliche Wahl läßt, und<br />

ich mich deswegen an einer längeren Beschreibung des Videos versuchen muß...<br />

Zu Beginn des Clips verläßt <strong>Mylène</strong>, mit einem rot-weiß-gestreif<strong>te</strong>s Kleid<br />

bekleidet, einen Tunnel und geht stolpernd, sich an Bäumen entlangtas<strong>te</strong>nd auf<br />

eine Kirche <strong>zu</strong>. Wie nachher im Video deutlicher wird, scheint sie blind <strong>zu</strong> sein. Nachdem sie die Kirche betre<strong>te</strong>n<br />

und sich in einen Beichtstuhl gesetzt hat, sehen wir eine männliche Gestalt in schwarzer Mönchskut<strong>te</strong>, die nun<br />

ebenfalls ins Kircheninnere kommt. Der Mann taucht seine dämonisch wirkende Hand in das Weihwasserbecken,<br />

aus dem daraufhin Dampf auss<strong>te</strong>igt – so, als wenn diese Gestalt direkt aus der Hölle entstammt und deswegen<br />

6<br />

Was geht hier vor sich?


eine starke (innere) Hitze entwickelt. Außerdem löscht er mit einem<br />

Handstreich alle auf dem Altar brennenden Kerzen aus und läßt durch<br />

den Luft<strong>zu</strong>g seiner Bewegung die Betstühle umfallen. Daraufhin betritt<br />

auch er den Beichtstuhl, in dem <strong>Mylène</strong>, durch das Trenngit<strong>te</strong>r sichtbar, war<strong>te</strong>t.<br />

Sie spürt die Anwesenheit des „Pa<strong>te</strong>rs“ und bekommt einen starren Gesichtsausdruck.<br />

Während der Mann sie mit rötlichem, monströsem Auge anschaut, streift<br />

<strong>Mylène</strong> einen (Ehe-)Ring vom Finger und legt ihn auf ihre aufgeschlagene Bibel,<br />

die in Blindenschrift verfaßt ist. Dann schiebt sie beides von sich. Nun sehen wir<br />

ihre linke Hand, an deren Handgelenk eine blu<strong>te</strong>nde S<strong>te</strong>lle sichtbar wird – das<br />

Blut fängt an, die Hand herab<strong>zu</strong>laufen. (Diese Szene erinnert an Wundmale aus<br />

Kreuzigungserzählungen; im Film «Stigmata» wird behaup<strong>te</strong>t, daß bei den<br />

damaligen Kreuzigungen die Nägel nicht durch die Handflächen getrieben wurden<br />

– die Hände hät<strong>te</strong>n das Gewicht des Körpers nicht gehal<strong>te</strong>n –, sondern<br />

durch die handnahmen Un<strong>te</strong>rarme. Genau an dieser S<strong>te</strong>lle beginnt <strong>Mylène</strong> im<br />

Video <strong>zu</strong> blu<strong>te</strong>n!) Der „Pa<strong>te</strong>r“ streckt seine klauenartige Hand durch das Git<strong>te</strong>r<br />

und nähert sich ihrem Gesicht. Ein wei<strong>te</strong>res Blutrinnsal läuft nun an <strong>Mylène</strong>s Bein herab (dies läßt an Entjungferung<br />

denken). Schließlich greift sich der „Mann“ <strong>Mylène</strong>s Kopf und zieht sie ans Git<strong>te</strong>r. Sie ist überrascht, wehrt<br />

sich vergeblich, reißt dabei einen Vorhang von der Wand.<br />

In diesem Moment fällt in der Kirche eine s<strong>te</strong>inerne Engelsstatue <strong>zu</strong> Boden und eine große Blutlache strömt aus<br />

dem Beichtstuhl, brei<strong>te</strong>t sich in der Folgezeit immer wei<strong>te</strong>r in den Innenraum des Got<strong>te</strong>shauses aus. Passend <strong>zu</strong>m<br />

musikalischen Bruch und der sich verstärkenden Gitarre im Lied wird die Atmosphäre nun noch düs<strong>te</strong>rer, alptraumartiger.<br />

Wir sehen <strong>Mylène</strong> nackt, mit einem Tuch um die Augen gewickelt (Anspielung auf die Blindheit <strong>zu</strong><br />

Beginn des Videos?), auf einem Podest sitzen. Wind bläst den Staub vom Kirchenboden und legt damit einen eingelassenen<br />

Grabs<strong>te</strong>in mit der Aufschrift „Demonas“ frei, wiederum fallen Betstühle <strong>zu</strong> Boden. Hände (offenbar<br />

die des „Pa<strong>te</strong>rs“) streichen über <strong>Mylène</strong>s Körper, verschmieren Blut darauf, die sichtbehindernde Binde ist verschwunden.<br />

Statt der Christusfigur wie am Anfang des Clips ist nun die nack<strong>te</strong> <strong>Mylène</strong> an das Kreuz gebunden und<br />

blickt auf die Kirche herab. Der Dämon tunkt seine Hand wiederum ins Weihwasserbecken, das jetzt randvoll mit<br />

Blut ist, und verläßt die Ab<strong>te</strong>i ebenso schweigend, wie er gekommen ist. <strong>Mylène</strong> <strong>Farmer</strong> bleibt alleine <strong>zu</strong>rück, sie<br />

geht jetzt gemessenen Schrit<strong>te</strong>s durch die Blutlache und<br />

hockt anschließend im Blut. Diese Szene hat etwas von<br />

einer Geburt. Wir sehen eine in ein schwarzes Kleid gehüll<strong>te</strong><br />

<strong>Mylène</strong> die Kirche verlassen, mit offenbar deutlich weniger<br />

unsichererm, schwankenderem Schritt als noch ganz <strong>zu</strong><br />

Beginn. Die nack<strong>te</strong> <strong>Mylène</strong> befindet sich immer noch in<br />

dem Got<strong>te</strong>shaus, sie liegt jetzt, wiederum in einer Art Kreuzigungspose<br />

auf dem Bauch in der Blutlache. Abschließend<br />

sehen wir ihre Hand in Großaufnahme, wie sie den Ring<br />

(den selben, der vorhin auf der Bibel lande<strong>te</strong>?) ins Blut legt,<br />

in dem sich die an der Wand hängende Christusfigur<br />

spiegelt... FIN<br />

Ähhmm...<br />

Schluck... Ein ganz schönes Pfund, das unsere <strong>Mylène</strong> dem Zuschauer mit diesem Œuvre vorgesetzt<br />

hat. Kein Wunder, daß das bei manchen Leu<strong>te</strong>n Entsetzen & Blasphemievorwürfe hervorrief. Wie<br />

kann man ihren Clip nun aber vers<strong>te</strong>hen, wie paßt er mit dem Text <strong>zu</strong>sammen, inwieweit geht er vielleicht sogar<br />

über diesen hinaus? ... Gu<strong>te</strong> Frage... Das Video ist auf jeden Fall meiner Meinung nach symbolisch so stark verdich<strong>te</strong>t,<br />

daß es für einen Außens<strong>te</strong>henden kaum möglich ist, eine eindeutige, alles umfassende und alleinseligmachende<br />

In<strong>te</strong>rpretation <strong>zu</strong> finden. Doch <strong>zu</strong>mindest ein paar <strong>Gedanken</strong> da<strong>zu</strong> möch<strong>te</strong> ich gerne loswerden...<br />

Die vorhin von mir angesprochene Thematik der Abrechnung mit der (katholischen) Kirche, der Abwendung<br />

von Gott, spricht meines Erach<strong>te</strong>ns sehr deutlich aus diesen Bildern. Die christliche Symbolik ist allgegenwärtig, sie<br />

bildet den Rahmen für dieses recht makabre Schauspiel. Es gibt eine ganze Reihe von Details, die man als Ohrfeige<br />

für die institutionalisier<strong>te</strong> Religion auffassen kann. So ist die Bibel in Blindenschrift verfaßt – das „Buch der<br />

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Bücher“ wäre demnach ein Leitfaden für Blinde, s<strong>te</strong>ht vielleicht<br />

für Leu<strong>te</strong>, die gewissen „offensichtlichen“ Dingen<br />

blind gegenüber s<strong>te</strong>hen, die sich auf die Leitbilder anderer<br />

verlassen und die vielleicht gar nicht selbst über ihr Leben entscheiden<br />

wollen, für die „Nicht-Denker“, die Lemminge... <strong>Mylène</strong> streift<br />

sich ihren Ring vom Finger und schiebt ihn <strong>zu</strong>sammen mit der Bibel<br />

weg – hier wird die Trennung, die Scheidung vom christlichen Glauben<br />

angedeu<strong>te</strong>t; laut Michael ist eine Nonne «mit Gott verheira<strong>te</strong>t»<br />

– dieser Bund wird nun von ihr aufgelöst. Einige Male im Laufe des<br />

Films wird <strong>Mylène</strong>s Kopf hin<strong>te</strong>r dem Git<strong>te</strong>r des Beichtstuhls gezeigt<br />

– das läßt sie bereits wie eingesperrt wirken, so als wenn die Regularien<br />

des Glaubens ein Gefängnis sind. Bei dem Blut, das aus dem<br />

Beichtstuhl fließt, habe ich spontan <strong>zu</strong>erst an all das Blut gedacht,<br />

das die (kath.) Kirche im Laufe der Jahrhunder<strong>te</strong> bei der zwangsweisen,<br />

gewaltsamen Bekehrung der „Ungläubigen“ in der ganzen Welt<br />

vergossen hat. Da so ein Beichtstuhl dem irdischen Sünder da<strong>zu</strong><br />

dient, dem Pfarrer seine Verfehlungen <strong>zu</strong> ges<strong>te</strong>hen und nun ein solches<br />

Meer von Blut herausquillt, könn<strong>te</strong> man den Eindruck bekommen,<br />

daß jemand fürwahr eine gewaltige Menge Sünden auf sich<br />

geladen hat... (Übrigens hat passenderweise der Papst erst vor kurzem<br />

höchstpersönlich für all die Dinge um Verzeihung gebe<strong>te</strong>n, die<br />

im Namen der Kirche und des Chris<strong>te</strong>ntums der Menschheit angetan wurden. Bißchen spä<strong>te</strong> Einsicht, aber<br />

immerhin...) Daß an der S<strong>te</strong>lle des Pfarrers, des Pa<strong>te</strong>rs (hier scheint der „Va<strong>te</strong>r“, auch „Gott“ durch) eine dämonenartige<br />

Gestalt sitzt, könn<strong>te</strong> man natürlich ebenfalls als gallige Kritik auffassen. Auffällig ist, daß der „Pa<strong>te</strong>r“<br />

genau in dem Moment Macht über <strong>Mylène</strong> <strong>Farmer</strong> gewinnt, wo sie die Bibel und den Ring von sich weist und das<br />

blu<strong>te</strong>nde Wundmal an ihrer Hand ents<strong>te</strong>ht. Leider bin ich in christlicher Symbolik nun gar nicht bewandert, sonst<br />

könn<strong>te</strong> ich hier sicher einiges hinein- bzw. herauslesen. Das Wundmal soll vermutlich Assoziationen an eine Kreuzigung<br />

wecken, an eine märtyrerartige Opferung und damit also auch an ein an ihr begangenes Verbrechen. Es<br />

bleibt für mich offen, ob nun die Kirche als Tä<strong>te</strong>r gesehen wird oder eher „die Mäch<strong>te</strong> der Fins<strong>te</strong>rnis“, die sich im<br />

Laufe des Clips offenbaren. Mit dem Eingriff des „Pa<strong>te</strong>r-Dämons“ verliert <strong>Mylène</strong> ihre Unschuld, ihre Jungfräulichkeit<br />

(angedeu<strong>te</strong>t durch das Blut, das an ihrem Bein herabrinnt) – die Welt wird für sie nie mehr so sein, wie <strong>zu</strong>vor.<br />

Eher <strong>zu</strong>fällig habe ich bei der Formulierung meiner Clipbeschreibung übrigens auch noch eine andere Kleinigkeit<br />

entdeckt, nämlich, daß <strong>Mylène</strong> ans Kreuz gebunden «auf die Kirche herab sieht», was bei Licht betrach<strong>te</strong>t eine<br />

ungewollt doppeldeutige Formulierung dars<strong>te</strong>llt... Und wo andere ihre Hände in Unschuld waschen, wäscht sie<br />

der <strong>te</strong>uflische Pfarrer am Ende in Blut... Als <strong>Mylène</strong>, nun schwarz gekleidet, die Ab<strong>te</strong>i verläßt, wirkt sie sicherer, sie<br />

stolpert nicht mehr, sie scheint Vertrauen (in sich) gefunden <strong>zu</strong> haben, nachdem sie die Verbindung <strong>zu</strong>r Kirche<br />

gelöst hat.<br />

Selbstverständlich habe ich mit diesem bes<strong>te</strong>chenden Gestammel bes<strong>te</strong>nfalls einen Deutungsansatz gegeben.<br />

Man kann den Clip auch auf andere Weise sehen (siehe Voici-Artikel), beispielsweise ist die Vermengung der<br />

Dimensionen „Gut“ und „Böse“ unübersehbar. Der Böse befindet sich hier in der Rolle, die sonst die (vermeintlich)<br />

„Gu<strong>te</strong>n“ – die Pries<strong>te</strong>r etc. – inne haben. Im Beichtstuhl findet eine durch die Archi<strong>te</strong>ktur desselbigen aufgezwungene<br />

Zwei<strong>te</strong>ilung der Welt (Gut/Böse) statt, man kann nur durch ein Git<strong>te</strong>r einen vagen<br />

Eindruck von dem gewinnen, was sich auf der anderen, der „bösen“ Sei<strong>te</strong> befindet. Möglicherweise<br />

ist dies auch innerpsychisch <strong>zu</strong> ves<strong>te</strong>hen, eine Anspielung auf die dunklen Sei<strong>te</strong>n in jedem Menschen,<br />

denen man oft blind gegenüber s<strong>te</strong>ht (<strong>Mylène</strong> ist <strong>zu</strong> Beginn des Videos ja blind, sieht den Dämon nicht, spürt,<br />

ahnt dessen Anwesenheit nur), die aber dennoch la<strong>te</strong>nt vorhanden sind und bloß darauf war<strong>te</strong>n, in einem schwachen<br />

Moment, in Augenblicken des Umbruchs oder der persönlichen Rückschläge, plötzlich Einfluß auf das eigene<br />

Leben gewinnen können. Nachdem diese inneren Abgründe ihre Macht auf den sonst geschütz<strong>te</strong>n Persönlichkeits<strong>te</strong>il<br />

ausgewei<strong>te</strong>t haben, zeigt das Video einige der privatimen, sexuell getön<strong>te</strong>n Fantasien der Hauptfigur, die<br />

sonst für gewöhnlich eher un<strong>te</strong>rdrückt werden. In<strong>te</strong>ressan<strong>te</strong>rweise schließt sich an dieses Ausleben des inneren<br />

Verlangens eine Art Wiedergeburt an – die Szene, in der <strong>Mylène</strong> durch die Blutlache wa<strong>te</strong>t (die «aufrech<strong>te</strong> nack<strong>te</strong><br />

8<br />

tief im Innern...


Frau» aus dem Text findet hier ihre visuelle Umset<strong>zu</strong>ng) und nachher kniet, erinnert in ihrer Blutigkeit an<br />

eine Geburt. So ents<strong>te</strong>ht ein neues, gereinig<strong>te</strong>s Ich aus dem Blut, das aus ihrer Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit<br />

dem festgefüg<strong>te</strong>n Glauben und den inneren Dämonen entstanden ist. Von daher kann das Blut also auch<br />

aus inneren Verlet<strong>zu</strong>ngen, aus innerer Zerrissenheit (siehe Egon Schiele), aus inneren Konflik<strong>te</strong>n entsprungen sein.<br />

Das möge als Denkanstoß erst einmal genügen. Machen Sie sich doch gefälligst Ihre eigenen <strong>Gedanken</strong>! :-)<br />

Zum Schluß gibt es bei <strong>«Je</strong> <strong>te</strong> <strong>rends</strong> <strong>ton</strong> <strong>amour</strong>» noch ein wei<strong>te</strong>res Detail, das nicht unerwähnt<br />

bleiben soll – neben dem Abdruck des Lied<strong>te</strong>x<strong>te</strong>s im CD-Booklet finden wir zwei<br />

Briefmarken. Da Michael & ich davon ausgehen, daß die Gestaltung der CD diesmal nicht<br />

nur dekorativen Zwecken dient, haben wir eine Lupe aus der Schublade gekramt und uns die beiden<br />

darauf abgebilde<strong>te</strong>n Herren einmal näher angeschaut. Und siehe da – mit ein wenig Augenverrenken<br />

und der Zuhilfenahme aller verfügbaren Lexika und Erinnerungsfragmen<strong>te</strong> kann man darauf<br />

kommen, daß es sich beim oberen um Heinrich VIII. und beim un<strong>te</strong>ren um Karl V. handelt. Beide hat<strong>te</strong>n auch ihre<br />

ganz speziellen Fehden mit der römisch-katholischen Kirche ausgefoch<strong>te</strong>n (vielleicht hat <strong>Mylène</strong> sie deshalb hier<br />

angeführt?), und durch beide Lebensläufe ziehen sich wie ein ro<strong>te</strong>r Faden die fürs Herrschen im 16. Jahrhundert<br />

üblichen Ströme von Blut (Karl V. plünder<strong>te</strong> beispielsweise 1527 Rom; ging gleichzeitig rücksichtslos gegen die<br />

Pro<strong>te</strong>stan<strong>te</strong>n vor). Alles wei<strong>te</strong>re sagt uns der omniverselle Große Brockhaus (Geschichtsmuffel können jetzt<br />

umblät<strong>te</strong>rn...):<br />

In der «Weltgeschich<strong>te</strong> in Bildern» (Bd. 11, Editions Rencontre Lausanne, 1969) stießen wir dann noch auf<br />

folgende bezeichnenden Ausführungen, die uns die, nun ja, „schillernde“ Persönlichkeit von Heinrich VIII. näherbringen...:<br />

„Anglikanisches Schisma – Manche weiger<strong>te</strong>n sich indes, den Treueeid [für den König] <strong>zu</strong> leis<strong>te</strong>n und auf den<br />

katholischen Glauben <strong>zu</strong> verzich<strong>te</strong>n. Die Antwort [von Heinrich VIII] ließ nicht lange auf sich war<strong>te</strong>n und lau<strong>te</strong><strong>te</strong>:<br />

Terror! [Thomas] More wurde 1535 enthaup<strong>te</strong>t.<br />

(...) Aber auch die Pro<strong>te</strong>stan<strong>te</strong>n un<strong>te</strong>rlagen der Verfolgung [wie die Katholiken], weil Heinrich VIII die Lehren<br />

von Luther mißbillig<strong>te</strong> und unbedingt einen „nationalen Katholizismus“ einführen woll<strong>te</strong>. So wurden auch sie<br />

auf den Schei<strong>te</strong>rhaufen geschleppt […]. 1539 ließ Heinrich VIII noch die „6 Artikel“ vom Parlament verabschieden,<br />

die auch „Blutbill“ oder „Sechsschwänzige Peitsche“ genannt wurden.<br />

(...) Die Scheidung wurde durch das Beil des Henkers vollzogen.»<br />

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